Eidgenössisches Departement für
auswärtige Angelegenheiten EDA
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Übersicht
Ausgangslage
Für die Leistungsfähigkeit einer offenen Volkswirtschaft wie der Schweiz, die über
keine bedeutenden Rohstoffe und einen nur begrenzten Binnenmarkt verfügt, spielt
der Zugang zu ausländischen Märkten eine unabdingbare Rolle. Die Schweiz setzt
sich dafür ein, dass dieser Zugang möglichst weitreichend und geografisch diversifi-
ziert ist. Damit wird auch die Widerstandsfähigkeit in Krisen gestärkt. Gleichzeitig
konzentriert sich die Schweiz auf ihre wichtigsten Wirtschaftspartner. Die EU ist mit
einem Anteil von rund 59 Prozent am Warenhandel die mit Abstand wichtigste Han-
delspartnerin der Schweiz. Aus diesen Gründen stehen die Stabilisierung und Weiter-
entwicklung der Beziehungen mittels des bewährten bilateralen Wegs zwischen der
Schweiz und der EU im Zentrum der bundesrätlichen Aussen- und Wirtschaftspolitik.
Die Welt wird instabiler, unsicherer und unvorhersehbarer. Globale Entwicklungen
fordern die einzelnen Staaten heraus: Grossmächtekonkurrenz, zunehmendes Ge-
wicht neuer informeller Gruppierungen (z. B. BRICS), Erosion des internationalen
Rechts (Macht vor Recht), die Klimaveränderung, ein weiter zunehmender Migrati-
onsdruck, Entwicklungen in der Informationstechnologie und im Energiesektor, aber
auch wachsende Staatsschulden, eine Fragmentierung der internationalen Wirt-
schaftsordnung, zunehmende handelspolitische Spannungen sowie fragmentierte und
polarisierte Gesellschaften. Ein regelrechter «Ring of Fire» mit dem Krieg in der Uk-
raine, Unruhen im Balkan und im Kaukasus, Konflikten im Mittleren Osten, einer in-
stabilen Lage in Nordafrika sowie Machtumstürze in Subsahara-Afrika machen die
Weltlage zu einem fragilen Umfeld. Diesen globalen Instabilitäten kann die Schweiz
entgegentreten, wenn die Beziehungen zu ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, zu Part-
nern, die ihre Werte teilen, stabil und berechenbar sind. Vor diesem Hintergrund sind
geregelte Beziehungen zur EU für die Schweiz von strategischer Bedeutung.
Die Schweiz verfolgt seit mehr als 25 Jahren auf konsequente Weise den bilateralen
Weg mit der EU. Der bilaterale Weg weist von allen Optionen (Nichtstun, Freihandel,
Beitritt zum EWR, Beitritt zur EU) das ausgewogenste Verhältnis von konkretem, na-
mentlich wirtschaftlichem Nutzen sowie politischem Gestaltungsspielraum auf. Die
Erfahrung aus diesen 25 Jahren zeigt, dass der bilaterale Weg sich bewährt. Er wurde
deshalb direkt und indirekt neun Mal durch das Volk an der Urne bestätigt. Die
Schweiz kann aufgrund der mit der EU abgeschlossenen Binnenmarkt- und Koopera-
tionsabkommen gezielt an denjenigen Bereichen teilhaben, die ihren Kernanliegen
dienen, ohne dass die Kompetenzen der Kantone, der Bundesversammlung, des Bun-
desrates, der Gerichte oder des Volkes eingeschränkt werden. Mit den ausgehandel-
ten Mitwirkungsrechten in der dynamischen Rechtsübernahme für Bund, Kantone und
Parlament wird sie sich in Zukunft ausserdem bei der Weiterentwicklung des Rechts,
das Teil der Abkommen ist und sein wird, einbringen können.
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Inhalt der Vorlage
Das vorliegende Paket ist Ausdruck der Kontinuität der massgeschneiderten Bezie-
hungen zwischen der Schweiz und der EU. Es stabilisiert den bewährten bilateralen
Weg und garantiert das Funktionieren der bestehenden bilateralen Verträge für die
Zukunft. Zudem werden dadurch die Beziehungen in denjenigen Bereichen weiterent-
wickelt, die im Interesse der Schweiz liegen. Konkret umfasst es einen
Stabilisie-
rungsteil
mit
(i)
der sektoriellen Verankerung von institutionellen Elementen in den
bestehenden Binnenmarktabkommen Personenfreizügigkeit, technische Handels-
hemmnisse (MRA), Land- und Luftverkehr unter Berücksichtigung von Ausnahmen,
Absicherungen und Prinzipien,
(ii)
der Aufnahme von Bestimmungen über staatliche
Beihilfen in die bestehenden Land- und Luftverkehrsabkommen,
(iii)
weiteren Anpas-
sungen der bestehenden Abkommen (Personenfreizügigkeit, technische Handels-
hemmnisse (MRA), Land- und Luftverkehr sowie Landwirtschaft),
(iv)
Kooperations-
abkommen in den Bereichen Forschung, Bildung und Weltraum sowie
(v)
der
Verstetigung des Schweizer Beitrags. Ein
Weiterentwicklungsteil
widerspiegelt die
Schweizer Interessen an einem gezielten Ausbau der bilateralen Beziehungen mit der
EU. Er umfasst:
(i)
neue Binnenmarktabkommen in den Bereichen Strom (inkl. insti-
tutionelle Elemente und staatliche Beihilfen) und Lebensmittelsicherheit (inkl. insti-
tutionelle Elemente) sowie
(ii)
ein neues Kooperationsabkommen im Bereich Gesund-
heit. Die Schweiz und die EU streben zudem nach einem regelmässigen politischen
Austausch in unterschiedlichen Bereichen. Folglich wurden
(i)
ein hochrangiger Di-
alog und
(ii)
eine institutionalisierte parlamentarische Zusammenarbeit beschlossen.
In einer gemeinsamen Erklärung wurden Übergangsregeln für die Phase ab Ende
2024 bis zum Inkrafttreten des Pakets festgelegt.
Die vorliegenden Abkommen sichern die verfassungsmässigen Kompetenzen der Kan-
tone, der Bundesversammlung, des Bundesrates, der Gerichte und des Volkes. Die
durch die Bundesverfassung garantierten Initiativ- und Referendumsrechte (Art. 136
Abs. 2 BV) sind weiterhin in vollem Umfang gewährleistet. Weder die einzelnen Ab-
kommen noch die darin enthaltenen institutionellen Elemente verhindern, dass eine
Volksinitiative lanciert werden kann, die sich gegen die Übernahme einer relevanten
Weiterentwicklung des EU-Rechts in das betroffene Abkommen richtet. Ebenso wird
gegen eine solche Rechtsübernahme beziehungsweise ein in diesem Zusammenhang
erforderliches neues Gesetz oder eine erforderliche Gesetzesanpassung wie bisher
das Referendum ergriffen werden können.
Es ist der Schweiz somit gelungen, ihr Kernziel mit Blick auf ihre Beziehungen zur
EU zu erreichen: eine bestmögliche gegenseitige Beteiligung an klar definierten Be-
reichen des Binnenmarkts sowie Kooperation in ausgewählten Interessenbereichen,
unter Wahrung des grösstmöglichen politischen Handlungsspielraums.
Dazu kommen inländische Massnahmen in den Bereichen Lohnschutz, Zuwanderung,
Studiengebühren, Strom und Landverkehr. Es handelt sich dabei um Massnahmen,
die für die Umsetzung der völkerrechtlichen Verträge nicht zwingend sind, vom Bun-
desrat jedoch zugunsten der innenpolitischen Tragfähigkeit des Pakets ausgearbeitet
wurden. Sie stützen sich auf einen breiten, inklusiven und transparenten Prozess mit
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einer Vielzahl von innenpolitischen Akteuren, namentlich den Kantonen, den parla-
mentarischen Kommissionen der eidgenössischen Räte, den Städten und Gemeinden,
den Verbänden und Unternehmen sowie den Sozialpartnern und den politischen Par-
teien.
Der Bundesrat empfiehlt die Annahme der Umsetzungsgesetzgebung sowie der Be-
gleitmassnahmen.
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Inhaltsverzeichnis
1
Allgemeiner Teil
29
1.1
Einführung und Ausgangslage: Schweizer Europapolitik
29
1.2
Geprüfte Alternativen und Paketansatz
33
1.3
Verlauf der Verhandlungen und Verhandlungsergebnis
37
1.3.1
Exploratorische Phase und Verhandlungsmandat
37
1.3.2
Verhandlungsphase
39
1.3.3
Miteinbezug von Parlament, Kantonen und weiteren
Interessensgruppierungen
41
1.3.4
Verhandlungsergebnis
44
1.4
Verhältnis zur Legislaturplanung sowie zu Strategien des
Bundesrates
46
1.4.1
Verhältnis zur Legislaturplanung
46
1.4.2
Verhältnis zu Strategien des Bundesrates
46
1.5
Erledigung parlamentarischer Vorstösse
47
1.6
Würdigung der Abkommen
49
1.6.1
Politische Würdigung
49
1.6.2
Wirtschaftliche Würdigung
56
2
Die einzelnen Abkommen
58
2.1
Institutionelle Elemente
58
2.1.1
Zusammenfassung
58
2.1.2
Ausgangslage
61
2.1.2.1
Institutionelle Elemente in den bestehenden
Binnenmarktabkommen
61
2.1.2.2
Verhandlungen über ein institutionelles
Rahmenabkommen
63
2.1.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
64
2.1.3.1
Interessenlage
64
2.1.3.2
Paketansatz und exploratorische Gespräche
65
2.1.3.3
Verhandlungsmandat
65
2.1.3.4
Verhandlungsprozess
67
2.1.4
Grundzüge der institutionellen Elemente
68
2.1.5
Erläuterungen zu einzelnen institutionellen
Bestimmungen
69
2.1.5.1
Präambel und allgemeine Bestimmungen
69
2.1.5.1.1
Präambel
69
2.1.5.1.2
Ziele
70
2.1.5.1.3
Beziehung zum Abkommen
71
2.1.5.1.4
Bilaterale Abkommen betreffend
den Binnenmarkt
71
2.1.5.2
Dynamische Rechtsübernahme
72
6 / 931
2.1.5.2.1
Mitwirkung an der Erarbeitung von
EU-Rechtsakten («
Decision
Shaping
»)
72
2.1.5.2.2
Integration von EU-Rechtsakten in
das Abkommen
73
2.1.5.2.3
Umsetzung der Verfahren zur
dynamischen Rechtsübernahme
79
2.1.5.3
Auslegung, Anwendung und Überwachung
79
2.1.5.3.1
Grundsatz der einheitlichen
Auslegung
79
2.1.5.3.2
Grundsatz der wirksamen und
harmonischen Anwendung
81
2.1.5.4
Streitbeilegung, Zusammenarbeit zwischen
Gerichten sowie Einreichung von Schriftsätzen
und Stellungnahmen
81
2.1.5.4.1
Ausschliesslichkeitsgrundsatz
81
2.1.5.4.2
Streitbeilegungsverfahren
82
2.1.5.4.3
Ausgleichsmassnahmen
84
2.1.5.4.4
Zusammenarbeit zwischen
Gerichten
86
2.1.5.4.5
Einreichung von Schriftsätzen und
Stellungnahmen
86
2.1.5.4.6
Umsetzung der Verfahren zur
Streitbeilegung und zur Einreichung
von Schriftsätzen und
Stellungnahmen
87
2.1.5.5
Weitere Bestimmungen
87
2.1.5.5.1
Finanzbeitrag
87
2.1.5.5.2
Bezugnahmen auf Gebiete und
Staatsangehörige sowie
Bestimmungen zum Inkrafttreten
und zur Durchführung und zu den
Adressaten in den EU-Rechtsakten
88
2.1.5.6
Schlussbestimmungen
88
2.1.5.7
Bestimmungen über den GA, den räumlichen
Geltungsbereich, die Rechte und Pflichten der
Mitgliedstaaten sowie die Vorrechte und
Befreiungen
89
2.1.6
Umsetzungserlass
89
2.1.7
Auswirkungen des Paketelements
89
2.1.7.1
Auswirkungen auf den Bund
91
2.1.7.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden
sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und
Berggebiete
92
2.1.7.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
92
2.1.7.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
92
7 / 931
2.1.7.5
Auswirkungen auf die Umwelt
92
2.1.7.6
Auswirkungen auf das Initiativ- und
Referendumsrecht
92
2.1.7.7
Andere Auswirkungen: Rolle des Parlaments
94
2.1.7.7.1
Allgemeine Erwägungen
94
2.1.7.7.2
Mitwirkungsmöglichkeiten des
Parlaments bei der dynamischen
Rechtsübernahme
94
2.1.8
Rechtliche Aspekte des Paketelements
97
2.1.8.1
Verfassungsmässigkeit der institutionellen
Elemente
97
2.1.8.2
Verfassungsmässigkeit der
Umsetzungsgesetzgebung und
Begleitmassnahmen
98
2.1.8.3
Vereinbarkeit mit anderen internationalen
Verpflichtungen der Schweiz
98
2.1.8.4
Erlassform
98
2.1.8.5
Vorläufige Anwendung
98
2.1.8.6
Datenschutz
98
2.2
Staatliche Beihilfen
100
2.2.1
Zusammenfassung
100
2.2.2
Ausgangslage und Vorverfahren
101
2.2.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
102
2.2.4
Materielle Grundzüge des EU-Beihilferechts
103
2.2.5
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der völkerrechtlichen
Beihilfebestimmungen
106
2.2.5.1
Zielsetzung und allgemeine Grundsätze der
völkerrechtlichen Beihilfebestimmungen
106
2.2.5.2
Verhältnis zu den bestehenden Abkommen
107
2.2.5.3
Beihilfedefinition, Grundsatz und
Ausnahmeregeln
107
2.2.5.4
Überwachungssysteme (Zwei-Pfeiler-Ansatz)
111
2.2.5.5
Bestehende Beihilfen
113
2.2.5.6
Transparenz
115
2.2.5.7
Modalitäten der Zusammenarbeit und
Konsultationen
115
2.2.5.8
Integration von EU-Rechtsakten in die
Beihilfeanhänge
116
2.2.5.9
Schlussbestimmungen
116
2.2.6
Grundzüge des Beihilfeüberwachungsgesetzes
116
2.2.6.1
Beihilfeüberwachungsgesetz
116
2.2.6.2
Verworfene Alternativen
117
2.2.6.3
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
121
2.2.6.4
Umsetzungsfragen
121
2.2.6.5
Verordnungen sowie Publikationen der
Überwachungsbehörde
122
8 / 931
2.2.7
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des
Beihilfeüberwachungsgesetzes
123
2.2.8
Änderung anderer Erlasse
186
2.2.8.1
Bundesgerichtsgesetz vom 17. Juni 2005 (BGG)
186
2.2.8.2
Verwaltungsgerichtsgesetz vom 17. Juni 2005
(VGG)
189
2.2.8.3
Kartellgesetz vom 6. Oktober 1995 (KG)
194
2.2.8.4
Luftfahrtgesetz vom 21. Dezember 1948
195
2.2.8.5
Preisüberwachungsgesetz vom 20. Dezember
1985 (PüG)
195
2.2.9
Zwischenzeitliche Änderung des Luftfahrtgesetzes
195
2.2.10
Auswirkungen des Paketelements
195
2.2.10.1
Auswirkungen auf den Bund
196
2.2.10.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden
sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und
Berggebiete
199
2.2.10.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
200
2.2.10.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
201
2.2.10.5
Auswirkungen auf die Umwelt
201
2.2.10.6
Andere Auswirkungen
202
2.2.11
Rechtliche Aspekte des Paketelements
202
2.2.11.1
Verfassungsmässigkeit der Protokolle
202
2.2.11.2
Verfassungsmässigkeit der
Umsetzungsgesetzgebung
202
2.2.11.2.1
Überwachung von Beihilfen des
Bundes
202
2.2.11.2.2
Überwachung von Beihilfen der
Kantone
203
2.2.11.2.3
Nicht einschlägige
Verfassungsgrundlagen
208
2.2.11.2.4
Fazit zur Verfassungsmässigkeit
209
2.2.11.3
Vereinbarkeit mit anderen internationalen
Verpflichtungen
209
2.2.11.4
Erlassform
209
2.2.11.5
Vorläufige Anwendung
209
2.2.11.6
Besondere rechtliche Aspekte zum
Umsetzungserlass
209
2.2.11.7
Datenschutz
209
2.3
Personenfreizügigkeit
211
2.3.1
Zusammenfassung
211
2.3.2
Ausgangslage
214
2.3.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
219
2.3.4
Vorverfahren
222
2.3.5
Grundzüge der Protokolle
223
2.3.5.1
Institutionelle Elemente
223
2.3.5.2
Änderungsprotokoll
224
9 / 931
2.3.5.2.1
Personenfreizügigkeit (Anhang I
FZA)
224
2.3.5.2.2
Koordinierung der Systeme der
sozialen Sicherheit (Anhang II FZA)
231
2.3.5.2.3
Anerkennung von
Berufsqualifikationen (Anhang III
FZA)
232
2.3.6
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der Protokolle
232
2.3.6.1
Institutionelles Protokoll
232
2.3.6.2
Änderungsprotokoll
235
2.3.6.2.1
Allgemeine Ausführungen
235
2.3.6.2.2
Hauptteil
236
2.3.6.2.3
Anhang I des Änderungsprotokolls
betreffend Anhang I des FZA
(Zuwanderung und Lohnschutz)
254
2.3.6.2.4
Anhang II des Änderungsprotokolls
betreffend Anhang II des FZA
(Koordinierung der Systeme der
sozialen Sicherheit)
255
2.3.6.2.5
Anhang III des Änderungsprotokolls
betreffend Anhang III des FZA
(Anerkennung von
Berufsqualifikationen)
257
2.3.6.2.6
Gemeinsame Erklärungen
262
2.3.6.3
Protokoll betreffend den Erwerb von
Immobilien in Malta und Protokoll über
Zweitwohnungen in Dänemark
265
2.3.6.4
Zusatzprotokoll zu Bewilligungen für
Langzeitaufenthalte
(Niederlassungsbewilligungen)
266
2.3.7
Grundzüge des Umsetzungserlasses
266
2.3.7.1
Umsetzungsgesetzgebung
269
2.3.7.1.1
Zuwanderung
269
2.3.7.1.2
Lohnschutz
270
2.3.7.1.3
Nichtdiskriminierung bei den
Studiengebühren
274
2.3.7.2
Begleitmassnahmen mit Gesetzesanpassungen
275
2.3.7.2.1
Zuwanderung
275
2.3.7.2.2
Lohnschutz
275
2.3.7.2.3
Gleichbehandlung bezüglich
Studiengebühren
280
2.3.7.3
Begleitmassnahmen ohne Gesetzesanpassungen
281
2.3.7.3.1
Zuwanderung
281
2.3.7.3.2
Lohnschutz
281
2.3.7.4
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
283
2.3.7.5
Umsetzungsfragen
283
10 / 931
2.3.7.5.1
Zuwanderung
283
2.3.7.5.2
Lohnschutz
287
2.3.8
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des
Umsetzungserlasses
288
2.3.8.1
Zuwanderung
288
2.3.8.1.1
Ausländer- und Integrationsgesetz
(AIG)
288
2.3.8.1.2
Arbeitsvermittlungsgesetz (AVG)
315
2.3.8.1.3
ETH-Gesetz
317
2.3.8.1.4
Hochschulförderungs- und -
koordinationsgesetz (HFKG)
318
2.3.8.2
Koordinierung der Systeme der sozialen
Sicherheit
318
2.3.8.2.1
Bundesgesetz über die berufliche
Alters-, Hinterlassenen- und
Invalidenvorsorge
318
2.3.8.2.2
Freizügigkeitsgesetz
319
2.3.8.2.3
Zivilgesetzbuch
319
2.3.8.3
Anerkennung von Berufsqualifikationen
320
2.3.8.3.1
Bundesgesetz über die Meldepflicht
und die Nachprüfung der
Berufsqualifikationen von
Dienstleistungserbringerinnen und -
erbringern in reglementierten
Berufen (BGMD)
320
2.3.8.3.2
Bundesgesetz über die
Verwaltungszusammenarbeit im
Bereich der Anerkennung von
Berufsqualifikationen
321
2.3.8.3.3
Änderung anderer Erlasse
331
2.3.8.4
Lohnschutz
332
2.3.8.4.1
Entsendegesetz (EntsG)
332
2.3.8.4.2
Bundesgesetz über das öffentliche
Beschaffungswesen (BöB)
350
2.3.8.4.3
Obligationenrecht (OR)
350
2.3.8.4.4
Bundesgesetz über die
Allgemeinverbindlicherklärung von
Gesamtarbeitsverträgen (AVEG)
354
2.3.8.4.5
Bundesgesetz über
Schuldbetreibung und Konkurs
(SchKG)
357
2.3.9
Auswirkungen des Paketelements
357
2.3.9.1
Auswirkungen auf den Bund
359
2.3.9.1.1
Finanzielle Auswirkungen
359
2.3.9.1.2
Personelle Auswirkungen
366
11 / 931
2.3.9.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden
sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und
Berggebiete
370
2.3.9.2.1
Auswirkungen auf Kantone im
Zuwanderungsbereich
370
2.3.9.2.2
Auswirkungen auf Kantone im
Bereich des Lohnschutzes
376
2.3.9.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
377
2.3.9.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
382
2.3.9.5
Auswirkungen auf die Umwelt
383
2.3.10
Rechtliche Aspekte der Protokolle
383
2.3.10.1
Verfassungsmässigkeit der Protokolle
383
2.3.10.1.1
Zuständigkeit
383
2.3.10.1.2
Verfassungsbestimmungen zur
strafrechtlichen Landesverweisung
(Art. 121 BV)
384
2.3.10.1.3
Verfassungsbestimmungen zur
Steuerung der Zuwanderung
(Art. 121a BV)
386
2.3.10.2
Verfassungsmässigkeit der
Umsetzungsgesetzgebung und
Begleitmassnahmen
390
2.3.10.2.1
Zuständigkeit
390
2.3.10.2.2
Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV)
390
2.3.10.2.3
Zuständigkeit des Bundes im
Bereich der Sozialhilfe
390
2.3.10.3
Vereinbarkeit mit anderen internationalen
Verpflichtungen der Schweiz
391
2.3.10.3.1
Bilaterale Abkommen mit EU-
Mitgliedstaaten in anderen
Bereichen als der sozialen Sicherheit
und der Steuerabkommen
391
2.3.10.3.2
EFTA-Übereinkommen
392
2.3.10.3.3
GATS/WTO
392
2.3.10.3.4
EMRK und UNO-Pakt II
393
2.3.10.3.5
Übereinkommen Nr. 98 der
Internationalen Arbeitsorganisation
(IAO)
393
2.3.10.4
Erlassform
394
2.3.10.5
Vorläufige Anwendung
394
2.3.10.6
Besondere rechtliche Aspekte zum
Umsetzungserlass
394
2.3.10.6.1
Unterstellung unter die
Ausgabenbremse
394
12 / 931
2.3.10.6.2
Einhaltung des
Subsidiaritätsprinzips und des
Prinzips der fiskalischen Äquivalenz
394
2.3.10.6.3
Delegation von
Rechtssetzungsbefugnissen
394
2.3.10.7
Datenschutz
397
2.4
Technische Handelshemmnisse (MRA)
399
2.4.1
Zusammenfassung
399
2.4.2
Ausgangslage
399
2.4.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
400
2.4.4
Vorverfahren
401
2.4.5
Grundzüge der Protokolle
401
2.4.6
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der Protokolle
401
2.4.6.1
Institutionelles Protokoll
401
2.4.6.2
Änderungsprotokoll
404
2.4.6.3
Technische Anpassungen der sektoriellen
Kapitel in Anhang 1
409
2.4.7
Grundzüge des Umsetzungserlasses
410
2.4.8
Auswirkungen des Paketelements
410
2.4.8.1
Auswirkungen auf den Bund
410
2.4.8.1.1
Finanzielle Auswirkungen
410
2.4.8.1.2
Personelle Auswirkungen
410
2.4.8.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden
sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und
Berggebiete
411
2.4.8.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
411
2.4.8.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
414
2.4.8.5
Auswirkungen auf die Umwelt
414
2.4.9
Rechtliche Aspekte des Paketelements
415
2.4.9.1
Verfassungsmässigkeit der Protokolle
415
2.4.9.2
Verfassungsmässigkeit der
Umsetzungsgesetzgebung
415
2.4.9.3
Vereinbarkeit mit anderen internationalen
Verpflichtungen der Schweiz
415
2.4.9.4
Erlassform
416
2.4.9.5
Vorläufige Anwendung
416
2.4.9.6
Besondere rechtliche Aspekte zum
Umsetzungserlass
416
2.4.9.7
Datenschutz
416
2.5
Landverkehr
417
2.5.1
Zusammenfassung
417
2.5.2
Ausgangslage
418
2.5.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
420
2.5.4
Vorverfahren
421
2.5.5
Grundzüge der Protokolle
422
13 / 931
2.5.6
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der Protokolle
423
2.5.6.1
Institutionelles Protokoll
423
2.5.6.2
Änderungsprotokoll
424
2.5.6.3
Gemeinsame Erklärung
438
2.5.6.4
Protokoll über staatliche Beihilfen
439
2.5.7
Grundzüge des Umsetzungserlasses
440
2.5.7.1
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des
Umsetzungserlasses
440
2.5.7.1.1
Eisenbahngesetz (EBG)
440
2.5.7.1.2
Personenbeförderungsgesetz (PBG)
442
2.5.7.2
Begleitmassnahmen ohne Gesetzesanpassungen
444
2.5.7.3
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
446
2.5.7.4
Umsetzungsfragen
446
2.5.8
Auswirkungen des Paketelements
446
2.5.8.1
Auswirkungen auf den Bund
446
2.5.8.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden
sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und
Berggebiete
447
2.5.8.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
448
2.5.8.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
449
2.5.8.5
Auswirkungen auf die Umwelt
449
2.5.8.6
Andere Auswirkungen
449
2.5.9
Rechtliche Aspekte des Paketelements
450
2.5.9.1
Verfassungsmässigkeit der Protokolle
450
2.5.9.2
Verfassungsmässigkeit
Umsetzungsgesetzgebung und
Begleitmassnahmen
450
2.5.9.3
Vereinbarkeit mit anderen internationalen
Verpflichtungen der Schweiz
450
2.5.9.4
Erlassform
451
2.5.9.5
Vorläufige Anwendung
451
2.5.9.6
Besondere rechtliche Aspekte zum
Umsetzungserlass
451
2.5.9.7
Datenschutz
452
2.6
Luftverkehr
453
2.6.1
Zusammenfassung
453
2.6.2
Ausgangslage
454
2.6.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
455
2.6.4
Vorverfahren
455
2.6.5
Grundzüge der Protokolle
456
2.6.6
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der Protokolle
456
2.6.6.1
Institutionelles Protokoll
456
2.6.6.2
Änderungsprotokoll
457
2.6.6.3
Protokoll über die staatlichen Beihilfen
458
2.6.7
Grundzüge des Umsetzungserlasses
459
2.6.7.1
Umsetzungsgesetzgebung
460
14 / 931
2.6.7.2
Begleitmassnahmen mit Gesetzesanpassungen
460
2.6.7.3
Begleitmassnahmen ohne Gesetzesanpassungen
460
2.6.7.4
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
460
2.6.7.5
Umsetzungsfragen
460
2.6.8
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des
Umsetzungserlasses
461
2.6.9
Auswirkungen des Paketelements
461
2.6.9.1
Auswirkungen auf den Bund
461
2.6.9.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden
sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und
Berggebiete
461
2.6.9.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
462
2.6.9.3.1
Auswirkungen auf die Unternehmen
462
2.6.9.3.2
Auswirkungen auf weitere Akteure
463
2.6.9.3.3
Auswirkungen auf die
Gesamtwirtschaft
463
2.6.9.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
464
2.6.9.5
Auswirkungen auf die Umwelt
464
2.6.9.6
Andere Auswirkungen
464
2.6.10
Rechtliche Aspekte des Paketelements
464
2.6.10.1
Verfassungsmässigkeit der Protokolle
465
2.6.10.2
Verfassungsmässigkeit der
Umsetzungsgesetzgebung und
Begleitmassnahmen
465
2.6.10.3
Vereinbarkeit mit internationalen
Verpflichtungen der Schweiz
465
2.6.10.4
Erlassform
466
2.6.10.5
Vorläufige Anwendung
467
2.6.10.6
Besondere rechtliche Aspekte zum
Umsetzungserlass
467
2.6.10.7
Datenschutz
467
2.7
Landwirtschaft
468
2.7.1
Zusammenfassung
468
2.7.2
Ausgangslage
469
2.7.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
469
2.7.4
Vorverfahren
470
2.7.5
Grundzüge des Protokolls
471
2.7.6
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Protokolls
471
2.7.7
Grundzüge des Umsetzungserlasses
475
2.7.8
Auswirkungen des Paketelements
476
2.7.9
Rechtliche Aspekte des Paketelements
476
2.7.9.1
Verfassungsmässigkeit des Protokolls
476
2.7.9.2
Verfassungsmässigkeit der
Umsetzungsgesetzgebung und
Begleitmassnahmen
477
15 / 931
2.7.9.3
Vereinbarkeit mit anderen internationalen
Verpflichtungen der Schweiz
477
2.7.9.4
Erlassform
477
2.7.9.5
Vorläufige Anwendung
477
2.7.9.6
Besondere rechtliche Aspekte zum
Umsetzungserlass
477
2.7.9.7
Datenschutz
478
2.8
Programme
479
2.8.1
Zusammenfassung
479
2.8.2
Ausgangslage
480
2.8.2.1
Kontext: die Europäische Bildungs-,
Forschungs- und Innovationspolitik
482
2.8.2.1.1
Europäische Programme und
Initiativen für Forschung und
Innovation
482
2.8.2.1.2
Europäische Bildungsprogramme
483
2.8.2.2
Die Bestandteile der aktuellen
Programmgeneration: das Horizon-Paket 2021-
2027 und Erasmus+
483
2.8.2.2.1
Bestandteile des Horizon-Pakets
2021-2027
483
2.8.2.2.2
Aufbau und Funktionsweise des
Erasmus+ Programms
484
2.8.2.3
Bisherige Teilnahme der Schweiz an EU-
Programmen und -Initiativen im Bereich
Bildung, Forschung und Innovation
486
2.8.2.3.1
Die Teilnahme der Schweiz an den
EU-Programmen für Forschung und
Innovation
486
2.8.2.3.2
Die indirekte Teilnahme der
Schweiz an den europäischen
Bildungsprogrammen seit 2014
487
2.8.2.4
Die Bedeutung einer Assoziierung der Schweiz
an den BFI-Programmen der EU
489
2.8.2.4.1
Dringlichkeit einer Assoziierung am
Horizon-Paket 2021-2027
489
2.8.2.4.2
Bedeutung einer Assoziierung an
Erasmus+
492
2.8.2.5
Folgen bei einem Verzicht auf Assoziierung
498
2.8.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
499
2.8.3.1
Zielsetzung für EU-Programme im Allgemeinen
499
2.8.3.2
Verhandlungsmandat für das Paket Schweiz–
EU: Teil EU-Programme
500
2.8.3.3
Verhandlungsverlauf
500
2.8.4
Vorverfahren
501
16 / 931
2.8.4.1
Vorverfahren für eine Assoziierung am
Horizon-Paket 2021-2027
501
2.8.4.2
Vorverfahren für eine Assoziierung an
Erasmus+
502
2.8.4.3
Regulierungsfolgenabschätzung für das
Horizon-Paket 2021-2027 und Erasmus+
502
2.8.5
Grundzüge des Abkommens
502
2.8.6
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Abkommens
503
2.8.6.1.1
Horizontaler Teil
503
2.8.6.2
Protokoll I: Horizon Europe, Euratom
Programm, Programm Digital Europe und
Erasmus+
506
2.8.6.3
Protokoll II: ITER
508
2.8.7
Grundzüge des Umsetzungserlasses
509
2.8.7.1
Umsetzungsgesetzgebung
509
2.8.7.2
Inhalt des Finanzierungsbeschlusses für die
Schweizer Beteiligung am EU-
Bildungsprogramm Erasmus+ im Jahr 2027
509
2.8.7.3
Begleitmassnahmen ohne Gesetzesanpassung
512
2.8.7.4
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
513
2.8.7.5
Umsetzungsfragen
515
2.8.7.5.1
Verordnung zur Beteiligung der
Schweiz an den BFI-Programmen
der Europäischen Union
515
2.8.7.5.2
Umsetzung der Programme auf
europäischer und nationaler Ebene
515
2.8.7.5.3
Interessensvertretung der Schweiz
516
2.8.8
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des
Umsetzungserlasses
516
2.8.9
Auswirkungen des Paketelements
516
2.8.9.1
Auswirkungen auf den Bund
516
2.8.9.1.1
Finanzielle Auswirkungen
517
2.8.9.1.2
Personelle Auswirkungen
521
2.8.9.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden
sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und
Berggebiete
525
2.8.9.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
525
2.8.9.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
527
2.8.9.5
Auswirkungen auf die Umwelt
528
2.8.10
Rechtliche Aspekte des Paketelements
529
2.8.10.1
Verfassungsmässigkeit des Abkommens
529
2.8.10.2
Verfassungsmässigkeit der
Umsetzungsgesetzgebung und
Begleitmassnahmen
530
2.8.10.3
Vereinbarkeit mit anderen internationalen
Verpflichtungen der Schweiz
530
17 / 931
2.8.10.4
Erlassform
530
2.8.10.5
Vorläufige Anwendung
531
2.8.10.6
Besondere rechtliche Aspekte zum
Umsetzungserlass
532
2.8.10.6.1
Unterstellung unter die
Ausgabenbremse
532
2.8.10.6.2
Einhaltung des
Subsidiaritätsprinzips und des
Prinzips der fiskalischen Äquivalenz
532
2.8.10.6.3
Einhaltung der Grundsätze des
Subventionsgesetzes
533
2.9
Weltraum
534
2.9.1
Zusammenfassung
534
2.9.2
Ausgangslage
535
2.9.2.1
Die europäischen
Satellitennavigationsprogramme
535
2.9.2.2
Teilnahme der Schweiz an den europäischen
Satellitennavigationsprogrammen
535
2.9.2.3
Die Agentur der Europäischen Union für das
Weltraumprogramm
536
2.9.2.4
Verhandlungen 2018/2019
537
2.9.2.5
Common Understanding
538
2.9.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
538
2.9.3.1
Zielsetzung
538
2.9.3.2
Verhandlungsmandat
539
2.9.3.3
Verhandlungsverlauf
539
2.9.4
Vorverfahren
540
2.9.5
Grundzüge des Abkommens
541
2.9.6
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Abkommens
541
2.9.7
Grundzüge des Umsetzungserlasses
544
2.9.7.1
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
544
2.9.8
Auswirkungen des Paketelements
544
2.9.8.1
Auswirkungen auf den Bund
544
2.9.8.1.1
Finanzielle Auswirkungen
544
2.9.8.1.2
Personelle Auswirkungen
545
2.9.8.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden
sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und
Berggebiete
545
2.9.8.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
545
2.9.9
Rechtliche Aspekte des Paketelements
546
2.9.9.1
Verfassungsmässigkeit des Abkommens
546
2.9.9.2
Verfassungsmässigkeit der
Umsetzungsgesetzgebung und
Begleitmassnahmen
546
2.9.9.3
Vereinbarkeit mit anderen internationalen
Verpflichtungen der Schweiz
546
18 / 931
2.9.9.4
Erlassform
546
2.9.9.5
Vorläufige Anwendung
547
2.9.9.6
Besondere rechtliche Aspekte zum
Umsetzungserlass
548
2.9.9.7
Datenschutz
548
2.10
Schweizer Beitrag
549
2.10.1
Zusammenfassung
549
2.10.2
Ausgangslage
550
2.10.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
551
2.10.4
Vorverfahren
552
2.10.5
Grundzüge des Abkommens
553
2.10.5.1
Rahmen für den regelmässigen Schweizer
Beitrag
553
2.10.5.2
Umsetzungsbestimmungen
554
2.10.5.3
Höhe des Schweizer Beitrags für zukünftige
Beitragsperioden
555
2.10.5.4
Streitbeilegung
555
2.10.5.5
Erster Schweizer Beitrag unter dem
Beitragsabkommen
556
2.10.5.6
Einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung
557
2.10.6
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Abkommens
558
2.10.7
Grundzüge des Umsetzungserlasses
573
2.10.7.1
Umsetzungsgesetzgebung
573
2.10.7.2
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
574
2.10.7.3
Umsetzungsfragen
574
2.10.8
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des
Umsetzungserlasses
575
2.10.9
Inhalt der drei Kreditbeschlüsse
579
2.10.9.1
Verpflichtungskredit Kohäsion
579
2.10.9.1.1
Thematische Ausrichtung
579
2.10.9.1.2
Strategie und Umsetzungsprinzipien
582
2.10.9.1.3
Controlling und Evaluation
585
2.10.9.1.4
Ressourcen
586
2.10.9.2
Verpflichtungskredit Migration
586
2.10.9.2.1
Beschreibung
586
2.10.9.2.2
Umfeld
587
2.10.9.2.3
Thematische Ausrichtung
588
2.10.9.2.4
Strategie und Umsetzungsprinzipien
589
2.10.9.2.5
Controlling und Evaluation
592
2.10.9.2.6
Ressourcen
593
2.10.9.3
Verpflichtungskredit für die einmalige
zusätzliche finanzielle Verpflichtung
593
2.10.10
Auswirkungen des Paketelements
593
2.10.10.1
Auswirkungen auf den Bund
594
2.10.10.1.1
Finanzielle Auswirkungen
594
2.10.10.1.2
Personelle Auswirkungen
596
19 / 931
2.10.10.1.3
Auswirkungen auf die Aussenpolitik
598
2.10.10.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden
sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und
Berggebiete
599
2.10.10.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
599
2.10.10.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
599
2.10.10.5
Auswirkungen auf die Umwelt
600
2.10.11
Rechtliche Aspekte des Paketelements
600
2.10.11.1
Verfassungsmässigkeit des Abkommens
600
2.10.11.2
Verfassungsmässigkeit der
Umsetzungsgesetzgebung
600
2.10.11.3
Vereinbarkeit mit anderen internationalen
Verpflichtungen der Schweiz
601
2.10.11.4
Erlassform
601
2.10.11.5
Vorläufige Anwendung
601
2.10.11.6
Besondere rechtliche Aspekte zum
Umsetzungserlass
602
2.10.11.6.1
Unterstellung unter die
Ausgabenbremse
602
2.10.11.6.2
Einhaltung der Grundsätze des
Subventionsgesetzes
602
2.10.11.6.3
Delegation von
Rechtsetzungsbefugnissen
603
2.10.11.7
Datenschutz
603
2.11
Strom
604
2.11.1
Zusammenfassung
604
2.11.2
Ausgangslage
605
2.11.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
606
2.11.3.1
Zielsetzung der Verhandlungen und
Verhandlungsmandat
606
2.11.3.2
Handlungsbedarf
608
2.11.3.3
Geprüfte Alternativen und gewählte Lösung
608
2.11.3.4
Verhältnis zur Legislaturplanung und zur
Finanzplanung sowie zu Strategien des
Bundesrates
609
2.11.3.4.1
Verhältnis zur Legislaturplanung
609
2.11.3.4.2
Verhältnis zur Finanzplanung
609
2.11.3.4.3
Verhältnis zu Strategien des
Bundesrates
609
2.11.3.5
Erledigung parlamentarischer Vorstösse
610
2.11.3.6
Verhandlungsverlauf
610
2.11.4
Vorverfahren
610
2.11.4.1
Vorarbeiten
610
2.11.4.1.1
Vergangene Verhandlungen (2007-
2018)
610
20 / 931
2.11.4.1.2
Breiter Paketansatz und
exploratorische Gespräche
611
2.11.4.1.3
Ergebnis der Gespräche mit der EU
im Strombereich (
Common
Understanding
)
611
2.11.4.1.4
Abschluss der exploratorischen
Gespräche und Verhandlungsmandat
612
2.11.4.2
Einbezug der betroffenen Akteure während den
Stromverhandlungen
612
2.11.4.3
Studien und Gutachten
613
2.11.5
Grundzüge des Abkommens
613
2.11.5.1
Zusammenfassung des
Verhandlungsergebnisses
613
2.11.5.1.1
Für das Stromabkommen relevante
EU-Rechtsakte
615
2.11.6
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Abkommens
616
2.11.6.1
Geltungsbereich (Art. 2)
616
2.11.6.2
Nicht-Diskriminierung (Art. 3)
617
2.11.6.3
Nationale Netzgesellschaft (Art. 5)
617
2.11.6.4
Entflechtung der Verteilnetzbetreiber (VNB)
(Art. 6)
617
2.11.6.5
Marktöffnung und Grundversorgung (Art. 7)
618
2.11.6.6
Wegfall Vorränge und finanzielle
Entschädigung (Art. 8)
618
2.11.6.7
Versorgungssicherheit und Reserven (Art. 9)
619
2.11.6.8
Beteiligung an EU-Behörden und -Stellen (Art.
10)
620
2.11.6.9
Energieressourcen und Wasserkraft (Art. 11)
621
2.11.6.10
Staatliche Beihilfen (Art. 12-19)
621
2.11.6.11
Umweltrecht (Art. 20)
622
2.11.6.12
Kooperation im Bereich erneuerbare Energien
und Energieinfrastruktur (Art. 21 und 22)
623
2.11.6.13
Gemischter Ausschuss (Art. 25), Institutionelles
(Art. 26 ff.) und Informationsaustausch (Art. 40
ff.)
624
2.11.6.14
Finanzieller Beitrag (Art. 49)
625
2.11.6.15
Anhang I: Regeln des EU-Strombinnenmarkts
625
2.11.6.15.1
Generelles zu den Anhängen mit
Rechtsübernahme sowie
Zuständigkeiten von EU-
Institutionen
625
2.11.6.15.2
Risikovorsorge
627
2.11.6.15.3
ACER-Verordnung
627
2.11.6.15.4
Elektrizitätsbinnenmarkt-
Verordnung
628
2.11.6.15.5
Netzkodizes (Networkcodes)
628
21 / 931
2.11.6.15.6
ENTSO-E-Transparenzplattform
629
2.11.6.15.7
Elektrizitätsbinnenmarkt-Richtlinie
630
2.11.6.15.8
Integrität und Transparenz des
Grosshandelsmarktes (REMIT)
630
2.11.6.16
Anhänge III, IV und V
631
2.11.6.17
Erneuerbare Energien (Anhang VI)
631
2.11.6.17.1
Erneuerbaren-Ziel
631
2.11.6.17.2
Herkunftsnachweise (HKN) und
Erneuerbare-Energie-
Gemeinschaften
631
2.11.6.17.3
Besonderheiten im Bereich Holz
632
2.11.6.17.4
Kriterien für Nachhaltigkeit und
Treibhausgaseinsparungen für
Biotreibstoffe und Biobrennstoffe
632
2.11.6.17.5
Bewilligungsverfahren und
Raumplanung bei den erneuerbaren
Energien
632
2.11.7
Grundzüge des Umsetzungserlasses
633
2.11.7.1
Etappierte Umsetzung
633
2.11.7.1.1
Grundsatz eines etappierten
Vorgehens
633
2.11.7.1.2
Überblick der wichtigsten Themen
des zweiten Pakets
633
2.11.7.2
Umsetzung des Stromabkommens im nationalen
Recht
635
2.11.7.2.1
Marktregulierung –
Grosshandelsmarkt
635
2.11.7.2.2
Marktregulierung – Entflechtung
und Endverbrauchermarkt
636
2.11.7.2.3
Netze und Versorgungssicherheit
637
2.11.7.2.4
Erneuerbare Energien und Statistik
639
2.11.7.2.5
Staatliche Beihilfen
640
2.11.7.3
Begleitmassnahmen mit Gesetzesanpassungen
640
2.11.7.4
Begleitmassnahmen ohne Gesetzesanpassungen
641
2.11.7.5
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
641
2.11.7.6
Umsetzungsfragen
641
2.11.8
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des
Umsetzungserlasses
642
2.11.8.1
Energiegesetz (EnG)
642
2.11.8.2
Stromversorgungsgesetz (StromVG)
643
2.11.8.3
Bundesgesetz über die Aufsicht und
Transparenz in den Energiegrosshandelsmärkten
(BATE)
666
2.11.9
Auswirkungen des Paketelements
677
2.11.9.1
Auswirkungen auf den Bund
677
2.11.9.1.1
Finanzielle Auswirkungen
677
22 / 931
2.11.9.1.2
Personelle Auswirkungen
678
2.11.9.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden
sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und
Berggebiete
680
2.11.9.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
681
2.11.9.3.1
Auswirkungen auf das Stromsystem
681
2.11.9.3.2
Auswirkungen auf Strompreise,
Bruttoinlandsprodukt (BIP) und
Wohlfahrt
683
2.11.9.3.3
Auswirkungen auf Endverbraucher
684
2.11.9.3.4
Auswirkungen auf die Strombranche
685
2.11.9.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
687
2.11.9.5
Auswirkungen auf die Umwelt
687
2.11.9.6
Andere Auswirkungen
687
2.11.10
Rechtliche Aspekte des Paketelements
687
2.11.10.1
Verfassungsmässigkeit des Abkommens
687
2.11.10.2
Verfassungsmässigkeit der
Umsetzungsgesetzgebung und
Begleitmassnahmen
688
2.11.10.2.1
Zuständigkeit
688
2.11.10.2.2
Vereinbarkeit mit Grundrechten
689
2.11.10.3
Vereinbarkeit mit internationalen
Verpflichtungen der Schweiz
689
2.11.10.4
Erlassform
690
2.11.10.5
Vorläufige Anwendung
691
2.11.10.6
Besondere rechtliche Aspekte zum
Umsetzungserlass
691
2.11.10.6.1
Unterstellung unter die
Ausgabenbremse
691
2.11.10.6.2
Einhaltung der Grundsätze des
Subventionsgesetzes
691
2.11.10.6.3
Delegation von
Rechtsetzungsbefugnissen
691
2.11.10.7
Datenschutz
691
2.12
Lebensmittelsicherheit
693
2.12.1
Zusammenfassung
693
2.12.2
Ausgangslage
693
2.12.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
694
2.12.3.1
Zielsetzung
694
2.12.3.2
Verhandlungsverlauf
695
2.12.4
Vorverfahren
696
2.12.5
Grundzüge des Protokolls
697
2.12.6
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Protokolls
698
2.12.7
Grundzüge der Umsetzungserlasse
711
2.12.8
Umsetzung in der Tierschutzgesetzgebung
711
2.12.8.1
Tierschutzgesetz und Verordnungsrecht
711
23 / 931
2.12.8.2
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
713
2.12.8.3
Umsetzungsfragen
714
2.12.8.4
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des
Umsetzungserlasses
714
2.12.8.5
Auswirkungen dieses Umsetzungserlasses
716
2.12.8.5.1
Auswirkungen auf den Bund
716
2.12.8.5.2
Auswirkungen auf Kantone und
Gemeinden sowie auf urbane
Zentren, Agglomerationen und
Berggebiete
717
2.12.8.5.3
Auswirkungen auf die
Volkswirtschaft
717
2.12.8.5.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
718
2.12.8.5.5
Auswirkungen auf die Umwelt
718
2.12.8.5.6
Andere Auswirkungen
718
2.12.8.6
Rechtliche Aspekte des Umsetzungserlasses
719
2.12.8.6.1
Verfassungsmässigkeit
719
2.12.8.6.2
Vereinbarkeit mit anderen
internationalen Verpflichtungen der
Schweiz
719
2.12.8.6.3
Erlassform
719
2.12.8.6.4
Vorläufige Anwendung
719
2.12.8.6.5
Besondere rechtliche Aspekte zum
Umsetzungserlass
719
2.12.8.6.6
Datenschutz
720
2.12.9
Umsetzung in der Lebensmittelgesetzgebung
720
2.12.9.1
Lebensmittelgesetz
720
2.12.9.2
Verordnungsrecht
721
2.12.9.2.1
Allgemeines
721
2.12.9.2.2
Zu den einzelnen Bereichen
722
2.12.9.3
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
729
2.12.9.4
Umsetzungsfragen
729
2.12.9.5
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des
Umsetzungserlasses
731
2.12.9.6
Auswirkungen dieses Umsetzungserlasses
777
2.12.9.6.1
Auswirkungen auf den Bund
777
2.12.9.6.2
Auswirkungen auf Kantone und
Gemeinden sowie auf urbane
Zentren, Agglomerationen und
Berggebiete
777
2.12.9.6.3
Auswirkungen auf die
Volkswirtschaft
778
2.12.9.6.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
779
2.12.9.6.5
Auswirkungen auf die Umwelt
779
2.12.9.6.6
Andere Auswirkungen
779
2.12.9.7
Rechtliche Aspekte des Umsetzungserlasses
779
24 / 931
2.12.9.7.1
Verfassungsmässigkeit
779
2.12.9.7.2
Vereinbarkeit mit anderen
internationalen Verpflichtungen der
Schweiz
780
2.12.9.7.3
Erlassform
781
2.12.9.7.4
Vorläufige Anwendung
781
2.12.9.7.5
Besondere rechtliche Aspekte zum
Umsetzungserlass
781
2.12.9.7.6
Datenschutz
783
2.12.10
Umsetzung in der Landwirtschafts- und
Waldgesetzgebung
784
2.12.10.1
Landwirtschafts- und Waldgesetzgebung
784
2.12.10.1.1
Pflanzengesundheit
785
2.12.10.1.2
Pflanzenvermehrungsmaterial
787
2.12.10.1.3
Pflanzenschutzmittel
790
2.12.10.1.4
Futtermittel
792
2.12.10.1.5
Tierzucht
793
2.12.10.1.6
Hygiene in der Primärproduktion
(Futter- und Lebensmittel)
794
2.12.10.2
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
794
2.12.10.3
Umsetzungsfragen
794
2.12.10.4
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der
Umsetzungserlasse
794
2.12.10.4.1
Landwirtschaftsgesetz (LwG)
794
2.12.10.4.2
Waldgesetz (WaG)
795
2.12.10.5
Auswirkungen dieser Umsetzungserlasse
796
2.12.10.5.1
Auswirkungen auf den Bund
796
2.12.10.5.2
Auswirkungen auf Kantone und
Gemeinden sowie auf urbane
Zentren, Agglomerationen und
Berggebiete
798
2.12.10.5.3
Auswirkungen auf die
Volkswirtschaft
800
2.12.10.5.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
801
2.12.10.5.5
Auswirkungen auf die Umwelt
802
2.12.10.5.6
Andere Auswirkungen
803
2.12.10.6
Rechtliche Aspekte der Umsetzungserlasse
803
2.12.10.6.1
Verfassungsmässigkeit
803
2.12.10.6.2
Vereinbarkeit mit anderen
internationalen Verpflichtungen der
Schweiz
803
2.12.10.6.3
Erlassform
803
2.12.10.6.4
Vorläufige Anwendung
803
2.12.10.6.5
Besondere rechtliche Aspekte zum
Umsetzungserlass
803
2.12.10.6.6
Datenschutz
804
25 / 931
2.12.11
Umsetzung in der Tierseuchengesetzgebung
804
2.12.11.1
Tierseuchengesetz
804
2.12.11.2
Verordnungsrecht
805
2.12.11.3
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
807
2.12.11.4
Umsetzungsfragen
808
2.12.11.5
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des
Umsetzungserlasses
808
2.12.11.6
Auswirkungen dieses Umsetzungserlasses
812
2.12.11.6.1
Auswirkungen auf den Bund
812
2.12.11.6.2
Auswirkungen auf Kantone und
Gemeinden sowie auf urbane
Zentren, Agglomerationen und
Berggebiete
813
2.12.11.6.3
Auswirkungen auf die
Volkswirtschaft
813
2.12.11.6.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
814
2.12.11.6.5
Auswirkungen auf die Umwelt
814
2.12.11.6.6
Andere Auswirkungen
814
2.12.11.7
Rechtliche Aspekte dieses Umsetzungserlasses
814
2.12.11.7.1
Verfassungsmässigkeit
814
2.12.11.7.2
Vereinbarkeit mit anderen
internationalen Verpflichtungen der
Schweiz
814
2.12.11.7.3
Erlassform
815
2.12.11.7.4
Vorläufige Anwendung
815
2.12.11.7.5
Besondere rechtliche Aspekte zum
Umsetzungserlass
815
2.12.11.7.6
Datenschutz
816
2.12.12
Auswirkungen des Paketelements
816
2.12.12.1
Auswirkungen auf den Bund
819
2.12.12.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden
sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und
Berggebiete
821
2.12.12.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
821
2.12.12.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
821
2.12.12.5
Auswirkungen auf die Umwelt
822
2.12.12.6
Andere Auswirkungen
822
2.12.13
Rechtliche Aspekte des Paketelements
822
2.12.13.1
Verfassungsmässigkeit des Protokolls
822
2.12.13.2
Verfassungsmässigkeit der
Umsetzungsgesetzgebung und
Begleitmassnahmen
822
2.12.13.3
Vereinbarkeit mit anderen internationalen
Verpflichtungen der Schweiz
822
2.12.13.4
Erlassform
823
2.12.13.5
Vorläufige Anwendung
823
26 / 931
2.12.13.6
Besondere rechtliche Aspekte zur
Umsetzungsgesetzgebung
823
2.12.13.7
Datenschutz
823
2.13
Gesundheit
824
2.13.1
Zusammenfassung
824
2.13.2
Ausgangslage
826
2.13.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
827
2.13.4
Vorverfahren
828
2.13.5
Grundzüge des Abkommens
829
2.13.5.1
Gesundheitsabkommen
829
2.13.5.2
Protokoll EU4Health
830
2.13.6
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Abkommens
830
2.13.6.1
Gesundheitsabkommen
830
2.13.6.1.1
Allgemeine Bestimmungen
830
2.13.6.1.2
Institutionelle Bestimmungen
831
2.13.6.1.3
Schlussbestimmungen
832
2.13.6.1.4
Anhang I
833
2.13.6.2
Protokoll EU4Health
835
2.13.7
Grundzüge der Umsetzung
835
2.13.7.1
Umsetzungsgesetzgebung
835
2.13.7.1.1
Gesundheitsabkommen
835
2.13.7.1.2
Protokoll EU4Health
838
2.13.7.2
Umsetzungsfragen
838
2.13.7.3
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
839
2.13.8
Auswirkungen des Paketelements
840
2.13.8.1
Auswirkungen auf den Bund
840
2.13.8.1.1
Finanzielle Auswirkungen
840
2.13.8.1.2
Auswirkungen auf den
Eigenaufwand und das Personal
840
2.13.8.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden
sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und
Berggebiete
843
2.13.8.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
844
2.13.8.3.1
Auswirkungen auf
Leistungserbringer
844
2.13.8.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
844
2.13.8.5
Auswirkungen auf die Umwelt
844
2.13.9
Rechtliche Aspekte des Paketelements
844
2.13.9.1
Verfassungsmässigkeit des Abkommens
844
2.13.9.2
Verfassungsmässigkeit der
Umsetzungsgesetzgebung
845
2.13.9.3
Vereinbarkeit mit anderen internationalen
Verpflichtungen der Schweiz
845
2.13.9.4
Erlassform
845
2.13.9.5
Vorläufige Anwendung
846
27 / 931
2.13.9.6
Besondere rechtliche Aspekte zum
Umsetzungserlass
846
2.13.9.7
Datenschutz
846
2.14
Hochrangiger Dialog
847
2.14.1
Zusammenfassung
847
2.14.2
Ausgangslage
847
2.14.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
849
2.14.4
Vorverfahren
850
2.14.5
Grundzüge des hochrangigen Dialogs
850
2.14.6
Erläuterungen zu einzelnen Paragraphen der
Gemeinsamen Erklärung
850
2.14.7
Auswirkungen des Paketelements
851
2.14.8
Rechtliche Aspekte des Paketelements
852
2.15
Zusammenarbeit der Parlamente
853
2.15.1
Zusammenfassung
853
2.15.2
Ausgangslage
854
2.15.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
854
2.15.4
Vorverfahren
855
2.15.5
Grundzüge des Abkommens
855
2.15.6
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Abkommens
855
2.15.7
Auswirkungen des Paketelements
856
2.15.8
Rechtliche Aspekte des Paketelements
857
3
Auswirkungen des Pakets Schweiz–EU
858
3.1
Auswirkungen auf den Bund
858
3.1.1
Finanzielle Auswirkungen
858
3.1.2
Personelle Auswirkungen
860
3.1.3
Auswirkungen auf die Aussenpolitik
862
3.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf urbane
Zentren, Agglomerationen und Berggebiete
864
3.2.1
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden
864
3.2.1.1
Auswirkungen im Bereich institutionelle
Elemente
864
3.2.1.2
Weitere Auswirkungen
865
3.2.1.3
Massnahmen des Bundes und Chancen für die
Kantone in zusätzlichen Bereichen
868
3.2.2
Auswirkungen auf urbane Zentren
869
3.2.3
Auswirkungen auf Agglomerationen
869
3.2.4
Auswirkungen auf Bergebiete
870
3.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
870
3.3.1
Ökonomische Bedeutung der langfristigen Sicherung der
sektoriellen Binnenmarktteilnahme
872
3.3.2
Auswirkungen der einzelnen Elemente des
Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU
877
3.3.3
Auswirkungen der drei neuen Abkommen
880
28 / 931
3.3.4
Fazit
881
3.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
881
3.5
Auswirkungen auf die Umwelt
882
4
Rechtliche Aspekte des Pakets Schweiz–EU
883
4.1
Genehmigungsbeschlüsse
883
4.2
Genehmigungsbeschluss zur Stabilisierung der bilateralen
Beziehungen
884
4.2.1
Referendum
884
4.2.1.1
Fakultatives Staatsvertragsreferendum
884
4.2.1.2
Obligatorisches Staatsvertragsreferendum
884
4.2.1.3
In der Verfassung nicht vorgesehenes
obligatorisches Staatsvertragsreferendum (sui
generis)
885
4.2.1.4
Obligatorisches Referendum über eine
Verfassungsrevision
887
4.2.1.5
Vorschlag des Bundesrates
888
4.2.2
Umsetzungsgesetzgebung
889
4.3
Genehmigungsbeschlüsse zur Weiterentwicklung der bilateralen
Beziehungen
889
4.3.1
Referendum
889
4.3.2
Umsetzungsgesetzgebung
889
4.4
Genehmigungsbeschluss über die parlamentarische
Zusammenarbeit
890
5
Würdigung des Pakets Schweiz–EU
891
5.1
Die Weiterführung des bilateralen Wegs als bewährte Option
891
5.2
Erfolgsfaktoren: Paketansatz, breite innenpolitische Abstützung
und Transparenz
892
5.3
Das Verhandlungsmandat erfüllt – inländische
Begleitmassnahmen beschlossen
894
5.4
Paket sichert Teilnahme am EU-Binnenmarkt
899
5.5
Empfehlung
899
Abkürzungsverzeichnis
901
Anhänge
922
29 / 931
1
Allgemeiner Teil
1.1
Einführung und Ausgangslage: Schweizer Europapolitik
Die Schweiz und die Welt erleben eine Zeit der wegbrechenden Sicherheiten. Dieser
Eindruck drängt sich ob mancher Entwicklungen der vergangenen Jahre auf. In der
wirtschaftlichen Sphäre drohen eine Fragmentierung der internationalen Ordnung,
eine Zunahme handelspolitischer Spannungen sowie ein Rückfall in Industriepolitik
und Protektionismus. Derweil schaffen technische Entwicklungen wie die künstliche
Intelligenz zwar neue wirtschaftliche Chancen, aber auch neue Unsicherheiten. Die
Covid-19-Pandemie zeigte ab 2020, wie verwundbar wir auch im 21. Jahrhundert an-
gesichts grenzüberschreitender Gefahren sind. 2022 ist mit dem Angriff Russlands
auf die Ukraine der Krieg nach Europa zurückgekehrt. Auch an anderen Orten eska-
lierten Konflikte, etwa im Nahen Osten. Eine neue Ära der Machtpolitik bricht an, in
der Grossstaaten sich wieder einzig nach dem Recht des Stärkeren gebaren. Das Prob-
lem des Klimawandels ist nach wie vor ungelöst. Und die Innenpolitik etlicher entwi-
ckelter Demokratien leidet unter wachsender Unzufriedenheit und Polarisierung so-
wie unter einer wachsenden Staatsschuld, deren drückende Last ihrerseits die
Unzufriedenheit und Polarisierung weiter anheizt.
Die Schweiz ist in vieler Hinsicht in einer besseren Lage als andere Länder. Dennoch
spürt man auch hierzulande, wie die Welt unsicherer und unberechenbarer geworden
ist. Dabei hat die Schweiz ihr Schicksal nicht immer vollständig selbst in der Hand,
sondern sieht sich globalen Trends, Machtpolitik und den Vorgaben der Geografie
gegenüber. Sie muss ihre unbestreitbaren Stärken ausspielen, das Beste aus der Situ-
ation machen und sich absichern, wo dies möglich ist und wo es wirklich zählt. Dazu
gehören an vorderster Stelle stabile Beziehungen zur Europäischen Union (EU).
Für die Schweiz, im Herzen Europas gelegen, ist die EU mit ihren 450 Millionen Ein-
wohnerinnen und Einwohnern von entscheidender Bedeutung. Dies gilt besonders mit
Blick auf ihren Binnenmarkt. Die EU ist mit Abstand die wichtigste Handelspartnerin
der Schweiz. Der Warenhandel ist fünfmal grösser als mit den USA und neunmal
grösser als mit China. Der Binnenmarkt erlaubt es den Menschen und den Unterneh-
men in Europa, von Freiheiten und Effizienzgewinnen zu profitieren, wie sie in dem
von kleinen und mittelgrossen Staaten geprägten Erdteil sonst nicht möglich wären.
Auch auf anderen Gebieten, etwa im Bereich Justiz und Inneres, sind die im Rahmen
der EU geschaffenen Strukturen von grösster wirtschaftlicher, migrations- und sicher-
heitspolitischer Tragweite für die Schweiz. Bei all ihren Errungenschaften ist die EU
indessen nicht ohne Mängel. Zu den häufig genannten Kritikpunkten gehört etwa, dass
die wirtschaftliche Integration noch immer nicht weit genug gehe, womit die EU ge-
genüber dynamischeren Wirtschaftsräumen in den Rückstand gerate, dass die Integra-
tion der vergangenen Jahrzehnte von einer zu wenig demokratischen und zu zentra-
listischen Entscheidfindung geprägt gewesen sei oder dass die EU zu Überregulierung
30 / 931
tendiere. Die Geschichte der EU ist eine Geschichte von Erfolgen, aber auch von Un-
zulänglichkeiten. Aus Krisen ist die Union aber bisher immer wieder gestärkt hervor-
gegangen.
In dieser komplexen Ausgangslage will der Bundesrat die Beziehungen zur EU stabi-
lisieren und weiterentwickeln und dabei Kontinuität wahren. Er will nicht weiter ge-
hen, als nötig ist, um die wesentlichen Interessen der Schweiz zu wahren. Weder ein
Alleingang noch ein Beitritt zur EU oder andere Optionen wie eine Integration in den
Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) oder eine reine Freihandelsbeziehung können
aus Sicht des Bundesrates die Interessen der Schweiz im gleichen Mass wahren. Die
Schweiz ist geografisch, kulturell, sprachlich und ideell ein zutiefst europäisches
Land. Gleichzeitig machen die institutionellen Partikularitäten ihres Staatswesens wie
die direkte Demokratie oder der Föderalismus eine EU-Mitgliedschaft schwer vor-
stellbar. An der Zusammenarbeit in Europa teilhaben und ihren Beitrag dazu leisten,
ohne dabei die staatlichen Eigenheiten zu verlieren – in diesem Spannungsfeld bewegt
sich die schweizerische Europapolitik seit Jahrzehnten. Es ist dies gleichsam der rote
Faden in den Beziehungen der Schweiz zur EU.
1
Einen ersten Versuch zur Lösung des Dilemmas machte die Schweiz schon wenige
Jahre nach der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) – Vor-
gängerorganisation der heutigen EU –, indem sie ein Assoziierungsgesuch stellte. Das
Gesuch von 1961 erfolgte im Zusammenspiel mit anderen Mitgliedstaaten der im Vor-
jahr geschaffenen Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA). Die Assoziierung
kam nicht zustande. Stattdessen nahmen die EFTA-Mitgliedstaaten Island, Norwegen,
Österreich, Portugal, Schweden und Schweiz sowie das in der EFTA mitwirkende
Finnland Verhandlungen über jeweils eigenständige Freihandelsabkommen mit der
EWG auf. Jenes
2
der Schweiz wurde 1972 unterzeichnet und schweizerischerseits im
gleichen Jahr in einer Volksabstimmung von 72,5 Prozent der Stimmenden und sämt-
lichen Ständen gutgeheissen. Das Abkommen belebte rasch den Handel zwischen der
Schweiz und der EWG. Es stellte aber einen Ordnungsrahmen dar, der weniger tief
ging als die Entwicklungen innerhalb der EWG. Während sich das Freihandelsabkom-
men auf den Abbau von Zöllen und Kontingenten beschränkte, hatte der Vertrags-
partner 1968 eine Zollunion eingerichtet (d. h. nicht nur die Binnenzölle abgeschafft,
sondern auch einen einheitlichen Aussenzoll gesetzt) und schickte sich an, einen ge-
meinsamen Markt zu schaffen. In den achtziger Jahren beschleunigten sich die Be-
strebungen für einen Binnenmarkt mit vier Freiheiten für den Verkehr von Waren,
Dienstleistungen, Personen und Kapital. Um nicht ins Hintertreffen zu geraten, inten-
sivierte die EFTA ab 1984 ihre Beziehungen zur EWG (Luxemburger Prozess) und
verhandelte mit ihr ab 1990 über die Gründung des EWR. Mit dem EWR sollten die
1
S. Bericht des Bundesrates «Lagebeurteilung Beziehungen Schweiz–EU» vom 9. Juni
2023 in Erfüllung der Postulate 13.3151 Aeschi Thomas vom 20. März 2013, 14.4080
Grüne Fraktion vom 8. Dezember 2014, 17.4147 Naef vom 14. Dezember 2017, 21.3618
Sozialdemokratische Fraktion vom 1. Juni 2021, 21.3654 Cottier vom 8. Juni 2021,
21.3667 Grüne Fraktion vom 9. Juni 2021, 21.3678 Fischer Roland vom 10. Juni 2021,
21.4450 Z’graggen vom 15. Dezember 2021, 22.3172 Maître vom 16. März 2022 und der
Motion 21.4184 Minder vom 30. September 2021.
2
Abkommen vom 22. Juli 1972 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, SR
0.632.401
.
31 / 931
EFTA-Mitgliedstaaten an einem Grossteil des gerade entstehenden EU-Binnenmarkts
partizipieren. Der «Europäische Wirtschaftsraum» wurde schliesslich per 1. Januar
1994 Wirklichkeit. Das EWR-Abkommen
3
war am 2. Mai 1992 unterzeichnet wor-
den, scheiterte in der Schweiz aber in der Volksabstimmung vom 6. Dezember des-
selben Jahres (Volk: 50,3 % Nein; Stände: 16,0 Nein). Die drei anderen der nunmehr
noch vier EFTA-Mitgliedstaaten – Island, Liechtenstein und Norwegen – traten dem
EWR dagegen bei.
In dieser veränderten Situation, und weil das Freihandelsabkommen von 1972 die Be-
dürfnisse der Schweizer Wirtschaft nicht genügend abdeckte, wählte die Schweiz ei-
nen neuen Ansatz. Sie verhandelte mit der EU fortan bilateral – das heisst nicht im
EFTA-Verbund – und sektoriell – das heisst über eine Beteiligung am EU-
Binnenmarkt lediglich in bestimmten Bereichen von gemeinsamem Interesse. Nach
langen Verhandlungen konnte am 21. Juni 1999 ein Paket von sieben sektoriellen Ab-
kommen abgeschlossen werden, die Bilateralen I (Personenfreizügigkeit
4
, technische
Handelshemmnisse
5
, öffentliches Beschaffungswesen
6
, Landwirtschaft
7
, Forschung
8
,
Luftverkehr
9
und Landverkehr
10
). Bei einigen davon handelte es sich um Binnen-
marktabkommen, bei anderen um Kooperationsabkommen mit der EU. Das Paket
wurde am 21. Mai 2000 vom Volk im Rahmen eines fakultativen Referendums mit
einem Ja-Stimmen-Anteil von 67,2 Prozent gutgeheissen. Es folgte ein Paket von
neun weiteren Abkommen, die Bilateralen II, die am 26. Oktober 2004 unterzeichnet
3
Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum, ABl. L 1 vom 3.1.1994, S. 3.
4
Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einer-
seits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die
Freizügigkeit, SR
0.142.112.681
.
5
Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der
Europäischen Gemeinschaft über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewer-
tungen, SR
0.946.526.81
.
6
Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der
Europäischen Gemeinschaft über bestimmte Aspekte des öffentlichen Beschaffungswe-
sens, SR
0.172.052.68
.
7
Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der
Europäischen Gemeinschaft über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen,
SR
0.916.026.81
.
8
Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und den
Europäischen Gemeinschaften über die wissenschaftliche und technologische Zusammen-
arbeit (mit Anhängen und Schlussakte), SR
0.420.513.1
(ursprüngliches Forschungsab-
kommen der Bilateralen I, ausgelaufen am 31. Dezember 2002, danach mehrere Folgeab-
kommen).
9
Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der
Europäischen Gemeinschaft über den Luftverkehr, SR
0.748.127.192.68
.
10
Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der
Europäischen Gemeinschaft über den Güter- und Personenverkehr auf Schiene und
Strasse, SR
0.740.72
.
32 / 931
wurden (Schengen
11
/Dublin
12
, Zinsbesteuerung [heute: automatischer Informations-
austausch]
13
, Betrugsbekämpfung
14
, landwirtschaftliche Verarbeitungsprodukte
15
,
Kultur
16
, Umwelt
17
, Statistik
18
, Ruhegehälter
19
und Bildung/Berufsbildung/Ju-
gend
20
). Sieben Abkommen unterstanden dem fakultativen Referendum, das indes
einzig gegen die Assoziierungsabkommen zu Schengen/Dublin ergriffen wurde. Das
Volk nahm diese am 5. Juni 2005 mit 54,6 Prozent Ja-Stimmen an. Zu den beiden
Paketen kommen weitere ältere und jüngere Abkommen der Schweiz mit der EU von
unterschiedlichem Gewicht. Der sogenannte bilaterale Weg beruht heute auf einem
Netz von über hundert Abkommen.
21
Mit den Jahren ist zwischen der Schweiz und
11
Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, der
Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft über die Assoziierung dieses
Staates bei der Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen-Besitzstands,
SR
0.362.31
.
12
Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und
der Europäischen Gemeinschaft über die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zu-
ständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz gestell-
ten Asylantrags, SR
0.142.392.68
.
13
Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und
der Europäischen Union über den automatischen Informationsaustausch über Finanzkonten
zur Förderung der Steuerehrlichkeit bei internationalen Sachverhalten, SR
0.641.926.81
.
14
Abkommen vom 26. Oktober 2004 über die Zusammenarbeit zwischen der Schweizeri-
schen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mit-
gliedstaaten andererseits zur Bekämpfung von Betrug und sonstigen rechtswidrigen Hand-
lungen, die ihre finanziellen Interessen beeinträchtigen, SR
0.351.926.81
.
15
Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und
der Europäischen Gemeinschaft zur Änderung des Abkommens zwischen der Schweizeri-
schen Eidgenossenschaft und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 22. Juli
1972 in Bezug auf die Bestimmungen über landwirtschaftliche Verarbeitungserzeugnisse,
SR
0.632.401.23
.
16
Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und
der Europäischen Gemeinschaft im Bereich audiovisuelle Medien über die Festlegung der
Voraussetzungen und Bedingungen für die Beteiligung der Schweizerischen Eidgenossen-
schaft an den Gemeinschaftsprogrammen MEDIA Plus und MEDIA-Fortbildung (mit An-
hängen und Schlussakte), SR
0.784.405.226.8
(ursprüngliches MEDIA-Abkommen der
Bilateralen II, ausgelaufen am 31. Dezember 2006, danach Folgeabkommen von 2007).
17
Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und
der Europäischen Gemeinschaft über die Beteiligung der Schweiz an der Europäischen
Umweltagentur und dem Europäischen Umweltinformations- und Umweltbeobachtungs-
netz (EIONET), SR
0.814.092.681
.
18
Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und
der Europäischen Gemeinschaft über die Zusammenarbeit im Bereich der Statistik, SR
0.431.026.81
.
19
Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen dem Schweizerischen Bundesrat und der
Kommission der Europäischen Gemeinschaften zur Vermeidung der Doppelbesteuerung
von in der Schweiz ansässigen ehemaligen Beamten der Organe und Agenturen der Euro-
päischen Gemeinschaften, SR
0.672.926.81
.
20
Politische Absichtserklärung, danach folgend: Abkommen vom 15. Februar 2010 zwi-
schen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Union zur Festlegung
der Voraussetzungen und Bedingungen für die Beteiligung der Schweizerischen Eidgenos-
senschaft am Programm «Jugend in Aktion» und am Aktionsprogramm im Bereich des le-
benslangen Lernens (2007–2013) (mit Anhängen), SR
0.402.268.1
.
21
Abrufbar unter: www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Überblick. S. ferner die
Arbeiten zu einer Beurteilung der Regelungsunterschiede zwischen dem schweizerischen
Recht und dem Recht der EU im Bereich der Binnenmarktabkommen der Bilateralen I:
Schlussbericht von alt Staatssekretär Mario Gattiker vom Mai 2022.
33 / 931
der EU somit eine einzigartige Zusammenarbeitsordnung entstanden. Für die EU hatte
diese allerdings stets einen provisorischen Charakter, da sie von einer letztendlichen
Mitgliedschaft der Schweiz ausging – dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines
vormals eingereichten Beitrittsgesuchs der Schweiz, das der Bundesrat schliesslich
am 27. Juli 2016 zurückzog. Dass die EU auch nach dem Rückzug des Gesuchs grund-
sätzlich mit einer Weiterführung des bilateralen Wegs einverstanden war, stellt alles
andere als eine Selbstverständlichkeit dar, handelt es sich doch um ein Arrangement,
wie es die EU mit keinem anderen Drittstaat kennt.
Ab 2010 prüften die Schweiz und die EU die Möglichkeit eines institutionellen Rah-
mens für das zwischen ihnen bestehende Vertragsgeflecht und verhandelten ab Mai
2014 über ein mögliches entsprechendes Abkommen. Dieses sollte namentlich Fragen
wie die Übernahme von EU-Recht in die Abkommen sowie die Rechtsauslegung,
Überwachung und Streitbeilegung regeln. Ende 2018 erklärte die EU die Verhandlun-
gen für beendet. Aus Sicht der Schweiz lag aber bei gewissen materiellen Punkten,
vor allem im Kontext des Freizügigkeitsabkommens (FZA) und der staatlichen Bei-
hilfen, noch keine zufriedenstellende Lösung vor. Als eine solche auch in Nachver-
handlungen nicht erzielt werden konnte, entschied der Bundesrat am 26. Mai 2021,
den Abkommenstext nicht zu unterzeichnen.
Die EU hatte zuvor schon erklärt, dass sie ohne eine Regelung der institutionellen
Fragen und der staatlichen Beihilfen sowie ohne permanenten Schweizer Kohäsions-
beitrag keine neuen Abkommen mit der Schweiz mehr abschliessen werde und beste-
hende Binnenmarktabkommen nur noch aktualisiere, wenn dies in ihrem überwiegen-
den Interesse liege. Solche Aktualisierungen sind immer dann erforderlich, wenn die
zugrundeliegende Gesetzgebung in der Schweiz und in der EU ändert. Ohne sie dro-
hen die Abkommen schrittweise an Wert zu verlieren. Die Weiterführung des bilate-
ralen Wegs ist damit ungesichert.
1.2
Geprüfte Alternativen und Paketansatz
Nach dem Ende der Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen
prüfte der Bundesrat die verschiedenen grundsätzlichen Handlungsoptionen, die sich
der Schweiz für ihr künftiges Verhältnis zur EU eröffnen. Er legte seine Überlegungen
im Bericht «Lagebeurteilung Beziehungen Schweiz–EU» dar, dessen definitive Fas-
sung er nach Konsultation der Aussenpolitischen Kommissionen von National- und
Ständerat am 9. Juni 2023 beschloss. Ausgangspunkt der Prüfung sind die Staatsziele
der Eidgenossenschaft, wie sie in Artikel 2 BV
22
– dem Zweckartikel – festgehalten
sind, darunter die Wahrung der Unabhängigkeit und Sicherheit, die gemeinsame
Wohlfahrt, die nachhaltige Entwicklung und eine friedliche und gerechte internatio-
nale Ordnung. Basierend auf den Staatszielen und den daraus folgenden schweizeri-
schen Interessen definiert der Bericht vier Kriterien zur Bewertung der europapoliti-
schen Optionen: erstens der Grad der wirtschaftlichen Integration mit der EU,
zweitens die Möglichkeit von (nichtwirtschaftlichen) Kooperationen, drittens der sich
22
Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999, SR
101
.
34 / 931
der Schweiz bietende politische Handlungsspielraum und viertens die aussenpoliti-
sche Machbarkeit.
Es existiert keine Handlungsoption, mit der sich sämtliche Staatsziele oder alle vier
Kriterien im jeweils maximalen Umfang erfüllen lassen. Stattdessen tun sich Zielkon-
flikte auf. Für sich alleine genommen weisen die einzelnen Ziele (bzw. Kriterien) in
unterschiedliche europapolitische Richtungen. Es gilt deshalb Abwägungen vorzu-
nehmen, um denjenigen Ansatz zu wählen, der die Kriterien zwar nicht vollständig,
aber übers Ganze hinweg im optimalen Mass erfüllt. Insgesamt hat der Bundesrat im
Bericht vier grundsätzliche Handlungsoptionen näher betrachtet, die hier mit einer
weiteren, zunächst offensichtlich scheinenden ergänzt werden sollen – der des Ver-
zichts auf ein aktives Handeln.
1.
Nichtstun.
Diese erste Option mag auf den ersten Blick offensichtlich sein.
Schliesslich ist die Schweiz mit den bestehenden Strukturen im Verhältnis
zur EU gut gefahren – weshalb also etwas daran ändern? Das Problem liegt
darin, dass Passivbleiben nicht etwa bedeutet, den Status quo zu erhalten.
Da die EU prinzipiell keine Aktualisierungen existierender Binnenmarktab-
kommen mehr billigt, würden diese mittel- und langfristig ihre Wirkung
weitestgehend verlieren. Die Gefahr ist gross, dass vom heutigen Gefüge
der bilateralen Abkommen schliesslich nurmehr ein Rumpf übrigbliebe,
wobei in dessen Zentrum das alte Freihandelsabkommen von 1972 sowie
die bestehenden, nichtaktualisierten Binnenmarktabkommen stünden. Den
Bedürfnissen der Schweiz und ihrer Wirtschaft wäre damit nicht Genüge
getan. Auch punktuelle neue Vereinbarungen mit der EU in Bereichen des
EU-Binnenmarkts, bei welchen sich eine Zusammenarbeit aufdrängt (etwa
im Strommarkt), lassen sich in diesem Szenario nicht mehr realisieren.
2.
Reines Freihandelsverhältnis.
Die Schweiz baut den Rahmen ihrer wirt-
schaftlichen Integration mit der EU auf ein tieferes Niveau zurück. Dieser
besteht dann im Wesentlichen aus einem Abbau der tarifären Handels-
hemmnisse (Zölle und Kontingente). Dagegen fallen alle diejenigen Er-
leichterungen weg, die auf Rechtsharmonisierung beruhen, womit die
Schweizer Wirtschaft mit neuen (nichttarifären) Handelshemmnissen kon-
frontiert wäre. Ohne vorgesehene Rechtsharmonisierung vergrössert sich
der politische Handlungsspielraum der Schweiz nur scheinbar. Faktisch fällt
der Zugewinn aber vergleichsweise bescheiden aus, da sich die Schweiz an-
gesichts der Bedeutung des EU-Markts häufig veranlasst sehen dürfte, EU-
Recht einseitig zu übernehmen (autonomer Nachvollzug). Das reine Frei-
handelsverhältnis kann sich auf das Freihandelsabkommen von 1972 oder
auf ein modernisiertes, erweitertes Freihandelsabkommen mit der EU stüt-
zen. Bei reinem Freihandel ohne Rechtsharmonisierung besteht im Ver-
35 / 931
gleich zu heute wenig Potenzial für Erweiterungen, am ehesten im Land-
wirtschafts- und beschränkt im Dienstleistungsbereich, wobei diese den In-
teressen beider Seiten entsprechen müssten.
23
3.
Weiterführung des bilateralen Wegs.
Mit dem seit den neunziger Jahren
verfolgten Ansatz ist es gelungen, zwischen der Schweiz und der EU in aus-
gewählten Bereichen binnenmarktähnliche Verhältnisse zu schaffen und
darüber hinaus auf weiteren Gebieten zu kooperieren, vor allem mit der
Schengen/Dublin-Assoziierung. Zwar bestehen Lücken, aber die wesentli-
chen Bedürfnisse der Schweiz und namentlich der Schweizer Wirtschaft
sind erfüllt. Auch konnte die Schweiz ihren politischen Handlungsspiel-
raum wahren, wenn auch bisher die Möglichkeiten beschränkt sind, an der
für sie relevanten Entscheidfindung innerhalb der EU mitzuwirken. Mit der
Ankündigung der EU, die bestehenden Binnenmarktabkommen nur noch
eingeschränkt zu aktualisieren und keine neuen Abkommen mehr abschlies-
sen zu wollen, ist die Fortsetzung des bisherigen Vorgehens aber ungewiss
geworden – die aussenpolitische Machbarkeit des bilateralen Wegs ist in-
frage gestellt.
4.
Beitritt zum EWR.
Die Schweiz, die den EWR-Vertrag einst mit aushan-
delte, dürfte diesem vermutlich weiterhin ohne allzu grosse Hindernisse bei-
treten können, sollte sie sich dazu entscheiden. Anders als über den bilate-
ralen Weg nimmt sie dann nicht mehr nur in ausgewählten Bereichen, also
nicht mehr sektoriell, am EU-Binnenmarkt teil. Stattdessen gilt der Gross-
teil des EU-Binnenmarktrechts auch für die Schweiz (einschliesslich dasje-
nige zu horizontalen Politiken wie den staatlichen Beihilfen mit wenig
Spielraum für Ausnahmen). Der Schweizer Wirtschaft stellen sich damit
nur noch wenige Marktzugangshindernisse, am stärksten noch auf dem Ge-
biet der Landwirtschaft und aufgrund der weiterhin bestehenden Zollgrenze.
Kooperationen, wie sie die Schweiz im Rahmen des bilateralen Wegs
kannte, sind auch unter dem EWR-Regime möglich. Im EWR gehen die
Pflichten im Rahmen der dynamischen Übernahme von EU-Recht deutlich
weiter als die Rechte zur Mitwirkung bei der Schaffung des Rechts.
5.
Beitritt zur EU.
Als EU-Mitgliedstaat erlangt die Schweiz die volle Bin-
nenmarktbeteiligung und den Zugang zu sämtlichen EU-Kooperationen.
Ein solches Ausmass an Integration geht über die Bedürfnisse der Schweiz
und ihrer Wirtschaft hinaus. Anders als bei einer EWR-Mitgliedschaft hat
die Schweiz zwar die vollen Mitwirkungsrechte innerhalb der EU. Diese
23
S. Bericht des Bundesrates vom Juni 2015 in Beantwortung des Postulats Keller-Sutter
[13.4022] «Freihandelsabkommen mit der EU statt bilaterale Abkommen». Als Beispiel
für breite Freihandelsabkommen ohne Rechtsharmonisierung s. die Abkommen der EU
mit dem Vereinigten Königreich sowie mit Kanada: Handels- und Kooperationsabkommen
zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und
dem Vereinigten Königreich Grossbritannien und Nordirland andererseits, ABl. L 444
vom 31.12.2020, S. 14; Umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen (CETA) zwi-
schen Kanada einerseits und der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten anderer-
seits, ABl. L 11 vom 14.1.2017, S. 23.
36 / 931
vermögen aber die Beschränkung des Rahmens autonomer Gestaltung nicht
wettzumachen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die innerstaatlichen Ver-
schiebungen in der Schweiz mitberücksichtigt werden. Die direkte Demo-
kratie und der Föderalismus werden, wenn nicht formell, so doch sicher fak-
tisch geschwächt. Denkbar ist eine Befreiung von bestimmten Pflichten im
Rahmen der Beitrittsverhandlungen (z. B. betreffend die Übernahme der ge-
meinsamen Währung, des Euro), dies aber sicher nur in beschränktem Aus-
mass.
Der Bundesrat ist der Ansicht, dass der bilaterale Weg weiterhin die geeignetste Op-
tion ist, um das Verhältnis der Schweiz zur EU zu gestalten. Dieser weist das ausge-
wogenste Verhältnis von konkretem, namentlich wirtschaftlichem Nutzen und politi-
schem Gestaltungsspielraum auf. Ein reines Freihandelsverhältnis würde der engen
Verflechtung der schweizerischen Volkswirtschaft mit derjenigen der EU entgegen-
wirken, gleiches gilt längerfristig für schlichtes Passivbleiben. Eine EWR- und eine
EU-Mitgliedschaft andererseits würden den Handlungsspielraum der Schweiz in un-
verhältnismässiger Weise einschränken.
Mit diesem Ausgangspunkt hat der Bundesrat am 23. Februar 2022 beschlossen, die
offenen Punkte in den Gesamtbeziehungen zur EU auf der Grundlage eines breiten
Paketansatzes anzugehen. Bei den institutionellen Fragen hat er sich für einen verti-
kalen Ansatz entschieden, mit dem Ziel, diese Elemente in den einzelnen Binnen-
marktabkommen zu verankern. Er erachtete den breiten Paketansatz als geeignet, den
thematischen Gegenstand von Verhandlungen mit der EU so anzureichern, dass ein
beiderseits passender Ausgleich eher erreicht werden kann.
Das Paket besteht einerseits aus einem
Stabilisierungsteil
mit den folgenden Elemen-
ten:
–
Institutionelle Elemente.
Die bestehenden fünf Binnenmarktabkommen
(Personenfreizügigkeit, Technische Handelshemmnisse, Landverkehr,
Luftverkehr, Landwirtschaft) sowie künftige Binnenmarktabkommen wer-
den mit Elementen betreffend die Auslegung, Überwachung, dynamische
Rechtsübernahme und Streitbeilegung ergänzt. Prinzipien und Ausnahmen
schützen essenzielle Interessen der Schweiz.
–
Staatliche Beihilfen.
Mit den EU-Beihilferegeln gleichwertige Bestim-
mungen werden in die relevanten Binnenmarktabkommen eingefügt, also
in das Luft- und das Landverkehrsabkommen sowie in das neue Stromab-
kommen. Die Schweiz hat dabei ihre eigenen, äquivalenten Über-
wachungsstrukturen.
–
Kooperationsabkommen.
Diese regeln die Beteiligung der Schweiz an
Programmen der EU auf den Gebieten Forschung, Bildung, Weltraum so-
wie Gesundheit.
–
Beitrag.
Ein rechtsverbindlicher Mechanismus regelt und verstetigt den
Schweizer Beitrag an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten.
37 / 931
Andererseits werden mit dem
Weiterentwicklungsteil
die bilateralen Beziehungen
zusätzlich in ausgewählten Bereichen von gemeinsamem Interesse ausgebaut.
–
Neue Abkommen.
Zwei neue Binnenmarktabkommen auf den Gebieten
Strom und Lebensmittelsicherheit sowie ein neues Kooperationsabkommen
auf dem Gebiet der Gesundheit erweitern die Zusammenarbeit zwischen der
Schweiz und der EU in materieller Hinsicht.
Nicht Teil des Pakets ist insbesondere das Freihandelsabkommen von 1972 inklusive
seiner Protokolle.
Vorgesehen sind zudem Gefässe für den regelmässigen und breiten Kontakt, darunter
ein hochrangiger Dialog und eine institutionalisierte Zusammenarbeit der Parlamente.
Der Finanzregulierungsdialog Schweiz–EU ist bereits wiederaufgenommen worden.
Ferner legt eine gemeinsame Erklärung Übergangsregeln für die Phase ab Ende 2024
bis zum Inkrafttreten des Pakets fest.
1.3
Verlauf der Verhandlungen und Verhandlungsergebnis
1.3.1
Exploratorische Phase und Verhandlungsmandat
Am 23. Februar 2022 entschied der Bundesrat, mit der EU exploratorische Gespräche
zum Paketansatz aufzunehmen.
In den ersten Gesprächsrunden zeigte sich, dass die EU grundsätzlich bereit war, auf
den Paketansatz des Bundesrates einzutreten. In diversen Punkten waren aber Diffe-
renzen zwischen der Schweiz und der EU festzustellen. Der Bundesrat entschied des-
halb am 17. Juni 2022, die exploratorischen Gespräche zu intensivieren. Ab Juli 2022
fanden erste technische Gespräche zwischen der Schweiz und der EU, unter Einbezug
der jeweiligen Fachämter beziehungsweise zuständigen Generaldirektionen der Euro-
päischen Kommission statt; diese ergänzten ab diesem Zeitpunkt die politischen und
die diplomatischen Kontakte. Die EU machte die Verschriftlichung der Ergebnisse
des Prozesses in einem gemeinsamen Dokument zur Voraussetzung, um in einen Ver-
handlungsprozess einzusteigen. Dieses Vorgehen entsprach auch der Absicht des
Bundesrates, weil es erlaubte, nach Beendigung der exploratorischen Gespräche ab-
zuschätzen, ob allfällige Verhandlungen tatsächlich erfolgreich geführt werden könn-
ten.
Zur Stärkung der politischen und inhaltlichen Steuerung der Gespräche mit der EU
und den inländischen Akteuren setzte der Bundesrat am 31. August 2022 eine Projek-
torganisation unter der Leitung des Vorstehers des EDA ein. Diese Organisation um-
fasst eine Steuerungsgruppe, in der alle Departemente und die Bundeskanzlei (BK)
vertreten sind, sowie ein enger gefasstes Gremium (Kerngruppe), dem das EDA, das
EJPD, das WBF und die BK angehören. Bereits ab Sommer 2021 erfolgte die Einbin-
dung der innenpolitischen Akteure systematisch. Bei der Schaffung der Projektorga-
nisation wurde sodann ein beratender Ausschuss (
Sounding Board
) institutionalisiert,
welcher den direkten Einbezug der Kantone, der Sozialpartner und der Wirtschaft er-
laubt. Dieses Gremium wird ebenfalls vom Vorsteher des EDA geleitet.
38 / 931
Nachdem der Bundesrat am 29. März 2023 vom Stand der exploratorischen Gesprä-
che Kenntnis genommen hatte, beauftragte er die Bundesverwaltung, Eckwerte für ein
Verhandlungsmandat auszuarbeiten. Diese wurden am 21. Juni 2023 als Grundlage
für die spätere Erarbeitung eines Mandatsentwurfs verabschiedet. Der Bundesrat be-
auftragte in der Folge das EDA, in Zusammenarbeit mit dem EJPD und dem WBF die
Gespräche mit der EU fortzuführen, um die gemeinsame Basis im Hinblick auf die
möglichen Verhandlungen zu konsolidieren.
In den folgenden Monaten gelang es den Delegationen der Schweiz und der EU, ein
gemeinsames Dokument (
Common Understanding
24
) zu finalisieren, das die wesent-
lichen Resultate der exploratorischen Gespräche festhielt. Dabei handelt es sich um
ein gemeinsames Dokument der Delegationsleitenden beider Seiten auf diplomatisch-
technischer Ebene, das als solches nicht rechtsverbindlich ist. Das Dokument skizziert
Landezonen in allen Bereichen des
Paketansatzes. Die Schweiz und die EU verstän-
digten sich zudem auf gewisse Übergangsmassnahmen, zum Beispiel den provisori-
schen Zugang der Schweiz zu bestimmten Forschungsprogrammen ab Verhandlungs-
beginn. Die exploratorischen Gespräche wurden Ende Oktober 2023 abgeschlossen.
Insgesamt fanden während der exploratorischen Phase mit der EU – neben regelmäs-
sigen politischen Kontakten – elf Sondierungsrunden auf diplomatischer Ebene und
46 Gespräche auf technischer Ebene sowie im Rahmen der innenpolitischen Projekt-
organisation 33 Sitzungen der Steuerungsgruppe und zwölf des
Sounding Boards
statt.
Der Bundesrat orientierte zudem die Aussenpolitischen Kommissionen der eidgenös-
sischen Räte laufend über die innen- und aussenpolitischen Entwicklungen. Auch auf
technischer Ebene waren die innenpolitischen Ansprechpartner an thematischen Ar-
beitsgruppen beteiligt.
Nach Abschluss der exploratorischen Gespräche wurden deren Ergebnisse vom Bun-
desrat in seiner Sitzung vom 8. November 2023 vertieft geprüft. Er kam zum Schluss,
dass eine ausreichende Basis für die Aufnahme von Verhandlungen vorlag. Insbeson-
dere konnten in den exploratorischen Gesprächen Lösungen für die «Stolpersteine»
des institutionellen Abkommens gefunden werden.
Entsprechend verabschiedete der Bundesrat am 15. Dezember 2023 einen Entwurf für
ein Verhandlungsmandat.
25
Die Aussenpolitischen Kommissionen, weitere interes-
sierte parlamentarische Kommissionen sowie die Kantone wurden zum Mandatsent-
wurf konsultiert. Die Wirtschafts- und Sozialpartner wurden zur Stellungnahme ein-
geladen. Der Bundesrat stellte daraufhin fest, dass eine grosse Mehrheit der befragten
Akteure die Aufnahme von Verhandlungen mit der EU auf der Grundlage des Paket-
ansatzes unterstützte.
26
Anhand der Ergebnisse der Konsultationen präzisierte er den
24
https://www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Stabilisierung und Weiterentwick-
lung des bilateralen Wegs > Paket Schweiz-EU
25
https://www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Stabilisierung und Weiterentwick-
lung des bilateralen Wegs > Paket Schweiz-EU
26
Der Bericht über die Ergebnisse der Konsultation ist abrufbar unter: https://www.eda.ad-
min.ch/europa >Bilateraler Weg > Stabilisierung und Weiterentwicklung des bilateralen
Wegs > Paket Schweiz-EU.
39 / 931
Entwurf des Verhandlungsmandates und verabschiedete es am 8. März definitiv.
27
Kurz darauf, am 12. März 2024, verabschiedete die EU ihrerseits ihr Verhandlungs-
mandat.
28
1.3.2
Verhandlungsphase
Am 18. März 2024 eröffneten Bundespräsidentin Viola Amherd und die Präsidentin
der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, in Anwesenheit der jeweiligen
Chefunterhändler – Patric Franzen, stellvertretender Staatssekretär, für die Schweiz
und Richard Szostak, Direktor, für die EU – offiziell die Verhandlungen zwischen der
Schweiz und der EU.
Im Verlauf der Verhandlungen fanden mehrere Kontakte auf politischer Ebene zwi-
schen Bundespräsidentin Viola Amherd und der Präsidentin der Europäischen Kom-
mission, Ursula von der Leyen, sowie zwischen Bundesrat Ignazio Cassis und dem
für die Beziehungen zur Schweiz zuständigen Vizepräsidenten der Europäischen
Kommission, Maroš Šefčovič, statt. Auf diplomatischer Ebene fanden ebenfalls Aus-
tausche zwischen dem Staatssekretär des EDA und dem Kabinettschef von Vizeprä-
sident Maroš Šefčovič statt. Diese Kontakte auf politischer und diplomatischer Ebene
setzten Impulse für den Prozess. Die Verhandlungen wurden von den Chefunterhänd-
lern geführt. Diese trafen sich auf ihrer Ebene rund dreimal im Monat, zuzüglich häu-
figere punktuelle Kontakten. Sie waren für die Leitung des gesamten Verhandlungs-
prozesses verantwortlich. Zudem befassten sie sich mit Fragen, die nicht in den
einzelnen Verhandlungsgruppen geklärt werden konnten. Dabei zogen sie die für die
jeweiligen Themen zuständigen Unterhändler der Verhandlungsgruppen bei. Es gab
14 Verhandlungsgruppen zu folgenden Themenbereichen:
(i)
institutionelle Ele-
mente,
(ii)
staatliche Beihilfen,
(iii)
Personenfreizügigkeit (Zuwanderung),
(iv)
Per-
sonenfreizügigkeit (Lohnschutz),
(v)
Landverkehr,
(vi)
gegenseitige Anerkennung
von Konformitätsbewertungen,
(vii)
Luftverkehr,
(viii)
Lebensmittelsicherheit und
Landwirtschaft,
(ix)
Strom,
(x)
Gesundheit,
(xi)
Programme,
(xii)
Weltraum,
(xiii)
Schweizer Beitrag und
(xiv)
transversale Elemente. Die Schweizer Delegatio-
nen in diesen Verhandlungsgruppen wurden jeweils von zwei Unterhändlern geleitet,
einer aus dem fachlich zuständigen Departement und einer aus der Abteilung Europa
des Staatssekretariats EDA. Den Delegationen gehörten Vertreterinnen und Vertreter
der zuständigen Bundesdepartemente, der Kantone, sofern deren Zuständigkeiten be-
troffen waren, und der Mission der Schweiz bei der EU an. Die Delegationen der EU
in den Verhandlungsgruppen wurden von Unterhändlern aus den zuständigen Gene-
raldirektionen und dem Generalsekretariat der Europäischen Kommission geleitet.
Die meisten Sitzungen der Chefunterhändler und der Verhandlungsgruppen fanden
online
statt, einige jedoch auch vor Ort in Bern oder in Brüssel.
An seiner Sitzung vom 26. Juni 2024 nahm der Bundesrat eine Standortbestimmung
zu den Verhandlungen mit der EU vor. Er stellte in einigen Bereichen konkrete Fort-
27
https://www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Stabilisierung und Weiterentwick-
lung des bilateralen Wegs > Paket Schweiz-EU
28
www.consilium.europa.eu > Nachrichten und Medien > Pressemitteilungen > 12. März
2024 (15:05)
40 / 931
schritte fest. In anderen Bereichen, vor allem bei der Zuwanderung und beim Lohn-
schutz, mussten sich die Positionen der Delegationen noch weiter annähern. Der Bun-
desrat beauftragte die Departemente, die Arbeiten auf aussen- und innenpolitischer
Ebene weiterzuführen.
Am 4. Juli 2024 fand ein Telefongespräch zwischen Bundesrat Ignazio Cassis und
dem Exekutiv-Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, Maroš Šefčovič, statt.
Dabei ging es namentlich um die Teilnahme der Schweiz an den europäischen For-
schungsprogrammen. Am selben Tag hatte die EU nämlich beschlossen, dass sich die
Forschenden aus der Schweiz an den ersten drei Ausschreibungen des Europäischen
Forschungsrats für das Programmjahr 2025 gemäss der in der Sondierungsphase vor-
gesehenen Übergangregelung beteiligen dürfen. Bundesrat Ignazio Cassis und Exe-
kutiv-Vizepräsident Maroš Šefčovič telefonierten am 20. September 2024 erneut, um
eine Standortbestimmung zum Fortschreiten der Verhandlungen vorzunehmen und
die nächsten Schritte zu besprechen. Auf dieses Gespräch folgten Treffen in Brüssel
zwischen den Chefunterhändlern sowie zwischen dem Staatssekretär des EDA und
dem scheidenden und dem neuen Kabinettschef von Exekutiv-Vizepräsident Maroš
Šefčovič.
An seiner Sitzung vom 6. November 2024 führte der Bundesrat erneut eine vertiefte
Diskussion über den Stand der Verhandlungen mit der EU und die Arbeiten im Hin-
blick auf die interne Umsetzung des Pakets. Er stellte fest, dass in den meisten Berei-
chen des Pakets substanzielle Fortschritte erzielt worden waren, insbesondere bei den
institutionellen Fragen und den staatlichen Beihilfen. In anderen Bereichen, vor allem
Personenfreizügigkeit, Strom und Schweizer Kohäsionsbeitrag, sollten die Verhand-
lungen im Hinblick auf eine Einigung der beiden Parteien weitergehen. Der Bundesrat
beauftragte das EDA und die fünf anderen betroffenen Departemente (EJPD, WBF,
UVEK, EDI und EFD), die Verhandlungen mit der EU weiterzuführen.
Am 28. November 2024 traf sich Bundesrat Ignazio Cassis in Begleitung des Chefun-
terhändlers und der Staatssekretäre des EDA, des SECO und des SEM ein weiteres
Mal mit dem Exekutiv-Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, Maroš Šefčo-
vič, in Bern. Nach einer politischen Bilanzziehung zu den Verhandlungen stellten sie
fest, dass die Verhandlungen in den meisten Bereichen des Pakets weit fortgeschritten
waren und erörterten die noch offenen Fragen. Sie bekräftigten ihr Engagement, die
Verhandlungen erfolgreich abzuschliessen, wobei ein materieller Abschluss der Ver-
handlungen bis Ende des Jahres angestrebt wurde, sofern der Inhalt qualitativ zufrie-
denstellend wäre.
An seiner Sitzung vom 20. Dezember 2024 nahm der Bundesrat mit Befriedigung
vom erfolgreichen materiellen Abschluss der Verhandlungen zwischen der Schweiz
und der EU Kenntnis. Er stellte fest, dass die Schweizer Delegation die im Verhand-
lungsmandat festgesetzten Ziele in allen betroffenen Bereichen erreicht hatte. Er be-
auftragte die betroffenen Departemente, die nächsten Schritte für einen formellen Ab-
schluss
der
Verhandlungen vorzubereiten.
Am
selben
Tag
trafen
sich
Bundespräsidentin Viola Amherd und die Präsidentin der Europäischen Kommission,
Ursula von der Leyen, anlässlich des materiellen Abschlusses der Verhandlungen in
41 / 931
Bern und begrüssten das Verhandlungsresultat. Von der Verabschiedung des Ver-
handlungsmandats durch den Bundesrat bis zum materiellen Abschluss der Verhand-
lungen wurden 197 Verhandlungssitzungen durchgeführt.
Nach dem materiellen Abschluss der Verhandlungen nahmen die Delegationen die
formal-rechtliche Überarbeitung und Übersetzung der Dokumente im Hinblick auf
den formellen Abschluss der Verhandlungen an die Hand.
1.3.3
Miteinbezug von Parlament, Kantonen und weiteren
Interessensgruppierungen
Im Verlauf des gesamten Prozesses gewährleistete ein kontinuierlicher Austausch mit
den zuständigen parlamentarischen Kommissionen der eidgenössischen Räte, den
Kantonen, den Sozialpartnern und der Wirtschaft, dass die zentralen Akteure in der
Schweiz stets über die Gespräche auf dem Laufenden waren und ihre Standpunkte
einbringen konnten.
So war das Parlament während der verschiedenen Phasen eng in die Arbeit einbezo-
gen. Dieser Einbezug erfolgte in erster Linie im Rahmen des für den europapolitischen
Austausch institutionalisierten Formats der «Europapolitischen Aktualitäten», die bei
jeder Sitzung beider Aussenpolitischen Kommissionen (APK) traktandiert sind. Wäh-
rend der exploratorischen Gespräche mit der EU zwischen März 2022 und Oktober
2023 fand in Anwesenheit einer Delegation des Bundesrates beziehungsweise des
EDA 26-mal ein solcher Austausch statt. Auf Anfrage wurden andere Sachbereichs-
kommissionen über den Stand der Arbeiten informiert. Die APK wurden im April
2022 über die vom Bundesrat am 23. Februar 2022 verabschiedeten Eckpunkte für ein
Verhandlungspaket und die ersten Entwicklungen in den exploratorischen Gesprä-
chen informiert
29
. Um dem Informationsbedürfnis in Bezug auf die Stossrichtung des
Pakets Rechnung zu tragen, schlug der Bundesrat den APK ausserdem vor, eine aus-
serordentliche Informationsveranstaltung zu diesem Thema durchzuführen. Neben
der kontinuierlichen Information über den Verlauf der exploratorischen Gespräche
wurden die APK Anfang 2023 zum Bericht des Bundesrates «Lagebeurteilung Bezie-
hungen Schweiz–EU» konsultiert
30
, der auch auf die Sondierungen zum Paket
Schweiz–EU eingeht.
Nach Abschluss der exploratorischen Gespräche mit der EU wurden die zuständigen
parlamentarischen Kommissionen zum Entwurf des Verhandlungsmandats konsul-
tiert
31
. Anfang 2024 befassten sich acht verschiedene parlamentarische Kommissio-
nen an zwanzig Sitzungen mit dem Mandat (APK und andere interessierte Kommis-
sionen: Verkehr und Fernmeldewesen [KVF], Soziale Sicherheit und Gesundheit
29
Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) (15. Dezember
2023): Bericht zu den exploratorischen Gesprächen zwischen der Schweiz und der EU zur
Stabilisierung und Weiterentwicklung ihrer Beziehungen.
30
www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > Medienmitteilungen des Bun-
desrates > 09.06.2023 > Bundesrat verabschiedet den Bericht Lagebeurteilung Beziehun-
gen Schweiz
–EU.
31
www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > Medienmitteilungen des Bun-
desrates > 08.03.2024 > Beziehungen Schweiz
–EU:
Bundesrat verabschiedet das endgül-
tige Verhandlungsmandat
.
42 / 931
[SGK], Staatspolitische Kommission [SPK], Umwelt, Raumplanung und Energie
[UREK], Wirtschaft und Abgaben [WAK], Wissenschaft, Bildung und Kultur [WBK]
und Finanzen [FK]). Die APK sowie zwei weitere Sachbereichskommissionen
(WAK, KVF) unterstützten den Mandatsentwurf in ihrer Stellungnahme an den Bun-
desrat. Die Kommissionen verlangten eine Reihe von Präzisierungen des Mandats, die
der Bundesrat bei der Verabschiedung des endgültigen Verhandlungsmandats am
8. März 2024 weitgehend übernahm.
Danach wurde das Parlament über eine ausführliche und kontinuierliche Information
der APK im Rahmen der «Europapolitischen Aktualitäten» in die Verhandlungsfüh-
rung einbezogen. Während der Verhandlungen haben verschiedene Mitglieder des
Bundesrates an nicht weniger als 13 Sitzungen der APK über die Verhandlungen in-
formiert. Auch die EFTA/EU-Delegation des Parlaments wurde einbezogen, nament-
lich bei einem Austausch über die parlamentarische Zusammenarbeit Schweiz–EU (s.
Ziff. 2.15). Bei diesem Verhandlungsthema, welches das Parlament direkt betrifft,
wurden die APK Ende 2024 zum Entwurf des Protokolls mit der EU konsultiert. Die
Kommissionen beider Räte unterstützten den Ansatz des Bundesrates. Ausserdem
wurden auf Anfrage auch andere Sachbereichskommissionen über den Stand der Ar-
beiten in ihrem Zuständigkeitsbereich informiert. Beispielsweise wurden die WBK
mehrmals über die Gespräche zum Programm Horizon Europe informiert. Schliess-
lich fand über das institutionalisierte Vorgehen zur Beteiligung des Parlaments im
Bereich der Aussenpolitik gemäss Artikel 152 des Parlamentsgesetzes
32
hinaus ein
informeller Austausch auf verschiedenen Ebenen statt, um das Paket und seine inner-
staatliche Umsetzung zu erörtern: z. B. mit den Präsidenten der APK und der Ständi-
gen Subkommission für Europafragen der APK-N, aber auch mit den Fraktionen oder
deren Vorsitzenden.
Auch der Einbezug der Kantone wurde durch den ständigen Austausch auf der politi-
schen und technischen Ebene in jeder Phase des Prozesses zum Paket Schweiz–EU
sichergestellt. Bundesrat und -verwaltung informierten die Kantone bereits während
der exploratorischen Gespräche intensiv über deren Verlauf. Auch auf technischer
Ebene waren die Kantone an thematischen Arbeitsgruppen beteiligt. Die Kantone
wurden dann in Anwendung von Artikel 55 BV sowie des diese Verfassungsbestim-
mung konkretisierenden Mitwirkungsgesetzes
33
im Dezember 2023 zum Entwurf des
Verhandlungsmandats des Bundesrates konsultiert. Die Konferenz der Kantonsregie-
rungen (KdK) nahm am 2. Februar 2024 dazu Stellung. Sie befürwortete die Verhand-
lungslinien des Bundesrates und unterstützte die Aufnahme von Verhandlungen mit
der EU. Die Stellungnahme wurde von einer Mehrheit von 24 der 26 Kantone befür-
wortet.
Auf politischer Ebene wurde sichergestellt, dass kantonale politische Vertreterinnen
und Vertreter vor, während und nach den Verhandlungen laufend informiert wurden
und die Möglichkeit hatten, sich zu äussern:
(i)
Einerseits waren die Kantone in zwei
32
RS
171.10
33
Bundesgesetz vom 22. Dezember 1999 über die Mitwirkung der Kantone an der Aussen-
politik des Bundes (BGMK; SR
138.1
); Vereinbarung vom 7. Oktober 1994 zwischen
Bundesrat und KdK.
43 / 931
institutionalisierten Gefässen vertreten, nämlich im Europadialog Bund–Kantone und
mit einer Vertretung im
Sounding Board
der Projektorganisation.
(ii)
Andererseits
wurde ein regelmässiger Austausch mit dem Schweizer Chefunterhändler und weite-
ren Vertreterinnen und Vertretern der Bundesverwaltung in der Europakommission
der KdK organisiert. Bis zur Eröffnung der Vernehmlassung wurden insgesamt 22
Europadialoge und 25 Sitzungen des
Sounding Boards
durchgeführt. Daneben nah-
men diverse hochrangige Mitglieder der Bundesverwaltung, darunter zwei Staatssek-
retäre und der Chefunterhändler, an rund zehn Sitzungen der Europakommission der
KdK teil.
Als zentrale Partner des Bundes wurden die Kantone auch stark in die Verhandlungs-
organisation einbezogen. So waren sie in acht (von insgesamt 14) Verhandlungsgrup-
pen, die Themen mit kantonaler Zuständigkeit behandelten, durch fachliche Vertrete-
rinnen und Vertreter der Konferenz der Kantonsregierungen und relevanter
Direktorenkonferenzen (DK) in den Schweizer Verhandlungsdelegationen vertreten
(s. Ziff. 2.1, 2.2., 2.3, 2.5, 2.8, 2.11, 2.13): Kantonale Vertreterinnen und Vertreter
waren in den Verhandlungsgruppen zu den Institutionellen Modulen, den staatlichen
Beihilfen, PFZ – Zuwanderung, PFZ – Lohnschutz, Landverkehr, Storm, Gesundheit
und Programme vertreten. Beteiligte Direktorenkonferenzen waren die Konferenz der
Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK), die Konferenz der Volkswirt-
schaftsdirektorinnen und -direktoren (VDK), die Konferenz der kantonalen Direkto-
rinnen und Direktoren des öffentlichen Verkehrs (KÖV), die Konferenz der Energie-
direktorinnen und -direktoren (EnDK), die Konferenz der Gesundheitsdirektorinnen
und -direktoren (GDK) und die Konferenz der Erziehungsdirektorinnen und -direkto-
ren (EDK). In den Arbeitsgruppen Bund–Kantone hatten die Kantone weitere Gele-
genheit, sich auf technischer Ebene einzubringen. Auf der innenpolitischen Ebene
wurden die Kantone durch die zuständigen Ämter eng in die Erarbeitung der jeweili-
gen inländischen Umsetzungsgesetzgebung involviert. Die Ergebnisse dieses techni-
schen Austauschs konnten anschliessend in den oben genannten politischen Gremien
(Europadialog,
Sounding Board
) diskutiert werden. Nach den Verhandlungen lief der
Austausch in den institutionalisierten Gefässen Europadialog und
Sounding Board
weiter.
Weitere institutionelle Partner des Bundes wie Städte und Gemeinden, beziehungs-
weise der Schweizerische Städteverband (SSV) und der Schweizerische Gemeinde-
verband (SGV), wurden bei verschiedenen Gelegenheiten vom Departementschef des
EDA oder dem Staatssekretär des EDA über den Stand der Verhandlungen informiert
und konnten dabei ihre Anliegen einbringen.
Die Sozialpartner und die Wirtschaft wurden während der exploratorischen Gespräche
sowie Verhandlungen eng einbezogen. Neben etwa 110 Sitzungen der fachspezifi-
schen innenpolitischen Gremien zu Lohnschutz, Zuwanderung, Strom und Landver-
kehr (Weitere Ausführungen s. Ziff. 2) waren der Schweizerische Gewerkschaftsbund
(SGB), Travail.Suisse, der Schweizerische Arbeitgeberverband (SAV), der Schwei-
zerische Gewerbeverband (SGV) sowie economiesuisse Teil des
Sounding Boards
.
Dieses Gremium tagt monatlich unter der Leitung des Departementschefs des EDA.
Bis zur Eröffnung der Vernehmlassung fanden insgesamt 25 Sitzungen statt. Im Rah-
44 / 931
men des
Sounding Boards
wurden die Sozialpartner und economiesuisse kontinuier-
lich über den Fortschritt der exploratorischen Gespräche, der Verhandlungen und der
inländischen Umsetzung informiert und konnten ihre Anliegen einbringen. Ergänzend
dazu fanden regelmässig weitere Treffen zwischen Vertreterinnen und Vertretern der
Departemente auf Bundesrats- und Direktionsstufe, dem Chefunterhändler sowie den
Sozialpartnern und economiesuisse statt.
Die Spitzen der grössten politischen Parteien, Vertreterinnen und Vertreter weiterer
Gewerkschaften, Angestelltenverbände, Wirtschafts- und Branchenverbände, Han-
delskammern sowie der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) und Swissgrid waren
aktiv in den Informationsaustausch eingebunden und wurden dabei zum Stand der
exploratorischen Gespräche, der Verhandlungen und zur inländischen Umsetzung
durch die zuständigen Departemente und das EDA auf technischer und politischer
Ebene informiert. Weiter wurden zivilgesellschaftliche Organisationen bei verschie-
denen Gelegenheiten informiert und ihre Anliegen entgegengenommen. Alle interes-
sierten Akteurinnen und Akteure hatten zudem die Möglichkeit, sich zum Verhand-
lungsmandat zu äussern. Die Anliegen wurden, soweit möglich in den Verhandlungen
berücksichtigt.
1.3.4
Verhandlungsergebnis
Das aus den Verhandlungen hervorgegangene Paket entspricht dem vom Bundesrat
am 23. Februar 2022 beschlossenen Ansatz. Es besteht aus zwei Teilen: einem Teil
über die Stabilisierung und einem Teil über die Weiterentwicklung der Beziehungen
Schweiz–EU. Der Stabilisierungsteil umfasst
(i)
die sektorielle Verankerung von in-
stitutionellen Elementen in den bestehenden Binnenmarktabkommen Personenfreizü-
gigkeit, technische Handelshemmnisse (MRA), Land- und Luftverkehr unter Berück-
sichtigung von Ausnahmen, Absicherungen und Prinzipien,
(ii)
die Aufnahme von
Bestimmungen über staatliche Beihilfen in die bestehenden Land- und Luftverkehrs-
abkommen,
(iii)
weitere Anpassungen der bestehenden Abkommen (Personenfreizü-
gigkeit, technische Handelshemmnisse (MRA), Land- und Luftverkehr sowie Land-
wirtschaft),
(iv)
Kooperationsabkommen in den Bereichen Forschung, Bildung und
Weltraum sowie
(v)
die Verstetigung des Schweizer Beitrags
.
Die Elemente des Sta-
bilisierungsteils können nur gemeinsam in Kraft treten. Der Weiterentwicklungsteil
umfasst
(i)
neue Binnenmarktabkommen in den Bereichen Strom (inkl. institutionelle
Elemente und staatliche Beihilfen) und Lebensmittelsicherheit (inkl. institutionelle
Elemente) sowie
(ii)
ein neues Kooperationsabkommen im Bereich Gesundheit. Jedes
Element des Weiterentwicklungsteils kann unabhängig von den anderen in Kraft tre-
ten, sofern die Instrumente des Stabilisierungsteils in Kraft treten (s. Kap. 2 zu den
einzelnen Verhandlungsergebnissen und Ziff. 2.1.5.6 zu den Bestimmungen zum In-
krafttreten).
Die Schweiz und die EU streben zudem nach einem regelmässigen poli-
tischen Austausch in unterschiedlichen Bereichen. Folglich wurden
(i)
ein hochrangi-
ger Dialog und
(ii)
eine institutionalisierte parlamentarische Zusammenarbeit
beschlossen.
Die Schweiz und die EU haben darüber hinaus in einer Gemeinsamen Erklärung den
Umfang der Partnerschaft und der Zusammenarbeit im Zeitraum von Ende 2024 bis
zum Inkrafttreten des Pakets festgelegt. Sie haben sich insbesondere auf folgende
Punkte geeinigt:
45 / 931
–
Der Umfang der Zusammenarbeit im Rahmen der bilateralen Beziehungen
zwischen der Schweiz und der EU sollte ausgebaut werden.
–
Seit dem 1. Januar 2025 wird die Übergangsregelung im Bereich Forschung
und Innovation vollständig angewandt. Dies ermöglicht den Schweizer Ein-
richtungen den Zugang zu fast allen Ausschreibungen der Programme Ho-
rizon Europe, Euratom und Digital Europe.
–
Die Schweiz und die EU arbeiten zusammen, um die Sicherheit und das
reibungslose Funktionieren der Stromnetze aufrechtzuerhalten und die Be-
völkerung im Falle schwerwiegender grenzüberschreitender Gesundheits-
gefahren zu schützen, insbesondere durch die technische Beteiligung an den
EU-Instrumenten zur Gesundheitssicherheit. Sie verlängern ausserdem die
Übergangsmassnahmen, damit die Schweiz über das Jahr 2025 hinaus an
der Eisenbahnagentur der Europäischen Union teilnehmen kann.
–
Der Dialog über die Finanzmarktregulierung, der am 4. Juli 2024 wieder
aufgenommen wurde, wird fortgesetzt.
–
Die Schweiz und die EU arbeiten eng und nach Treu und Glauben zusam-
men, um das gute Funktionieren der bestehenden Binnenmarktabkommen
sicherzustellen. Insbesondere führen sie Gespräche über die Umsetzung des
MRA.
–
Aufgrund der Sensibilität, die der Ratifikationsprozess des Pakets für die
Schweiz und die EU aufweist, sollten beide Parteien auf seinen Abschluss
hinwirken und gleichzeitig ihre bilateralen Beziehungen festigen.
Diese Gemeinsame Erklärung ist rechtlich unverbindlich. Der Abschluss der Erklä-
rung liegt gemäss Artikel 184 Absatz 1 BV
34
in der Kompetenz des Bundesrates.
Betreffend die inländische Genehmigung kann der Bundesrat Abkommen in einem
Bundesbeschluss gebündelt und gemeinsam vorlegen (horizontale Bündelung). Sie
müssen einen sachlichen Zusammenhang zueinander aufweisen (Einheit der Materie).
Das Recht der Stimmberechtigten auf freie Willensbildung und unverfälschte Stimm-
abgabe (Art. 34 Abs. 2 BV) muss in einem verhältnismässigen Ausgleich zu den öf-
fentlichen Interessen an einer Bündelung der Abkommen stehen. Den Behörden
kommt dabei ein substantieller Ermessensspielraum zu.
Der Bundesrat schlägt vor, das Paket Schweiz–EU in einen Stabilisierungs- und einen
Weiterentwicklungsteil zu unterteilen. Die Elemente des Stabilisierungsteils sollen in
einem Bundesbeschluss vorgelegt werden. Sie sind sachlich dadurch verbunden, dass
sie der
Stabilisierung
des bilateralen Wegs dienen. Bei den drei Abkommen des Wei-
terentwicklungsteils handelt es sich um eine
Weiterentwicklung
des bilateralen Wegs.
Sie werden vom Bundesrat je in einem separaten Bundesbeschluss vorgelegt.
Die Abkommen erfordern eine Umsetzung in verschiedenen Bundesgesetzen. Diese
können in den jeweiligen Bundesbeschluss über die Genehmigung des Abkommens
34
SR
101
46 / 931
bzw. der Abkommen aufgenommen werden, wenn diese dem fakultativen Referen-
dum (mit Volksmehr) unterstehen (vertikale Bündelung, vgl. Art. 141
a
Abs. 2 BV).
Nach der Praxis gilt das auch für flankierende oder kompensatorische Massnahmen
in der Form eines Bundesgesetzes.
Der Bundesrat legt dem Parlament somit insgesamt vier referendumsfähige Bundes-
beschlüsse vor: einen über den Stabilisierungsteil sowie je einen für die drei neuen
Abkommen des Weiterentwicklungsteils (s. Ziff. 4).
1.4
Verhältnis zur Legislaturplanung sowie zu Strategien des
Bundesrates
Der Bundesrat will die Beziehungen zur EU, welche die Schweiz über den sogenann-
ten bilateralen Weg regelt, stabilisieren und weiterentwickeln. So hat er es unter an-
derem in der Botschaft zur Legislaturplanung 2023–2027, der Aussenpolitischen Stra-
tegie 2024–2027 (APS) sowie in der 2021 verabschiedeten Strategie zur
Aussenwirtschaftspolitik festgehalten
35
. Er will dies durch die Aktualisierung beste-
hender Binnenmarktabkommen, den Abschluss neuer Abkommen in den Bereichen
Strom, Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, die Beteiligung der Schweiz an EU-
Programmen, insbesondere im Bereich Bildung, Forschung und Innovation, sowie die
Lösung der institutionellen Fragen und die Regelung der staatlichen Beihilfen in den
einzelnen Binnenmarktabkommen erreichen. Des Weiteren ist der Bundesrat bereit,
durch die Verstetigung eines Schweizer Beitrags zu einem sicheren, stabilen und pros-
perierenden Europa beizutragen.
1.4.1
Verhältnis zur Legislaturplanung
Die in der Botschaft vom 24. Januar 2024
36
zur Legislaturplanung 2023–2027 unter
Ziel 2 als Richtliniengeschäfte und im Bundesbeschluss vom 6. Juni 2024 über die
Legislaturplanung 2023–2027, Artikel 3, einzeln aufgelisteten Abkommen und Bot-
schaften werden in der vorliegenden Vernehmlassungsvorlage zusammengeführt und
als Sammelbotschaft verabschiedet.
1.4.2
Verhältnis zu Strategien des Bundesrates
Vor dem Hintergrund der aktuellen weltpolitischen und -wirtschaftlichen Situation
bleibt ein stabiles und prosperierendes Europa für die Sicherheit, den Wohlstand und
die Unabhängigkeit der Schweiz wichtig. Die Beziehung zur EU sowie allen europä-
ischen Staaten ist daher auch der grösste geografische Schwerpunkt der aktuellen
APS. Das vorliegende Paket nimmt alle Elemente auf, die in der APS in Zusammen-
hang mit der Stabilisierung und Weiterentwicklung des bilateralen Wegs mit der EU
erwähnt werden. In der Strategie wird zudem betont, dass die Regelung der Beziehun-
gen zur EU Einfluss auf zahlreiche Aspekte des täglichen Lebens in der Schweiz hat.
Kantone, Parlament und weitere Interessengruppierungen sollen deshalb eng in die
35
Schweizerischer Bundesrat, Botschaft vom 24. Januar 2024 zur Legislaturplanung 2023–
2027; Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten, Aussenpolitische
Strategie 2024–2027, Bern, 31. Januar 2024; Eidgenössisches Departement für Wirtschaft,
Bildung und Forschung WBF, Strategie zur Aussenwirtschaftspolitik, Bern 24. November
2021.
36
BBl
2024
1440
47 / 931
Gestaltung miteinbezogen werden. Diesem Anliegen wird mit dem Paket Rechnung
getragen. Der Einbezug des Parlaments und der Kantone hat während des gesamten
Prozesses stattgefunden und wird explizit festgehalten.
Die 2021 verabschiedete Strategie zur Aussenwirtschaftspolitik des Bundesrates hält
fest, dass die Schweiz weiterhin eine regulatorische Annäherung zum wichtigsten
Handelspartner, der EU, verfolgt. Die Stabilisierung und Weiterentwicklung des be-
währten bilateralen Wegs bleiben dabei die prioritären Ziele.
Elemente des Pakets entsprechen zudem verschiedenen übergeordneten Zielen aus di-
versen weiteren Strategien; etwa im Bereich Bildung, Forschung und Innovation
(BFI). Gemäss der Internationalen BFI-Strategie der Schweiz schafft der Bund die
optimalen Rahmenbedingungen für die internationale Betätigung von Schweizer Akt-
euren in diesem Bereich
37
. Die im Paket verhandelte Teilnahme am Horizon-Paket
2021–2027 und Erasmus+ erfüllt dieses Ziel.
Mit der Energiestrategie 2050 will der Bundesrat langfristig eine sichere Energiever-
sorgung sicherstellen und die energiebedingte Umweltbelastung reduzieren
38
. Im Mai
2017 hat das Schweizer Stimmvolk dazu dem neuen Energiegesetz zugstimmt
39
. Im
Juni 2024 hat das Schweizer Stimmvolk mit der Zustimmung zum Bundesgesetz über
eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien die Stossrichtung der Ener-
giestrategie 2050 bestätigt
40
. Die Energiestrategie 2050 erfordert eine stärkere Elekt-
rifizierung des Energiesystems. Das Paket CH-EU inkl. Stromabkommen vereinfacht
deren Umsetzung, indem sie die Einbindung der Schweiz ins europäische Stromsys-
tem und damit den Austausch und Handel von Strom völkerrechtlich absichern.
Ein Ziel der Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030 ist, dass die Schweiz mit ande-
ren europäischen Staaten arbeitet, um den wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und
territorialen Zusammenhalt zu verbessern und so die territorialen Disparitäten in Eu-
ropa zu verringern
41
. Mit der Verstetigung des Schweizer Beitrags, der Teil des Pakets
ist, wird diesem Ziel nachgekommen.
1.5
Erledigung parlamentarischer Vorstösse
Mit der vorliegenden Botschaft werden folgende parlamentarische Vorstösse zur Ab-
schreibung beantragt:
Die Motion 14.3120 Sozialdemokratische Fraktion «Die Partnerschaft mit Europa si-
cherstellen» beauftragt den Bundesrat, die erreichte Qualität unserer Beziehungen zur
EU zu gewährleisten. Er soll die rechtlichen Grundlagen vorschlagen, welche den
Beibehalt, die Weiterentwicklung und die Vertiefung unserer Beziehungen zu Europa
37
Schweizerischer Bundesrat, Internationale Strategie der Schweiz im Bereich Bildung, For-
schung und Innovation, Bern, Juli 2018.
38
Abrufbar unter: www.bfe.admin.ch > Politik > Energiestrategie 2050
39
BBl 2016 7683
40
AS 2024 679
41
Schweizerischer Bundesrat, Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030, Bern, 23. Juni 2021.
48 / 931
sicherstellen. Das in der vorliegenden Botschaft beantragte Paket Schweiz–EU be-
zweckt eine solche Stabilisierung und Weiterentwicklung der Beziehungen mit der
EU (s. Kap. 1 und 5).
Die Motion 10.3005 APK-S «Massnahmen zur frühzeitigen Information des Parla-
mentes über relevante europäische Gesetzgebungsentwürfe» verlangt im Wesentli-
chen eine verstärkte Information der eidgenössischen Räte über europäische Gesetz-
gebungsentwürfe, die für die Schweiz relevant sind. Das Postulat 11.3916 Nordmann
«Informationspolitik zum autonomen Nachvollzug von EU-Recht» verlangt eine bes-
sere Information zum «autonomen Nachvollzug» von EU-Recht in der Schweiz. Die
Postulate 14.3557 Schilliger «Übernahme von EU-Recht. Kein Swiss Finish und kein
vorauseilender Gehorsam» und 14.3577 Fournier «Übernahme von EU-Recht. Weder
Swiss Finish noch vorauseilender Gehorsam» beauftragen den Bundesrat, aufzuzei-
gen, wie sichergestellt werden kann, dass einerseits das von der Schweiz übernom-
mene EU-Recht nicht noch zusätzlich verschärft wird (
Swiss Finish
) und andererseits
diese Übernahme zum spätest möglichen Zeitpunkt erfolgt. Das Postulat 18.3059
Nussbaumer «Zukünftige parlamentarische Mitwirkung in Angelegenheiten
Schweiz/EU» verlangt, dass die Möglichkeiten der zukünftigen Mitwirkung des Par-
laments in europapolitischen Angelegenheiten in einem Bericht dargelegt werden. Die
Motion 19.3170 Lombardi [Rieder] «Gesetzliche Grundlage zur Wahrung des Mit-
sprache- und Entscheidungsrechts von Parlament, Volk und Kantonen bei der Umset-
zung des Rahmenabkommens» verlangt im Wesentlichen, dass der Prozess der dyna-
mischen Übernahme von EU-Recht definiert und das Mitspracherecht von Parlament,
Volk und Kantonen gewährleistet wird. Die Anliegen dieser Vorstösse blieben auch
nach dem Abbruch der Verhandlungen über einen Entwurf für ein institutionelles
Rahmenabkommen mit der EU relevant. In der vorliegenden Botschaft werden die im
Rahmen des Pakets Schweiz–EU ausgehandelten institutionellen Elemente dargelegt
(s. Ziff. 2.1), darunter die dynamische Übernahme von EU-Recht und die damit ver-
bundenen Verfahren. Sie enthält Vorschläge, wie die Information und Mitwirkung des
Parlaments diesbezüglich verstärkt werden können, insbesondere im Hinblick auf eine
künftige Beteiligung der Schweiz am Prozess der Ausarbeitung von EU-Rechtsakten
Decision Shaping
(s. Ziff. 2.1.7.7).
Die Motionen 21.3691 Munz «Stopp dem Lebensmittelbetrug», 21.3903 Egger «Le-
bensmittelbetrug stärker bekämpfen zum Schutz der heimischen Lebensmittelproduk-
tion und der Konsumenten» und 21.3936 Michaud Gigon «Verstärkte Anstrengungen
zur Bekämpfung von Lebensmittelbetrug» beauftragen den Bundesrat im Wesentli-
chen damit, den Lebensmittelbetrug besser zu ahnden. Entsprechende Bestimmungen
werden ins Ausführungsgesetz zum Abkommen über Lebensmittelsicherheit mit der
EU aufgenommen (s. Ziff. 2.12.10.4, Lebensmittelgesetz).
Die Motion 17.3630 WBK-S «Vollassoziierung an Erasmus plus ab 2021», das Pos-
tulat 20.3928 WBK-N «Roadmap für die internationale Zusammenarbeit und Mobili-
tät nach Erasmus plus» und das Postulat 24.4345 Christ «Kosten-Nutzen-Analyse ei-
ner Assoziierung der Schweiz an Erasmus plus im Vergleich zum Schweizer
Programm Movetia» betreffen die Teilnahme der Schweiz an Erasmus+ und die in-
ternationale Mobilität grundsätzlich. Sie werden unter Ziffer 2.8 zum EU-
Programmabkommen behandelt, das den Weg zu einer Teilnahme an Erasmus+ ebnet.
49 / 931
Das Postulat 21.3498 Die Mitte-Fraktion «Massnahmen für die künftige wirtschaftli-
che Zusammenarbeit mit der EU» beauftragt den Bundesrat, darzulegen, mit welchen
Massnahmen die wirtschaftliche Entwicklung in der Schweiz und deren Wettbewerbs-
fähigkeit im europäischen Raum ohne institutionelles Rahmenabkommen mit der EU
gestützt werden können. Das Postulat 22.3296 Michaud Gigon «Europadossier. Aus-
wirkungen auf die Schweizer Wirtschaft und Ansätze des Bundesrates» verlangt die
Vorlage einer Gesamtschau darüber, wie sich das Scheitern des Rahmenabkommens
mit der EU mittel- und langfristig auf die Schweizer Wirtschaft auswirkt, wenn es mit
der EU zu keiner Einigung über die Konsolidierung und die Weiterentwicklung des
bilateralen Wegs kommt. Das Postulat 24.3528 FDP-Liberale Fraktion «Wert der Bi-
lateralen Verträge für die Schweiz» verlangt einen Bericht über die Auswirkungen,
die ein schrittweiser Wegfall der bestehenden bilateralen Verträge für die Schweiz
mittel- bis langfristig hätte. Die vorliegende Botschaft bezweckt die Stabilisierung
und die Weiterentwicklung der Beziehungen zur EU, wobei der hindernisfreie Zugang
zum EU-Binnenmarkt das Kernstück des Pakets Schweiz–EU bildet. Die Botschaft
erläutert ausserdem die geprüften Alternativen sowie die wirtschaftlichen Auswirkun-
gen des Pakets (s. Ziff. 1.2, 1.6, 3.3).
Die Motion 18.4105 KVF-S «Kooperationsmodell anstelle der Öffnung des internati-
onalen Schienenpersonenverkehrs» beauftragt den Bundesrat, eine allfällige Öffnung
des Markts für den internationalen Schienenpersonenverkehr dem Parlament zum Ent-
scheid vorzulegen. Diese Frage wird dem Parlament im Rahmen des Landverkehrs-
abkommens mit der EU, das eine Öffnung des internationalen Schienenpersonenver-
kehrs vorsieht, vorgelegt (s. Ziff. 2.5).
Die Motion 21.3500 Die Mitte-Fraktion «Rechtssicherheit für die Zusammenarbeit
zwischen der Schweiz und der EU im europäischen Stromsystem gewährleisten!» ver-
langt die Aufnahme diesbezüglicher Verhandlungen mit der EU. Die Motion 21.4500
Die Mitte-Fraktion «Verhandlung zwischenstaatlicher technischer Vereinbarungen
im Bereich Strom» verlangt technische Vereinbarungen mit der EU oder ihren Mit-
gliedstaaten. Diese Anliegen werden im Rahmen des Stromabkommens mit der EU
abgedeckt (s. Ziff. 2.11.3.5).
1.6
Würdigung der Abkommen
1.6.1
Politische Würdigung
Der Abschluss der vorliegenden Abkommen sichert die bewährten Beziehungen zwi-
schen der Schweiz und der EU und das Funktionieren der bestehenden bilateralen
Verträge für die Zukunft. Das Paket CH–EU ist Ausdruck einer Kontinuität. Zudem
erlaubt dieser Weg die Weiterentwicklung des bilateralen Wegs in denjenigen Berei-
chen, die im Interesse der Schweiz liegen. Diese Stabilisierung und Weiterentwick-
lung ist vor dem Hintergrund der aktuellen geopolitischen Lage von strategischer Not-
wendigkeit für die Schweiz. Globale Entwicklungen fordern die einzelnen Staaten
heraus: Grossmächtekonkurrenz, zunehmendes Gewicht neuer informeller Gruppie-
rungen (z. B. BRICS), Erosion des internationalen Rechts (Macht vor Recht), die Kli-
maveränderung, ein weiter zunehmender Migrationsdruck, Entwicklungen in der In-
formationstechnologie und im Energiesektor, aber auch wachsende Staatsschulden,
50 / 931
eine Fragmentierung der internationalen Wirtschaftsordnung, zunehmende handels-
politische Spannungen sowie fragmentierte und polarisierte Gesellschaften. Die Welt
wird instabiler, unsicherer und unvorhersehbarer. Ein regelrechter «
Ring of Fire
» mit
dem Krieg in der Ukraine, Unruhen im Balkan und im Kaukasus, Konflikten im Mitt-
leren Osten, eine instabile Lage in Nordafrika sowie Machtumstürze in Subsahara-
Afrika machen die Weltlage zu einem fragilen Umfeld. Diesen globalen Instabilitäten
kann die Schweiz nur entgegentreten, wenn die Beziehungen zu ihrer unmittelbaren
Nachbarschaft, zu Partnern, die ihre Werte teilen, stabil und berechenbar sind. Die
Beziehungen zur EU sind folglich für die Wahrung der aussen-, sicherheits- und wirt-
schaftspolitischen Interessen der Schweiz von zentraler Bedeutung. Sie sind nicht nur
eine strategische Notwendigkeit für die Sicherheit, den Wohlstand und die Unabhän-
gigkeit der Schweiz. Sie stellen ebenfalls sicher, dass die Schweizer Bevölkerung –
insbesondere die kommenden Generationen – auch in Zukunft vielfältige Perspekti-
ven behält.
Nach einigen Jahren der Stagnation der Beziehungen mit der EU und der Rechtsunsi-
cherheit, in denen die Stabilisierung und Weiterentwicklung des Verhältnisses zur EU
aufgrund nicht gelöster institutioneller Fragen mit der EU auf Eis lagen, legt der Bun-
desrat mit dem vorliegenden Paket eine solide Grundlage für geregelte Beziehungen
mit dem wichtigsten Partner vor. Anpassungen an den bestehenden Abkommen be-
schränken sich auf das Notwendigste, um das Funktionieren der bestehenden Verträge
sicherzustellen. Dies dient der Rechtssicherheit. Die Suche nach dieser Lösung ver-
langte sowohl von der Schweiz als auch der EU Flexibilität sowie auch Beharrlichkeit
und Ausdauer, damit die Kerninteressen auf beiden Seiten gewahrt werden konnten.
Die Notwendigkeit einer Definition der institutionellen Elemente wurde vom Bundes-
rat in diesem Prozess mehrfach geprüft und bestätigt. Bei den institutionellen Elemen-
ten handelt es sich im Wesentlichen um gemeinsame Regeln in den Bereichen Rechts-
auslegung, Rechtsentwicklung sowie Streitschlichtung und -beilegung. Der Bundesrat
kam zum Schluss, dass eine Stabilisierung der bilateralen Beziehungen mit der EU
nur mit einer Aufnahme der institutionellen Elemente in den einzelnen Binnenmarkt-
abkommen möglich ist. Er ist überzeugt, dass die vorliegenden institutionellen Best-
immungen ein ausgewogenes Verhandlungsresultat darstellen, das auch die Weiter-
entwicklung der Binnenmarktabkommen für die Zukunft berechenbar und verbindlich
macht. Der Weiterentwicklungsteil mit den neuen Abkommen baut auf dieser Stabi-
lisierung auf. Die Bereitschaft der EU, auf diese Anliegen der Schweiz einzugehen,
ist ein Verhandlungserfolg, dessen Grundstein bereits im Rahmen der exploratori-
schen Gespräche gelegt werden konnte.
Die vorliegenden Abkommen sichern die verfassungsmässigen Kompetenzen der
Kantone, der Bundesversammlung, des Bundesrates, der Gerichte und des Volkes.
Darüber hinaus sind folgende Elemente spezifisch zu würdigen:
-
Institutionelle Elemente:
Die institutionellen Elemente (s. Ziff. 2.1) erhöhen die
Rechtssicherheit und schützen vor willkürlichen, sachfremden Massnahmen. Sie be-
treffen nur die Binnenmarktabkommen und, soweit für dessen Funktionieren notwen-
dig, das Gesundheitsabkommen. Sie werden entsprechend dem sektoriellen Ansatz in
jedem Abkommen spezifisch geregelt. Dadurch konnten wichtige Eigenheiten der
51 / 931
verschiedenen Abkommen berücksichtigt werden. Zudem finden die institutionellen
Elemente innerhalb der definierten Ziele und Geltungsbereiche der Abkommen An-
wendung, so dass die Auswirkungen der dynamischen Rechtsübernahme klar be-
grenzt sind (s. Ziff. 2.1.5.1.2 und 2.1.5.2.2). Die Schweiz kann sich dank dem
Deci-
sion Shaping
am EU-Rechtsetzungsverfahren in den von den Abkommen betroffenen
Bereichen beteiligen. Sie entscheidet auch mit der dynamischen Rechtsübernahme
weiterhin selbstständig über jede Anpassung der Abkommen. Die innerstaatlich be-
stehenden Verfahren und Zuständigkeiten der Schweiz bleiben unangetastet. Parla-
ment und Volk können weiterhin über die Übernahme von EU-Rechtsakten in die
Abkommen (oder deren Ablehnung) entscheiden und haben damit weiterhin das letzte
Wort. Die essenziellen Interessen der Schweiz wurden durch Ausnahmen abgesichert.
Für den Agrarteil des Abkommens über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeug-
nissen (Landwirtschaftsabkommen) konnte eine spezifische Lösung gefunden wer-
den: In diesem Bereich gibt es keine dynamische Rechtsübernahme. Der Streitbeile-
gungsmechanismus beschränkt sich auf ein Schiedsgericht ohne Rolle für den
Europäischen Gerichtshof (EuGH), und die Ausgleichsmassnahmen können nur in-
nerhalb des Landwirtschaftsabkommens (Agrar- und Lebensmittelsicherheitsteil) ge-
troffen werden.
- Staatliche Beihilfen:
Die Beihilferegulierung erfolgt nur im Geltungsbereich von
drei Abkommen, d.h. des Strom-, des Landverkehrs- und des Luftverkehrsabkom-
mens. Die Einhaltung des Beihilferechts wird in der Schweiz durch Schweizer Behör-
den überwacht. Der
Service public
(z. B. beim öffentlichen Verkehr und beim Strom)
ist nicht gefährdet. Die Schweizer Wirtschaftsordnung beruht auf der Wirtschaftsfrei-
heit und dem Wettbewerb. Die Beihilfeüberwachung trägt dazu bei, indem sie Wett-
bewerbsverzerrungen vorbeugt.
-
Personenfreizügigkeit:
Die Migrationspolitik der Schweiz basiert einerseits auf dem
Freizügigkeitsabkommen mit der EU/EFTA, andererseits auf der subsidiären, durch
Höchstzahlen und Kontingente begrenzten Zulassung von Drittstaatsangehörigen zum
Arbeitsmarkt. Die Zuwanderung von EU/EFTA Staatsangehörigen in die Schweiz er-
folgt primär in den Arbeitsmarkt. Diese Zuwanderung ist stets nachfrageorientiert und
ist somit grundsätzlich nur möglich, wenn eine freie Stelle vorhanden ist, beziehungs-
weise eine eigenständige wirtschaftliche Existenz aufgebaut werden kann. Im aktuel-
len Recht sind zudem verschiedene Massnahmen verankert, welche den Lohnschutz
gewährleisten und eine Unterminierung der Arbeitsbedingungen verhindern. Dieser
Ansatz soll fortgesetzt werden. Daher sehen die mit der EU ausgehandelten Lösungen
im Bereich der Personenfreizügigkeit sowohl bei der Zuwanderung als auch beim
Lohnschutz umfassende Schutz- und Absicherungskonzepte vor.
Das Paket sieht im Bereich
Zuwanderung
ein umfassendes Schutzkonzept vor. Dieses
Schutzkonzept besteht aus der Verankerung von Prinzipien, Ausnahmen und einer
Schutzklausel für den Fall von schwerwiegenden wirtschaftlichen und sozialen Stö-
rungen. Folgende Prinzipien sind abgesichert:
(i)
Die Zuwanderung aus der EU bleibt
arbeitsmarktorientiert. Nur wer über eine Arbeitsstelle oder genügend finanzielle Mit-
tel verfügt, darf in die Schweiz ziehen.
(ii)
Im Falle eines Jobverlustes ist es verpflich-
tend, dass der entsprechende Effort für eine Neuanstellung geleistet und mit den zu-
ständigen Behörden kooperiert wird. Das Aufenthaltsrecht kann ansonsten entzogen
52 / 931
werden.
(iii)
Für Personen, deren Arbeitsaufenthalt in der Schweiz nur kurzer Natur
ist (bis zu drei Monate), besteht weiterhin eine Meldepflicht. So kann sichergestellt
werden, dass die Arbeitsbedingungen eingehalten werden. Das Schutzkonzept wird
ergänzt durch Ausnahmen:
(i)
Ausschaffungen sind möglich wie bis anhin. Straffällig
gewordene EU-Bürgerinnen und -Bürger können weiterhin gemäss Artikel 121 der
BV des Landes verwiesen werden.
(ii)
Das in der Richtlinie 2004/38/EG vorgesehene
Daueraufenthaltsrecht nach fünfjährigem Aufenthalt steht nur Erwerbstätigen offen:
Rentner, Studierende und länger von der Sozialhilfe abhängige Personen erhalten kein
Daueraufenthaltsrecht.
(iii)
Die Schweiz erhält nach Inkrafttreten des Änderungspro-
tokolls ein Jahr Zeit, um biometrische Identitätskarten einzuführen. Zudem bleiben
alle bis zu diesem Zeitpunkt ausgestellten Schweizer Identitätskarten ohne Chip in der
EU weiterhin bis zu ihrem Ablaufdatum gültig (längstens zehn Jahre). Ein weiteres
Element des Schutzkonzepts ist die konkretisierte Schutzklausel:
Mit dieser kann die
Schweiz das Schutzklauselverfahren bei schwerwiegenden wirtschaftlichen und sozi-
alen Problemen eigenständig aktivieren. Unabhängig von einer Einigung im Gemisch-
ten Ausschuss und damit unabhängig von einer Zustimmung der EU, kann die
Schweiz an das Schiedsgericht gelangen, wenn sie der Meinung ist, dass eine Situa-
tion vorliegt, die Schutzmassnahmen erfordert. Das Schiedsgericht prüft, ob eine Aus-
lösesituation vorliegt. Trifft das Schiedsgericht einen negativen Entscheid, könnte die
Schweiz trotzdem Schutzmassnahmen ergreifen. Ist die EU der Ansicht, dass diese
Massnahmen das FZA verletzen, könnte sie ein Streitbeilegungsverfahren initiieren.
Über die Art und Dauer von geeigneten Schutzmassnahmen entscheidet die Schweiz
selbstständig.
Im Bereich des
Lohnschutzes
wurde ein dreistufiges Absicherungskonzept ausgehan-
delt. Dieses umfasst folgende Elemente:
(i)
Prinzipien: «Gleicher Lohn für gleiche
Arbeit am gleichen Ort». Firmen aus der EU, die in der Schweiz einen Auftrag erle-
digen, müssen also auch weiterhin dieselben Löhne zahlen und Arbeitsbedingungen
gewährleisten wie eine Schweizer Firma.
«Duales Kontrollsystem»:
Durchgeführt
werden Lohnkontrollen weiterhin von den paritätischen Kommissionen, also Gewerk-
schaften und Arbeitgebende zusammen, sowie den Kantonen.
(ii)
Ausnahmen: Mit
der Voranmeldefrist, autonome Festlegung der Kontrolldichte, Kautionspflicht im
Wiederholungsfall und der Dokumentationspflicht für Selbstständigerwerbende sind
Schweizer Besonderheiten abgesichert. Konkret müssen in Risikobranchen grenz-
überschreitende Dienstleistungserbringungen weiterhin im Voraus (vier Arbeitstage)
gemeldet werden, um die Kontrollen in diesen sensiblen Branchen planen zu können.
Was als Risikobranche zählt und wie oft kontrolliert wird, bestimmt die Schweiz
selbst. Weiter kann die Schweiz von einem ausländischen Entsendebetrieb eine Kau-
tion verlangen, sollte dieser im Rahmen einer früheren Entsendung eine finanzielle
Verpflichtung gegenüber einer paritätischen Kommission nicht beglichen haben. Bei
Nichtleisten der Kaution kann die Schweiz eine Sanktion bis hin zu einer Dienstleis-
tungssperre verhängen. Schliesslich müssen Selbstständige mit Dokumenten weiter-
hin nachweisen, dass sie wirklich selbstständig sind. So wird Scheinselbstständigkeit
verhindert.
(iii)
Non-Regression-Klausel:
Diese stellt sicher, dass die Schweiz künftig
keine EU-Rechtsentwicklungen übernehmen muss, die den hiesigen Lohnschutz
schwächen würden. Die Schweiz hat damit faktisch ein
Opting-out-Recht
bei entspre-
chenden EU-Rechtsentwicklungen.
53 / 931
- Technische Handelshemmnisse (MRA):
Die regelmässige Aktualisierung des MRA
spart Schweizer Exportunternehmen Zeit und Geld bei der Vermarktung ihrer Pro-
dukte in der EU. Das MRA vereinfacht wie bisher den Zertifizierungsprozess für Pro-
dukte (keine Doppelzertifizierung), bringt Erleichterungen für die Wirtschaftsakteure,
senkt die Bürokratie und damit die Produktepreise und stärkt die Versorgungssicher-
heit im Inland und die Wettbewerbsfähigkeit im Ausland. Das MRA trägt so zur Si-
cherung hiesiger Arbeitsplätze bei.
- Landwirtschaft / Lebensmittelsicherheit:
Die neu vorgesehene Ausweitung des
Landwirtschaftsabkommens im Bereich der Lebensmittelsicherheit stärkt den Ver-
braucherschutz, indem Konsumentinnen und Konsumenten noch besser vor Täu-
schungen und gefährlichen Lebensmitteln geschützt werden. Die Ausweitung stärkt
zudem die Binnenmarktbeteiligung durch einen umfassenden Abbau nichttarifärer
Handelshemmnisse. Dabei bleibt die Schweiz agrarpolitisch souverän. Der Agrarteil
des Landwirtschaftsabkommens ist von der dynamischen Rechtsübernahme ausge-
schlossen, und im neuen Streitbeilegungsverfahren spielt der EuGH keine Rolle. Dazu
kommt, dass in diesem Bereich keine Ausgleichsmassnahmen aus anderen Binnen-
marktabkommen möglich sind. Der Grenzschutz (Zölle und Kontingente) für land-
wirtschaftliche Produkte bleibt, wie er ist. Ausnahmen, insbesondere in den Bereichen
Tierschutz und gentechnisch veränderte Organismen, sind gewährleistet. Damit blei-
ben Schweizer Standards abgesichert.
-
Gesundheit
: Das neue Gesundheitsabkommen gewährleistet umfassenden Zugang
zu den Gesundheitssicherheitsmechanismen der EU und zum Europäischen Zentrum
für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC). Die Schweiz stärkt
durch diese Zusammenarbeit ihre Frühwarn- und Reaktionsfähigkeit im Zusammen-
hang mit Gesundheitsgefahren und kann die Gesundheit der Schweizer Bevölkerung
besser schützen. Über nationale Massnahmen zur Verhütung und Bewältigung von
Gesundheitsbedrohungen entscheidet die Schweiz jedoch weiterhin eigenständig. Das
Abkommen fokussiert auf Gesundheitssicherheit. Andere Bereiche der Gesundheits-
politik, zum Beispiel Tabak oder die Patientenrechte in der grenzüberschreitenden
Gesundheitsversorgung, fallen nicht in den Geltungsbereich des Abkommens. Zusätz-
lich ermöglicht ein Protokoll zum Programmabkommen eine Teilnahme der Schweiz
am Bereich «Krisenvorsorge» des mehrjährigen Programms der EU im Bereich Ge-
sundheit (aktuell «EU4Health»).
- Programme:
Die Schweiz kann sich systematischer an den EU-Programmen betei-
ligen, insbesondere in den Bereichen Bildung, Forschung und Innovation. Die Asso-
ziierung an das Horizon-Paket (bestehend aus Horizon Europe, Euratom Programm,
Digital Europe Programme und der Forschungsinfrastruktur ITER) ist rückwirkend
ab dem 1. Januar 2025 (mit Ausnahme von ITER ab dem 1. Januar 2026) und für
Erasmus+ ab dem 1. Januar 2027 vorgesehen. Institutionen, Unternehmen, For-
schende, Bildungsverantwortliche sowie Personen in Ausbildung erhalten die Mög-
lichkeit, sich umfassend an den Programmaktivitäten zu beteiligen. Die Schweiz er-
hält europaweiten Zugang zu bedeutenden Ressourcen, Kompetenzen und
Netzwerken. Dies stärkt die Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft der Schweiz.
Ein starker Bildungs-, Forschungs-, und Innovationsstandort fördert mit seinen Akti-
vitäten das langfristige Wirtschaftswachstum.
54 / 931
-
Weltraum
: Das Abkommen über die Beteiligung an der Agentur der EU für das
Weltraumprogramm (EUSPA) ermöglicht es der Schweiz, voraussichtlich ab dem
1. Januar 2026 operativ an den Aktivitäten der EUSPA bezogen auf die Programm-
komponenten Galileo und EGNOS (
European Geostationary Navigation Overlay
Service
) des EU-Weltraumprogramms teilzunehmen. Zukünftig könnte sie auch an
Aktivitäten der EUSPA bezogen auf weitere Programmkomponenten des EU-
Weltraumprogramms teilnehmen, sofern dies im EU-Programmabkommen vorgese-
hen wird. Dieses Abkommen stärkt die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und
der EU im strategischen Bereich der Raumfahrt.
-
Strom
: Mit dem Stromabkommen wird die Einbindung der Schweiz ins europäische
Stromsystem und insbesondere die Verfügbarkeit der Grenzkapazitäten zum Import
von Strom völkerrechtlich abgesichert. Schweizer Akteure können gleichberechtigt
und hindernisfrei am europäischen Strombinnenmarkt teilnehmen. Schweizer Behör-
den und Institutionen können mit europäischen Pendants zusammenarbeiten und die
Weiterentwicklung des europäischen Strombinnenmarkts mitgestalten. Das Stromab-
kommen stärkt dadurch die Versorgungssicherheit und den sicheren Netzbetrieb, ver-
einfacht den Austausch und Handel mit Strom, ermöglicht einen optimalen Einsatz
der flexiblen Schweizer Wasserkraft auf den europäischen Märkten, begünstigt tiefere
Strompreise und tiefere Kosten der Stromversorgung, ermöglicht Wohlfahrtsgewinne
und vereinfacht den Übergang zu einem klimaneutralen Energiesystem. Wo innenpo-
litisch notwendig und im Interesse der Schweiz, wurden im Stromabkommen spezifi-
sche Ausnahmen und Präzisierungen ausgehandelt. So hat die Schweiz das Recht, die
Strommarktöffnung mit einer regulierten Grundversorgung und regulierten Stromta-
rifen zu flankieren. Haushalte und KMU mit einem Jahresverbrauch bis 50 MWh pro
Arbeitsstätte können ihren Stromanbieter frei wählen oder in der regulierten Grund-
versorgung verbleiben beziehungsweise in diese zurückkehren. Das Stromabkommen
enthält keine Vorgaben zum Eigentum an Anlagen zur Produktion, Übertragung und
Verteilung von Strom. Verteilnetzbetreiber können öffentlich-rechtlich organisiert
bleiben. Der
Service public
in der Schweiz bleibt auch unter dem Stromabkommen
gewährleitstet. Die Schweiz behält das Recht, notwendige Reserven zu erstellen, und
darf bei der Analyse des Reservebedarfs spezifische Schweizer Eigenheiten berück-
sichtigen. Diese Flexibilität ist explizit als Ausnahme von der dynamischen Rechts-
übernahme abgesichert. Ebenso behält die Schweiz das Recht, die Bedingungen für
die Nutzung ihrer Energieressourcen inklusive Wasserkraft und ihren Energiemix ei-
genständig festzulegen. Das Stromabkommen macht zudem keine Vorgaben zur
Vergabe von Konzessionen und dem Wasserzins.
- Landverkehr:
Mit der Marktöffnung im internationalen Schienenpersonenverkehr
können ausländische Bahnunternehmen grenzüberschreitende Zugsverbindungen in
die Schweiz nur ausserhalb des Taktfahrplans anbieten, müssen für den Abschnitt in
der Schweiz Schweizer Löhne bezahlen und können dazu verpflichtet werden, Teil
des direkten Verkehrs zu werden (z. B. GA und Halbtax auf Schweizer Strecken an-
erkennen). Kooperationen zwischen einem EU- und einem schweizerischen Bahnun-
ternehmen bleiben erlaubt. Die Trassenvergabe erfolgt weiterhin durch die Schweiz,
was im Abkommen abgesichert ist. Seitens EU werden keine Pläne zur Zentralisie-
rung verfolgt. Auf Schweizer Strassen gilt für Lastwagen weiterhin: höchstens 40-
55 / 931
Tönner, Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe (LSVA), Nacht- und Sonntags-
fahrverbot, kein Ausbau der Strassenkapazität durch die Alpen (völkerrechtliche Ab-
sicherung der Alpeninitiative). So kann die Schweiz ihre Verlagerungspolitik von der
Strasse auf die Schiene absichern. Der
Service public
im nationalen Fern-, Regional-
und Ortsverkehr bleibt uneingeschränkt Sache der Schweiz. Er ist nicht von den Re-
geln im Abkommen betroffen. Die fortgesetzte Zusammenarbeit mit der EU-
Eisenbahnagentur (ERA) vereinfacht die Zertifizierung von Schweizer Rollmaterial
und hilft dem Industriestandort Schweiz.
- Luftverkehr:
Das Abkommen gewährleistet ein hohes Sicherheitsniveau im Flugver-
kehr, eine bessere und sichere Anbindung ins Ausland und räumt schweizerischen
Fluggesellschaften im EU-Raum neuerdings auch das Kabotagerecht ein. Schweizer
Fluggesellschaften sind auf dem EU-Markt den EU-Gesellschaften gleichgestellt
(z.B. freie Wahl und Anzahl der Destinationen, freie Preisfestsetzung). Dies erlaubt
tiefe Preise und eine enge Anbindung ans kontinentale Verkehrsnetz. Die Schweizer
Teilnahme an der Europäischen Agentur für Flugsicherheit ist abgesichert und sorgt
für ein hohes Sicherheitsniveau. Die Konsumentinnen und Konsumenten verfügen
über die gleichen Passagierrechte wie in der EU, unter anderem werden sie bei An-
nullierungen und Verspätungen entschädigt. Die Mitwirkungsrechte (
decision
shaping
) der Schweiz bei der Rechtsentwicklung im Bereich des Luftverkehrs werden
abgesichert. Die Schweizer Industrie ist berechtigt zur Teilnahme am Programm für
die Forschung zum Flugverkehrsmanagementsystem für den einheitlichen europäi-
schen Luftraum (SESAR 3, Single European Sky Air Traffic Management Research).
- Schweizer Beitrag
: Mit dem Schweizer Beitrag investiert die Schweiz seit 2007 in
die Stabilität und den Zusammenhalt in Europa. Auch die EWR/EFTA-Staaten Nor-
wegen, Liechtenstein und Island, die wie die Schweiz keine EU-Mitglieder sind, leis-
ten einen Beitrag. Da sie stärker in den Binnenmarkt integriert sind, fallen ihre Bei-
träge trotz kleinerer Wirtschaftsstärke höher aus als der Schweizer Beitrag von 350
Millionen Franken pro Jahr von 2030–2036. Norwegen beispielsweise bezahlt bereits
heute umgerechnet 430 Millionen Franken pro Jahr, obwohl das BIP der Schweiz fast
doppelt so gross ist. Der Schweizer Beitrag trägt dazu bei, die wirtschaftliche und
soziale Ungleichheit in der EU zu reduzieren und auf wichtige gemeinsame Heraus-
forderungen, beispielsweise im Bereich Migration, zu reagieren. Er stärkt zudem un-
mittelbar die bilateralen Beziehungen der Schweiz mit den Partnerstaaten. Das kommt
auch der Schweiz und ihrer Wirtschaft zugute.
Das Interesse der EU an vorhersehbaren und stabilen Beziehungen mit der Schweiz,
auch mit Blick auf bestehende und zukünftige Herausforderungen, dürfte ausschlag-
gebend gewesen sein, dass sie Schweizer Forderungen in diesen Bereichen entgegen-
kam. Ebenso spielte die zeitliche Komponente in der Endphase der Verhandlungen
eine Rolle: Die Europäische Kommission unter der Leitung von Kommissionspräsi-
dentin Ursula von der Leyen war bestrebt, die Verhandlungen mit der Schweiz noch
in der alten Legislatur (vor Ende 2024) abzuschliessen. Auch dank eines parallelen
Verhandlungsabschlusses in allen Bereichen konnte der im Mandat definierte Interes-
senausgleich mit der EU erreicht werden. Dazu kommen innenpolitische Begleitmass-
nahmen in spezifischen Anliegen, die das Gesamtergebnis ergänzen.
56 / 931
Die vorliegenden Abkommen sichern die verfassungsmässigen Kompetenzen der
Kantone, der Bundesversammlung, der Gerichte und des Bundesrates. Die durch die
Bundesverfassung garantierten Initiativ- und Referendumsrechte (Art. 136 Abs.2 BV)
sind weiterhin in vollem Umfang gewährleistet. Weder die einzelnen Abkommen
noch die darin enthaltenen institutionellen Elemente verhindern, dass eine Volksiniti-
ative lanciert werden kann, die sich gegen die Übernahme einer relevanten Weiterent-
wicklung des EU-Rechts in das betroffene Abkommen richtet, sofern sie die bekann-
ten verfassungsrechtlichen Gültigkeitsvoraussetzungen erfüllt. Ebenso wird gegen
eine solche Rechtsübernahme beziehungsweise ein in diesem Zusammenhang erfor-
derliches neues Gesetz oder eine erforderliche Gesetzesanpassung wie bisher das Re-
ferendum ergriffen werden können.
Damit ist es der Schweiz gelungen, ihr Kernziel mit Blick auf ihre Beziehungen zur
EU zu erreichen: Eine bestmögliche gegenseitige Beteiligung an klar definierten Be-
reichen des Binnenmarkts sowie Kooperation in ausgewählten Interessenbereichen,
unter Wahrung des grösstmöglichen politischen Handlungsspielraums.
Ebenso wie beim Abschluss vorangehender Abkommen mit der EU werden weitere
europapolitische Schritte durch die vorliegenden Abkommen in keiner Weise präju-
diziert.
1.6.2
Wirtschaftliche Würdigung
Für die Leistungsfähigkeit einer offenen Volkswirtschaft wie der Schweiz, die über
keine bedeutenden natürlichen Ressourcen und einen nur begrenzten Binnenmarkt
verfügt, ist der Zugang zu ausländischen Märkten unabdingbar. Im Vergleich zu ähn-
lich grossen Volkswirtschaften weist die Schweiz eine relativ hohe Diversifikation
ihrer Handelspartner auf. Die EU ist jedoch mit einem Anteil von rund 59 % am Wa-
renhandel die mit Abstand wichtigste Handelspartnerin der Schweiz. Die Zusammen-
arbeit mit den Nachbarn widerspiegelt sich in eng verflochtenen Wirtschafts- und
Wissenschaftsbeziehungen. Das Warenhandelsvolumen der Schweiz mit der EU
(rund 300 Mrd. CHF im Jahr 2023) ist fünfmal grösser als jenes mit den USA
(63 Mrd. CHF) und neunmal grösser als mit der Volksrepublik China (33 Mrd.
CHF).
42
Allein der Warenhandel mit den Grenzregionen der Schweiz übertrifft den-
jenigen mit den USA.
43
Ähnlich bedeutsame Verflechtungen bestehen in den Arbeits-
und Kapitalmärkten. (s. Ziff. 3.3)
Angesichts dieser wirtschaftlichen Zusammenhänge soll das Paket Schweiz–EU die
Wirtschaftsbeziehungen der Schweiz mit einem der grössten Binnenmärkte der Welt
stabilisieren und weiterentwickeln. Es sichert die sektorielle Teilnahme am EU-
Binnenmarkt in den bisherigen Bereichen der Bilateralen I und dehnt diese Teilnahme
42
Abrufbar unter www.eda.admin.ch/europa > Publikationen > Schweiz-EU in Zahlen (ba-
sierend auf Total 1, ohne Gold, 2023).
43
Daten gemäss Rückmeldungen der Schweizer Botschaften, auf Basis der nachfolgenden
Quellen: Französischer Zoll (www.lekiosque.finance.gouv.fr), Italienisches Statistikamt
(www.coeweb.istat.it), Österreichische Bundesländer (www.wko.at), Deutsche Bundeslän-
der (www.statistik-bw.de und www.export-app.de). Für Umrechnung von EUR in CHF
wurde der durchschnittliche Wechselkurs von 2023 von 0,97 verwendet (Eidgenössische
Steuerverwaltung ESTV).
57 / 931
auf den Strom- und den gesamten Lebensmittelbereich aus. Mit den institutionellen
Elementen erhöht die Schweiz die Rechtssicherheit und sichert die Teilnahme am EU-
Binnenmarkt in den genannten Bereichen auch für die Zukunft. Mit den in den Ver-
handlungen erreichten Ausnahmen sowie den inländischen Begleitmassnahmen bleibt
die Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt ausgerichtet und der Lohnschutz sowie der
Service public
in der Schweiz sind abgesichert. Schweizer Unternehmen haben damit
eine hohe Rechtssicherheit, dass Waren, Dienstleistungen und Kapital auch in Zu-
kunft mit dem wichtigsten Handelspartner der Schweiz möglichst ungehindert zirku-
lieren und bei Bedarf Arbeitskräfte grenzüberschreitend rekrutiert werden können. In
Zeiten geopolitischer Spannungen und einer fragmentierten Weltordnung ist dies ein
entscheidender Standortfaktor für eine offene Volkswirtschaft wie die Schweiz.
58 / 931
2
Die einzelnen Abkommen
2.1
Institutionelle Elemente
2.1.1
Zusammenfassung
Fünf der bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU erlauben der
Schweiz gegenwärtig eine Teilnahme am Binnenmarkt der EU: das Abkommen über
die Freizügigkeit
44
(FZA), das Abkommen über den Güter- und Personenverkehr auf
Schiene und Strasse
45
(LandVA), das Abkommen über den Luftverkehr
46
(LuftVA),
das Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen
47
(MRA) und das Abkommen über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen
48
(Landwirtschaftsabkommen). Diese fünf Binnenmarktabkommen enthalten instituti-
onelle Bestimmungen, welche die Aktualisierung der Abkommen aufgrund der Wei-
terentwicklung des Rechts der Parteien, ihre Auslegung, ihre Anwendung und Über-
wachung sowie die Streitbeilegung betreffen. Aktuell sind diese Abkommen statisch,
das heisst, ihre Aktualisierung hängt vom Willen der Parteien ab, und die Streitbeile-
gung erfolgt ausschliesslich auf diplomatisch-politischer Ebene. Mit der statischen
Natur der Abkommen ist das Risiko verbunden, dass die Rechtslage in der Schweiz
und in der EU als Folge unterschiedlicher Entwicklungen divergiert, was zu Rechts-
unsicherheiten führen kann. Da die Streitbeilegung zudem auf die diplomatisch-poli-
tische Ebene beschränkt ist, besteht die Gefahr, dass Differenzen zwischen den Par-
teien ungelöst bleiben.
Im Anschluss an Gespräche, die seit 2006 geführt wurden, nahmen die Schweiz und
die EU 2014 Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen auf
(s. Ziff. 2.1.2.2). Am 26. Mai 2021 beschloss der Bundesrat, den Entwurf des institu-
tionellen Rahmenabkommens nicht zu unterzeichnen, weil er zum Schluss gekommen
war, dass in einigen Schlüsselfragen im Zusammenhang mit der Personenfreizügig-
keit, dem Lohnschutz und den staatlichen Beihilfen weiterhin substanzielle Differen-
zen bestanden. Die EU hielt an ihrer Position, die sie bereits während der Verhand-
lungen über den Entwurf des institutionellen Rahmenabkommens vertreten hatte, fest
und verknüpfte die Aktualisierung der bestehenden Binnenmarktabkommen, den Ab-
schluss neuer Binnenmarktabkommen und die Zusammenarbeit mit der Schweiz in
verschiedenen Bereichen wie der Forschung mit der Lösung betreffend die institutio-
nellen Fragen und die staatlichen Beihilfen.
Der Bundesrat nahm eine Evaluation seiner Europapolitik vor. Er wollte Lösungen
finden, die es ermöglichen, den bilateralen Weg mit der EU zu stabilisieren und wei-
terzuentwickeln. Insbesondere wollte er der Schweiz eine hindernisfreie Teilnahme
am EU-Binnenmarkt in den von den bestehenden Binnenmarktabkommen abgedeck-
ten Bereichen sichern und künftig neue Abkommen abschliessen, unter gleichzeitiger
Wahrung der Funktionsweise der Institutionen der Schweiz, insbesondere der Grund-
sätze der direkten Demokratie, des Föderalismus und der Unabhängigkeit des Landes.
Der Bundesrat beschloss deshalb, die institutionellen Elemente in einen Paketansatz
44
SR
0.142.112.681
45
SR
0.740.72
46
SR
0.748.127.192.68
47
SR
0.946.526.81
48
SR
0.916.026.81
59 / 931
zu integrieren, den er am 23. Februar 2022 verabschiedete und der als Grundlage für
die exploratorischen Gespräche und später für die Verhandlungen mit der EU diente.
Anders als beim Entwurf des institutionellen Rahmenabkommens wollte der Bundes-
rat die institutionellen Elemente nun jeweils in den verschiedenen Binnenmarktab-
kommen durch einen sektoriellen Ansatz verankern.
Die zentralen Punkte der ausgehandelten institutionellen Elemente sind die Folgen-
den:
–
Gemäss dem sektoriellen Ansatz wurden die institutionellen Elemente in
die bestehenden und künftigen Binnenmarktabkommen sowie analog, so-
weit für dessen Funktionieren erforderlich, ins Gesundheitsabkommen in-
tegriert. Es gibt kein horizontales Rahmenabkommen mehr, wie es bis 2021
Gegenstand der Verhandlungen war. Dies ermöglicht es, die institutionellen
Elemente besser an die Besonderheiten der einzelnen Abkommen anzupas-
sen, den spezifischen Interessen der Schweiz Rechnung zu tragen und neue
Verknüpfungen zwischen den bestehenden und künftigen Binnenmarktab-
kommen im Hinblick auf eine Kündigung zu vermeiden (abgesehen von der
Lebensmittelsicherheit, die Teil des Landwirtschaftsabkommens ist). Es
gibt somit keine «Super-Guillotine-Klausel».
–
Die dynamische Rechtsübernahme beschränkt sich auf den Geltungsbereich
und die in den Abkommen definierten Ziele und gewährleistet eine regel-
mässige Aktualisierung der Binnenmarktabkommen, wodurch die Teil-
nahme der Schweiz am EU-Binnenmarkt gesichert ist. Für jede Aktualisie-
rung ist weiterhin die Zustimmung der Schweiz und der EU erforderlich
(kein Automatismus). Die verfassungsmässigen Verfahren der Schweiz
werden eingehalten, insbesondere durch ausreichend lange Fristen. Die we-
sentlichen Interessen der Schweiz werden durch Ausnahmen gewahrt. Für
jedes der Binnenmarktabkommen sind die vitalen Interessen der Schweiz
(z. B. Verlagerungspolitik im Bereich Landverkehr, Lohnschutz im Bereich
Personenfreizügigkeit, Reservekraftwerke im Bereich Strom) durch ent-
sprechende Ausnahmen abgesichert. Die Rechtsverbindlichkeit dieser Aus-
nahmen ist klar definiert, ebenso wie jene der Absicherungen und der Prin-
zipien im Bereich der Personenfreizügigkeit und des Lohnschutzes
(s. Ziff. 2.3.6).
–
Der Streitbeilegungsmechanismus legt einen rechtlichen Rahmen fest, der
es der Schweiz erlaubt, ihre Rechte wirksam durchzusetzen. Kann während
der diplomatisch-politischen Phase im Gemischten Ausschuss (GA) keine
Lösung gefunden werden, entscheidet ein paritätisch zusammengesetztes
Schiedsgericht (SchG) über die Streitfälle. Das SchG zieht den Gerichtshof
der Europäischen Union (EuGH) nur dann bei, wenn es um die Auslegung
eines unionsrechtlichen Begriffs geht und sofern dies für die Beilegung des
Streitfalls relevant und notwendig ist. Ob eine Frage dem EuGH vorgelegt
wird, entscheidet das SchG, und der EuGH kann nicht von sich aus in einem
Schiedsgerichtsverfahren intervenieren. Auch der Entscheid über den
Streitfall obliegt in allen Fällen stets dem SchG.
60 / 931
–
Leistet eine Partei dem Entscheid des SchG nicht Folge, müssen die Aus-
gleichsmassnahmen der anderen Partei verhältnismässig sein und sich auf
die Binnenmarktabkommen beschränken. Es ist damit möglich, Ausgleichs-
massnahmen im Rahmen eines anderen Binnenmarktabkommens als dem
von der Streitigkeit betroffenen Abkommen zu ergreifen (ausser im Agrar-
teil des Landwirtschaftsabkommens [s. letzter Spiegelstrich]). Sie dürfen je-
doch nicht in anderen Bereichen getroffen werden, zum Beispiel bei der
Zusammenarbeit im Bereich der Programme. Die Parteien können sich an
das SchG wenden, um die Verhältnismässigkeit der Ausgleichsmassnah-
men beurteilen zu lassen. Sie können vor dem Inkrafttreten der Ausgleichs-
massnahmen das SchG anrufen, um eine Verlängerung der automatischen
aufschiebenden Wirkung von drei Monaten bis zum endgültigen Entscheid
über die Verhältnismässigkeit zu beantragen.
–
Die einheitliche Auslegung und Anwendung der Abkommen sowie deren
Überwachung werden von der Schweiz und der EU jeweils auf dem eigenen
Hoheitsgebiet gewährleistet (Zwei-Pfeiler-Modell). Die Zuständigkeiten
des Bundesgerichts und der Schweizer Gerichte sowie des EuGH und der
Gerichte der Mitgliedstaaten für die Auslegung der Abkommen im Einzel-
fall bleiben gewahrt. Die Parteien behalten zudem die Autonomie ihrer Ge-
richte betreffend die Auslegung ihres eigenen Rechts. Die Kompetenzen der
Schweizer Gerichte und des Bundesgerichts werden durch das Verhand-
lungsergebnis folglich nicht beeinträchtigt.
–
Die Hauptverantwortung für die Verwaltung der Abkommen liegt wie bis-
her bei den GA, in denen die Schweiz und die EU paritätisch vertreten sind
und ihre Entscheide einstimmig fällen.
–
Die Schweiz kann Einfluss auf den Rechtsetzungsprozess nehmen, indem
sie bei allen Rechtsakten, die in den Geltungsbereich der Abkommen fallen,
an den Rechtsetzungsverfahren der EU teilnimmt
(Decision Shaping
).
–
Die Schweiz kann zudem Einfluss auf die Gerichtsverfahren der EU neh-
men, da sie bei Auslegungsfragen, die sich auf die Schweiz auswirken, beim
EuGH Schriftsätze einreichen oder Stellungnahmen abgeben kann.
–
Für den Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens ist eine Sonderregelung
vorgesehen: Aufgrund des Verhandlungsergebnisses besteht das Landwirt-
schaftsabkommen aus zwei separaten Teilen – einem Agrarteil und einem
Teil zur Lebensmittelsicherheit. Die Binnenmarktaspekte sind in Zukunft
ausschliesslich im Protokoll zur Lebensmittelsicherheit enthalten. Im Agr-
arteil gibt es also keine dynamische Rechtsübernahme, und der Streitbeile-
gungsmechanismus beschränkt sich auf ein SchG ohne irgendeine Rolle für
den EuGH. Ausserdem können Ausgleichsmassnahmen bei Verstössen ge-
gen den Agrarteil nur im Rahmen des Landwirtschaftsabkommens getroffen
werden, und bei Streitigkeiten in Bezug auf die anderen Binnenmarktab-
kommen können keine Ausgleichsmassnahmen im Agrarteil des Landwirt-
schaftsabkommens getroffen werden.
61 / 931
Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt. Er beantragt
im Rahmen des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU die Genehmigung der in-
stitutionellen Protokolle des FZA, des LandVA, des LuftVA und des MRA. Betref-
fend die Genehmigung des Stromabkommens, des Protokolls zur Lebensmittelsicher-
heit und des Gesundheitsabkommens siehe die Ziffern 2.11.1, 2.12.1 bzw. 2.13.1.
2.1.2
Ausgangslage
2.1.2.1
Institutionelle Elemente in den bestehenden
Binnenmarktabkommen
Im Zusammenhang mit den Binnenmarktabkommen werden vor allem jene Bestim-
mungen als «institutionelle Elemente» angesehen, die sich auf die Aktualisierung der
Abkommen aufgrund der Weiterentwicklung des Rechts der Parteien, ihre Auslegung,
ihre Anwendung und ihre Überwachung sowie die Streitbeilegung beziehen.
Die aktuellen institutionellen Bestimmungen in den fünf bestehenden Binnenmarkt-
abkommen ähneln sich, wobei aufgrund der besonderen Beschaffenheit der Abkom-
men gewisse Unterschiede bestehen.
49
Im Folgenden werden diese institutionellen
Bestimmungen summarisch und allgemein beschrieben:
-
Äquivalenz oder Integration des Rechts: Das LandVA, das MRA und das
Landwirtschaftsabkommen beruhen heute auf dem Grundsatz der Äquiva-
lenz des Rechts der Schweiz und der EU. Konkret werden diese Abkommen
in der Regel aktualisiert, wenn sich das EU-Recht ändert. Die Schweiz passt
ihre Gesetzgebung entsprechend an, damit sie das Ziel der Äquivalenz mit
dem EU-Recht erreicht. Das LuftVA beruht auf dem Grundsatz der Integra-
tion. Die in diesem Bereich geltenden EU-Rechtsakte werden in gemein-
same Regeln der Parteien überführt. Das FZA beruht theoretisch auf dem
Grundsatz der Äquivalenz, in der Praxis folgten die bisherigen Anpassun-
gen jedoch dem Grundsatz der Integration.
-
Auslegung: Soweit die Anwendung der Abkommen EU-Rechtsbegriffe im-
pliziert bzw. die Bestimmungen der Abkommen und der darin enthaltenen
EU-Rechtsakte materiell mit den EU-Vorschriften identisch sind, ist gemäss
den Abkommen die vor deren Unterzeichnung ergangene Rechtsprechung
des EuGH zu berücksichtigen. Was die Rechtsprechung des EuGH anbe-
langt, die nach der Unterzeichnung ergangen ist, sind Informationsaus-
tausch- und Beratungsverfahren vorgesehen.
-
Anwendung und Überwachung: Die Parteien sind verpflichtet, alle erfor-
derlichen Massnahmen zu ergreifen, um die Erfüllung der in den Abkom-
men festgelegten Verpflichtungen sicherzustellen. Jede Partei ist für die
ordnungsgemässe Umsetzung der Abkommen in ihrem Hoheitsgebiet ver-
antwortlich (Zwei-Pfeiler-Modell). Das LuftVA enthält besondere Rege-
lungen zur Anwendung und Überwachung, insbesondere indem es den EU-
Institutionen bestimmte Befugnisse einräumt.
49
BBl
1999
6156 ff.
62 / 931
-
Verwaltung: Die zentrale Rolle bei der Verwaltung der Abkommen kommt
den GA zu. Pro Abkommen gibt es einen GA und zwei für das Landwirt-
schaftsabkommen (GA für Landwirtschaft und Gemischter Veterinäraus-
schuss). In den GA entscheiden die beiden Parteien im gegenseitigen Ein-
vernehmen, das heisst mit Einstimmigkeit. Die GA können Empfehlungen
aussprechen und haben nur in jenen Fällen Entscheidungsbefugnis, die in
den Abkommen vorgesehen sind. Die Entscheide werden von den Parteien
nach ihren eigenen Regeln umgesetzt. Die GA sorgen für das reibungslose
Funktionieren der Abkommen, aktualisieren die meisten Anhänge entspre-
chend der Weiterentwicklung des EU-Rechts und erleichtern den Informa-
tionsaustausch und die Beratungen zwischen den Parteien, insbesondere
über Entwicklungen in der Rechtsetzung und Rechtsprechung. Sie treten je
nach Bedarf zusammen, mindestens jedoch einmal im Jahr. Jeder GA kann
Arbeitsgruppen einsetzen, die ihn bei der Erfüllung seiner Aufgaben unter-
stützen.
-
Streitbeilegung: Die GA sind auch für die Beilegung von Streitigkeiten zu-
ständig, mit denen sie auf Antrag einer Partei befasst werden. Kann ein
Streitfall im GA nicht beigelegt werden, bleibt er ungelöst. In Bezug auf das
LuftVA können Entscheide, die von den EU-Institutionen gemäss den Re-
geln dieses bestehenden Abkommens getroffen werden, nur vor dem EuGH
und nicht im GA angefochten werden. So sieht das LuftVA seit über 25
Jahren in eng begrenzten Bereichen Kompetenzen für den EuGH insbeson-
dere gegenüber schweizerischen Privatpersonen und Wirtschaftsakteuren
vor. Das geht über die Integrationstiefe der neuen institutionellen Elemente
hinaus, die grundsätzlich lediglich eine Rolle des EuGH in der zwischen-
staatlichen Streitbeilegung vorsehen, die auf die Auslegung von unions-
rechtlichen Begriffen (sofern diese relevant und notwendig ist) begrenzt ist.
Im Übrigen spielt die Rechtsprechung des EuGH bereits im Kontext der
Assoziierung der Schweiz an Schengen/Dublin eine wichtige Rolle, mit ein-
schneidenden Folgen bei diesbezüglicher Uneinigkeit. Wenn die Schweiz
wesentlich von der Rechtsprechung des EuGH zum Schengen/Dublin-Be-
sitzstand abweicht (was bisher noch nie vorgekommen ist), müssen die
beide Parteien eine Lösung finden. Dies bedeutet, dass entweder die
Schweiz die Rechtsprechung des EuGH übernimmt oder dass die EU die
Abweichung akzeptiert (was wenig wahrscheinlich ist). Geschieht weder
das eine noch das andere innerhalb einer bestimmten Frist, gilt die Schen-
gen/Dublin-Assoziierung der Schweiz automatisch als beendet. Das Vorlie-
gen von Abweichungen seitens der Schweiz von der Rechtsprechung des
EuGH kann im Übrigen auch im Rahmen von Schengen-Evaluierungen the-
matisiert werden. Diesfalls kann die Europäische Kommission gegenüber
der Schweiz Empfehlungen aussprechen, und die Schweiz ist verpflichtet,
über deren Umsetzung Bericht zu erstatten.
-
Massnahmen zur Wiederherstellung des Gleichgewichts, zeitlich befristete
Schutzmassnahmen und Aussetzung: Das LandVA und das LuftVA sehen
die Möglichkeit von Massnahmen zur Wiederherstellung des Gleichge-
wichts bzw. von zeitlich befristeten Schutzmassnahmen vor. Stellt eine Par-
63 / 931
tei fest, dass die andere Partei die in diesen Abkommen festgelegten Ver-
pflichtungen nicht einhält oder einen Entscheid des GA nicht umsetzt, kann
die geschädigte Partei nach Beratungen im GA geeignete Massnahmen er-
greifen, um das Gleichgewicht der Abkommen wiederherzustellen. Das
MRA sieht vor, dass eine Partei, die feststellt, dass die andere Partei die
Bestimmungen des Abkommens nicht einhält, nach Konsultation im GA die
Anwendung von Anhang 1 des Abkommens ganz oder teilweise aussetzen
kann.
2.1.2.2
Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen
Die Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen sind Gegenstand ei-
nes ausführlichen Berichts des Bundesrates vom 26. Mai 2021
50
. Im Folgenden wer-
den die wichtigsten Punkte dieses Berichts zusammengefasst.
2006 zog der Bundesrat offiziell die Möglichkeit eines «Rahmenabkommens» in Er-
wägung, um den bilateralen Weg mit der EU zu festigen. 2007 beschloss er, die
Zweckmässigkeit eines solchen Abkommens zu prüfen. Damit kam er einem Wunsch
des Parlaments nach, das die Prüfung der Zweckmässigkeit und Machbarkeit eines
solchen Abkommens seit 2002 wiederholt gefordert hatte. Die EU bekundete auch
Interesse an einem «Rahmenabkommen», was in den Schlussfolgerungen des Rates
vom 8. Dezember 2008 bestätigt wurde. Darin wurde das Ziel der EU für die Einrich-
tung eines institutionellen Mechanismus für die bilateralen Abkommen zwischen der
Schweiz und der EU festgelegt. Aber erst 2010 setzten die Schweiz und die EU eine
gemeinsame Arbeitsgruppe ein, um die Möglichkeit eines «Rahmenabkommens» auf
technischer Ebene zu sondieren. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe wurden trotz grös-
serer Differenzen als ermutigend angesehen. Sie erlaubten es der Schweiz, ihre Stra-
tegie sowie ihre Grundsätze für eine institutionelle Lösung festzulegen. Angesichts
eines steigenden Drucks seitens der Europäischen Kommission, die institutionellen
Fragen vor weiteren Fortschritten bei den offenen Dossiers zu klären, arbeitete die
Schweiz 2012 zuhanden der EU Vorschläge für eine institutionelle Lösung aus. Dieser
Austausch brachte die Diskussionen auf technischer Ebene wieder in Gang und er-
möglichte es der Schweiz und der EU, 2013 ein gemeinsames «
Non-Paper
» mit drei
möglichen Verhandlungsoptionen zu definieren. Die Schweiz und die EU bevorzug-
ten die Option mit einem Zwei-Pfeiler-Modell, bei dem die Schweiz und die EU je
selbständig für die Auslegung und Überwachung in ihrem eigenen Hoheitsgebiet ver-
antwortlich sind, wobei dem EuGH eine Rolle bei der Streitbeilegung eingeräumt
wird.
Auf dieser Grundlage wurden 2014 Verhandlungen aufgenommen. Zwischen 2014
und 2018 trafen sich die Delegationen der Schweiz und der EU regelmässig im Rah-
men formeller Verhandlungsrunden. Obwohl bei diesen Verhandlungen Kompro-
misse erzielt wurden, insbesondere bezüglich der institutionellen Mechanismen,
konnte für bestimmte materielle Fragen im Zusammenhang mit dem FZA, das heisst
mit der Richtlinie 2004/38/EG und den flankierenden Massnahmen (FlaM) im Be-
reich des Lohnschutzes, keine Lösung gefunden werden.
50
www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Überblick bilateraler Weg > Institutionel-
les Abkommen (bis 2021) > Informationen und Dokumente zum Institutionellen Abkom-
men.
64 / 931
Am 23. November 2018 teilte die EU der Schweiz mit, dass die Verhandlungen über
den Entwurf des institutionellen Rahmenabkommens aus ihrer Sicht abgeschlossen
seien. Sie verstärkte den Druck auf die Schweiz hinsichtlich eines raschen Abschlus-
ses des Abkommens, indem sie sich fortan weigerte, die bestehenden bilateralen Ab-
kommen weiter zu aktualisieren, es sei denn, dies liege im Einzelfall im überwiegen-
den Interesse der EU. Aufgrund der noch offenen Punkte verzichtete der Bundesrat
auf die Paraphierung des Entwurfs des institutionellen Rahmenabkommens und un-
terzog ihn einer breiten, landesweiten Konsultation. Diese erlaubte es, drei Punkte zu
identifizieren, bei denen noch Klärungsbedarf bestand: die Richtlinie 2004/83/EG, die
FlaM im Bereich des Lohnschutzes und die staatlichen Beihilfen. Über diese Punkte
informierte der Bundesrat die Europäische Kommission mit Schreiben vom 7. Juni
2019.
51
Die im Entwurf des institutionellen Rahmenabkommens enthaltenen institu-
tionellen Lösungen wurden nicht als klärungsbedürftig erachtet und daher im Schrei-
ben des Bundesrates nicht erwähnt.
Nach Einbezug der Kantone und Sozialpartner legte der Bundesrat am 11. November
2020 seine Position zu den drei verbleibenden offenen Punkten im Entwurf des insti-
tutionellen Rahmenabkommens fest. Die Nachverhandlungen mit der EU ab Januar
2021 zu den von der Schweiz verlangten Klärungen führten zu einem besseren gegen-
seitigen Verständnis. Sie bestätigten aber vor allem die grundsätzlichen Differenzen
in den Bereichen Personenfreizügigkeit, Lohnschutz und staatliche Beihilfen.
Am 26. Mai 2021 nahm der Bundesrat eine Gesamtbeurteilung des Ergebnisses der
Verhandlungen über den Entwurf des institutionelle Rahmenabkommens vor.
52
Er
kam zum Schluss, dass zwischen der Schweiz und der EU in zentralen Bereichen des
Entwurfs des institutionellen Rahmenabkommens weiterhin substanzielle Differenzen
bestanden. Für ihn waren daher die Voraussetzungen für einen Abschluss des institu-
tionellen Rahmenabkommens nicht gegeben. Er beschloss deshalb, es nicht zu unter-
zeichnen und damit die diesbezüglichen Verhandlungen zu beenden. Der Bundesrat
sah es aber im gemeinsamen Interesse der Schweiz und der EU, die bewährte bilate-
rale Zusammenarbeit zu sichern und die bestehenden Abkommen konsequent weiter-
zuführen. Die EU setzte ihre Praxis fort, die Aktualisierung von Binnenmarktabkom-
men sowie die Zusammenarbeit in anderen Bereichen mit der Lösung der
institutionellen Fragen zu verknüpfen, und stufte die Schweiz am 12. Juni 2021 für
Horizon Europe auf den Status eines nicht-assoziierten Drittstaates herab.
2.1.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
2.1.3.1
Interessenlage
Nach dem Abschluss der Verhandlungen über den Entwurf des institutionellen Rah-
menabkommens nahm der Bundesrat eine Lagebeurteilung seiner Europapolitik vor.
Nach der Abwägung der vier Handlungsoptionen – reines Freihandelsverhältnis, Fort-
setzung des bilateralen Wegs, Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR),
Beitritt zur EU (s. Ziff. 1.2) – kam der Bundesrat zum Schluss, dass es im Interesse
51
www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Überblick bilateraler Weg > Institutionel-
les Abkommen (bis 2021) > Konsultationen 2019.
52
www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Überblick bilateraler Weg > Institutionel-
les Abkommen (bis 2021) > Informationen und Dokumente zum Institutionellen Abkom-
men.
65 / 931
der Schweiz liege, Lösungen zu finden, die es erlauben, den bilateralen Weg mit der
EU, ihrer wichtigsten wirtschaftlichen und politischen Partnerin, zu stabilisieren und
weiterzuentwickeln. Insbesondere will er der Schweiz eine hindernisfreie Teilnahme
am EU-Binnenmarkt in den von den bestehenden Binnenmarktabkommen abgedeck-
ten Bereichen sichern und künftig neue Abkommen abschliessen, unter gleichzeitiger
Wahrung der Funktionsweise der Institutionen der Schweiz, insbesondere der direkten
Demokratie, des Föderalismus und der Unabhängigkeit des Landes. Er ist der Ansicht,
dass es im Interesse der Schweiz liegt, die Rechtssicherheit im Rahmen ihrer Teil-
nahme am EU-Binnenmarkt zu erhöhen und gleichzeitig die Wahrung der wesentli-
chen Interessen der Schweiz zu gewährleisten, insbesondere durch Ausnahmen. An-
ders als im Entwurf des institutionellen Rahmenabkommens strebte der Bundesrat
eine sektorielle Regelung der institutionellen Fragen in jedem einzelnen Abkommen
an, um den Besonderheiten der Abkommen besser Rechnung tragen zu können. Der
Bundesrat wollte, dass die Abkommen regelmässig aktualisiert werden können, um
zu verhindern, dass Rechtsabweichungen und Handelshindernisse entstehen, die die
Teilnahme der Schweiz am EU-Binnenmarkt erschweren. Ausserdem strebte er einen
Streitbeilegungsmechanismus an, der einen Rechtsrahmen festlegt, der es der Schweiz
ermöglicht, ihre Rechte wirksam durchzusetzen. Der Bundesrat wollte schliesslich
Einfluss auf die Rechtsetzungs- und Rechtsprechungsprozesse der EU nehmen, wenn
diese Bereiche der Binnenmarktabkommen betreffen und somit Auswirkungen auf die
Schweiz haben.
Die EU ihrerseits argumentierte, dass die Weiterführung der Teilnahme der Schweiz
an ihrem Binnenmarkt und eine mögliche Ausweitung dieser Teilnahme voraussetzt,
dass für die Beziehungen mit der Schweiz in den Bereichen der Binnenmarktabkom-
men dieselben Regeln gelten wie im Binnenmarkt selbst
(Level Playing Field
, auch
im Bereich der staatlichen Beihilfen). Sie wollte deshalb, dass die bilateralen Abkom-
men durch institutionelle Mechanismen ergänzt werden, die unter anderem die dyna-
mische Übernahme von EU-Recht und ein System zur Streitbeilegung mit einer Rolle
für den EuGH vorsehen.
2.1.3.2
Paketansatz und exploratorische Gespräche
Aufgrund dieser Interessenanalyse beschloss der Bundesrat am 23. Februar 2022, die
offenen Punkte im Gesamtkontext der Beziehungen zur EU zu klären und dabei einen
Paketansatz zu wählen (s. Ziff. 1.2). Dieser Paketansatz umfasst insbesondere die in-
stitutionellen Elemente. Diese will der Bundesrat durch einen sektoriellen Ansatz in
den verschiedenen Binnenmarktabkommen verankern.
Auf der Grundlage dieses Paketansatzes fanden zwischen der Schweiz und der EU
exploratorische Gespräche statt. Die institutionellen Elemente wurden auch während
dieser exploratorischen Gespräche thematisiert, was sich im
Common Understanding
widerspiegelt (s. Ziff. 1.3.1).
2.1.3.3
Verhandlungsmandat
An seiner Sitzung vom 8. November 2023 prüfte der Bundesrat die Ergebnisse der
exploratorischen Gespräche mit der EU und der internen Arbeiten. Er kam zum
Schluss, dass die exploratorischen Gespräche abgeschlossen seien, und beschloss, ein
Verhandlungsmandat zu erarbeiten. Der Bundesrat verabschiedete an seiner Sitzung
vom 15. Dezember 2023 den Entwurf eines Mandats für Verhandlungen mit der EU,
66 / 931
das die Leitlinien für die Verhandlungen enthält.
53
Der Entwurf war zwischen dem
15. Dezember 2023 und dem 15. Februar 2024 Gegenstand einer Konsultation. Aus
der Konsultation ergaben sich Anpassungsvorschläge bezüglich der institutionellen
Elemente (s. Bericht über die Ergebnisse der Konsultation zum Entwurf eines Ver-
handlungsmandats zwischen der Schweiz und der Europäischen Union über die Sta-
bilisierung und Weiterentwicklung ihrer Beziehungen
54
).
Der Bundesrat berücksichtigte diese Anpassungsvorschläge. Der Mandatsentwurf
wurde dahingehend angepasst, dass die Ausgleichsmassnahmen, die eine Partei er-
greifen kann, wenn die andere Partei einem Entscheid des SchG in einem Streitbeile-
gungsverfahren nicht nachkommt, erst in Kraft treten, wenn das SchG über ihre Ver-
hältnismässigkeit entschieden hat («aufschiebende Wirkung»). Damit wird
insbesondere bezweckt, allfällige Schäden aufgrund von Ausgleichsmassnahmen zu
vermeiden, die in der Folge als unverhältnismässig beurteilt werden. Ausserdem
wurde das Mandat dahingehend angepasst, dass die Schweiz eine parlamentarische
Zusammenarbeit zwischen der Bundesversammlung und dem Europäischen Parla-
ment anstrebt (s. Ziff. 2.15).
Das endgültige Verhandlungsmandat wurde am 8. März 2024 verabschiedet.
55
In Be-
zug auf die institutionellen Elemente enthielt es die folgenden Leitlinien:
–
Die Schweiz ist bestrebt, die institutionellen Elemente in jedes bestehende
und künftige Binnenmarktabkommen zu integrieren. Diese Elemente zielen
darauf ab, die Homogenität des Rechts innerhalb des Binnenmarkts durch
die Beseitigung von Marktzugangshindernissen in den abgedeckten Berei-
chen zu gewährleisten. Sie wahren das Funktionieren der Schweizer Insti-
tutionen, namentlich die aus der direkten Demokratie, dem Föderalismus
und der Unabhängigkeit des Landes fliessenden Prinzipien.
–
Die Schweiz ist bestrebt, die in den Abkommen bestehenden Ausnahmen
aufrechtzuerhalten.
–
Auslegung und Anwendung: Die einheitliche Auslegung und Anwendung
gemäss den völkerrechtlichen Grundsätzen werden durch die Behörden der
Parteien auf deren jeweiligem Hoheitsgebiet sichergestellt (Zwei-Pfeiler-
Modell). Die Kompetenz des Bundesgerichts zur Auslegung des Schweizer
Rechts und die Kompetenz des EuGH zur Auslegung des EU-Rechts, ein-
schliesslich der Abkommensbestimmungen, die unionsrechtliche Begriffe
implizieren, werden respektiert.
–
Überwachung: Die Abkommen werden durch die Behörden der Parteien ei-
genständig auf deren jeweiligem Hoheitsgebiet gemäss den völkerrechtli-
chen Grundsätzen überwacht (Zwei-Pfeiler-Modell).
53
www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Stabilisierung und Weiterentwicklung des
bilateralen Wegs > Paket Schweiz-EU.
54
www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Stabilisierung und Weiterentwicklung des
bilateralen Wegs > Paket Schweiz-EU.
55
www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Stabilisierung und Weiterentwicklung des
bilateralen Wegs > Paket Schweiz-EU.
67 / 931
–
Dynamische Rechtsübernahme: Die regelmässige Aktualisierung der beste-
henden und künftigen Binnenmarktabkommen wird durch die dynamische
Rechtsübernahme sichergestellt; dies unter der Voraussetzung, dass
(i)
die
Schweiz an der Weiterentwicklung des sie betreffenden EU-Rechts teilneh-
men kann (
Decision Shaping
),
(ii)
ihre verfassungsrechtlichen Verfahren
respektiert werden und
(iii)
keine EU-Rechtsentwicklungen übernommen
werden, die in den Anwendungsbereich einer Ausnahme fallen.
–
Streitbeilegung: Im Streitfall suchen die Parteien im GA nach einer politi-
schen Lösung. Bei fehlender Einigung im GA kann jede Partei den Streitfall
einem paritätischen SchG unterbreiten. Wirft der Streitfall eine Frage be-
treffend eine Ausnahme von der dynamischen Rechtsübernahme auf und
impliziert er nicht die Auslegung oder Anwendung von unionsrechtlichen
Begriffen, entscheidet das SchG den Streitfall ohne Einbezug des EuGH.
Wirft der Streitfall eine Frage betreffend die Auslegung oder Anwendung
einer Bestimmung eines Abkommens oder des EU-Rechts auf, deren An-
wendung unionsrechtliche Begriffe betrifft, und ist die Auslegung dieser
Bestimmung für die Streitbeilegung relevant und für eine Entscheidfällung
durch das SchG notwendig, so unterbreitet das SchG diese Frage dem
EuGH zur Auslegung, welche für das SchG verbindlich ist. In jedem Fall
obliegt es dem SchG zu entscheiden, ob die Voraussetzungen für eine An-
rufung des EuGH gegeben sind, der EuGH kann nicht von sich aus in einem
Schiedsgerichtsverfahren intervenieren. Der Entscheid über den Streit
selbst wird immer vom SchG gefällt.
–
Ausgleichsmassnahmen: Stellt das SchG eine Verletzung fest, können im
betroffenen Abkommen bzw. in einem anderen Binnenmarktabkommen
verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen ergriffen werden. Die Schweiz
strebt an, dass die Ausgleichsmassnahmen erst in Kraft treten, wenn das
SchG über deren Verhältnismässigkeit entschieden hat. Das Ziel ist insbe-
sondere, allfällige Schäden aufgrund von Ausgleichsmassnahmen zu ver-
meiden, die in der Folge als unverhältnismässig beurteilt werden.
–
Parlamentarische Zusammenarbeit: Die Schweiz strebt die Etablierung ei-
ner parlamentarischen Zusammenarbeit zwischen der Bundesversammlung
und dem Europäischen Parlament an.
2.1.3.4
Verhandlungsprozess
Seitens EU verabschiedete der Rat das entsprechende Verhandlungsmandat am
12. März 2024.
56
Die Verhandlungen begannen offiziell am 18. März 2024
(s. Ziff. 1.3.21).
Im Rahmen der Verhandlungen wurden die institutionellen Elemente von der Ver-
handlungsgruppe «Institutionelle Bestimmungen und andere Fragen» behandelt.
Diese Verhandlungsgruppe wurde von den Chefunterhändlern der beiden Delegatio-
56
www.consilium.europa.eu/de > Nachrichten und Medien > Pressemitteilungen > 12. März
2024 (15:05).
68 / 931
nen geleitet. Die Leitung der Schweizer Delegation wurde gemeinsam von der Abtei-
lung Europa des Staatssekretariats (Eidgenössisches Departement für auswärtige An-
gelegenheiten [EDA]), in der Person des Chefunterhändlers, und vom Bundesamt für
Justiz (BJ) (Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement [EJPD]) wahrgenommen.
Die Delegation umfasste ausserdem Vertreterinnen und Vertreter der Konferenz der
Kantonsregierungen, der Direktion für Völkerrecht (EDA) und der Mission der
Schweiz bei der Europäischen Union in Brüssel. Vertreterinnen und Vertreter anderer
Bundesstellen, wie zum Beispiel der Eidgenössischen Finanzverwaltung (Eidgenös-
sisches Finanzdepartement), wurden bei Themen in ihrer Zuständigkeit ebenfalls
punktuell in die Delegation einbezogen. Neben den Verhandlungen über die instituti-
onellen Bestimmungen war diese Verhandlungsgruppe auch für bestimmte Quer-
schnittsthemen, namentlich im Zusammenhang mit der Umsetzung der institutionel-
len Elemente in den verschiedenen Abkommen, zuständig.
Die erste Verhandlungsrunde über die institutionellen Elemente fand am Tag nach der
formellen Aufnahme der Verhandlungen am 19. März 2024 statt. Beide Delegationen
betrachteten die institutionellen Elemente aufgrund ihrer Auswirkungen auf die Ver-
handlungen zu vielen anderen Themen als vorrangig. Sie beschlossen deshalb, sich
häufiger zu treffen als die sektoriellen Verhandlungsgruppen. Die Gespräche waren
von harten inhaltlichen Positionen der Delegationen geprägt, aber auch von der Be-
reitschaft, Lösungen zu finden. Die Verhandlungen über die wichtigsten institutionel-
len Bestimmungen wurden am 11. Juli 2024 materiell abgeschlossen. Die Gespräche
wurden nach der Sommerpause fortgesetzt. Dabei standen insbesondere die Umset-
zung der institutionellen Elemente in den verschiedenen betroffenen Bereichen sowie
andere transversale Elemente im Zentrum. Insgesamt fanden 25 Verhandlungsrunden
statt, die letzte am 3. Dezember 2024. Parallel dazu fand ein Austausch auf informel-
ler und auf technischer Ebene statt.
2.1.4
Grundzüge der institutionellen Elemente
In einem ersten Schritt wurden die institutionellen Elemente in der Verhandlungs-
gruppe «Institutionelle Bestimmungen und andere Fragen» für alle Binnenmarktab-
kommen transversal verhandelt. Anschliessend wurden die institutionellen Elemente
in den sektoriellen Verhandlungsgruppen behandelt. Diese einigten sich auf die not-
wendigen Anpassungen, um den Besonderheiten der einzelnen Abkommen Rechnung
zu tragen und die spezifischen Interessen der Schweiz zu wahren. Die institutionellen
Elemente sind auch im Gesundheitsabkommen enthalten, soweit sie für das Funktio-
nieren dieses Abkommens erforderlich sind.
In den folgenden Unterkapiteln werden die institutionellen Elemente so präsentiert,
wie sie transversal ausgehandelt und in die jeweiligen Binnenmarktabkommen inte-
griert wurden. Zum besseren Verständnis und soweit nichts anderes angegeben, wird
auf die entsprechenden Artikel des institutionellen Protokolls (IP-LuftVA) und des
Änderungsprotokolls (ÄP-LuftVA) des LuftVA Bezug genommen. Die sektoriellen
Anpassungen für die verschiedenen Binnenmarktabkommen und die Besonderheiten
der institutionellen Elemente des Gesundheitsabkommens werden in den entsprechen-
den Teilen des erläuternden Berichts beschrieben (s. Ziff. 2.3 bis 2.6, 2.11 bis 2.13).
69 / 931
Die institutionellen Elemente werden direkt in die neuen Abkommen bzw. mittels
Protokolle in die bestehenden Abkommen integriert. Sie können in sieben Themen-
bereiche unterteilt werden:
–
Präambel und allgemeine Bestimmungen: Ziele, Beziehung der institutio-
nellen Bestimmungen zum Abkommen (bei Protokollen) und Definition der
bilateralen Binnenmarktabkommen (s. Ziff. 2.1.5.1).
–
Dynamische Rechtsübernahme: Teilnahme der Schweiz an der Ausarbei-
tung der relevanten EU-Rechtsakte («
Decision Shaping
») und deren In-
tegration in das Abkommen (s. Ziff. 2.1.5.2).
–
Auslegung, Anwendung und Überwachung des Abkommens: Grundsatz der
einheitlichen Auslegung und Grundsatz der wirksamen und harmonischen
Anwendung (s. Ziff. 2.1.5.3).
–
Streitbeilegung: Ausschliesslichkeitsgrundsatz, Streitbeilegungsverfahren,
Ausgleichsmassnahmen, Zusammenarbeit zwischen Gerichten sowie Ein-
reichung
von
Schriftsätzen
und
Stellungnahmen
beim
EuGH
(s. Ziff. 2.1.5.4).
–
Bestimmungen zum Finanzbeitrag und Bestimmungen zum besseren Ver-
ständnis der in die Abkommen aufgenommenen EU-Rechtsakte
(s. Ziff. 2.1.5.5).
–
Schlussbestimmungen (s. Ziff. 2.1.5.6).
–
Bestimmungen zu anderen Fragen, deren Formulierung vereinheitlicht und
deren Inhalt aktualisiert wurde, insbesondere Bestimmungen, die die GA,
den räumlichen Geltungsbereich der Abkommen, die Rechte und Pflichten
der Mitgliedstaaten sowie die Vorrechte und Befreiungen regeln
(s. Ziff. 2.1.5.7).
2.1.5
Erläuterungen zu einzelnen institutionellen Bestimmungen
2.1.5.1
Präambel und allgemeine Bestimmungen
2.1.5.1.1
Präambel
In der Präambel werden die Gründe zur Aufnahme der institutionellen Bestimmungen
in das Abkommen beschrieben. Sie vermittelt den Hintergrund für diese Bestimmun-
gen und kann bei ihrer Auslegung helfen.
Die Präambel verweist auf die zahlreichen Abkommen zwischen der Schweiz und der
EU, die darauf abzielen, die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu stärken und die wirt-
schaftlichen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU auf der Grundlage von
Gleichheit, Gegenseitigkeit und allgemeiner Ausgewogenheit der Vorteile, Rechte
und Pflichten zu festigen. Das Ziel, die Beteiligung der Schweiz am EU-Binnenmarkt
auf der Basis der Einheitlichkeit und derselben Regeln, die für den Binnenmarkt gel-
ten, zu stärken und zu vertiefen, wird ergänzt durch das Ziel, die Unabhängigkeit der
Schweiz und der EU sowie ihrer Institutionen und, was die Schweiz betrifft, die
70 / 931
Grundsätze der direkten Demokratie, des Föderalismus und des sektorspezifischen
Charakters ihrer Beteiligung am EU-Binnenmarkt zu wahren.
Die Präambel bekräftigt, dass die Zuständigkeiten des Bundesgerichts und der
Schweizer Gerichte sowie der Gerichte der Mitgliedstaaten und des EuGH für die
Auslegung des Abkommens im Einzelfall gewahrt bleiben. Die Parteien behalten zu-
dem die Autonomie ihrer Gerichte betreffend die Auslegung ihres eigenen Rechts.
Die Kompetenzen der Schweizer Gerichte und des Bundesgerichts werden durch das
Verhandlungsergebnis folglich nicht beeinträchtigt. Die Wahrung dieser Kompeten-
zen ist in den institutionellen Bestimmungen verankert.
2.1.5.1.2
Ziele
Ziel der institutionellen Bestimmungen ist es, den Parteien, Wirtschaftsakteuren und
Privatpersonen eine grössere Rechtssicherheit, Gleichbehandlung und gleiche Wett-
bewerbsbedingungen zu gewährleisten (Art. 1 Abs. 1 IP-LuftVA). Dieses Ziel gilt nur
für jene Teile der Abkommen, die sich auf die Beteiligung der Schweiz am EU-
Binnenmarkt beziehen, und nicht für jene Teile der Abkommen, die diese Beteiligung
nicht betreffen (z. B. die Thematik der Niederlassungsbewilligungen in einem Proto-
koll zum FZA). Es unterscheidet sich insbesondere vom Ziel des EWR, einen einheit-
lichen Wirtschaftsraum in Europa zu schaffen.
Die «neuen institutionellen Lösungen» umfassen
(i)
ein Verfahren für die dynamische
Übernahme der relevanten EU-Rechtsakte in das Abkommen,
(ii)
die einheitliche
Auslegung und Anwendung des Abkommens und der EU-Rechtsakte, auf die darin
Bezug genommen wird,
(iii)
die Überwachung und Anwendung des Abkommens und
(iv)
die Beilegung von Streitigkeiten zwischen den Parteien im Zusammenhang mit
dem Abkommen. Diese Elemente ermöglichen einen kontinuierlichen und ausgewo-
genen Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Parteien (Art. 1 Abs. 2
Bst. a bis d IP-LuftVA). Es wird daran erinnert, dass die Abkommen zwischen der
Schweiz und der EU völkerrechtliche Instrumente sind und dass die Grundsätze des
Völkerrechts berücksichtigt werden müssen. Es wird auch betont, dass die institutio-
nellen Elemente allen bisherigen und künftigen Binnenmarktabkommen gemeinsam
sind. Die institutionellen Elemente sollen somit grundsätzlich in alle künftigen Bin-
nenmarktabkommen aufgenommen werden, nicht aber in andere Arten von Abkom-
men, wie zum Beispiel Kooperationsabkommen. Die dynamische Rechtsübernahme
ist von einer Ausdehnung des EU-Rechtsbestands auf die Schweiz zu unterscheiden,
wie es beispielsweise der Fall wäre, wenn die Schweiz der EU beitreten würde. Dies
bedeutet insbesondere, dass die Schweiz nicht an die allgemeinen Grundsätze des Bin-
nenmarkts gebunden ist, wie zum Beispiel die Grundfreiheiten des EU-Binnenmarkts
oder den Grundsatz der Nichtdiskriminierung, es sei denn, dies wurde von den Par-
teien ausdrücklich für bestimmte Elemente vereinbart.
Die Bestimmung über die Ziele stellt schliesslich klar, dass die institutionellen Ele-
mente den Geltungsbereich und die Ziele, wie sie in jedem Binnenmarktabkommen
individuell festgelegt sind, nicht ändern (Art. 1 Abs. 2 IP-LuftVA). Mit anderen Wor-
ten: Die Anwendung dieser Elemente muss innerhalb des durch den Geltungsbereich
und die Ziele des Abkommens vorgegebenen Rahmens erfolgen. Dieser allgemeine
Grundsatz gilt für alle institutionellen Elemente und wird auch in den anderen institu-
71 / 931
tionellen Bestimmungen präzisiert. Diese Garantie ist besonders wichtig, um das Aus-
mass der dynamischen Rechtsübernahme zu begrenzen, denn diese darf den Geltungs-
bereich und die Ziele des Abkommens nicht ändern. Die Beschränkung der dynami-
schen Rechtsübernahme auf den in jedem einzelnen Abkommen
definierten
Geltungsbereich verhindert beispielsweise, dass die Schweiz im Rahmen der Perso-
nenfreizügigkeit arbeitsrechtliche Regelungen der EU übernehmen müsste. Das Ar-
beitsrecht fällt nicht in den Geltungsbereich des FZA. Der Geltungsbereich und die
Ziele des Abkommens können nur einvernehmlich von beiden Parteien mittels eines
ordentlichen Verfahrens zur Änderung des Abkommens angepasst werden.
2.1.5.1.3
Beziehung zum Abkommen
Diese Bestimmung ist nur vorgesehen, wenn die institutionellen Bestimmungen mit-
tels eines Protokolls in die bestehenden Binnenmarktabkommen eingefügt werden.
Sie regelt das Verhältnis zwischen den bereits bestehenden institutionellen Bestim-
mungen im Abkommen und den neuen institutionellen Bestimmungen, die im Proto-
koll vereinbart wurden. Eine solche Bestimmung ist somit in künftigen Abkommen
nicht erforderlich, da die institutionellen Bestimmungen in diesen Fällen direkt in den
Hauptteil des Abkommens aufgenommen werden.
Als Grundsatzregel gilt die Aufhebung (Art. 2 Abs. 2 IP-LuftVA). Die bestehenden
institutionellen Bestimmungen des Abkommens, die durch die neuen institutionellen
Bestimmungen im Protokoll hinfällig werden, sind aufgelistet. Die Auflistung ist ab-
schliessend. Bestehende institutionelle Bestimmungen des Abkommens, die nicht auf-
gelistet sind und nicht durch das Änderungsprotokoll geändert werden, bleiben in
Kraft. Ziel ist es, Rechtssicherheit zu gewährleisten.
Im Übrigen stellt diese Bestimmung klar, dass das institutionelle Protokoll, sein An-
hang und seine Anlage integraler Bestandteil des Abkommens sind und dass jede Be-
zugnahme auf die «Europäische Gemeinschaft» oder die «Gemeinschaft» als Bezug-
nahme auf die EU gilt (Art. 2 Abs. 1 und 3 IP-LuftVA).
2.1.5.1.4
Bilaterale Abkommen betreffend den Binnenmarkt
Die bestehenden und künftigen Binnenmarktabkommen zwischen der Schweiz und
der EU werden als «kohärentes Ganzes» betrachtet, das eine ausgewogene Verteilung
der Rechte und Pflichten zwischen den Parteien gewährleistet (Art. 3 Abs. 1 IP-
LuftVA). Diese Bestimmung widerspiegelt eine politisch motivierte Formulierung in
Absatz 12 des
Common Understanding
und hat keine konkrete rechtliche Wirkung.
Sie schafft auch keine zusätzliche kündigungsbezogene Verknüpfung zwischen den
bestehenden und künftigen Binnenmarktabkommen, wie es im Entwurf des instituti-
onellen Rahmenabkommens vorgesehen war (Art. 12 Entwurf des institutionellen
Rahmenabkommens, «Super-Guillotine»).
Die Bestimmung hält fest, dass es sich beim betreffenden Abkommen um ein Abkom-
men in einem Bereich betreffend den Binnenmarkt handelt (Art. 3 Abs. 2 IP-LuftVA).
Diese Klarstellung ist notwendig, um den Umfang der Ausgleichsmassnahmen zu be-
grenzen, die nur im Rahmen von Binnenmarktabkommen ergriffen werden können
(s. Ziff. 2.1.5.4.3).
72 / 931
Der Begriff «Binnenmarktabkommen», der in diesem erläuternden Bericht aus Grün-
den der Vereinfachung verwendet wird, hat die gleiche Bedeutung wie der in den Pro-
tokollen und Abkommen verwendete Begriff «Abkommen im Bereich/in den Berei-
chen betreffend den Binnenmarkt, an dem/denen die Schweiz teilnimmt».
2.1.5.2
Dynamische Rechtsübernahme
Die Binnenmarktabkommen müssen regelmässig an die relevanten Entwicklungen
des EU-Rechts angepasst werden, damit die Teilnahme der Schweiz am EU-
Binnenmarkt in den betreffenden Sektoren langfristig gesichert ist. Ohne Aktualisie-
rung würden Rechtsabweichungen entstehen, die zu immer grösseren Hürden bei der
Umsetzung der Binnenmarktabkommen, wie sie von den Parteien angestrebt wird,
führen könnten. Diese Hürden würden die angestrebte Rechtssicherheit und ganz all-
gemein die in den Abkommen vorgesehene Beteiligung der Schweiz am EU-
Binnenmarkt gefährden, was insbesondere die Schweizer Wirtschaftsakteure benach-
teiligen würde. Die Aktualisierung der Abkommen ist eine gemeinsame Verpflich-
tung der Schweiz und der EU. So kann die Schweiz zum Beispiel in Zukunft, wenn
die EU mit der Aktualisierung eines Abkommens in Verzug ist (wie seit 2021 beim
MRA), ihre Rechte über den Streitbeilegungsmechanismus geltend machen
(s. Ziff. 2.1.5.4). Zudem kann die Schweiz künftig an der Erarbeitung von Rechtsak-
ten der EU mitwirken, die sie betreffen (s. Ziff. 2.1.5.2.1).
Zu beachten ist, dass – unabhängig vom Paket Schweiz-EU – die laufenden Arbeiten
in den Gemischten Ausschüssen zur Aktualisierung der bestehenden Binnenmarktab-
kommen gemäss der bisherigen Praxis fortgeführt werden.
2.1.5.2.1
Mitwirkung an der Erarbeitung von EU-Rechtsakten
(«
Decision Shaping
»)
Vorschläge für neue Rechtsakte werden in der EU durch die Europäische Kommission
ausgearbeitet. Die EU sichert der Schweiz eine grösstmögliche Teilnahme am Prozess
zur Ausarbeitung von EU-Rechtsakten durch die Europäische Kommission (
Decision
Shaping
) zu. Diese Teilnahme entspricht jener, die für die EWR-Staaten vorgesehen
ist.
Die Modalitäten des
Decision Shaping
sind unterschiedlich, je nachdem, ob es sich
um Rechtsakte (Art. 4 Abs. 1 IP-LuftVA), delegierte Rechtsakte (Art. 4 Abs. 2 IP-
LuftVA) oder Durchführungsrechtsakte (Art. 4 Abs. 3 IP-LuftVA) handelt. Grund für
die verschiedenen Modalitäten sind die unterschiedlichen Prozesse bei der Ausarbei-
tung dieser drei Arten von Rechtsakten in der EU. In allen drei Fällen zieht die Euro-
päische Kommission Sachverständige der Schweiz gleichermassen zurate, wie sie die
Stellungnahmen der Sachverständigen der EU-Mitgliedstaaten für die Ausarbeitung
eines ersten Entwurfs einholt. Darüber hinaus kann bei Rechtsakten ein Meinungsaus-
tausch im GA stattfinden. Bei den wichtigen Etappen vor dem Erlass des Rechtsakts
müssen sich die Parteien auf Antrag einer Partei erneut konsultieren. Bei delegierten
Rechtsakten und Durchführungsrechtsakten, die in die alleinige Zuständigkeit der Eu-
ropäischen Kommission fallen, gewährt die Europäische Kommission der Schweiz
die grösstmögliche Teilnahme an der Ausarbeitung ihrer Vorschläge (sog. Komitolo-
gieverfahren). Über diese Mitwirkung bei der Erarbeitung von EU-Rechtsakten hin-
aus können Sachverständige der Schweiz an den Arbeiten der Ausschüsse teilnehmen,
73 / 931
wenn dies zur Gewährleistung des ordnungsgemässen Funktionierens des Abkom-
mens erforderlich ist (Art. 4 Abs. 4 IP-LuftVA). Eine Liste der betroffenen Aus-
schüsse wird vom GA erstellt und aktualisiert.
Zusätzlich zum
Decision Shaping
kann die Schweiz ausserdem über Direktkontakte
mit einzelnen EU-Mitgliedstaaten oder dem Europäischen Parlament Einfluss auf die
Diskussion in der EU nehmen.
Dieser Artikel gilt nicht für Bestimmungen oder Rechtsakte der EU, die in den An-
wendungsbereich einer Ausnahme fallen (Art. 4 Abs. 5 IP-LuftVA), da diese Rechts-
akte von der Integrationspflicht ausgenommen sind (s. Ziff. 2.1.5.2.2; Art. 5 Abs. 7
IP-LuftVA). Bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den Parteien darüber, ob die
Schweiz an der Ausarbeitung eines EU-Rechtsakts teilnehmen können soll oder nicht,
können die Parteien den Streitbeilegungsmechanismus in Anspruch nehmen
(s. Ziff. 2.1.5.4).
Diese Modalitäten des
Decision Shaping
sind von denjenigen zu unterscheiden, die
im Zusammenhang mit der Assoziierung der Schweiz an Schengen gelten, wo die
Schweiz mehr Rechte hat. Im letzteren Fall kann die Schweiz aus historischen Grün-
den und aufgrund der Kompetenzordnung innerhalb der EU auch an den Arbeiten im
Rat der EU teilnehmen. Die EWR-Staaten werden im Rahmen ihrer Teilnahme am
EU-Binnenmarkt auch nicht in die Arbeiten des Rates der EU einbezogen.
2.1.5.2.2
Integration von EU-Rechtsakten in das Abkommen
Allgemeine Pflichten der Parteien
Die Schweiz und die EU sind verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Rechtsakte der
EU, die in den Bereichen des Abkommens erlassen werden, nach ihrer Verabschie-
dung so rasch wie möglich in das Abkommen integriert werden (Art. 5 Abs. 1 IP-
LuftVA). Ziel dieser Verpflichtung ist es, in den Bereichen des EU-Binnenmarkts, an
denen die Schweiz durch das Abkommen teilnimmt, Rechtssicherheit und rechtliche
Homogenität zu gewährleisten, was im Interesse der Wirtschaftsakteure und Privat-
personen liegt. Wie bereits erwähnt, handelt es sich dabei um eine gemeinsame Ver-
pflichtung beider Parteien, nicht nur um eine Verpflichtung der Schweiz. Die Ver-
pflichtung beschränkt sich auf EU-Rechtsakte, die in den Bereichen des Abkommens
erlassen wurden, das heisst, die in den Geltungsbereich und die Ziele des Abkommens
fallen (s. Ziff. 2.1.5.2.2).
Die Rechtsübernahme erfolgt nicht automatisch. Ein Automatismus würde bedeuten,
dass die EU-Rechtsakte nach der Verabschiedung direkt ins Abkommen integriert
würden, ohne dass ein Handeln der Schweiz und der EU erforderlich wäre. Vielmehr
setzt jede Übernahme eines neuen EU-Rechtsakts in ein Abkommen einen individu-
ellen Beschluss der Schweiz und der EU voraus (s. «Integrationsverfahren»).
Die Parteien haben keine Frist für die Erfüllung dieser Integrationspflicht definiert.
Es wird lediglich festgelegt, dass die Rechtsakte «so rasch wie möglich» integriert
werden müssen (s. «Integrationsverfahren»). Dies lässt den Parteien einen gewissen
Handlungsspielraum. Die Frist kann je nach EU-Rechtsakt variieren und hängt von
verschiedenen Kriterien ab, zum Beispiel von der Komplexität des Rechtsakts, davon,
ob es sich um einen allgemeinen oder einen rein technischen Rechtsakt handelt, oder
74 / 931
davon, wie viel Zeit die Schweiz und die EU benötigen, um sich über die Modalitäten
der Übernahme des Rechtsakts zu einigen.
Im Folgenden werden die spezifischen Pflichten der Schweiz beschrieben, die sich
aus der Übernahme von EU-Rechtsakten ergeben. Diese Pflichten variieren je nach
Art der dynamischen Übernahme, also Integration (z. B. Art. 5 Abs. 2 IP-LuftVA)
oder Äquivalenz (z. B. Art. 5 Abs. 2 IP-MRA):
–
Bei der Integrationsmethode werden die in die Abkommen integrierten EU-
Rechtsakte allein durch ihre Integration in das Abkommen Teil der Schwei-
zer Rechtsordnung, vorbehaltlich der allfälligen vom GA beschlossenen
Anpassungen dieser Rechtsakte. Dies entspricht dem monistischen System
der Schweiz. Diese Rechtsakte werden von der Schweiz grundsätzlich di-
rekt angewendet, ohne dass sie in das Landesrecht überführt werden müs-
sen, selbst wenn eine solche Überführung theoretisch möglich wäre. Die
Schweiz muss das Landesrecht jedoch anpassen, wenn es den Bestimmun-
gen der integrierten EU-Rechtsakte widerspricht oder wenn eine Präzisie-
rung derselben notwendig ist.
–
Bei der Äquivalenzmethode erlässt die Schweiz in ihrer Rechtsordnung
Bestimmungen oder behält solche bei, um das Ergebnis zu erreichen, das
durch die in das Abkommen integrierten EU-Rechtsakte erzielt werden soll,
vorbehaltlich der vom GA beschlossenen Anpassungen dieser Rechtsakte.
Diese Rechtsakte sind grundsätzlich nicht direkt anwendbar in der Schweiz.
Die Schweiz muss jedoch dafür sorgen, dass ihr Recht das gleiche Ergebnis
erzielt, das mit den betreffenden EU-Rechtsakten angestrebt wird – und
nicht, dass das Landesrecht mit diesen Rechtsakten identisch ist. Diese Me-
thode lässt der Schweiz also einen grösseren Handlungsspielraum. Bei der
Übernahme neuen EU-Rechts ist konkret zu prüfen, ob das entsprechende
schweizerische Recht nach wie vor äquivalent ist. Ist dies nicht der Fall, ist
eine Anpassung des Schweizer Rechts erforderlich.
Die oben beschriebenen spezifischen Pflichten der Schweiz gelten unabhängig von
der Art des betreffenden Rechtsakts der EU (Verordnung, Richtline usw.). Die Be-
sonderheiten der verschiedenen Arten von EU-Rechtsakten für die EU-
Mitgliedstaaten sind nicht auf die Schweiz anwendbar, da sie der EU nicht angehört.
Im LandVA und im MRA ist die Äquivalenzmethode vorgesehen. Im LuftVA ist wie
bereits heute die Integrationsmethode vorgesehen, ebenso im FZA, das de facto auch
schon nach dieser Methode funktioniert. Das Stromabkommen, das Protokoll zur Le-
bensmittelsicherheit und das Gesundheitsabkommen sehen grundsätzlich die Integra-
tionsmethode vor, wobei unter Berücksichtigung der Beschaffenheit dieser Abkom-
men Besonderheiten gelten. Für den Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens ist
keine dynamische Rechtsübernahme vorgesehen (s. Ziff. 2.1.1). Für die Übernahme
von EU-Rechtsakten in die Beihilfe-Anhänge gelten besondere Bestimmungen
(s. Ziff. 2.2.5.8).
Betreffend Bezugnahmen auf andere EU-Rechtsakte, die in Rechtsakten der EU ent-
halten sind, die in die Abkommen integriert wurden, ist im Übrigen zu beachten, dass
diese nicht für die Schweiz gelten, es sei denn, in den technischen Anpassungen wurde
75 / 931
etwas anderes vereinbart. Falls dies aus Gründen der Klarheit wichtig ist, kann in den
technischen Anpassungen auch präzisiert werden, was anstelle solcher Bezugnahmen
für die Schweiz gilt.
Diese Integrationspflicht steht im Einklang mit den Postulaten 14.3557 Schilliger und
14.3577 Fournier, wonach sichergestellt werden soll, dass das in die Abkommen in-
tegrierte EU-Recht «nicht noch zusätzlich verschärft und unter dem Deckmantel der
Übernahme von EU-Recht mit sachfremden Bestimmungen angereichert wird (kein
Swiss Finish
)». Die Integrations- und die Äquivalenzmethode verpflichten die
Schweiz in keiner Weise dazu, über die in den EU-Rechtsakten festgelegten Ver-
pflichtungen hinauszugehen. Bei der Integrationsmethode werden diese Rechtsakte
allein durch ihre Integration in das Abkommen Teil der Schweizer Rechtsordnung.
Die Schweiz muss ihr Recht nur dann anpassen, wenn es den Bestimmungen des ent-
sprechenden EU-Rechtsakts widerspricht oder dieser nicht direkt anwendbar ist
(«
self-executing
»). Bei der Äquivalenzmethode ist die Schweiz einzig dazu verpflich-
tet, in ihrem nationalen Recht das gleiche Ergebnis zu erzielen, das mit den EU-
Rechtsakten erreicht werden soll. Ihr Handlungsspielraum ist also noch grösser als bei
der Integrationsmethode, da sie nur verpflichtet ist, die Ziele der entsprechenden EU-
Rechtsakte zu erreichen. Die Mittel hierfür liegen in ihrer Zuständigkeit. Darüber hin-
aus ermöglichen es Ausnahmen sowie Absicherungen und Prinzipien im Bereich der
Personenfreizügigkeit und des Lohnschutzes, den Besonderheiten der Schweiz im
Rahmen der dynamischen Rechtsübernahme Rechnung zu tragen. Zusammenfassend
verpflichtet die dynamische Übernahme von EU-Rechtsakten im Rahmen der Binnen-
marktabkommen die Schweiz also in keiner Weise dazu, über das betreffende EU-
Recht hinauszugehen. Sie erlaubt es ihr im Übrigen, ihren Besonderheiten weitestge-
hend Rechnung zu tragen.
Schliesslich ist die Schweiz beim «autonomen Nachvollzug» von EU-Recht völlig
frei. Es gibt in diesem Zusammenhang keinerlei völkerrechtliche Verpflichtung zur
Übernahme des EU-Rechts. Die Schweiz kann darüber also vollumfänglich nach ihren
eigenen Interessen entscheiden.
Integrationsverfahren
Das Verfahren zur Integration eines EU-Rechtsakts beginnt, sobald die EU die
Schweiz im GA darüber informiert, dass ein solcher Rechtsakt erlassen wurde. Diese
Information muss so rasch wie möglich nach Erlass des Rechtsakts erfolgen (Art. 5
Abs. 3 IP-LuftVA).
Auf Antrag einer Partei kann der GA einen Meinungsaustausch über diesen Rechtsakt
durchführen (Art. 5 Abs. 3 IP-LuftVA). Diese Gesprächsphase ist ein wichtiger
Schritt im Verfahren. Die Parteien müssen zu diesem Zeitpunkt prüfen, ob der Rechts-
akt vor der Integration angepasst werden muss, zum Beispiel aufgrund von Ausnah-
men. Ausserdem können bei diesem Schritt auch spezifische Übernahmemodalitäten,
wie zum Beispiel besondere Übergangsfristen, festgelegt werden. Die Parteien kön-
nen auch neue Ausnahmen vereinbaren. Wie lange die Gesprächsphase dauert, hängt
von der Art des jeweiligen Rechtsakts ab (s. «Allgemeine Pflichten der Parteien»).
Im Anschluss an diese Gesprächsphase muss der GA, das heisst die Schweiz und die
EU gemeinsam, der Integrationspflicht nachkommen, indem er so rasch wie möglich
76 / 931
einen Beschluss zur Änderung der Anhänge des Abkommens, einschliesslich der er-
forderlichen Anpassungen des zu integrierenden Rechtsakts, fasst (Art. 5 Abs. 4 IP-
LuftVA). Auch hier haben sich die Parteien dafür entschieden, keine bestimmte Frist
vorzusehen, sondern dem GA Spielraum zu lassen.
Die Kompetenz des GA zur Umsetzung der Integrationspflicht beschränkt sich auf die
Änderung der Anhänge. Der GA kann den Hauptteil des Abkommens nicht ändern.
Der gegebenenfalls zu aktualisierende EU-Rechtsbestand befindet sich nämlich in den
Anhängen. Die dynamische Rechtsübernahme dürfte grundsätzlich keine Auswirkun-
gen auf den Hauptteil des Abkommens haben. Dieser enthält namentlich die Bestim-
mungen zum Geltungsbereich und zu den Zielen, die durch die dynamische Rechts-
übernahme eben gerade nicht geändert werden können. Sollte es zur Gewährleistung
der Kohärenz des Abkommens mit den geänderten Anhängen dennoch erforderlich
sein, den Hauptteil zu ändern, kann der GA den Parteien eine Änderung des Abkom-
mens nach ihren internen Verfahren vorschlagen, wobei in jedem Fall eine Genehmi-
gung beider Parteien erforderlich ist (Art. 5 Abs. 5 IP-LuftVA).
In dieser Bestimmung wird auch präzisiert, dass Bezugnahmen im Hauptteil des Ab-
kommens auf EU-Rechtsakte, die nicht mehr in Kraft sind, als Bezugnahmen auf den
aufhebenden Rechtsakt gelten, wie er im Anhang enthalten ist, sofern nichts anderes
vorgesehen ist (Art. 5 Abs. 6 IP-LuftVA). Mit dieser Präzisierung soll vermieden wer-
den, dass eine Änderung des Abkommens erforderlich ist, nur um eine Bezugnahme
auf einen Rechtsakt zu ersetzen. Diese Präzisierung zur Bezugnahme im Hauptteil des
Abkommens hat jedoch keine materielle Bedeutung. Ausserdem ist zu beachten, dass
Bezugnahmen auf EU-Rechtsakte in bestehenden Abkommen, die trotz der Änderung
dieser Rechtsakte nicht aktualisiert wurden, als Bezugnahmen auf die geänderten
Rechtsakte gelten, wie sie in den Anhang integriert wurden.
Der Beschluss des GA, den EU-Rechtsakt in den Anhang des Abkommens zu integ-
rieren, tritt sofort in Kraft, jedoch keinesfalls vor dem Zeitpunkt der Anwendbarkeit
des entsprechenden Rechtsakts in der EU (Art. 5 Abs. 8 IP-LuftVA). Es macht näm-
lich keinen Sinn, dass ein EU-Rechtsakt seine Wirkung in den bilateralen Beziehun-
gen zwischen der Schweiz und der EU entfaltet, noch bevor er dies in der Rechtsord-
nung der EU tut. Die Regel des sofortigen Inkrafttretens gilt zudem nicht in Fällen, in
denen die Schweiz verfassungsrechtliche Verpflichtungen erfüllen muss, damit der
Beschluss des GA Rechtswirksamkeit erlangen kann, also wenn der Beschluss des
GA zur Integration des neuen EU-Rechtsakts in das Abkommen vom Parlament oder
sogar vom Stimmvolk genehmigt werden muss. Wenn das Parlament oder das Volk
den Beschluss des GA vor dessen Inkrafttreten genehmigen muss, wird das übliche
interne Verfahren zur Genehmigung völkerrechtlicher Verträge angewendet.
Für solche Fälle sind ausreichende Fristen vorgesehen, damit die Schweiz ihre für die
Integration des betreffenden Rechtsakts vorgesehenen internen Verfahren durchfüh-
ren kann. Während des Meinungsaustauschs im GA – vor der Beschlussfassung –
muss die Schweiz die EU darüber informieren, ob solche verfassungsrechtlichen Ver-
pflichtungen erfüllt werden müssen, bevor der Beschluss in Kraft treten kann (Art. 6
Abs. 1 IP-LuftVA). Es ist keine konkrete Frist für diese Mitteilung vorgesehen, was
der Schweiz einen gewissen Spielraum lässt. Ab dem Zeitpunkt der Mitteilung verfügt
die Schweiz über eine Frist von zwei Jahren, um ihre verfassungsrechtlichen Ver-
77 / 931
pflichtungen zu erfüllen, das heisst die Genehmigung des GA-Beschlusses zur In-
tegration des Rechtsakts durch die Bundesversammlung (Art. 6 Abs. 2 IP-LuftVA).
Wird gegen den Genehmigungsbeschluss das Referendum ergriffen, so wird die Frist
um ein weiteres Jahr verlängert (Art. 6 Abs. 2 IP-LuftVA). Sobald die Schweiz ihre
verfassungsrechtlichen Verpflichtungen erfüllt hat, notifiziert sie dies der EU (Art. 6
Abs. 4 IP-LuftVA). Der Beschluss des GA tritt am Tag des Eingangs dieser Notifika-
tion in Kraft, jedoch keinesfalls vor dem Zeitpunkt der Anwendbarkeit des entspre-
chenden Rechtsakts in der EU (Art. 6 Abs. 5 IP-LuftVA).
Der Beschluss des GA ist grundsätzlich ab dem Zeitpunkt seiner Verabschiedung vor-
läufig anzuwenden, es sei denn, die Schweiz teilt der EU unter Angabe von Gründen
mit, dass eine vorläufige Anwendung nicht möglich ist (Art. 6 Abs. 3 IP-LuftVA).
Dies ist der Fall, wenn die dafür im Schweizer Recht vorgesehenen Voraussetzungen
nicht erfüllt sind.
57
Diese Voraussetzungen bleiben durch das vorliegende Verhand-
lungspaket unberührt. Da diese Voraussetzungen sehr restriktiv sind, dürfte eine vor-
läufige Anwendung nur sehr selten erfolgen, wie die Praxis im Zusammenhang mit
der Assoziierung an Schengen und Dublin gezeigt hat. Eine vorläufige Anwendung
vor dem Zeitpunkt der Anwendbarkeit des entsprechenden EU-Rechtsakts in der EU
ist ausgeschlossen.
Um die Beschlussfassung zu erleichtern, verpflichten sich die Parteien allgemein
dazu, im Rahmen des Verfahrens der dynamischen Rechtsübernahme nach Treu und
Glauben zusammenzuarbeiten (Art. 5 Abs. 9 IP-LuftVA).
Das oben erläuterte Integrationsverfahren erlaubt es, den Postulaten 14.3557 Schilli-
ger und 14.3577 Fournier Folge zu geben, das heisst sicherzustellen, dass die Über-
nahme des EU-Rechts «bzw. die Umsetzung in das schweizerische Recht zum spätest
möglichen Zeitpunkt erfolgt, falls nicht wirtschaftliche Interessen eine rasche Anwen-
dung verlangen (kein vorauseilender Gehorsam)». Es wurden ausreichend lange
Übernahmefristen vereinbart, damit die üblichen Schweizer Verfahren zur Genehmi-
gung völkerrechtlicher Verträge eingehalten werden können. Zudem ist vorgesehen,
dass die Beschlüsse des GA zur Integration neuer Rechtsakte der EU in die entspre-
chenden Abkommen keinesfalls vor Beginn der Anwendung dieser Rechtsakte in der
EU in Kraft treten oder provisorisch angewendet werden können.
Ausnahmen
Die Integrationspflicht gilt nicht für EU-Rechtsakte oder deren Bestimmungen, die in
den Anwendungsbereich einer Ausnahme fallen (Art. 5 Abs. 7 IP-LuftVA). Die Aus-
nahmen werden aufgeführt (z. B. Art. 5 Abs. 7 IP-FZA). Falls das Abkommen keine
Ausnahmen enthält, wird dies ebenfalls erwähnt (Art. 5 Abs. 7, 2. Satz, IP-LuftVA).
Ist eine der Parteien der Auffassung, dass ein EU-Rechtsakt oder ein Teil eines sol-
chen Rechtsakts in den Anwendungsbereich einer Ausnahme fällt, so kann sie dies im
Rahmen der Gesprächsphase nach der Information über den Erlass des Rechtsakts
durch die EU (s. «Integrationsverfahren») einbringen. Wenn die Ausnahme einen
ganzen Rechtsakt betrifft, darf er nicht in das Abkommen aufgenommen werden. Sind
57
Art. 7
b
RVOG und Art. 152 Abs. 3
bis
Bst. a ParlG.
78 / 931
nur Teile des Rechtsakts von einer Ausnahme betroffen, so wird der Rechtsakt inte-
griert, muss aber im Beschluss des GA angepasst werden, um das, was in den Anwen-
dungsbereich der Ausnahme fällt, auszuschliessen.
Die Parteien können später weitere Ausnahmen vereinbaren. In diesem Fall muss die
Bestimmung, die die Ausnahmen auflistet, geändert und die neue Ausnahme hinzu-
gefügt werden. Die Parteien – und nicht der GA – sind für die Änderung dieser Be-
stimmung zuständig.
Streitigkeiten im Zusammenhang mit der dynamischen Rechtsübernahme
Die institutionellen Bestimmungen sehen kein besonderes Verfahren für den Fall vor,
dass die Parteien sich nicht einig sind, ob ein EU-Rechtsakt in das Abkommen inte-
griert werden muss oder nicht, dass die für die Integration massgebenden Fristen nicht
eingehalten werden oder dass eine Partei ihrer Verpflichtung, einen EU-Rechtsakt in
das Abkommen aufzunehmen, nicht nachkommen kann oder will. Letzteres wäre etwa
der Fall, wenn ein Bundesbeschluss zur Genehmigung einer Anpassung eines Abkom-
mens in einer Referendumsabstimmung abgelehnt wird und definitiv auf eine neue
Vorlage verzichtet wird.
Die erwähnten Fälle könnte zu einem Streitfall führen, der gemäss dem dafür vorge-
sehenen Mechanismus beigelegt werden müsste (s. Ziff. 2.1.6.4). Falls die Parteien
im GA keine Einigung erzielen und das SchG zum Schluss kommt, dass eine Partei
gegen ihre Verpflichtungen verstossen hat, indem sie einen EU-Rechtsakt nicht wie
vereinbart in das Abkommen integriert hat, könnte die andere Partei – wenn die Partei,
die gegen das Abkommen verstossen hat, den Entscheid des SchG nicht umsetzt –
verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Die Partei, die den Rechtsakt
nicht integriert hat, könnte jedoch nicht zu dessen Integration gezwungen werden,
selbst wenn sie aus rechtlicher Sicht dazu verpflichtet wäre.
Zum Vergleich gilt es im Übrigen darauf hinzuweisen, dass die Folgen bei einem
Streit im Zusammenhang mit der dynamischen Rechtsübernahme gemäss den neuen
institutionellen Elementen weniger einschneidend sind als im Rahmen der Assoziie-
rung der Schweiz an Schengen und Dublin. Im Falle der Nichtübernahme einer rele-
vanten Weiterentwicklung des Schengen/Dublin-Besitzstands durch die Schweiz wird
die Assoziierung derselben an Schengen/Dublin nach einer bestimmten Frist nämlich
automatisch beendet (ausser die Parteien beschliessen etwas anderes).
Umfang der Verpflichtung zur dynamischen Rechtsübernahme
Weiter oben wurden die kumulativen Voraussetzungen für die Integration von EU-
Rechtsakten erläutert (s. Ziff. 2.3.6.1 zu den Besonderheiten im Bereich der Perso-
nenfreizügigkeit):
–
Der Rechtsakt muss einen Bereich des EU-Binnenmarkts betreffen, an dem
die Schweiz auf der Grundlage der Abkommen teilnimmt.
–
Er muss in den Geltungsbereich der Abkommen fallen und den darin fest-
gelegten Zielen entsprechen.
–
Er darf nicht in den Anwendungsbereich einer Ausnahme fallen.
79 / 931
Diese Kriterien erlauben es, klar abzugrenzen, welche Rechtsakte der EU in Zukunft
von der Verpflichtung zur dynamischen Rechtsübernahme betroffen sind.
2.1.5.2.3
Umsetzung der Verfahren zur dynamischen
Rechtsübernahme
Die oben erläuterten Verfahren im Zusammenhang mit der dynamischen Rechtsüber-
nahme werden gemäss den geltenden Zuständigkeiten innerhalb der Bundesverwal-
tung umgesetzt. Die Zusammensetzung der bestehenden GA wird nicht geändert. Zu-
ständig für die Festlegung der Position der Schweiz und ihre Vertretung beim
Decision Shaping
sind die für den Fachbereich des betreffenden Abkommens verant-
wortlichen Departemente und das EDA. Das EJPD ist beauftragt, die zuständigen De-
partemente rechtlich zu begleiten und zu unterstützen, auch im Rahmen des
Decision
Shaping
. Dabei überprüft es insbesondere die Angemessenheit und Übereinstimmung
der bundesrechtlichen Normen mit dem geltenden nationalen und internationalen
Recht. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) (Eidgenössisches Departement für
Wirtschaft, Bildung und Forschung [WBF]) wird bei beihilferechtlichen Fragestellun-
gen und für das damit verbundene
Decision Shaping
von den für die jeweils betroffe-
nen Abkommen zuständigen Ämtern beigezogen. Die Kantone werden regelmässig
informiert und eng einbezogen, wenn das
Decision Shaping
ihre Zuständigkeitsberei-
che berührt (s. Ziff. 2.1.7.2).
2.1.5.3
Auslegung, Anwendung und Überwachung
2.1.5.3.1
Grundsatz der einheitlichen Auslegung
Die institutionellen Bestimmungen sollen den Vertragsparteien, Wirtschaftsakteuren
und Privatpersonen in den Bereichen betreffend den Binnenmarkt, die in den Gel-
tungsbereich des Abkommens fallen, grössere Rechtssicherheit, Gleichbehandlung
und gleiche Wettbewerbsbedingungen gewährleisten. Um dieses Ziel zu erreichen, ist
eine einheitliche Auslegung und Anwendung der Binnenmarktvorschriften durch die
Parteien auf der Grundlage der Abkommen erforderlich.
Der Grundsatz der einheitlichen Auslegung richtet sich in erster Linie an Behörden
und Gerichte. Die Schweiz und die EU sind verpflichtet, die Binnenmarktabkommen
und die Rechtsakte der EU, auf die darin Bezug genommen wird, in ihrem jeweiligen
Hoheitsgebiet einheitlich und unter Beachtung der Grundsätze des Völkerrechts aus-
zulegen und anzuwenden (Art. 7 Abs. 1 IP-LuftVA). Dazu gehören insbesondere die
Bestimmungen des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge
58
. Der
Grundsatz der einheitlichen Auslegung gilt nur für die Bereiche des EU-
Binnenmarkts, an denen die Schweiz auf der Grundlage des Abkommens teilnimmt,
und nicht für andere Teile des Abkommens, die nicht die Teilnahme der Schweiz am
Binnenmarkt betreffen.
Die Rechtsakte der EU, auf die im Abkommen Bezug genommen wird, und, soweit
ihre Anwendung unionsrechtliche Begriffe impliziert, die Bestimmungen des Abkom-
mens selbst werden in Übereinstimmung mit der vor oder nach der Unterzeichnung
des Abkommens ergangenen Rechtsprechung des EuGH ausgelegt und angewandt
58
SR
0.111
80 / 931
(Art. 7 Abs. 2 IP-LuftVA). Dieser Grundsatz ist nicht neu. Bereits die bestehenden
Binnenmarktabkommen sehen vor, dass die Rechtsprechung des EuGH berücksichtigt
werden muss (s. Ziff. 2.1.2.1). Diese Verpflichtung beschränkt sich in der Regel auf
die vor der Unterzeichnung des Abkommens ergangene Rechtsprechung. In einer dem
Sinn und Zweck der Abkommen folgenden Logik (Schaffung einer parallelen Rechts-
lage) berücksichtigt das Bundesgericht allerdings bereits heute auch die nach der Un-
terzeichnung der Abkommen ergangene EuGH-Rechtsprechung; eine Ausnahme
macht es nur, wenn triftige Gründe vorliegen, die ein Abweichen von der neueren
EuGH-Rechtsprechung rechtfertigen.
59
Dies gilt insbesondere für den Bereich der
Personenfreizügigkeit. Die neue institutionelle Bestimmung erweitert also die Ver-
pflichtung zur Berücksichtigung der Rechtsprechung auf die nach der Unterzeichnung
des Abkommens ergangenen Urteile.
Die Verpflichtung zur einheitlichen Auslegung wird insgesamt durch die sogenannte
Polydor-Rechtsprechung des EuGH relativiert. Gemäss dieser Rechtsprechung (die
der EuGH ursprünglich mit Bezug auf Freihandelsabkommen entwickelte
60
, aber seit
2009
61
auch auf das FZA und seit 2013
62
auch auf das LuftVA anwendet) ist bei der
Auslegung der in die bilateralen Abkommen Schweiz–EU übernommenen EU-
Rechtsvorschriften der besondere Zweck des jeweiligen Abkommens zu berücksich-
tigen. Die Rechtsprechung des EuGH zum EU-Recht kann deshalb nicht per se auf
die bilateralen Abkommen übertragen werden. Dies ergibt sich daraus, dass diese Ab-
kommen keine vollständige Integration in den EU-Binnenmarkt vorsehen. Ihre Ziele
und ihr Geltungsbereich sind etwas enger gefasst. Auch das Bundesgericht verfolgt
eine analoge Rechtsprechung. Die institutionellen Bestimmungen ändern grundsätz-
lich
nichts
am
Charakter
der
darunterfallenden
Binnenmarktabkommen
(s. Ziff. 2.1.6.1.2). Deshalb würde diese Praxis auch in Zukunft ihre Gültigkeit behal-
ten.
Zum Vergleich spielt die Rechtsprechung des EuGH im Übrigen bereits auch im Kon-
text der Assoziierung der Schweiz an Schengen/Dublin eine wichtige Rolle, mit ein-
schneidenden Folgen bei diesbezüglicher Uneinigkeit. Wenn die Schweiz wesentlich
von der Rechtsprechung des EuGH zum Schengen/Dublin-Besitzstand abweicht (was
bisher noch nie vorgekommen ist), müssen die beide Parteien eine Lösung finden.
Dies bedeutet, dass entweder die Schweiz die Rechtsprechung des EuGH übernimmt
oder dass die EU die Abweichung akzeptiert (was wenig wahrscheinlich ist). Ge-
schieht weder das eine noch das andere innerhalb einer bestimmten Frist, gilt die
Schengen/Dublin-Assoziierung der Schweiz automatisch als beendet. Das Vorliegen
von Abweichungen seitens der Schweiz von der Rechtsprechung des EuGH kann im
Übrigen auch im Rahmen von Schengen-Evaluierungen thematisiert werden. Dies-
falls kann die Europäische Kommission gegenüber der Schweiz Empfehlungen aus-
sprechen, und die Schweiz ist verpflichtet, über deren Umsetzung Bericht zu erstatten.
59
Z. B. BGE 2C 484/2022, Urteil vom 15. Mai 2023, E. 3.4.2.
60
Z. B. EuGH, Urteil vom 9. Februar 1982,
Polydor
, C-270/80, EU:C:1982:43.
61
Z. B. EuGH, Urteil vom 15. März 2018,
Picart
, C-355/16, EU:C:2018:184, Pkt. 29.
62
EuGH, Urteil vom 7. März 2013,
Schweizerische Eidgenossenschaft g. Europäische Kom-
mission
, C‑547/10 P, EU:C:2013:139, Pkt. 80.
81 / 931
2.1.5.3.2
Grundsatz der wirksamen und harmonischen Anwendung
Die institutionellen Bestimmungen schaffen kein supranationales Überwachungsor-
gan, wie dies beim EWR der Fall ist. Die Schweiz und die EU sind gemäss dem Zwei-
Pfeiler-Modell eigenständig für die korrekte Anwendung der Abkommen auf ihrem
jeweiligen Hoheitsgebiet verantwortlich (Art. 8 Abs. 2 IP-LuftVA). Sie können Infor-
mationen austauschen, Fragen im Zusammenhang mit der Überwachung erörtern, zu-
sammenarbeiten und sich gegenseitig unterstützen (Art. 8 Abs. 1 IP-LuftVA). Falls
ausnahmsweise eine Übertragung von Überwachungskompetenzen an EU-
Institutionen erforderlich ist, um eine wirksame und harmonische Anwendung des
Abkommens sicherzustellen, wie es beispielsweise bereits heute im LuftVA der Fall
ist, ist dies im Abkommen ausdrücklich vorzusehen (Art. 8 Abs. 4 IP-LuftVA). Für
Streitigkeiten in Bezug auf die Anwendung oder Überwachung der Abkommen
kommt der Streitbeilegungsmechanismus zur Anwendung. (Art. 8 Abs. 4 IP-LuftVA;
s. Ziff. 2.1.5.4). Dieser Grundsatz wird durch die Bestimmung über die Rechte und
Pflichten nicht infrage gestellt (s. Ziff. 2.1.5.7).
2.1.5.4
Streitbeilegung, Zusammenarbeit zwischen Gerichten sowie
Einreichung von Schriftsätzen und Stellungnahmen
Der Streitbeilegungsmechanismus dient dazu, mögliche Differenzen zu beseitigen,
die im Rahmen des Abkommens zwischen den Parteien auftreten können. Dabei han-
delt es sich um einen zwischenstaatlichen Mechanismus. Weder natürliche noch ju-
ristische Personen können an das SchG gelangen, um ihre rechtlichen Interessen
durchzusetzen. Die Schweizer Gerichte bleiben für Rechtsstreitigkeiten in der
Schweiz zwischen einer Person oder einem Unternehmen und einer anderen Person,
einem anderen Unternehmen oder dem Staat im Zusammenhang mit den Abkommen
zuständig.
2.1.5.4.1
Ausschliesslichkeitsgrundsatz
Der vorgesehene Streitbeilegungsmechanismus ist ausschliesslich zuständig (Art. 9
IP-LuftVA). Die Schweiz und die EU verpflichten sich also, diesem Mechanismus
alle Streitigkeiten zu unterbreiten, die im Zusammenhang mit der Auslegung oder An-
wendung des Abkommens oder der EU-Rechtsakte, auf die darin Bezug genommen
wird, oder im Zusammenhang mit der Vereinbarkeit eines Beschlusses der Europäi-
schen Kommission mit dem Abkommen entstehen, falls dieses eine solche Kompe-
tenz vorsieht. Die Beschränkung auf die Beschlüsse der Europäischen Kommission
(im Gegensatz z. B. zu denjenigen der Agenturen) ist dadurch bedingt, dass nur sie
– ausnahmsweise – befugt ist, Entscheide gegenüber der Schweiz als Staat zu treffen.
Dies ist eine übliche Verpflichtung, die dazu dient, das sogenannte
Forum Shopping
(Wahl des günstigsten Gerichtsstands) zu unterbinden. Diese Bestimmung ist wichtig
für die Schweiz, schliesst sie doch die Möglichkeit aus, dass sich EU-Mitgliedstaaten
an die Europäische Kommission richten oder direkt an den EuGH gelangen können,
um Streitigkeiten mit der Schweiz beizulegen.
82 / 931
2.1.5.4.2
Streitbeilegungsverfahren
Die erste Etappe des Streitbeilegungsverfahrens erfolgt auf diplomatisch-politischer
Ebene, wie dies bereits heute der Fall ist (Art. 10 Abs. 1 IP-LuftVA). Im Falle von
Schwierigkeiten bei der Auslegung oder Anwendung des Abkommens (einschliess-
lich des allfälligen institutionellen Protokolls) oder eines Rechtsakts der EU, auf den
darin Bezug genommen wird, bemühen sich die Parteien zunächst, im GA eine Lö-
sung zu finden (Art. 10 Abs. 1 IP-LuftVA).
Falls im GA innerhalb von drei Monaten ab dem Datum, an dem er mit der Angele-
genheit befasst wurde, keine Lösung gefunden wird, kann die Schweiz oder die EU
verlangen, dass ein SchG damit befasst wird (Art. 10 Abs. 2 IP-LuftVA). Es handelt
sich um ein klassisches Schiedsgerichtsverfahren, wie es zahlreiche völkerrechtliche
Verträge vorsehen.
Die Besonderheit des Verfahrens besteht darin, dass das SchG bei Vorliegen bestimm-
ter Voraussetzungen den EuGH für die Auslegung des EU-Rechts beizieht (Art. 10
Abs. 3 IP-LuftVA). Dies ergibt sich aufgrund der Auslegungshoheit des EuGH über
das EU-Recht. Die drei Voraussetzungen, die für die Anrufung des EuGH gegeben
sein müssen, werden ausdrücklich genannt (Art. 10 Abs. 3, Unterabs. 1, IP-LuftVA):
(i)
wirft die Streitigkeit eine Frage zur Auslegung oder Anwendung eines Rechtsakts
der EU oder einer Bestimmung des Abkommens auf, deren Anwendung unionsrecht-
liche Begriffe impliziert, und
(ii)
ist die Auslegung dieser Bestimmung für die Streit-
beilegung relevant und
(iii)
für seine Entscheidungsfindung notwendig, so legt das
SchG die Frage dem EuGH vor. Der Entscheid, ob die Voraussetzungen für die An-
rufung des EuGH erfüllt sind, liegt immer beim SchG. Der EuGH kann entsprechend
nicht von sich aus in einem Schiedsgerichtsverfahren intervenieren. Da die Binnen-
marktabkommen nicht auf Schweizer Recht gründen, ist es im Übrigen weder vorge-
sehen noch erforderlich, dass das SchG dem Bundesgericht Fragen unterbreitet.
Nach der Aufzählung der Fälle, in denen das SchG den EuGH anruft, wird ein Fall
genannt, bei dem das SchG den EuGH nicht anrufen kann (Art. 10 Abs. 3, Unterabs.
2, IP-LuftVA):
(i)
Wenn die Streitigkeit eine Frage zur Auslegung oder Anwendung
einer Bestimmung aufwirft, die in den Anwendungsbereich einer Ausnahme fällt, und
(ii)
wenn die Streitigkeit nicht die Auslegung oder Anwendung von unionsrechtlichen
Begriffen impliziert, so entscheidet das SchG den Fall, ohne den EuGH anzurufen.
Diese Hypothese dient nur als Beispiel. Das SchG kann den EuGH nur anrufen, wenn
die im vorhergehenden Absatz genannten Bedingungen erfüllt sind. Dies gilt insbe-
sondere, wenn es um die Auslegung oder Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze
wie der Verhältnismässigkeit im Zusammenhang mit Ausnahmen von der dynami-
schen Rechtsübernahme geht. In diesem Fall stellen die allgemeinen Rechtsgrund-
sätze keine unionsrechtlichen Begriffe dar, und eine Anrufung des EuGH durch das
SchG bezüglich ihrer Auslegung oder Anwendung ist ausgeschlossen.
Wenn das SchG dem EuGH eine Auslegungsfrage vorlegt, ist dessen Entscheidung,
die lediglich die Auslegung des EU-Rechts betrifft, für das SchG bindend, und das
SchG bleibt für die Beilegung der Streitigkeit in der Hauptsache zuständig (Art. 10
Abs. 4 Bst. a IP-LuftVA). Der EuGH entscheidet im Rahmen des Streitbeilegungs-
mechanismus daher über keinen Streitfall, es ist immer das SchG, das diesen Ent-
scheid fällt. Beim Verfahren vor dem EuGH zur Klärung der vom SchG vorgelegten
83 / 931
Frage gelten die üblichen Verfahrensregeln des EuGH auch für die Schweiz (Art. 10
Abs. 4 Bst. b IP-LuftVA).
Zum Vergleich gilt es darauf hinzuweisen, dass die Rolle des EuGH im Rahmen der
Streitbeilegung gemäss den neuen institutionellen Elementen begrenzter ist als dieje-
nige die schon heute im LuftVA vorgesehen ist. Dieses Abkommen enthält nämlich
in eng begrenzten Bereichen seit über 25 Jahren Kompetenzen für den EuGH insbe-
sondere gegenüber schweizerischen Privatpersonen und Wirtschaftsakteuren.
Die Einzelheiten des Verfahrens vor dem SchG sind – je nach Struktur der Abkommen
– in Anlagen oder Protokollen geregelt. Die Regeln entsprechen im Wesentlichen dem
internationalen Recht in diesem Bereich. So bestimmen die Schweiz und die EU je
die gleiche Anzahl Schiedsrichter (Art. II.2 Abs. 1 und 2 der Anlage des IP-LuftVA
über das Schiedsgericht [AnlSchG-IP-LuftVA]). Sind drei Schiedsrichter zu bestel-
len, so bezeichnet jede Partei einen Schiedsrichter. Sind fünf Schiedsrichter zu bestel-
len, so bezeichnet jede Partei zwei Schiedsrichter. Die von den Parteien ernannten
Schiedsrichter ernennen ihrerseits gemeinsam den letzten Schiedsrichter, welcher die
Funktion der Präsidentin oder des Präsidenten des SchG wahrnimmt. Dabei stützen
sie sich auf eine Liste von qualifizierten Personen, die vorab von der Schweiz und der
EU im GA vereinbart wurde. Diese indikative Liste ist jedoch nicht verbindlich
(Art. II.2 Abs. 4 AnlSchG-IP-LuftVA). Für das Verfahren wurden Fristen festgelegt.
Das SchG muss seinen Entscheid grundsätzlich innerhalb von zwölf Monaten nach
seiner Bestellung fällen (Art. III.8 Abs. 2 AnlSchG-IP-LuftVA). Das SchG ist be-
strebt, seine Entscheide per Konsens zu fällen. Ist dies nicht möglich, entscheidet es
per Mehrheitsentscheid (Art. IV.1 AnlSchG-IP-LuftVA). Die mündlichen Verhand-
lungen vor dem SchG sind öffentlich, ausser es bestehen wichtige Gründe, die dage-
gensprechen (Art. III.12 Abs. 2 AnlSchG-IP-LuftVA). Die Entscheide des SchG sind
in jedem Fall öffentlich zugänglich, wobei die einschlägigen Bestimmungen über den
Datenschutz, das Berufsgeheimnis und die berechtigten Interessen der Vertraulichkeit
zu beachten sind (Art. IV.2 Abs. 4 AnlSchG-IP-LuftVA).
Die Anlagen bzw. Protokolle regeln auch die Einzelheiten der Anrufung des EuGH
durch das SchG. Die Parteien dürfen nicht direkt an den EuGH gelangen, sondern
müssen die Anrufung des EuGH beim SchG beantragen. Der Entscheid darüber ob-
liegt allein dem SchG. Lehnt das SchG den Einbezug des EuGH ab, so begründet es
seine Entscheidung (Art. III.9 Abs. 3 AnlSchG-IP-LuftVA). Der Antrag des SchG an
den EuGH hat den konkreten unionsrechtlichen Begriff zu enthalten, den der EuGH
auslegt (Art. III.9 Abs. 4 Bst. c AnlSchG-IP-LuftVA). Das SchG kann also den EuGH
nicht ersuchen, eine Bestimmung eines Binnenmarktabkommens als Ganzes auszule-
gen, sondern nur einen darin enthaltenen unionsrechtlichen Begriff. Die Fristen für
den Entscheid des SchG werden bis zum Urteil des EuGH ausgesetzt (Art. III.9
Abs. 2, Unterabs. 2, AnlSchG-IP-LuftVA), was das Verfahren erheblich verlängern
kann (als Anhaltspunkt, ähnliche Verfahren vor dem EuGH, sogenannte Vorabent-
scheidungsverfahren, dauerten durchschnittlich 16,8 Monate [Stand 2023]).
Bei der Streitbeilegung stützt sich das SchG auf das Abkommen, auf die Rechtsakte
der EU, auf die darin Bezug genommen wird, und auf die Regeln des Völkerrechts,
die für die Anwendung dieser Instrumente relevant sind, darunter insbesondere die
Bestimmungen über die Staatenverantwortlichkeit (Art. IV.3 Abs. 1 AnlSchG-IP-
LuftVA).
84 / 931
Die Parteien verpflichten sich, die notwendigen Massnahmen zu ergreifen, um den
Entscheid des SchG nach Treu und Glauben Folge zu leisten (Art. 10 Abs. 5 IP-
LuftVA). Die Partei, die gemäss SchG gegen das Abkommen verstossen hat, teilt der
anderen Partei über den GA die Massnahmen mit, die sie ergriffen hat, um dem Ent-
scheid des SchG Folge zu leisten. Beim Entscheid des SchG handelt es sich also um
einen Feststellungsentscheid. Dies bedeutet im Falle eines Streitfalls in Bezug auf die
Verpflichtung, einen EU-Rechtsakt in das Abkommen zu integrieren, dass der Ent-
scheid des SchG allein nicht zur Folge hat, dass der EU-Rechtsakt in das Abkommen
aufgenommen wird, sondern dass das übliche Übernahmeverfahren durchlaufen wer-
den muss, bei dem eine Zustimmung beider Parteien im GA erforderlich ist. Es ist
also immer Sache der Parteien, den Entscheid des SchG gemäss ihren eigenen Ver-
fahren umzusetzen, auch bei einem Streit über die Frage, ob ein EU-Rechtsakt inte-
griert werden muss oder nicht (s. Ziff. 2.1.5.2.2).
2.1.5.4.3
Ausgleichsmassnahmen
Der neue Streitbeilegungsmechanismus sieht vor, dass jede Partei unter bestimmten
Voraussetzungen Ausgleichsmassnahmen gegenüber der anderen Partei ergreifen
kann. Dieses Konzept ist jedoch nicht neu. Es ist vor allem im Handelsrecht verbreitet,
etwa im Recht der Welthandelsorganisation oder in Investitionsabkommen. So hat die
Schweiz beispielsweise Freihandelsabkommen mit Kanada
63
, Indonesien
64
, China
65
und der Türkei
66
abgeschlossen, die Ausgleichsmassnahmen vorsehen. Auch die Bin-
nenmarktabkommen sehen bereits gewisse Instrumente wie Massnahmen zur Wieder-
herstellung des Gleichgewichts, befristete Schutzmassnahmen und die Aussetzung der
Anwendung des betroffenen Anhangs vor, wenn zwischen den Parteien Uneinigkeit
über die Einhaltung der Verpflichtungen aus den Abkommen besteht (s. Ziff. 2.1.2.1).
Die Ausgleichsmassnahmen stellen keine Sanktionen dar und haben keinen Strafcha-
rakter. Sie dienen dazu, ein allfälliges Ungleichgewicht zwischen den Rechten und
Pflichten der Parteien zu beheben, wenn diese eine Streitigkeit nicht auf andere Weise
beilegen können.
Merkmale
Leistet eine Partei dem Entscheid des SchG keine Folge oder stehen die getroffenen
Umsetzungsmassnahmen nach Ansicht der anderen Partei nicht in Einklang mit dem
Entscheid des SchG, kann die andere Partei Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Die
Ausgleichsmassnahmen müssen verhältnismässig sein. Sie dürfen nur im Rahmen des
vom Entscheid des SchG betroffenen Abkommens oder im Rahmen eines anderen
Binnenmarktabkommens (mit Ausnahme des Agrarteils des Landwirtschaftsabkom-
mens [s. Ziff. 2.1.1]; «c
ross-retaliation
»]) getroffen werden. Ausgleichsmassnahmen
dienen dazu, ein allfälliges Ungleichgewicht zu beheben, das durch die Nichtbeach-
tung des Entscheids des SchG entstanden ist. Sie haben also keinen Strafcharakter
(Art. 11 Abs. 1 IP-LuftVA).
63
SR
0.632.312.32
64
SR
0.632.314.271
65
SR
0.946.292.492
66
SR
0.632.317.631
85 / 931
Ausgleichsmassnahmen dürfen nicht rückwirkend sein. Dies bedeutet, dass die erwor-
benen Rechte und Pflichten von Privatpersonen und Wirtschaftsakteuren bestehen
bleiben (Art. 11 Abs. 4 IP-LuftVA).
Mit der Möglichkeit von Ausgleichsmassnahmen führt der Streitbeilegungsmechanis-
mus also ein Verfahren ein, das es den Parteien erlaubt, mit Situationen umzugehen,
in denen eine Partei ihren Verpflichtungen aus den Binnenmarktabkommen nicht
nachkommt, und das Gleichgewicht der Rechte und Pflichten zwischen den Parteien
im Rahmen dieser Abkommen wiederherzustellen. So sind die Parteien stets ver-
pflichtet, ihren Verpflichtungen aus den Abkommen nachzukommen und die Ent-
scheide des SchG nach Treu und Glauben umzusetzen. Der Streitbeilegungsmecha-
nismus selbst sieht jedoch die Möglichkeit für die Parteien vor, von einer spezifischen
Verpflichtung aus einem Binnenmarktabkommen abzuweichen, wenn sie dies für not-
wendig erachten, sofern sie im Gegenzug akzeptieren, dass die andere Partei Aus-
gleichsmassnahmen ergreifen kann. Dieser Mechanismus stellt eine wichtige Neue-
rung in den Binnenmarktabkommen dar.
Vorgehen
Diejenige Partei, die beabsichtigt, Ausgleichsmassnahmen zu ergreifen, muss dies der
anderen mitteilen und angeben, um welche Massnahmen es sich handelt. Die Mass-
nahmen haben eine automatische aufschiebende Wirkung von drei Monaten ab ihrer
Notifikation, das heisst, sie dürfen in diesen drei Monaten nicht umgesetzt werden
(Art. 11 Abs. 1 IP-LuftVA). Nach der Notifikation haben die Parteien eine Frist von
einem Monat, um innerhalb des GA eine Lösung zu finden. Falls der GA innerhalb
dieser Frist nicht beschliesst, die Massnahmen auszusetzen, zu ändern oder aufzuhe-
ben, kann die Partei, gegen die sich die Massnahmen richten, die Frage deren Verhält-
nismässigkeit dem SchG unterbreiten (Art. 11 Abs. 2 IP-LuftVA).
Die Parteien können ab Beginn des Schiedsverfahrens beantragen, dass die aufschie-
bende Wirkung von drei Monaten verlängert wird (Art. III.10 Abs. 1 AnlSchG-IP-
LuftVA). In diesem Fall muss das SchG innerhalb eines Monats anhand von klar de-
finierten Kriterien entscheiden, ob es die aufschiebende Wirkung verlängert, grund-
sätzlich bis zu seinem endgültigen Entscheid zur Verhältnismässigkeit (Art. III.10
Abs. 4 und 7 AnlSchG-IP-LuftVA). Die Aussetzung der Fristen, die üblicherweise für
Fälle gelten, in denen das SchG eine Frage dem EuGH unterbreitet, findet keine An-
wendung in Verfahren über die aufschiebende Wirkung, was
de facto
ausschliesst,
dass das SchG dem EuGH eine Frage in diesem Rahmen vorlegen kann (Art. III.10
Abs. 5 AnlSchG-IP-LuftVA). Die Kriterien für den Entscheid des SchG sind:
(i)
Prima-facie
-Prüfung der Argumente der Partei, welche die Aussetzung beantragt,
durch das SchG,
(ii)
Abklärung, ob die Partei, welche die Aussetzung beantragt, ohne
Aussetzung einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden erleiden
würde, und
(iii)
Abklärung, ob der Schaden, welcher der die Aussetzung beantragen-
den Partei entsteht, schwerer wiegt als das Interesse an einer sofortigen und wirksa-
men Anwendung der Massnahmen (Art. III.10 Abs. 4 AnlSchG-IP-LuftVA). Dies
sind die üblichen Kriterien, wenn eine gerichtliche Behörde prüft, ob vorläufige Mas-
snahmen ergriffen werden müssen. Bei der Prüfung dieser Kriterien muss das SchG
nicht nur die Interessen der Schweiz und der EU als solche berücksichtigen, sondern
auch die Interessen von Privatpersonen und Wirtschaftsakteuren (Art. III.10 Abs. 8
AnlSchG-IP-LuftVA).
86 / 931
Das beschriebene Verfahren führt dazu, dass die Partei, die von den Ausgleichsmass-
nahmen betroffen ist, immer noch das SchG anrufen kann, um einen ersten Entscheid
desselben über die Verlängerung der aufschiebenden Wirkung der Massnahmen zu
erwirken, bevor diese in Kraft treten. Dabei gilt zu beachten, dass der Antrag auf auf-
schiebende Wirkung zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens gestellt werden kann
(Art. III.10 Abs. 1 AnlSchG-IP-LuftVA).
Das SchG muss seinen endgültigen Entscheid über die Verhältnismässigkeit der Aus-
gleichsmassnahmen innerhalb von sechs Monaten seit der Notifikation der Massnah-
men treffen (Art. III.8 Abs. 4 AnlSchG-IP-LuftVA). Diese Frist könnte ausgesetzt
werden, falls das SchG dem EuGH eine Frage unterbreitet (Art. III.9 Abs. 2, Unterabs.
2, AnlSchG-IP-LuftVA). Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass das SchG eine solche
Frage stellt, weil kaum je EU-Rechtsbegriffe betroffen sein werden. Insbesondere die
Frage der Verhältnismässigkeit von Ausgleichsmassnahmen ist nicht dem EU-Recht
eigen, sondern gehört zum Völkerrecht. Gemäss Völkerrecht bedeutet die Verhältnis-
mässigkeit einen rationalen und vernünftigen Mitteleinsatz zur Erreichung eines zu-
lässigen Ziels, ohne dass unnötig in die geschützten Rechte des Einzelnen oder eines
anderen Staates eingegriffen wird. Die Verhältnismässigkeit bezieht sich also haupt-
sächlich auf das Verhältnis zwischen den Mitteln und dem Ziel einer Massnahme. Da
die in den Abkommen vorgesehenen Ausgleichsmassnahmen den Zweck haben, das
Gleichgewicht zwischen den Rechten und Pflichten der Parteien im Rahmen ihrer
Teilnahme am Binnenmarkt wiederherzustellen, müssen verhältnismässige Aus-
gleichsmassnahmen dieser wirtschaftlichen Logik der Teilnahme am Binnenmarkt
entsprechen.
2.1.5.4.4
Zusammenarbeit zwischen Gerichten
Das Bundesgericht und der EuGH richten einen Dialog ein, um die einheitliche Aus-
legung des Rechts im Zusammenhang mit den Binnenmarktabkommen zu fördern.
Sie müssen die Modalitäten dieses Dialogs gemeinsam festlegen (Art. 12 Abs. 1 IP-
LuftVA).
Beim Dialog handelt es sich um einen Austausch «auf Augenhöhe», ohne dass eine
hierarchische Beziehung zwischen Bundesgericht und EuGH besteht. Das Bundesge-
richt ist insbesondere weder verpflichtet noch befugt, dem EuGH Auslegungsfragen
zur Vorabentscheidung zu unterbreiten (im Gegensatz zu den Gerichten der EU-
Mitgliedstaaten).
2.1.5.4.5
Einreichung von Schriftsätzen und Stellungnahmen
Dagegen kann die Schweiz beim EuGH Schriftsätze einreichen oder schriftliche Stel-
lungnahmen abgeben, wenn ein Gericht eines Mitgliedstaats der EU dem EuGH eine
Frage zur Auslegung des Abkommens oder einer darin aufgeführten Bestimmung ei-
nes Rechtsakts der EU zur Vorabentscheidung vorlegt (Art. 12 Abs. 2 IP-LuftVA).
Damit verfügt die Schweiz über ein wirksames Instrument, um die Rechtsprechung
des EuGH in den für sie relevanten Bereichen zu beeinflussen. Dieses Instrument lässt
sich mit dem Mitspracherecht (
Decision Shaping
) bei der dynamischen Rechtsüber-
nahme vergleichen. Die Schweiz verfügt bereits im Bereich der Schengen/Dublin-
Assoziierung über ein solches Instrument.
87 / 931
2.1.5.4.6
Umsetzung der Verfahren zur Streitbeilegung und zur
Einreichung von Schriftsätzen und Stellungnahmen
Die oben beschriebenen Verfahren zur Streitbeilegung und zur Einreichung von
Schriftsätzen und Stellungnahmen werden gemäss den geltenden Kompetenzregelun-
gen innerhalb der Bundesverwaltung umgesetzt. Die Zusammensetzung der GA wird
nicht geändert. Zuständig für die Vertretung der Schweiz und die Festlegung deren
Position im Rahmen des Schiedsverfahrens und der Einreichung von Schriftsätzen
und Stellungnahmen beim EuGH sind die für den Fachbereich des betreffenden Ab-
kommens verantwortlichen Departemente und das EDA. Das EJPD wird eng mitein-
bezogen und ist dafür verantwortlich, für die Kohärenz mit dem innerstaatlichen
Recht zu sorgen und die rechtliche Begleitung der zuständigen Departemente bei der
Ausarbeitung der rechtlichen Aspekte der Stellungnahmen zuhanden des EuGH si-
cherzustellen. Die verschiedenen involvierten Ämter vereinbaren zu einem späteren
Zeitpunkt und unter Berücksichtigung der jeweiligen Zuständigkeiten die Hauptver-
antwortung für das Verfassen und Einreichen solcher Stellungnahmen. Das SECO
(WBF) wird bei beihilferechtlichen Fragestellungen von den für die jeweils betroffe-
nen Abkommen zuständigen Ämtern beigezogen. Die Kantone werden regelmässig
informiert und eng einbezogen, wenn die Streitbeilegungsverfahren und die Einrei-
chung von Schriftstücken und Stellungnahmen im Rahmen von Vorabentscheidungs-
verfahren ihre Zuständigkeitsbereiche berühren (s. Ziff. 2.1.7.2).
2.1.5.5
Weitere Bestimmungen
2.1.5.5.1
Finanzbeitrag
Die Schweiz kann dank den Binnenmarktabkommen an verschiedenen Agenturen, In-
formationssystemen und anderen Aktivitäten der EU teilnehmen. Es ist daher nur lo-
gisch, dass sich die Schweiz an deren Finanzierung beteiligt.
Diese Beteiligung setzt sich aus einem operativen Beitrag und einer Teilnahmegebühr
zusammen (Art. 13 IP-LuftVA). Die Modalitäten des Finanzbeitrags sind in einem
Anhang präzisiert (Anhang betreffend die Anwendung von Artikel13 des Protokolls
[AFB-IP-LuftVA]). Die entsprechenden Beträge werden jedes Jahr auf der Grundlage
eines Beitragsschlüssels berechnet, der auf dem Bruttoinlandsprodukt der Schweiz
und der EU basiert (Art. 13 Abs. 3 bis 7 IP-LuftVA). Falls die Schweiz sich nur an
einigen Aktivitäten einer Agentur beteiligt, kann der operative Beitrag entsprechend
angepasst werden. In diesem Fall muss ausdrücklich festgehalten werden, an welchem
Teil des Agenturbudgets sich die Schweiz beteiligt (Art. 13 Abs. 6 IP-LuftVA und
Art. 1 AFB-IP-LuftVA). Der GA überprüft die Teilnahmebedingungen und insbeson-
dere die Teilbeiträge an das Budget der Agenturen alle drei Jahre, um sicherzustellen,
dass sie der effektiven Beteiligung der Schweiz entsprechen (Art. 13 Abs. 12 IP-
LuftVA). Auf Wunsch der Schweiz werden geltende Vereinbarungen, die Finanzbei-
träge der Schweiz an Agenturen, Informationssysteme und andere Aktivitäten der EU
vorsehen, nicht angepasst (Art. 4 AFB-IP-LuftVA).
88 / 931
2.1.5.5.2
Bezugnahmen auf Gebiete und Staatsangehörige sowie
Bestimmungen zum Inkrafttreten und zur Durchführung
und zu den Adressaten in den EU-Rechtsakten
Da die Rechtsakte der EU nicht so abgefasst sind, dass sie die Schweiz einschliessen,
müssen sie im bilateralen Kontext Schweiz–EU mit gewissen standardisierten Anpas-
sungen gelesen werden. So sind Bezugnahmen auf das Gebiet der EU, des gemeinsa-
men Markts und des Binnenmarkts sowie auf Staatsangehörige der EU-
Mitgliedstaaten als Bezugnahmen auf das Gebiet und die Staatsangehörigen der
Schweiz zu verstehen (Art. 14 und 15 IP-LuftVA). Ebenso sind die Bestimmungen
der EU-Rechtsakte über deren Inkrafttreten und Durchführung im Rahmen der Bin-
nenmarktabkommen nicht anwendbar, da diese Fragen in den Bestimmungen über die
dynamische Rechtsübernahme (Art. 5 Abs. 8 und Art. 6 Abs. 5 IP-LuftVA) speziell
geregelt werden und die Parteien diesbezüglich spezifische Vereinbarungen im GA
beschliessen können (Art. 16 IP-LuftVA). Auch die Bestimmungen in EU-
Rechtsakten, die ausdrücklich festhalten, dass der in Frage stehende Rechtsakte an die
Mitgliedstaaten der EU gerichtet ist, finden im bilateralen Kontext Schweiz–EU keine
Anwendung (Art. 17 IP-LuftVA).
2.1.5.6
Schlussbestimmungen
Die institutionellen Bestimmungen umfassen zudem die üblichen Umsetzungs-, Än-
derungs- und Kündigungsbestimmungen (Art. 18 und 20 IP-LuftVA). Insbesondere
können die institutionellen Protokolle zu den bestehenden Binnenmarktabkommen
nicht getrennt von den Abkommen selbst gekündigt werden.
Die Bestimmungen zum Inkrafttreten wurden von der Verhandlungsgruppe «Institu-
tionelle Bestimmungen und andere Fragen» für alle Instrumente des Pakets Schweiz–
EU transversal verhandelt. Das Paket umfasst dabei zwei Teile: einen Stabilisie-
rungsteil und einen Weiterentwicklungsteil. Zum Stabilisierungsteil gehören die In-
strumente betreffend die bestehenden Binnenmarktabkommen (Änderungsprotokolle,
institutionelle Protokolle und Protokolle über staatliche Beihilfen), das Beitragsab-
kommen, das Programmabkommen und das EUSPA-Abkommen. Der Weiterent-
wicklungsteil umfasst das Stromabkommen, das Gesundheitsabkommen und das Pro-
tokoll zur Lebensmittelsicherheit. Die Instrumente des Stabilisierungsteils sind
miteinander verknüpft und müssen gleichzeitig in Kraft treten (Art. 19 IP-LuftVA).
Wenn eines nicht in Kraft gesetzt werden kann, können auch die anderen nicht in Kraft
treten. Die Instrumente des Weiterentwicklungsteils sind dagegen nicht miteinander
verknüpft. Jedes dieser Instrumente kann unabhängig von den anderen in Kraft treten,
sofern die Instrumente des Stabilisierungsteils in Kraft gesetzt werden können
(Art. 50 Stromabkommen, Art. 33 Protokoll zur Lebensmittelsicherheit und Art. 26
Gesundheitsabkommen). Der Stabilisierungsteil des Pakets kann hingegen auch dann
in Kraft treten, wenn ein oder mehrere Abkommen des Weiterentwicklungsteils des
Pakets abgelehnt werden.
89 / 931
2.1.5.7
Bestimmungen über den GA, den räumlichen
Geltungsbereich, die Rechte und Pflichten der
Mitgliedstaaten sowie die Vorrechte und Befreiungen
Die Verhandlungsgruppe «Institutionelle Bestimmungen und andere Fragen» verhan-
delte auch über weitere Bestimmungen, die nicht direkt zu den institutionellen Ele-
menten gehören. Ziel ist es, diese Bestimmungen übergreifend für die Instrumente des
Pakets Schweiz—EU zu aktualisieren und zu vereinheitlichen, wo dies sinnvoll ist.
Die Bestimmung betreffend den GA wurde vereinheitlicht (Art. 1 Abs. 1 Bst. d ÄP-
LuftVA). Die Bestimmung betreffend den räumlichen Geltungsbereich der Abkom-
men wurde aktualisiert, wobei die Verweise auf den Vertrag zur Gründung der Euro-
päischen Gemeinschaft durch Verweise auf den Vertrag über die Europäische Union
und den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ersetzt wur-
den (Art. 1 Abs. 1 Bst. f ÄP-LuftVA). Die Bestimmungen betreffend die Vorrechte
und Befreiungen wurden aktualisiert, um dem Protokoll Nr. 7 zum AEUV materiell
Rechnung zu tragen, jedoch in einer Weise, die den bilateralen Beziehungen zwischen
der Schweiz und der EU entspricht (Art. 1 Abs. 2 Bst. c Punkt (ii) ÄP-LuftVA sowie
Anlage zum ÄP-LuftVA). Für den Fall, dass das Protokoll Nr. 7 in Zukunft geändert
werden sollte, verpflichten sich die Parteien, die Bestimmungen betreffend die Vor-
rechte und Befreiungen zu aktualisieren.
Schliesslich ist auch vorgesehen, dass die Rechte und Pflichten, die in den in den An-
hängen der Binnenmarktabkommen integrierten Rechtsakten der EU für die Mitglied-
staaten vorgesehen sind, so zu verstehen sind, dass sie auch für die Schweiz vorgese-
hen sind, sofern der GA in den technischen Anpassungen nichts anderes bestimmt hat.
Dabei sind jedoch die Regeln des institutionellen Protokolls zu beachten (Art. 1
Abs. 2 Bst. a ÄP-LuftVA). Diese Bestimmung soll die Anwendung von EU-
Rechtsakten im Kontext der bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der
EU erleichtern, hat aber keinen Vorrang vor den institutionellen Bestimmungen, ins-
besondere Art. 8 IP-LuftVA. Die Beziehung zwischen der Bestimmung über die
Rechte und Pflichten und Artikel 8 IP-LuftVA wird grundsätzlich in den technischen
Anpassungen geregelt. Werden keine technischen Anpassungen vorgenommen oder
regeln diese das Verhältnis nicht, so gilt die Regel von Artikel 8 IP-LuftVA, das
heisst, jede Partei ist für die Überwachung und Durchsetzung in ihrem eigenen Ho-
heitsgebiet zuständig. Bei der künftigen Integration von EU-Rechtsakten muss der
GA technische Anpassungen beschliessen, um die Beziehung zwischen der Bestim-
mung über die Rechte und Pflichten und dem institutionellen Protokoll, insbesondere
Artikel 8 IP-LuftVA, zu regeln.
2.1.6
Umsetzungserlass
Es ist kein Umsetzungserlass für die institutionellen Elemente vorgesehen
(s. Ziff. 2.1.8.2 zum Einbezug der Kantone).
2.1.7
Auswirkungen des Paketelements
Die institutionellen Elemente sollen in erster Linie die sektorielle Teilnahme der
Schweiz am EU-Binnenmarkt sicherstellen. Mit Bezug auf die Weiterentwicklung des
90 / 931
Rechts sollen sie verhindern, dass die jeweiligen Rechtsordnungen divergieren. Ins-
besondere die Regeln zur dynamischen Rechtsübernahme und zur einheitlichen Aus-
legung verstärken die Rechtssicherheit. Der Streitbeilegungsmechanismus mit Aus-
gleichsmassnahmen ermöglicht einen geordneten Prozess zur Lösung von
Differenzen zwischen den Parteien und schützt die Schweiz vor willkürlichen Retor-
sionsmassnahmen. Durch das
Decision Shaping
und die Einreichung von Schriftsät-
zen und Stellungnahmen beim EuGH kann die Schweiz Einfluss auf die Rechtset-
zungs- und Rechtsprechungsprozesse der EU nehmen.
Die institutionellen Elemente wahren die Bundesverfassung
67
(BV), die politischen
Rechte und den Föderalismus. Das Verfahren für die dynamische Rechtsübernahme
steht im Einklang mit den bestehenden innerstaatlichen Verfahren. Die Schweiz kennt
übrigens bereits im Bereich der Schengen/Dublin-Assoziierung eine dynamische
Rechtsübernahme. Was den Streitbeilegungsmechanismus betrifft, so kann der EuGH
nicht von sich aus in ein Verfahren eingreifen. Er kann nur auf Ersuchen des SchG
tätig werden, ist lediglich zuständig für die Auslegung des EU-Rechts und entscheidet
nicht in der Hauptsache selbst. Es ist immer das SchG, welches diesen Entscheid fällt.
Ausserdem ist eine Implikation des EuGH im Bereich der bilateralen Abkommen
nichts Neues. So ist sie insbesondere im LuftVA bei Fragen des Wettbewerbsrechts
vorgesehen. Die Rechtsprechung des EuGH spielt zudem bereits im Rahmen der As-
soziierung an Schengen/Dublin eine zentrale Rolle, mit potenziell einschneidenden
Folgen bei diesbezüglicher Uneinigkeit (automatischer Wegfall der Schengen-Asso-
ziierung der Schweiz, sofern nichts anderes vereinbart). Auch Ausgleichsmassnah-
men sind kein völlig neues Konzept. Ähnliche und sogar einschneidendere Instru-
mente gibt es bereits in den bestehenden bilateralen Abkommen zwischen der
Schweiz und der EU, z. B. im LandVA, im LuftVA, im MRA oder im Bereich der
Schengen/Dublin-Assoziierung. Diese Instrumente haben bisher nie zu Problemen ge-
führt, im Gegensatz zu den Retorsionsmassnahmen, die ausserhalb eines Rechtsrah-
mens erfolgen, wie sie zwischen der Schweiz und der EU im Bereich des MRA oder
der Börsenäquivalenz ergriffen wurden. Mit den institutionellen Elementen sollen ge-
rade solche willkürlichen Retorsionsmassnahmen verhindert werden.
Alles in allem stehen die institutionellen Elemente im Einklang mit den in den bilate-
ralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU bereits bestehenden Lösungen.
Es handelt sich um keine grundlegende Änderung dieser Beziehungen. Die institutio-
nellen Elemente haben also keinen verfassungsrechtlichen Charakter. Sie dienen der
Umsetzung des Ziels des Bundesrates, die Beziehungen zwischen der Schweiz und
der EU zu stabilisieren und weiterzuentwickeln.
Die konkreten Auswirkungen der institutionellen Elemente werden vor allem in den
Abschnitten des erläuternden Berichts beschrieben, die sich auf die Abkommen be-
ziehen, in die sie integriert werden. Im Folgenden werden lediglich die Auswirkungen
der transversalen institutionellen Elemente erläutert, die nicht mit einem spezifischen
Abkommen verknüpft werden können.
67
SR
101
91 / 931
2.1.7.1
Auswirkungen auf den Bund
Die institutionellen Elemente sehen Instrumente vor, die es der Schweiz ermöglichen,
ihre Interessen im Rahmen der Rechtsetzungs- und Rechtsprechungsprozesse der EU
besser zu verteidigen, vor allem
(i)
das Mitspracherecht (
Decision Shaping
) im Rah-
men der dynamischen Rechtsübernahme (s. Ziff. 2.1.5.2.1) und
(ii)
die Möglichkeit
der Schweiz, beim EuGH Schriftsätze einzureichen oder schriftliche Stellungnahmen
abzugeben, wenn ein Gericht eines Mitgliedstaats der EU dem EuGH eine Frage zur
Auslegung der Binnenmarktabkommen und des Gesundheitsabkommen oder einer
Bestimmung dieser Abkommen zur Vorabentscheidung vorlegt (s. Ziff. 2.1.5.4.5).
Die institutionellen Elemente umfassen zudem einen Streitbeilegungsmechanismus,
der es den Parteien erlaubt, ein SchG anzurufen, falls im Rahmen des GA keine poli-
tische Lösung für einen Streitfall gefunden werden kann.
Die vorerwähnten Instrumente und der Streitbeilegungsmechanismus sind neue Ele-
mente, die sich aus der Aufnahme der institutionellen Elemente in das Binnenmarkt-
abkommen und das Gesundheitsabkommen ergeben. Sie ziehen daher zusätzliche
Aufgaben nach sich. Damit die Schweiz ihre Interessen mit diesen Instrumenten und
dem Streitbeilegungsmechanismus optimal einbringen und verteidigen kann, müssen
die Kohärenz, Einheitlichkeit und Gesamtqualität ihrer Positionen aus politischer und
rechtlicher Sicht gewährleistet werden. Dafür ist das EDA verantwortlich, gemeinsam
mit den anderen sechs Departementen, die für die Themenbereiche zuständig sind, die
von den Binnenmarktabkommen und dem Gesundheitsabkommen abgedeckt werden
(s. Ziff. 2.1.5.2.3 und 2.1.5.4.6). Dies erfordert zwei bis vier Vollzeitstellen in der Ab-
teilung Europa des Staatssekretariats EDA –für das
Decision Shaping
, für die Einrei-
chung von Schriftstücken und Stellungnahmen beim EuGH und für die Streitbeile-
gung. Ohne diese zusätzlichen personellen Ressourcen ist es nicht möglich, die
Kohärenz, Einheitlichkeit und Gesamtqualität der Positionen der Schweiz sicherzu-
stellen. Der Einfluss der Schweiz auf den Rechtsetzungs- und Rechtsprechungspro-
zess der EU und die Verteidigung ihrer Interessen im Rahmen der Streitbeilegung
würden geschwächt. Im BJ (EJPD) werden zwei Vollzeitstellen benötigt, um die
Rechtsetzungsbegleitung im Rahmen des D
ecision Shaping
und der dynamischen
Rechtsübernahme sicherzustellen. In diesem Rahmen wird eine präventive Rechts-
kontrolle künftiger zu übernehmender Rechtsakte vor deren Verabschiedung und No-
tifikation an die Schweiz im GA sowie eine verstärkte Unterstützung der federführen-
den Ämter bei bereichsübergreifenden Rechtsfragen notwendig sein, vor allem in den
von den neuen Abkommen abgedeckten Bereichen, damit sichergestellt werden kann,
dass die dynamische Rechtsübernahme im Einklang mit den verfassungsrechtlichen
und gesetzlichen Bestimmungen der Schweiz und den in den Abkommen vorgesehe-
nen Verfahren erfolgt. Der Bundesrat wird den ausgewiesenen Ressourcenbedarf zu
gegebener Zeit überprüfen und darauf achten, dass ein allfälliger Mehrbedarf an Per-
sonalaufwand innerhalb des Eigenbereichs des Bundes kompensiert wird. Die Parla-
mentsdienste gehen davon aus, dass sie für mögliche neue Aufgaben im Zusammen-
hang mit dem
Decision Shaping
1,5 Vollzeitstellen benötigen (s. Ziff. 2.1.7.7). Für
die Auswirkungen auf die übrigen sechs Departemente, die für die von den Binnen-
marktabkommen und dem Gesundheitsabkommen abgedeckten Bereiche zuständig
sind, wird auf die Ausführungen zu den jeweiligen Abkommen verwiesen.
92 / 931
2.1.7.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf
urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete
Die Kantone werden regelmässig informiert und eng einbezogen, wenn das
Decision
Shaping
, die Streitbeilegungsverfahren und die Einreichung von Schriftstücken und
Stellungnahmen beim EuGH ihre Zuständigkeitsbereiche berühren, was bei ihnen zu
einem erhöhten Bedarf an personellen Ressourcen führen dürfte. Die Modalitäten die-
ser Information und Beteiligung werden in einem späteren Abkommen geregelt, bei-
spielsweise durch eine Vereinbarung zwischen Bund und Kantonen, wie sie im Be-
reich der Schengen/Dublin-Assoziierung besteht.
68
Die institutionellen Elemente haben keine spezifischen Auswirkungen auf Gemein-
den, urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete.
2.1.7.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
Die institutionellen Elemente stehen in einem direkten Zusammenhang mit der Teil-
nahme der Schweiz am Binnenmarkt der EU via die entsprechenden Abkommen. Als
solche haben sie daher keine spezifischen Auswirkungen auf die Wirtschaft. Aller-
dings ergeben sich die wirtschaftlichen Auswirkungen der Binnenmarktabkommen,
insbesondere des MRA und des Gesundheitsabkommens, auch aus den institutionel-
len Elementen. Sie werden daher in den Abschnitten des erläuternden Berichts zu die-
sen Abkommen erläutert.
2.1.7.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
Die institutionellen Elemente haben keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Ge-
sellschaft.
2.1.7.5
Auswirkungen auf die Umwelt
Die institutionellen Elemente haben keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Um-
welt.
2.1.7.6
Auswirkungen auf das Initiativ- und Referendumsrecht
Für den Bundesrat war es bereits bei der Vorbereitung des Verhandlungsmandats
wichtig zu betonen, dass die Schweiz kein Ergebnis akzeptieren könne, welches zu
Abstrichen an den verfassungsmässigen Rechten und Kompetenzen führen würde
(s. Ziff. 2.1.3.3). Dieses Verhandlungsziel wurde erreicht.
Die durch die Bundesverfassung garantierten Initiativ- und Referendumsrechte
(Art. 136 Abs. 2 BV
69
) sind weiterhin in vollem Umfang gewährleistet. Weder die
einzelnen Abkommen noch die darin enthaltenen institutionellen Elemente verhin-
dern, dass eine Volksinitiative lanciert werden kann, die sich gegen die Übernahme
einer relevanten Weiterentwicklung des EU-Rechts in das betroffene Abkommen
richtet, sofern sie die bekannten verfassungsrechtlichen Gültigkeitsvoraussetzungen
68
Vereinbarung vom 20. März 2009 zwischen Bund und Kantonen betreffend Umsetzung,
Anwendung und Entwicklung des Schengen/Dublin-Besitzstands (SR 362.1)
69
SR
101
93 / 931
erfüllt. Ebenso wird gegen eine solche Rechtsübernahme bzw. ein in diesem Zusam-
menhang erforderliches neues Gesetz oder eine erforderliche Gesetzesanpassung wie
bisher das Referendum ergriffen werden können. Die verfassungsrechtlichen Quoren
und Fristen, die für die Ausübung dieser Rechte vorgesehen sind – 100 000 Stimmbe-
rechtigte, die innert 18 Monaten eine Initiative unterzeichnen müssen, bzw.
50 000 Stimmberechtigte, die innert 100 Tagen ihre Unterstützung für ein Referen-
dum bekunden können –, bleiben ebenfalls unverändert.
Die vorgesehenen Fristen für die Integration eines neuen EU-Rechtsakts in ein be-
troffenes Abkommen (s. Ziff. 2.1.6.2.2) sind so bemessen, dass im Falle einer Geneh-
migung durch das Parlament und gegebenenfalls durch das Volk die üblichen Verfah-
ren durchgeführt und das Referendumsrecht auch wirksam und rechtzeitig
wahrgenommen werden kann. Bei der Schengen/Dublin-Assoziierung, wo bereits
heute die dynamische Rechtsübernahme gilt und vergleichsweise häufig eine Weiter-
entwicklung des Schengen/Dublin-Besitzstandes vom Parlament genehmigt werden
muss und deshalb dem fakultativen Referendum unterstellt ist, funktioniert dies prob-
lemlos.
70
Die im Rahmen des Pakets diesbezüglich ausgehandelten Fristen sind sogar
noch länger als diejenigen, die im Bereich der Schengen/Dublin-Assoziierung gelten.
Die Schweiz wird durch die Mitwirkung am Rechtsetzungsverfahren innerhalb der
Europäischen Kommission
71
zudem frühzeitig erkennen können, ob der geplante neue
EU-Rechtsakt für die Schweiz heikle rechtssetzende Regelungen enthalten könnte und
allenfalls grössere gesetzgeberische Anpassungen erforderlich machen dürfte, was mit
einem erheblichen Referendumsrisiko verbunden wäre. Damit lässt sich auch für die
interessierten politischen Akteure die Zeit bis zur Verabschiedung der neuen EU-
Vorschriften so nutzen, dass ein Referendum gegen den Übernahmebeschluss rasch
ergriffen werden könnte.
Die institutionellen Elemente sind – neben der analogen Anwendung im Gesundheits-
abkommen – nur für Binnenmarktabkommen vorgesehen, mit deren Umsetzung, An-
wendung und Weiterentwicklung die Schweiz seit vielen Jahren vertraut ist. Auch
wenn diese Abkommen bisher statischer Natur waren, wurden die relevanten EU-
Rechtsentwicklungen dennoch regelmässig darin übernommen. Die betroffenen Ver-
waltungen und die politischen Akteure kennen die Vorgehensweisen und Handlungs-
möglichkeiten daher grundsätzlich. Am auf ausgewählte Sachgebiete beschränkten
Rahmen (sektorieller Ansatz) ändert sich zudem nichts. Der Bundesrat befürchtet da-
her keine nachteiligen Auswirkungen auf die Art und Weise, wie die Initiativ- und
Referendumsrechte wahrgenommen und zur Geltung gebracht werden können. Ob
und welche administrativen Anpassungen für die politische Praxis sinnvoll sein könn-
ten – wie etwa für den Informationsaustausch mit der Bundesversammlung oder bei
der Planung und Durchführung von Vernehmlassungen – wird sich noch zeigen müs-
sen.
70
Siehe bereits Botschaft über die Teilnahme der Schweiz an der Europäischen Agentur für
Flugsicherheit EASA, BBl
2005
3857. Zum Schengen-Besitzstand siehe Übernahme und
Umsetzung der Änderungen des Schengener Grenzkodex, worüber der Bundesrat am
26. Juni 2024 die Vernehmlassung eröffnet hatte.
71
Dass die Schweiz, anders als bei Schengen, sich nicht in den Debatten im Rat der EU be-
teiligen kann (s. Ziff. 2.1.6.2.1), stellt mit Blick auf die Initiativ- und Referendumsrechte
keinen Nachteil dar.
94 / 931
Am Recht der Kantone, Standesinitiativen einzureichen oder ein Kantonsreferendum
zu ergreifen, das acht Kantone gegen Bundesgesetze und bestimmte Bundesbe-
schlüsse erwirken können, ändern die institutionellen Elemente ebenfalls nichts. Die
Kantone können auch weiterhin von diesen verfassungsrechtlichen Möglichkeiten
Gebrauch machen, wenn sie gegen die Übernahme eines neuen EU-Rechtsakt in ein
betroffenes Abkommen bzw. allfällige damit zusammenhängende neue bundesgesetz-
liche Regelungen vorgehen wollen. Der Bund wird die Kooperation mit den Kantonen
ohnehin verstärken und analog zum Vorgehen bei der Schengen/Dublin-Assoziierung
institutionell absichern (s. Ziffer 2.1.7.2).
Die Neuerungen bei der Streitbeilegung inkl. Möglichkeit von Ausgleichsmassnah-
men haben schliesslich keine Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Initiativ- und
Referendumsrechte.
2.1.7.7
Andere Auswirkungen: Rolle des Parlaments
2.1.7.7.1
Allgemeine Erwägungen
Wie in Ziffer 2.1.7.2 in Bezug auf die Kantone dargelegt, sind die Verfahren im Zu-
sammenhang mit der dynamischen Rechtsübernahme und vor allem die Einführung
eines Instruments, das es der Schweiz erlaubt, ihre Interessen im Rahmen des Recht-
setzungsprozesses der EU (
Decision Shaping
) verstärkt einzubringen, auch eine Ge-
legenheit zu prüfen, wie das Parlament in diesem Kontext einbezogen werden kann.
Wie in Ziffer 1.5 erwähnt, wurden mehrere Motionen und Postulate eingereicht, in
denen der Bundesrat aufgefordert wird, das Parlament stärker in die Europapolitik
einzubinden. Die Motion 10.3005 der Aussenpolitischen Kommission (APK) des
Ständerats verlangt Massnahmen zur frühzeitigen Information des Parlaments über
relevante europäische Rechtsetzungsentwürfe. Im Zusammenhang mit dem Entwurf
des institutionellen Rahmenabkommens wurde der Bundesrat durch das Postu-
lat 18.3059 Nussbaumer beauftragt, einen Bericht über die Möglichkeiten einer ver-
stärkten Mitwirkung und Information des Parlaments in europapolitischen Angele-
genheiten vorzulegen. Die Motion 19.3170 Lombardi/Rieder forderte eine gesetzliche
Grundlage in Ergänzung zum institutionellen Rahmenabkommen, welche die Befug-
nisse des Parlaments bei der dynamischen Rechtsübernahme regelt. Diese Vorstösse
sind trotz der gescheiterten Verhandlungen über den Entwurf des institutionellen Rah-
menabkommens nach wie vor relevant.
Der Prozess der dynamischen Rechtsübernahme und insbesondere des
Decision
Shaping
der Schweiz wird in Ziffer 2.1.5.2 erläutert. Jetzt, wo die Verhandlungser-
gebnisse in Bezug auf die institutionellen Elemente vorliegen, kann der Bundesrat
eine Reihe von Massnahmen vorschlagen, um die Information und die Mitwirkung
des Parlaments in diesem Bereich zu verstärken und damit die Anliegen der drei vor-
erwähnten parlamentarischen Vorstösse zu erfüllen.
2.1.7.7.2
Mitwirkungsmöglichkeiten des Parlaments bei der
dynamischen Rechtsübernahme
Wie in Ziffer 2.1.5.2.1 zum
Decision Shaping
ausgeführt, kann die Schweiz bei
Rechtsetzungsarbeiten der EU mitwirken, die in die Zuständigkeit der Europäischen
Kommission fallen. Die Mitwirkung erfolgt durch die Einbindung der Schweiz in die
95 / 931
Ausarbeitung der Entwürfe für Rechtsakte der Europäischen Kommission, die Kon-
sultation von Sachverständigen der Schweiz analog zu jenen der EU-Mitgliedstaaten
sowie durch den Austausch zwischen der Schweiz und der EU im GA. Die Fristen,
innerhalb deren die Schweiz zu den Entwürfen der EU Stellung nehmen bzw. darauf
reagieren muss, sind schwer abzuschätzen und könnten stark variieren (von einigen
Tagen bis zu mehreren Monaten). Über das
Decision Shaping
hinaus kann die
Schweiz auch über Direktkontakte mit einzelnen Mitgliedstaaten oder dem Europäi-
schen Parlament Einfluss auf die Debatte in den Organen der EU nehmen.
Im Folgenden wird daher auf die zu prüfenden Möglichkeiten für eine verstärkte In-
formation bzw. Mitwirkung des Parlaments eingegangen. Betroffen sind die Bereiche,
auf welche die in diesem Kapitel erläuterten neuen institutionellen Elemente Anwen-
dung finden (bestehende und künftige Binnenmarktabkommen sowie Gesundheitsab-
kommen) und – innerhalb dieser Bereiche – die EU-Rechtsakte, deren Übernahme im
Rahmen des jeweiligen bilateralen Abkommens auch vom Parlament genehmigt wer-
den müsste. Zur Erinnerung: Die Mitwirkung des Parlaments im Bereich der Aussen-
politik ist vor allem in Artikel 152 Parlamentsgesetz (ParlG)
72
geregelt.
Mündliche Information
Die Traktandenliste der APK sieht standardmässig die Information der Kommissio-
nen über die «europapolitischen Aktivitäten» vor, wobei eine Delegation des EDA
und allfälliger anderer betroffener Departemente anwesend ist. Der Bundesrat will die
APK auch weiterhin regelmässig über aktuelle Entwicklungen in der Europapolitik
der Schweiz und über die Entwicklungen innerhalb der EU informieren, die für die
Schweiz relevant sind. Er ist bereit, einen stärkeren Fokus auf eine vorausschauende
Information über geplante Rechtsakte der EU zu legen, die die Schweiz im Rahmen
eines bilateralen Abkommens übernehmen müsste. Falls die Kommissionen dies wün-
schen, ist er auch bereit, punktuell über spezifische Rechtsakte zu informieren. Neben
den mit den APK etablierten Prozessen ist auch der Einbezug anderer thematischer
Kommissionen zu prüfen, die sich mit sektoriellen Themen im Zusammenhang mit
dem Paket befassen, bzw. diese könnten weiterhin Informationen von den zuständigen
Departementen über Entwicklungen des EU-Rechts anfordern, die für die Umsetzung
der spezifischen Abkommen relevant sind.
Schriftliche Information
Das EDA erstellt eine Informationstabelle zu den europapolitischen Entwicklungen
im Hinblick auf die Behandlung des Traktandums «Europapolitische Aktivitäten» an
den Sitzungen der APK. Es schlägt vor, in dieser Tabelle eine neue Rubrik mit den
für die Schweiz relevanten «künftigen» Rechtsakten der EU mit ihrem jeweiligen
Stand im Erarbeitungsprozess vorzusehen. Die Rechtsakte würden also in den ver-
schiedenen Phasen vom Vorentwurf bis zur endgültigen Verabschiedung in der Infor-
mationstabelle aufgeführt (z. B.: Vorschlag der Europäischen Kommission, Vor-
schlag des Rates und des Europäischen Parlaments, Einleitung des Trilogs, Einigung,
Verabschiedung). Diese Praxis besteht bereits im Bereich der Schengen/Dublin-As-
soziierung. Die Tabelle wird zudem weiterhin Informationen über Entwicklungen in
der EU enthalten, die keine direkten Auswirkungen auf die Schweiz haben (nicht von
72
SR
171.10
96 / 931
der dynamischen Rechtsübernahme betroffen sind), aber trotzdem in einem relevanten
europäischen Kontext stehen, etwa im Rahmen des «autonomen Nachvollzugs» von
EU-Recht.
Ständige Subkommission für Europafragen
Die APK des Nationalrats hat eine ständige Subkommission für Europafragen einge-
setzt, die den Auftrag hat, die Rechtsentwicklungen in der EU im Rahmen der bilate-
ralen Binnenmarktabkommen, der Assoziierungsabkommen wie Schengen/Dublin
sowie der Beteiligung der Schweiz an den Agenturen der EU und den Förderprogram-
men der EU zu verfolgen. Der Bundesrat ist bereit, die Zusammenarbeit mit der Sub-
kommission zu verstärken, wenn diese darum ersucht (mündliche Präsentation der für
die Schweiz direkt relevanten Rechtsakte der EU zuhanden der Subkommissionsmit-
glieder). Die Subkommission könnte sich auch über allfällige EU-Rechtsakte infor-
mieren, die die Schweiz bei der eigenen Rechtsetzung berücksichtigen möchte, auch
wenn sie nicht verpflichtet ist, diese im Rahmen eines bilateralen Abkommens zu
übernehmen («autonomer Nachvollzug» von EU-Recht, s. Postulat 11.3916 Nord-
mann und dazugehörige Stellungnahme des Bundesrates), um eine gezielte Informa-
tionspolitik zum Thema «autonomer Nachvollzug» zu entwickeln. Falls gewünscht,
könnten dieselben Informationen übrigens auch der APK des Ständerats in einem For-
mat ihrer Wahl zur Verfügung gestellt werden.
Entsendung einer Mitarbeiterin oder eines Mitarbeiters der Parlamentsdienste
Die Entsendung einer Mitarbeiterin oder eines Mitarbeiters der Parlamentsdienste
nach Brüssel wäre eine wirksame Möglichkeit, um eine direkte und frühzeitige Infor-
mation über die für die Schweiz relevanten Entwicklungen des EU-Rechts sicherzu-
stellen. Die entsendete Person könnte über Verfahren und Entwicklungen in der EU
Bericht erstatten, die für das Parlament von besonderem Interesse sind. Dabei kom-
men zwei Möglichkeiten infrage. Das Parlament könnte einerseits eine Person direkt
an das Europäische Parlament entsenden, wie es beispielsweise die norwegischen und
britischen Parlamentsdienste machen. Aufgrund ihrer Präsenz vor Ort hätte diese Per-
son einen privilegierten Zugang zum Europäischen Parlament und dessen Mitgliedern
und befände sich im Herzen des EU-Rechtsetzungsprozesses. Andererseits könnte das
Parlament eine Person in die Mission der Schweiz bei der EU entsenden. Damit
könnte ein privilegierter Kanal zwischen der Mission und dem Parlament etabliert
werden. Die entsendete Person wäre der Chefin/des Chefs der Mission unterstellt und
hätte materiell kein Mitbestimmungsrecht. Diese Lösung bedingt, dass die Gewalten-
trennung eingehalten wird und das Parlament die notwendige Finanzierung im Rah-
men seiner Kompetenzen sicherstellt. Die Modalitäten einer solchen Entsendung wür-
den von den Parlamentsdiensten und dem EP bzw. dem EDA unter Berücksichtigung
dieser Bedingungen geregelt, zum Beispiel in Form einer Vereinbarung oder eines
Vertrags.
Informationsreisen
Die jährlichen Informationsreisen der APK liegen in der Eigenkompetenz des Parla-
ments und müssen vom zuständigen Ratsbüro genehmigt werden. Eine oder mehrere
Informationsreisen nach Brüssel könnten die Information der APK-Mitglieder über
die in Vorbereitung befindlichen EU-Rechtsakte, die für die Schweiz relevant sind,
97 / 931
und allgemein über den Rechtsetzungsprozess in der EU fördern. Der Bundesrat ist
bereit, die Organisation solcher Informationsreisen zu unterstützen.
Parlamentarische Zusammenarbeit Schweiz–EU
Im Rahmen des Pakets Schweiz–EU ist eine verstärkte parlamentarische Zusammen-
arbeit zwischen der Schweiz und der EU in Form eines gemischten parlamentarischen
Ausschusses geplant (s. Ziff. 2.15). Dieser Ausschuss kann ebenfalls dazu beitragen,
die Information und Beteiligung des Parlaments in europapolitischen Angelegenhei-
ten zu fördern. Er würde privilegierte Kontakte zwischen Parlamentsmitgliedern und
einen direkten Austausch über Rechtsetzungsvorhaben der EU ermöglichen, die für
Schweizer Parlamentsmitglieder von Interesse sind. So könnten diese beantragen,
dass ein Traktandum zu den geplanten oder laufenden Rechtsentwicklungen in der EU
auf die Tagesordnung gesetzt wird, und Informationen direkt vom Europäischen Par-
lament erhalten. Der gemischte parlamentarische Ausschuss könnte sich zu Bereichen
des Pakets Schweiz–EU äussern, etwa durch die Annahme von Resolutionen zuhan-
den des hochrangigen Dialogs, der im Rahmen dieses Pakets eingerichtet wird
(s. Ziff. 2.14). Auf diese Weise könnten die Schweizer Parlamentsmitglieder auch zu
Rechtsakten Stellung nehmen, die in der EU ausgearbeitet werden. Die konkreten Mo-
dalitäten für die Arbeit des Gemischten Parlamentarischen Ausschusses über den all-
gemeinen Rahmen des ausgehandelten Protokolls gemäss Ziffer 2.15 hinaus sind von
den Mitgliedern des Ausschusses selbst festzulegen. Das Parlament verfügt also über
einen Handlungsspielraum, um dieses neue Instrument in der von ihm gewünschten
Weise zu nutzen.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Möglichkeiten zur Information
und Konsultation der Bundesversammlung im Rahmen des künftigen
Decision
Shaping
mit der EU durch eine Reihe von Massnahmen wie hier skizziert gestärkt
werden könnte. Einerseits bleiben die bisherigen Formate und Prozesse zur Einbin-
dung des Parlaments in die Europapolitik bestehen, in erster Linie durch die enge Zu-
sammenarbeit mit den APK. Der Bundesrat ist bereit, einen stärkeren Fokus auf eine
vorausschauende Information über geplante Rechtsakte der EU zu legen, die für die
Schweiz relevant sind. Zudem könnten neue Möglichkeiten zur noch stärkeren Ein-
bindung des Parlaments geprüft werden: Die Entsendung einer Mitarbeiterin oder ei-
nes Mitarbeiters der Parlamentsdienste nach Brüssel wäre zum Beispiel eine wirk-
same Möglichkeit, um eine direkte und frühzeitige Information über die für die
Schweiz relevanten Entwicklungen des EU-Rechts sicherzustellen. Durch die Aus-
handlung eines Gemischten Parlamentarischen Ausschusses Schweiz–EU schafft der
Bundesrat des Weiteren die Grundlage für eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen
der Bundesversammlung und dem Europäischen Parlament. Dies dient auch der Sen-
sibilisierung des Parlaments für künftige Entwicklungen des EU-Rechts, die für die
Schweiz relevant sind (s. Ziff. 2.15).
2.1.8
Rechtliche Aspekte des Paketelements
2.1.8.1
Verfassungsmässigkeit der institutionellen Elemente
Die institutionellen Elemente werden durch Protokolle in die bestehenden Abkommen
integriert und in die neuen Abkommen direkt eingefügt. Die Aufnahme der instituti-
98 / 931
onellen Elemente in diese Abkommen erfordert keine Änderung der Bundesverfas-
sung (BV). Die Verfassungsmässigkeit der neuen Abkommen und der Änderungspro-
tokolle wird in den entsprechenden Kapiteln des erläuternden Berichts behandelt. Die
institutionellen Protokolle stützen sich auf Artikel 54 Absatz 1 BV, wonach der Bund
für die auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV ermäch-
tigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu ratifizieren.
Die Bundesversammlung ist nach Artikel 166 Absatz 2 BV für die Genehmigung völ-
kerrechtlicher Verträge zuständig, sofern für deren Abschluss nicht aufgrund eines
Gesetzes oder völkerrechtlichen Vertrags der Bundesrat allein zuständig ist (s. auch
Art. 24 Abs. 2 ParlG und Art. 7
a
Abs. 1 Regierungs- und Verwaltungsorganisations-
gesetz [RVOG]
73
). Die institutionellen Protokolle sind keine völkerrechtlichen Ver-
träge, die der Bundesrat aufgrund eines Gesetzes oder eines von der Bundesversamm-
lung genehmigten völkerrechtlichen Vertrags in eigener Kompetenz abschliessen
kann. Es handelt sich auch nicht um völkerrechtliche Verträge von beschränkter Trag-
weite gemäss Artikel 7
a
Absatz 2 RVOG. Daher müssen die institutionellen Proto-
kolle der Bundesversammlung zur Genehmigung unterbreitet werden.
2.1.8.2
Verfassungsmässigkeit der Umsetzungsgesetzgebung und
Begleitmassnahmen
Die institutionellen Protokolle erfordern weder eine Ausführungsgesetzgebung noch
Begleitmassnahmen (s. Ziff. 2.1.7.2 zum Einbezug der Kantone).
2.1.8.3
Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen
der Schweiz
Die institutionellen Protokolle sind mit den internationalen Verpflichtungen der
Schweiz vereinbar.
2.1.8.4
Erlassform
Die Frage der Erlassform wird in den Abschnitten des erläuternden Berichts über die
Abkommen behandelt, die institutionelle Elemente umfassen.
2.1.8.5
Vorläufige Anwendung
Eine vorläufige Anwendung der institutionellen Elemente ist nicht vorgesehen.
2.1.8.6
Datenschutz
Zum Thema Datenschutz ist Folgendes zu beachten:
–
Die Schiedssprüche des SchG werden veröffentlicht (Art. IV.2 Abs. 4 Un-
terabs. 1 AnlSchG-IP-LuftVA). Es ist vorgesehen, dass der GA vor dem In-
krafttreten des Pakets Schweiz–EU, Vorschriften über den Schutz perso-
nenbezogener Daten, das Berufsgeheimnis und die berechtigten Interessen
der Vertraulichkeit erlässt, die bei der Veröffentlichung der Schiedssprüche
zu berücksichtigen sind (Art. IV.2 Abs. 4 Unterabs. 2 und 3 AnlSchG-IP-
73
SR
172.010
99 / 931
LuftVA). Bei der Ausarbeitung dieser Vorschriften wird sichergestellt, dass
der Schweizer Rechtsrahmen eingehalten wird.
–
Das SchG ist gehalten, geeignete Massnahmen zu ergreifen, um allfällige
Fragen in Bezug auf den Schutz personenbezogener Daten, das Berufsge-
heimnis und die berechtigten Interessen der Vertraulichkeit zu klären, die
die Parteien im Zusammenhang mit der Behandlung der Beweismittel im
Schiedsverfahren stellen könnten (Art. III.11 Abs. 5 AnlSchG-IP-LuftVA).
–
Im Zusammenhang mit dem Finanzbeitrag der Schweiz an Agenturen, In-
formationssysteme und andere Aktivitäten der EU ist vorgesehen, dass die
Europäische Kommission der Schweiz angemessene Angaben zur Berech-
nung ihres Finanzbeitrags bereitstellt (Art. 13 Abs. 8 IP-LuftVA). Diese
Angaben werden unter gebührender Beachtung der Vertraulichkeits- und
Datenschutzbestimmungen der EU übermittelt. Die Schweiz verarbeitet die
übermittelten Informationen im Einklang mit ihren eigenen Rechtsvor-
schriften.
100 / 931
2.2
Staatliche Beihilfen
2.2.1
Zusammenfassung
Die völkerrechtlichen Beihilfebestimmungen, die sich aus dem Paket Schweiz–EU
ergeben, (folgend auch: völkerrechtliche Beihilfebestimmungen) umfassen die Zu-
satzprotokolle über staatliche Beihilfen zum LuftVA- und LandVA (folgend auch:
Beihilfeprotokolle) sowie den Beihilfeteil des Stromabkommens. Sie befassen sich
mit staatlichen Beihilfen (folgend auch: Beihilfen), die im Hoheitsgebiet der Vertrags-
parteien an Unternehmen gewährt werden, die im Geltungsbereich dieser Abkommen
tätig sind.
Die Schaffung einer mit derjenigen der EU gleichwertigen Beihilfeüberwachung ist
Voraussetzung für die Aktualisierung gewisser Binnenmarktabkommen mit der EU.
Diese Abkommen gehen mit grossen Vorteilen für die Schweizer Unternehmen ein-
her. Die Schweiz hat aber auch ein grundsätzliches Interesse an einer Überwachung
staatlicher Beihilfen. Denn sie ermöglicht es, Wettbewerbsverzerrungen zu verringern
und sorgt für gleich lange Spiesse zwischen Schweizer und EU-Unternehmen.
Die Schweiz wird die materiellrechtlichen Bestimmungen des Beihilferechts der EU
in die Beihilfeprotokolle sowie im Beihilfeteil des Stromabkommens übernehmen.
Die Überwachung der schweizerischen Beihilfen wird jedoch im Rahmen eines eige-
nen, gleichwertigen Verfahrens durch eine schweizerische Überwachungsbehörde
und durch die zuständigen schweizerischen Gerichte gewährleistet (Zwei-Pfeiler-An-
satz). Das Verfahren wird unter Einhaltung der schweizerischen Verfassungsordnung
sowie der Kompetenzen der Kantone, der Bundesversammlung und des Bundesrates
im Rahmen des Beihilfeüberwachungsgesetzes geregelt.
Im Rahmen des Verfahrens kann sich der Beihilfegeber insbesondere bei rechtlichen
Unklarheiten während der Ausarbeitung der Beihilfe durch die Überwachungsbe-
hörde beraten lassen. Der Beihilfegeber muss seine geplante Beihilfe anmelden, so-
bald sie genügend definiert ist, um eine Prüfung durch die Überwachungsbehörde zu
ermöglichen. Diese prüft die Beihilfe auf ihre Vereinbarkeit mit den völkerrechtlichen
Beihilfebestimmungen in einer einfachen Prüfung innerhalb von zwei Monaten. Bei
Bedenken eröffnet sie eine vertiefte Prüfung von bis zu zwölf Monaten. Sie schliesst
die Prüfung mit einer unverbindlichen Stellungnahme ab. Der finale Akt, mit welchem
die Beihilfe gewährt wird, ist der Überwachungsbehörde mitzuteilen. Beurteilt die
Überwachungsbehörde die mitgeteilte Beihilfe als unzulässig, erhebt sie Beschwerde
vor der zuständigen Instanz. Nur ein schweizerisches Gericht oder eine schweizeri-
sche Verwaltungsbehörde als Rechtsmittelinstanz kann verbindlich entscheiden, dass
die Beihilfe unzulässig ist und allenfalls eine Rückforderung verlangen. Auch weitere
Beschwerdeberechtigte (z. B. Konkurrenten) können eine Beschwerde einreichen.
Die Beihilfen sowie die wichtigsten Verfahrensschritte werden in einer Datenbank
durch die Überwachungsbehörde veröffentlicht.
Aufgrund des beschränkten Geltungsbereichs sowie Ausnahmen von der Anmelde-
und Mitteilungspflicht werden langfristig fünf einfache Prüfungen sowie eine vertiefte
Prüfung pro Jahr erwartet.
Für die Einführung des schweizerischen Überwachungsverfahrens ist eine Über-
gangsfrist von fünf Jahren ab Inkrafttreten der Beihilfeprotokolle respektive des
101 / 931
Stromabkommens vorgesehen. Für die bestehenden Beihilferegelungen wird die
Überwachungsbehörde ein weiteres Jahr Zeit haben, um sich einen Überblick zu ver-
schaffen, bevor sie ein allfälliges Prüfungsverfahren nach Artikel 47 VE-BHÜG er-
öffnet. Zudem wurden weitere sektorspezifische Absicherungen im Stromabkommen
festgehalten (s. Ziff. 2.10).
Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt. Er beantragt
im Rahmen des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU die Genehmigung der
Beihilfeprotokolle und der dazugehörenden Umsetzungsgesetzgebung. Zur Genehmi-
gung des Stromabkommens siehe Ziffer 2.11.1.
2.2.2
Ausgangslage und Vorverfahren
Die Überwachung staatlicher Beihilfen in der Schweiz war ursprünglich eines der
Themen, die der Bundesrat im Rahmen des institutionellen Rahmenabkommens mit
der EU klären wollte. Dessen Entwurf sah Beihilferegeln im Geltungsbereich des
LuftVA vom 21. Juni 1999
74
vor, welche auch den Rahmen für Regeln über staatliche
Beihilfen in neuen Binnenmarktabkommen dargestellt hätten. Dabei sollte der Grund-
satz aus dem EU-Recht in die Binnenmarktabkommen übernommen werden, wonach
staatliche Beihilfen unzulässig sind, wenn sie durch die Begünstigung bestimmter Un-
ternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen und den Handel zwi-
schen den Vertragsparteien im Geltungsbereich der Binnenmarktabkommen beein-
trächtigen können. Aus dem EU-Recht sollten auch die diversen Ausnahmen
beziehungsweise Freistellungen von der grundsätzlichen Unvereinbarkeit von Beihil-
fen übernommen werden. Darüber hinaus sah der Entwurf für ein institutionelles Rah-
menabkommen vor, dass die Schweiz gemäss ihrer verfassungsmässigen Kompeten-
zordnung eine ständige Überwachung der Konformität staatlicher Beihilfen mit dem
übernommenen Beihilferecht durch eine unabhängige Behörde sicherstellt. Schliess-
lich hätte die Schweiz gemäss dem Entwurf für ein Transparenzregime sorgen müs-
sen, welches mit demjenigen der EU gleichwertig ist: Insbesondere hätten Entscheide
über staatliche Beihilfen, die unter die betroffenen Abkommen fallen, veröffentlicht
werden müssen.
Nach der Entscheidung des Bundesrates, ein institutionelles Rahmenabkommen nicht
zu unterzeichnen, beauftragte er im Juni 2021 das Eidgenössische Departement für
Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF), in Zusammenarbeit mit dem Eidgenössi-
schen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) und dem Eidgenössischen Departement
für auswärtige Angelegenheiten (EDA) zu prüfen, ob eine autonome Angleichung an
das EU-Beihilferecht im Interesse der Schweiz wäre. Die Analyse des Bundes zeigte,
dass eine autonome Angleichung des Schweizer Rechts im Bereich der staatlichen
Beihilfen im Interesse der Schweiz liegen könnte: Eine Regelung staatlicher Beihilfen
könnte die auf marktwirtschaftlichen Prinzipien beruhende Wirtschaftsordnung der
Schweiz sinnvoll ergänzen, den Wettbewerb stärken und faire Bedingungen für die
Unternehmen schaffen. Darüber hinaus nahm im Februar 2022 eine technische Ar-
beitsgruppe, in der Experten des Bundes und der Kantone vertreten waren, im Auftrag
des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) und der Konferenz der Kantonsregierun-
gen (KdK) ihre Arbeit auf. Diese technische Arbeitsgruppe kam zum Schluss, dass
74
SR
0.748.127.192.68
102 / 931
eine solche Angleichung technisch möglich wäre. Die Regelung von staatlichen Bei-
hilfen in der Schweiz sollte jedoch vor dem Hintergrund des prioritären Ziels des er-
leichterten Zugangs zum EU-Binnenmarkt nicht autonom, sondern nur aufgrund aus-
gehandelter völkerrechtlicher Vereinbarungen und nur in den Bereichen in Frage
kommen, in denen der Zugang zum EU-Binnenmarkt für die Schweiz vertraglich vor-
gesehen ist. Hierfür wäre ein eigenes, gleichwertiges Überwachungsverfahren am
sinnvollsten und die Wettbewerbskommission (WEKO) am geeignetsten für die Rolle
der schweizerischen Überwachungsbehörde (s. dazu Erläuterungen zu Art. 3 VE-
BHÜG in Ziff. 2.2.7). Dieses Verständnis war auch Grundlage für die exploratori-
schen Gespräche zwischen der Schweiz und der EU.
Parallel zu den Arbeiten in der technischen Arbeitsgruppe wurden exploratorische
Gespräche mit der EU geführt, um die möglichen Landezonen allfälliger Verhandlun-
gen zu klären. Die Ergebnisse der exploratorischen Gespräche wurden in einer Ge-
meinsamen Verständigung (
Common Understanding
;
CU
) vom 27. Oktober 2023
festgehalten: Vorschriften über staatliche Beihilfen sollten in das Luftverkehrs-,
Landverkehrs- und das Stromabkommen aufgenommen werden. Die Überprüfung
staatlicher Beihilfen sollte, innerhalb des Geltungsbereichs dieser Abkommen, auf
materiell- und verfahrensrechtlichen Vorschriften beruhen, die mit denjenigen in der
EU gleichwertig sind. Zu diesem Zweck würde die Schweiz ihr eigenes Überwa-
chungsverfahren einführen (Zwei-Pfeiler-Ansatz, s. Ziff. 17
CU
).
2.2.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
Im Bereich der staatlichen Beihilfen hat der Bundesrat einen sektoriellen Ansatz ver-
folgt. Gemäss dem am 8. März 2024 verabschiedeten Verhandlungsmandat sollten die
Beihilferegeln in die zwei bestehenden Binnenmarktabkommen, namentlich das
LuftVA und das LandVA von 21. Juni 1999, sowie im neuen Stromabkommen auf-
genommen werden. Die Regeln über staatliche Beihilfen sollten grundsätzlich gleich-
wertig mit denjenigen sein, die in der EU gelten und gewährleisten, dass Unternehmen
in der Schweiz (d. h. mit Sitz oder Niederlassung in der Schweiz) einen gesicherten
und gleichberechtigten Zugang zum Binnenmarkt der EU haben, wo dieser vertraglich
geregelt ist. Im Rahmen der Verhandlungen sollten Lösungen oder Übergangsperio-
den und ein Mechanismus zur Sicherstellung der Berücksichtigung essenzieller Inte-
ressen der Schweiz angestrebt werden. Zudem sollte das Verhandlungsergebnis die
Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen sowie die Gewaltenteilung, in-
klusive Artikel 190 BV, respektieren. Konkret sollte die Schweiz die materiellen Bei-
hilfevorschriften dieser Abkommen mit eigenen Verfahren und Behörden überwachen
(Zwei-Pfeiler-Modell). Basierend auf der Gemeinsamen Verständigung vom Oktober
2023 wurden die Verhandlungen mit der EU über ein Paket Schweiz–EU Mitte März
2024 aufgenommen. Die Verhandlungen im Bereich der Beihilfen konnten nach
15 Treffen im Juli 2024 materiell in vollständiger Erfüllung des Verhandlungsman-
dats vom 8. März 2024 abgeschlossen werden. In der Folge wurden formelle und ju-
ristische Bereinigungen vorgenommen sowie sektorielle Sonderregeln ausgehandelt
(s. Ziff. 2.5.6.4, 2.6.9.3. sowie Ziff. 2.11.6.9). Aufgrund der Möglichkeit, dass Regeln
für staatliche Beihilfen für zukünftige Abkommen in binnenmarktrelevanten Berei-
chen vereinbart werden könnten, kommt diesen Vertragsregelungen ein Modellcha-
rakter zu.
103 / 931
Parallel zu den Verhandlungen über die völkerrechtlichen Bestimmungen musste eine
nationale Rechtsgrundlage ausgearbeitet werden. Damit sollen die mit der EU ausge-
handelten völkerrechtlichen Bestimmungen über staatliche Beihilfen umgesetzt wer-
den soll. Konkret ist damit die Verpflichtung der Schweiz gemeint, für die Zwecke
gleicher Wettbewerbsbedingungen zwischen Schweizer und EU-Unternehmen in den
Bereichen des Binnenmarktes, in denen die Schweiz auf der Grundlage dieser Ab-
kommen teilnimmt, ein gleichwertiges schweizerisches Beihilfeüberwachungssystem
zu schaffen. Diese Umsetzung soll in Form eines Bundesgesetzes, dem Beihilfeüber-
wachungsgesetz (BHÜG), ergehen, welches grundsätzlich nur die Verfahrensfragen
regelt. Das materielle Recht wird im jeweiligen Beihilfeprotokoll sowie in einem ei-
genen Beihilfeteil des Stromabkommens dem EU-Recht entsprechend und unmittel-
bar anwendbar geregelt. Das Verfahren wahrt die verfassungsmässige Kompetenzor-
dnung zwischen Bund und Kantonen einschliesslich der Organisations- und
Verfahrensautonomie der Kantone sowie die Gewaltenteilung. Entsprechend den Bei-
hilfeprotokollen beziehungsweise dem Beihilfeteil der drei betroffenen Binnenmarkt-
abkommen sollen Beihilfen an Unternehmen, welche im Geltungsbereich der jewei-
ligen Binnenmarktabkommen tätig sind, von einer unabhängigen Schweizer
Überwachungsbehörde kontrolliert werden. Bei der Ausarbeitung des VE-BHÜG
legte der Bundesrat Wert darauf, ein möglichst effizient ausgestaltetes Verfahren be-
reitzustellen und den administrativen Aufwand für Behörden und Unternehmen auf
das absolut Notwendige zu beschränken. Für das Parlament wäre es ohne gleichzeitige
Vorlage der innerstaatlichen Umsetzung schwieriger einzuschätzen, was die völker-
rechtlichen Beihilfebestimmungen genau bedeuten. Ausserdem vermeidet der Bun-
desrat damit, dass die Schweiz sich völkerrechtlich zu einem bestimmten Vorgehen
im Beihilfebereich verpflichtet, diese Verpflichtung aber nicht erfüllen kann, weil die
innerstaatliche Umsetzung im Parlament oder einer allfälligen Volksabstimmung
scheitert.
2.2.4
Materielle Grundzüge des EU-Beihilferechts
In der EU besteht ein Regelwerk mit detaillierten Vorschriften zu staatlichen Beihilfen
von EU-Mitgliedstaaten, um eine einheitliche Wettbewerbsordnung (
Level Playing
Field
) im EU-Binnenmarkt zu gewährleisten. Der Begriff der staatlichen Beihilfe wird
in Artikel 107 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union
(AEUV)
75
definiert. Demzufolge sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte
Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen
oder Produktionszweige den Wettbewerb im EU-Binnenmarkt verfälschen oder zu
verfälschen drohen, mit dem EU-Binnenmarkt unvereinbar, soweit sie den Handel
zwischen EU-Mitgliedstaaten beeinträchtigen (s. Ziff. 2.2.5.3 und Erläuterungen zu
Art. 1 VE-BHÜG in Ziff. 2.2.7).
Staatlichen Beihilfen liegen in der Regel öffentliche Interessen zugrunde, beispiels-
weise die Unterstützung von Innovation oder die Förderung umweltfreundlicher
Technologien. Sie können aber oftmals auch zu einer Ungleichbehandlung von Wirt-
schaftsteilnehmenden und damit zu einer Wettbewerbsverfälschung in einem Markt
75
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (konsolidierte Fassung), ABl. C
202 vom 7. Juni 2016, S. 47.
104 / 931
führen. Das ist in einer Marktwirtschaft aus ökonomischen Gründen sehr problema-
tisch: Der verfälschte Wettbewerb führt zu ineffizientem Ressourceneinsatz und damit
langfristig zur Schädigung der Wettbewerbsfähigkeit und des Wohlstandes einer
Volkswirtschaft. Deshalb sind positive und negative Effekte staatlicher Beihilfen ge-
geneinander abzuwiegen. In der EU gilt dementsprechend ein grundsätzliches Beihil-
feverbot mit zahlreichen Ausnahmen und Freistellungen von der grundsätzlichen Un-
vereinbarkeit von Beihilfen (s. Art. 8 VE-BHÜG).
Die EU-Regeln zu staatlichen Beihilfen finden sich im Primärrecht, insbesondere im
AEUV, und im Sekundär- und Tertiärrecht, das heisst in Rechtsakten, die von den
europäischen Institutionen verabschiedet werden. Die Rechtsprechung (EuGH und
EU-Gerichtshof) spielt ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Auslegung des EU-
Beihilferechts. Die relevanten beihilferechtlichen Akte enthalten meist sowohl mate-
rielle als auch verfahrensrechtliche Teile.
Die wichtigsten Bestimmungen sind:
–
Artikel 93, 106 sowie 107 AEUV: Artikel 107 AEUV führt den Begriff der
staatlichen Beihilfe ein und weist gleichzeitig darauf hin, dass solche Bei-
hilfen nicht mit dem EU-Binnenmarkt vereinbar sind. In dieser Bestimmung
werden auch Beihilfen aufgeführt, die mit dem EU-Binnenmarkt vereinbar
sind (Abfederung von Naturkatastrophen, Sozialhilfen usw.), sowie Beihil-
fen, die von der Europäischen Kommission als mit dem EU-Binnenmarkt
vereinbar angesehen werden können (Regionalbeihilfen bzw. Beihilfen zur
Entwicklung wirtschaftlich benachteiligter Regionen innerhalb der EU,
usw.). Artikel 106 AEUV setzt den Überwachungsrahmen für Staatsunter-
nehmen und den Bereich
Service Public
, während Artikel 93 AEUV Beihil-
fen zur Verkehrskoordination erlaubt.
–
Allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung (AGVO)
76
:
Die AGVO stellt
bestimmte Gruppen von Beihilfen von der Anmeldepflicht frei. Sie enthält
eine umfangreiche Liste an staatlichen Beihilfen, von denen die Europäi-
sche Kommission annimmt, dass sie den freien Wettbewerb auf dem EU-
Binnenmarkt nicht beeinträchtigen. Diese Kategorien von Beihilfen werden
als vereinbar vermutet und sind daher nicht anmeldepflichtig. Unter ande-
rem sollen sich damit Prüfungsverfahren auf Beihilfen mit besonders gros-
sen Auswirkungen auf den EU-Binnenmarkt konzentrieren.
76
Verordnung (EU) Nr. 651/2014 der Kommission vom 17. Juni 2014 zur Feststellung der
Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Binnenmarkt in Anwendung der
Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. L
187 vom 26.6.2014, S. 1, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2023/1315 der Kom-
mission vom 23. Juni 2023 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 651/2014 zur Feststel-
lung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Binnenmarkt in An-
wendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen
Union und der Verordnung (EU) 2022/2473 zur Feststellung der Vereinbarkeit bestimmter
Gruppen von Beihilfen zugunsten von in der Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung
von Erzeugnissen der Fischerei und der Aquakultur tätigen Unternehmen mit dem Binnen-
markt in Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Eu-
ropäischen Union, ABl. L 167 vom 30.6.2023, S. 1.
105 / 931
–
Freistellung geringfügiger Beihilfebeträge von der Anmeldepflicht (De-mi-
nimis-Verordnung)
77
: Gegenstand der Verordnung sind geringfügige Un-
terstützungsmassnahmen, die von der Beihilfeüberwachung ausgenommen
sind («De-minimis-Beihilfen»). Es wird davon ausgegangen, dass sie keine
Auswirkungen auf den Wettbewerb und den zwischenstaatlichen Handel im
EU-Binnenmarkt haben. Somit erfüllen diese Beihilfen nicht alle Kriterien
des Artikels 107 Absatz 1 AEUV und sind daher vom Anmeldeverfahren
ausgenommen. Aktuell beträgt der Schwellenwert 300 000 Euro pro Unter-
nehmen über drei Jahre, wobei in gewissen Sektoren die Schwellenwerte
abweichen. Ein weiterer, zusätzlicher Schwellenwert von 750 000 Euro pro
Unternehmen über drei Jahre ist für DAWI-Beihilfen vorgesehen (s.
Ziff. 2.2.5).
–
Anwendung der Beihilfevorschriften auf Dienstleistungen von allgemeinem
wirtschaftlichem Interesse (DAWI)
78
: Dienstleistungen von allgemeinem
wirtschaftlichem Interesse sind wirtschaftliche Tätigkeiten, wie Verkehrs-
netze und Sozialdienste, die als besonders wichtig für die Bürger angesehen
werden und die ohne staatliche Intervention nicht (oder unter anderen Be-
dingungen) erbracht würden. DAWI stellen damit einen unionsrechtlichen
Begriff dar, welcher der schweizerischen Grundversorgung sehr ähnlich ist.
Weitere Auslegungshilfen sind die Leitlinien und Mitteilungen der Europäischen
Kommission.
79
Zudem bestehen zeitlich beschränkte Praxisfestlegungen wie der Be-
fristete Rahmen für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft infolge des An-
griffs Russlands auf die Ukraine, Krisenbewältigung und Gestaltung des Wandels
80
.
Diese Praxisfestlegungen sind jedoch nur für die Kommission selbst verbindlich und
haben keinen positivrechtlichen Charakter.
Exkurs: Drittstaatensubventionsverordnung
Das EU-Beihilferecht, welches in der EU auf Beihilfen der EU-Mitgliedstaaten ange-
wendet wird, wird seit dem 12. Januar 2023 flankiert von der sogenannten Drittstaa-
tensubventionsverordnung
81
. Ziel der Drittstaatensubventionsverordnung ist es, Wett-
bewerbsverzerrungen im EU-Binnenmarkt zu beseitigen, die durch Subventionen von
77
Verordnung (EU) 2023/2831 der Kommission vom 13. Dezember 2023 über die Anwen-
dung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union
auf De-minimis-Beihilfen, ABl. L, 2023/2831, vom 15.12.2023.
78
Artikel 106 Absatz 2 AEUV; Beschluss der Kommission vom 20. Dezember 2011 über die
Anwendung von Artikel 106 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäi-
schen Union auf staatliche Beihilfen in Form von Ausgleichsleistungen zugunsten be-
stimmter Unternehmen, die mit der Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem
wirtschaftlichem Interesse betraut sind (Bekanntgegeben unter Aktenzeichen K(2011)
9380), ABl. L 7 vom 11.1.2012, S. 3.
79
S. etwa Mitteilung der Kommission 2022/C 80/01 betreffend Leitlinien für staatliche
Klima-, Umweltschutz- und Energiebeihilfen 2022, ABl. C 80 vom 18.2.2022, S. 1.
80
S. etwa Mitteilung der Kommission C/2024/3113 betreffend Zweite Änderung des Befris-
teten Rahmens für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft infolge des Angriffs
Russlands auf die Ukraine – Krisenbewältigung und Gestaltung des Wandels, ABl. C 101
vom 17.3.2023, S. 3.
81
Verordnung (EU) 2022/2560 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Dezem-
ber 2022 über den Binnenmarkt verzerrende drittstaatliche Subventionen, ABl. L 330 vom
23.12.2022, S. 1.
106 / 931
Nicht-EU-Ländern («drittstaatliche Subventionen») an in der EU tätige Unternehmen
verursacht werden. Mit der Drittstaatensubventionsverordnung soll eine Lücke im
EU-Wettbewerbsrecht geschlossen werden, um gleiche Wettbewerbsbedingungen
(
Level Playing Field
) zu erreichen: Während die durch EU-Mitgliedstaaten gewährten
finanziellen Zuwendungen an Unternehmen den EU-Beihilfevorschriften unterliegen,
entziehen sich die drittstaatlichen Subventionen, die sich auf den EU-Binnenmarkt
auswirken, dem EU-Beihilferecht und der damit einhergehenden Kontrolle durch die
EU, sofern diese nicht besonderen staatsvertraglichen Beihilferegeln unterstehen
(z. B. im Rahmen des LuftVA, wie es die EU mit der Schweiz abgeschlossen hat).
Die Drittstaatensubventionsverordnung räumt der Europäischen Kommission eine
weitreichende Prüfbefugnis ein, ob in der EU tätige Unternehmen durch drittstaatliche
Subventionen bevorteilt werden und ob diese den Wettbewerb im EU-Binnenmarkt
verzerren. Dafür sind im Wesentlichen eine vorgängige Notifikationspflicht (mit re-
lativ hohen Schwellenwerten) für Unternehmenszusammenschlüsse und für die Be-
teiligung an öffentlichen Vergabeverfahren sowie ein allgemeines Prüfinstrument
(ohne Schwellenwerte) für alle anderen Marktsituationen und für Zusammenschlüsse
und öffentliche Vergabeverfahren vorgesehen. Die Europäische Kommission verfügt
schliesslich über weitreichende Möglichkeiten, Abhilfemassnahmen zu ergreifen.
Zum Verhältnis der Drittstaatensubventionsverordnung zu den mit der EU verhandel-
ten Beihilfebestimmungen siehe Ziffer 2.2.5.4 Überwachungssysteme (Zwei-Pfeiler-
Ansatz).
2.2.5
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der völkerrechtlichen
Beihilfebestimmungen
Die völkerrechtlichen Beihilfebestimmungen regeln einerseits das direkt anwendbare
materielle Beihilfeverbot mit diversen ebenfalls direkt anwendbaren Ausnahmen, an-
dererseits die Grundpfeiler des Überwachungsverfahrens. Zudem sehen die Bestim-
mungen einen speziellen Konsultationsmechanismus für Entwicklungen, die wichtige
Interessen betreffen, sowie für die EU-Industriepolitik vor. Soweit die Beihilfebestim-
mungen nichts Spezielles vorsehen, sind die institutionellen Bestimmungen (s. Ziff.
2.1.6) im Grundsatz auch auf die völkerrechtlichen Beihilfebestimmungen anwend-
bar. Hinsichtlich der Streitbeilegung liegt insoweit eine Besonderheit vor, als die völ-
kerrechtlichen Beihilfebestimmungen spezifische Anforderungen an die jeweiligen
Überwachungssysteme stellen. Dies hat zur Konsequenz, dass – solange die Beihilfe-
überwachungssysteme nach Artikel 4 der Beihilfeprotokolle respektive Artikel 14 des
Stromabkommens ein gleichwertiges Überwachungs- und Anwendungsniveau sicher-
stellen – eine konkrete Beihilfe nicht im Rahmen des institutionellen Streitbeilegungs-
mechanismus überprüft werden kann. Ein allfälliger Schiedsspruch hat zudem keine
Auswirkung auf das Urteil eines schweizerischen Gerichtes bezüglich der Zulässig-
keit einer in der Schweiz gewährten Beihilfe.
2.2.5.1
Zielsetzung und allgemeine Grundsätze der
völkerrechtlichen Beihilfebestimmungen
Präambel: Die völkerrechtlichen Beihilferegeln zielen darauf ab, die Beteiligung der
Schweiz und ihrer Unternehmen in den Bereichen des Binnenmarktes der Europäi-
schen Union, in denen die Schweiz auf der Grundlage des jeweiligen Abkommens
teilnimmt, weiter zu stärken und zu vertiefen. Die Vertragsparteien anerkennen, dass
107 / 931
das ordnungsgemässe Funktionieren und die Homogenität des Binnenmarktes in den
durch das jeweilige Abkommen erfassten Bereichen einheitliche Wettbewerbsbedin-
gungen zwischen Unternehmen aus der Schweiz und der EU erfordern. Um einheitli-
che Wettbewerbsbedingungen innerhalb des Binnenmarktes zu gewährleisten, sollen
staatliche Beihilfen auf der Grundlage von materiell- und verfahrensrechtlichen Vor-
schriften geregelt werden, die im Hinblick auf diese Zielsetzungen mit denjenigen
Beihilfevorschriften gleichwertig sind, die die EU auf der Grundlage der Artikel 93,
106, 107 und 108 AEUV anwendet (Gleichwertigkeit). Die Autonomie der Vertrags-
parteien sowie die Rolle und Zuständigkeiten ihrer Institutionen bleiben zu achten.
Insbesondere sind auch die Grundsätze, die sich aus der schweizerischen Verfassungs-
ordnung ergeben, zu respektieren. Diese umfassen neben den ausdrücklich erwähnten
Grundsätzen der direkten Demokratie, der Gewaltenteilung und des Föderalismus
auch Grundsätze der Gleichbehandlung und der schweizerischen Wirtschaftsverfas-
sung.
Artikel 1 der beiden Beihilfeprotokolle respektive Artikel 12 des Stromabkommens
hält die Zielsetzung der völkerrechtlichen Beihilfebestimmungen fest, einheitliche
Wettbewerbsbedingungen zwischen Unternehmen aus der Schweiz und der EU in den
unter die Abkommen fallenden Bereichen des Binnenmarktes und das ordnungsge-
mässe Funktionieren des Binnenmarktes durch die Festlegung materiell- und verfah-
rensrechtlicher Vorschriften über staatliche Beihilfen zu gewährleisten.
2.2.5.2
Verhältnis zu den bestehenden Abkommen
Artikel 2 der beiden Beihilfeprotokolle regelt das Verhältnis der Beihilfebestimmun-
gen in den Beihilfeprotokollen zu den bestehenden LandVA und LuftVA. Genau wie
die jeweiligen institutionellen Zusatzprotokolle bilden die Beihilfeprotokolle einen
integralen Bestandteil des jeweiligen Abkommens. Sie lassen den Geltungsbereich
und die Zielbestimmungen der bestehenden Abkommen unberührt. Das Verhältnis
des Beihilfeteils zum Stromabkommen wird dem entsprechend in Absatz 2 des Arti-
kels 12 des Stromabkommens festgehalten: Auch hier berühren die Beihilfebestim-
mungen den Geltungsbereich und die Zielbestimmungen des Stromabkommens nicht.
Im LuftVA werden die bestehenden Beihilfebestimmungen in den Artikeln 13 und 14
durch das Beihilfeprotokoll aufgehoben (s. auch Ziff. 2.2.8.4). Artikel 12 Absatz 2
des LuftVA findet auf das Beihilfeprotokoll-LuftVA keine Anwendung, weil eine ent-
sprechende Ausnahme im Artikel 3 Absatz 5 des Protokolls vorgesehen ist. Die insti-
tutionellen Elemente (s. Ziff. 2.1) sind auch auf die Beihilfeprotokolle und auf den
Beihilfeteil im Stromabkommen anwendbar, soweit nichts anderes geregelt ist.
2.2.5.3
Beihilfedefinition, Grundsatz und Ausnahmeregeln
Artikel 3 der beiden Beihilfeprotokolle respektive Artikel 13 des Stromabkommens
entsprechen weitgehend dem Artikel 107 AEUV. Der jeweilige Absatz 1 enthält die
Beihilfedefinition und das grundsätzliche Beihilfeverbot. Gemäss dieser Bestimmung
sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen der Schweiz oder eines
EU-Mitgliedstaates mit dem ordnungsgemässen Funktionieren des Binnenmarktes
unvereinbar, wenn sie durch die Begünstigung von bestimmten Unternehmen oder
Produktionszweigen den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen und den
Handel zwischen den Vertragsparteien im Geltungsbereich des jeweiligen Abkom-
mens beeinträchtigen können. Abweichend von Artikel 107 Absatz 1 AEUV (s.
108 / 931
Ziff. 2.2.4) erfordert der Tatbestand einer staatlichen Beihilfe eine mögliche Beein-
trächtigung des Handels zwischen den Vertragsparteien im Geltungsbereich des je-
weiligen Abkommens. Aufgrund des sektoriellen Ansatzes der Binnenmarktabkom-
men sind die Voraussetzungen in Artikel 3 Absatz 1 – im Unterschied zu Artikel 107
Absatz 1 AEUV – auf den Wettbewerb zwischen Unternehmen und deren Tätigkeiten
zu reduzieren, die vom Geltungsbereich der jeweiligen Abkommen erfasst sind. Diese
engere Auslegung steht im Einklang mit der allgemeinen Zielsetzung der völkerrecht-
lichen Beihilfebestimmungen, die insbesondere in der Präambel und in Artikel 1 der
beiden Beihilfeprotokolle respektive des Artikels 12 des Stromabkommens zum Aus-
druck gebracht wird. Diese zielen darauf ab, einheitliche Wettbewerbsbedingungen
zwischen Unternehmen aus der Schweiz und der EU in den durch das jeweilige Ab-
kommen erfassten Bereichen des Binnenmarkts zu gewährleisten, mithin die Teil-
nahme der Schweiz und ihrer Unternehmen am Binnenmarkt der EU zu stärken und
zu vertiefen. Diese Auslegung wird im Kontext weiterer Bestimmungen, insbesondere
der Artikel 3 Absatz 6 der Beihilfeprotokolle respektive des Artikels 13 Absatz 6 des
Stromabkommens, nochmals bekräftigt. Demnach finden die völkerrechtlichen Bei-
hilfebestimmungen keine Anwendung, sofern der gewährte Beihilfebetrag an ein ein-
zelnes Unternehmen für Tätigkeiten im Geltungsbereich der jeweiligen Abkommen
die De-minimis-Schwelle nicht übersteigt. Vorbehalten bleiben gemäss Absatz 1 wei-
tere abweichende Regelungen der jeweiligen Abkommen.
Die Absätze 2 und 3 enthalten sodann die Ausnahmen zum Grundsatz des Beihilfe-
verbots. Die Ausnahmebestimmungen entsprechen weitgehend den in den Absätzen 2
und 3 des Artikels 107 AEUV vorgesehenen Regelungen. Unter den im Absatz 2 vor-
gesehenen Ausnahmen gelten Beihilfen von Gesetzes wegen als mit dem ordnungs-
gemässen Funktionieren des Binnenmarktes vereinbar, wenn es sich um Beihilfen so-
zialer Art an einzelne Verbraucher handelt. Dies, sofern sie ohne Diskriminierung
nach der Herkunft der Waren gewährt werden. Desgleichen sind Beihilfen zur Besei-
tigung von Schäden, die durch Naturkatastrophen oder sonstige aussergewöhnliche
Ereignisse entstanden sind, mit dem ordnungsgemässen Funktionieren des Binnen-
marktes vereinbar. Im Beihilfeprotokoll-LandVA ist zudem eine für den Landver-
kehrsbereich besondere gesetzliche Ausnahme vorgesehen, die – dem Artikel 93
AEUV entsprechend – Beihilfen erfasst, die den Erfordernissen der Koordinierung
des Verkehrs oder der Abgeltung bestimmter mit dem Begriff des öffentlichen Diens-
tes zusammenhängender Leistungen dienen.
Gemäss den in Absatz 3 vorgesehenen Ermessensausnahmen, kann die zuständige
Überwachungsbehörde weitere Kategorien staatlicher Beihilfen als vereinbar mit dem
ordnungsgemässen Funktionieren des Binnenmarktes ansehen. Das Ermessen liegt bei
der gemäss Artikel 4 der Beihilfeprotokolle respektive Artikel 14 des Stromabkom-
mens zuständigen Überwachungsbehörde der jeweiligen Partei. Zwar sind die Stel-
lungnahmen der Schweizer Überwachungsbehörde unverbindlich, jedoch wird die
Einschätzung der Fachbehörde einen Einfluss auf die Entscheidung des Beihilfege-
bers haben. Zudem hat die Überwachungsbehörde, wo nötig, in der Folge ihre Auf-
fassung mit Beschwerde durchzusetzen beziehungsweise der gerichtlichen Prüfung zu
unterziehen. Die Ausnahmen erfassen Beihilfen, die der Förderung der wirtschaftli-
chen Entwicklung von Gebieten dienen, in denen die Lebenshaltung aussergewöhn-
lich niedrig ist oder eine erhebliche Unterbeschäftigung herrscht. Ebenso können Bei-
hilfen, die wichtige Vorhaben fördern, die von gemeinsamem europäischem Interesse
109 / 931
oder von gemeinsamem Interesse der Vertragsparteien sind, sowie Beihilfen zur Be-
hebung einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftsleben der Schweiz oder eines EU-
Mitgliedstaats als mit dem ordnungsgemässen Funktionieren des Binnenmarkts ver-
einbar angesehen werden. Eine Ermessenausnahme ist weiter für Beihilfen vorgese-
hen, welche die Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige oder Wirtschaftsgebiete
fördern, soweit sie die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern, die dem
gemeinsamen Interesse der Vertragsparteien zuwiderläuft. Ebenso können Beihilfen
zur Förderung der Kultur und der Erhaltung des kulturellen Erbes gerechtfertigt wer-
den, soweit sie die Handels- und Wettbewerbsbedingungen nicht in einem Mass be-
einträchtigen, das dem gemeinsamen Interesse der Vertragsparteien zuwiderläuft.
Die Vertragsparteien können weitere Beihilfen oder Beihilfekategorien bestimmen,
die unter die jeweilige Legal- respektive Ermessensausnahme fallen. Abschnitt A des
jeweiligen Anhangs I der beiden Beihilfeprotokolle respektive des Anhangs III des
Stromabkommens führt diesbezüglich sektorspezifische Massnahmen, die im Sinne
des Absatzes 2 mit dem ordnungsgemässen Funktionieren des Binnenmarktes verein-
bar sind (Legalausnahmen). Abschnitt B des Anhangs I der beiden Beihilfeprotokolle
respektive des Anhangs III des Stromabkommens führt die Liste von Beihilfearten,
die im Sinne des Absatzes 3 als mit dem ordnungsgemässen Funktionieren des Bin-
nenmarkts vereinbar angesehen werden können (Ermessensausnahmen). Absatz 7
sieht vor, dass der Gemischte Ausschuss die Abschnitte A und B des jeweiligen An-
hangs anpassen kann. Das bedeutet, der Gemischte Ausschuss kann abweichend von
den übrigen vorgesehenen Ausnahmen und auch abweichend vom EU-Recht weitere
Legal- und Ermessensausnahmen in den Anhang aufnehmen. Diese Bestimmung bil-
det nicht zuletzt das Pendant zu Artikel 108 Absatz 2 Unterabsatz 3 AEUV, der es
dem Rat der EU ermöglicht, vom übrigen Beihilferecht abweichend Beihilfen als mit
dem Binnenmarkt vereinbar zu beschliessen.
Absatz 4 hält fest, dass Beihilfen, welche die materiellrechtlichen Bedingungen der
im Abschnitt C des Anhangs I der beiden Beihilfeprotokolle respektive des An-
hangs III des Stromabkommens aufgeführten Bestimmungen erfüllen, mit dem ord-
nungsgemässen Funktionieren des Binnenmarktes vereinbar vermutet werden und
von der im jeweiligen Beihilfeprotokoll respektive Beihilfeabschnitt vorgesehenen
Anmeldepflicht befreit sind. Demgegenüber sind die im Abschnitt C des jeweiligen
Anhangs enthaltenen verfahrensrechtlichen Bedingungen, die auf die Überwachung
und Durchsetzung der Beihilfevorschriften abzielen, nach Massgabe des schweizeri-
schen Überwachungssystems im Sinne der Artikel 4 Absätze 1 und 3, Artikel 5, Arti-
kel 6 Absatz 1 und Artikel 7 des Protokolls festgelegten Vorschriften und Verfahren
zu erfüllen. Aus diesem Grund beziehen sich die Verweise unter Abschnitt C lediglich
auf die Kapitel I und III der AGVO, im Anhang I des Beihilfeprotokolls-LuftVA und
im Anhang III des Stromabkommens auf Artikel 1 bis 6 des Beschlusses der Europä-
ischen Kommission über die Anwendung von Artikel 106 AEUV
82
sowie im An-
hang I des Beihilfeprotokolls-LandVA auf Artikel 9 der Verordnung (EG)
82
Beschluss der Kommission vom 20. Dezember 2011 über die Anwendung von Artikel 106
Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf staatliche Beihil-
fen in Form von Ausgleichsleistungen zugunsten bestimmter Unternehmen, die mit der Er-
bringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind
(Bekanntgegeben unter Aktenzeichen K(2011) 9380), ABl. L 7 vom 11.1.2012, S. 3.
110 / 931
Nr. 1370/2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Strasse
83
.
Den verfahrensrechtlichen Bedingungen in diesen EU-Rechtsakten wird Rechnung
getragen, indem sie gemäss Anhang II der beiden Beihilfeprotokolle respektive An-
hang IV des Stromabkommens Teil des „Massstabs“ für eine gleichwertige Umset-
zung sind. Die Vermutung der Vereinbarkeit einer Beihilfe erlaubt es den Überwa-
chungsbehörden (der Schweiz und der EU) die Anwendung dieser Rechtsakte und die
Einhaltung der darin vorgesehenen Voraussetzungen weiterhin zu überprüfen und –
falls erforderlich – auch nachträglich ein besonderes Verfahren einzuleiten. Sind die
Voraussetzungen der jeweiligen EU-Rechtsakte nicht erfüllt, hätte die Beihilfe ange-
meldet und mitgeteilt werden müssen, womit die Voraussetzungen für ein besonderes
Verfahren erfüllt sind. In der Praxis bedeutet dies, dass die Beihilfe zwar von der unter
Artikel 4 Absatz 3 der beiden Beihilfeprotokolle respektive Artikel 14 Absatz 3 des
Stromabkommens vorgesehenen Anmeldepflicht, dem Durchführungsverbot auf
Bundesebene sowie von der Mitteilungspflicht befreit ist. Die Beihilfe wurde jedoch
nicht bereits als mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt, was nur durch eine Prüfung
der zuständigen Überwachungsbehörde und Gerichte erfolgen kann. Wenn eine Bei-
hilfe, welche die Voraussetzungen der im Abschnitt C Anhang I der beiden Beihilfe-
protokolle respektive des Anhangs III des Stromabkommens aufgeführten Rechtsakte
erfüllt, dennoch bei der Überwachungsbehörde angemeldet wird, ist diese grundsätz-
lich verpflichtet, die Zulässigkeit der Beihilfe zu bestätigen. Die hier vorgesehene
Vereinbarkeitsvermutung spiegelt die Rechtslage im EU-System, in der die AGVO
nicht die gleiche Wirkung entfalten kann wie ein Beschluss der Kommission zur Ge-
nehmigung einer Beihilfe. Weil die Kommission ihrerseits die in den EU-Verträgen
verankerte ausschliessliche Zuständigkeit für die Feststellung der Vereinbarkeit staat-
licher Beihilfen nicht an die EU-Mitgliedstaaten delegieren kann, bleibt auch sie wei-
terhin in der Lage, die Anwendung der AGVO durch die Mitgliedstaaten zu überprü-
fen und – falls erforderlich – eine eigene Entscheidung hinsichtlich der Vereinbarkeit
solcher Beihilfen zu treffen.
Absatz 5 enthält eine Ausnahme für Beihilfen an Unternehmen, die mit Dienstleistun-
gen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind oder den Charakter eines
Finanzmonopols haben. Die Vorschriften der jeweiligen Abkommen mitunter der bei-
den Beihilfeprotokolle respektive des Beihilfeteils gelten nur, soweit deren Anwen-
dung nicht die Erfüllung der diesen Unternehmen übertragenen besonderen Aufgabe
rechtlich oder tatsächlich verhindert. Die Ausnahmeregelung setzt voraus, dass die
Entwicklung des Handelsverkehrs nicht in einem Ausmass beeinträchtigt wird, das
den Interessen der Vertragsparteien zuwiderläuft.
Absatz 6 sieht einen Anwendungsausschluss des jeweiligen Beihilfeprotokolls res-
pektive des Beihilfeteils vor, wonach diese Bestimmungen nicht für Beihilfen gelten,
die unterhalb der im Abschnitt D des Anhangs I der beiden Beihilfeprotokolle respek-
tive des Anhangs III des Stromabkommens definierten Schwellenwerte liegen. Der
83
Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Ok-
tober 2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße und zur Auf-
hebung der Verordnungen (EWG) Nr. 1191/69 und (EWG) Nr. 1107/70 des Rates, ABl. L
315 vom 3.12.2007, S. 1, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2016/2338 des Europäi-
schen Parlaments und des Rates vom 14. Dezember 2016 zur Änderung der Verordnung
(EG) Nr. 1370/2007 hinsichtlich der Öffnung des Marktes für inländische Schienenperso-
nenverkehrsdienste, ABl. L 354 vom 23.12.2016, S. 22.
111 / 931
jeweilige Abschnitt D verweist auf die De-minimis-Definition der De-minimis Ver-
ordnung der Europäischen Union. Der gewährte Betrag bemisst sich unter den Ver-
tragsregelungen jedoch nach dem Betrag, der für Tätigkeiten im Geltungsbereich des
jeweiligen Abkommens für ein einzelnes Unternehmen gewährt wird. Wenn ein Un-
ternehmen sowohl in einem vom Geltungsbereich der Abkommen erfassten Bereich
als auch in einem oder mehreren anderen Bereichen tätig ist, so sind für die Berech-
nung des De-minimis-Betrages nur Beihilfen einzubeziehen, soweit diese für erstere
Tätigkeiten gewährt wurden. Dies setzt voraus, dass durch geeignete Mittel wie die
Trennung der Tätigkeiten oder der Buchführung sichergestellt wird, dass die Tätig-
keiten in den von den Abkommen erfassten Bereichen nicht durch Beihilfen an Tätig-
keiten unterstützt werden, die nicht vom Geltungsbereich der Abkommen erfasst sind.
Beihilfen, welche die Voraussetzungen des Artikel 3 Absatz 6 in Verbindung mit Ab-
schnitt D des Anhangs I der Beihilfeprotokolle respektive Artikel 13 Absatz 6 in Ver-
bindung mit Abschnitt D des Anhangs III des Stromabkommens erfüllen, sind auch
als Beihilfen anzusehen, die nicht sämtliche Voraussetzungen des Artikels 3 Absatz 1
der Beihilfeprotokolle respektive Artikel 13 Absatz 1 des Stromabkommens erfüllen.
2.2.5.4
Überwachungssysteme (Zwei-Pfeiler-Ansatz)
Artikel 4 der beiden Beihilfeprotokolle respektive Artikel 14 des Stromabkommens
enthalten die Bestimmungen über die Überwachungssysteme der Vertragsparteien.
Absatz 1 stellt die Verpflichtung an die Vertragsparteien auf, die Anwendung der völ-
kerrechtlichen Vorschriften über staatliche Beihilfen in ihrem jeweiligen Hoheitsge-
biet für die im einleitenden Artikel niedergelegten Zwecke zu überwachen. Für die
Schweiz hat diese Überwachung im Einklang mit den verfassungsmässigen Zustän-
digkeitsordnungen zu erfolgen (s. Ziff. 2.2.11.1 f.).
Absatz 2 sieht vor, dass die EU ihre Vertragspflichten umsetzt, indem sie ihr beste-
hendes Beihilfeüberwachungssystem gemäss den Artikeln 93, 106, 107 und 108
AEUV, sowie den allgemeinen und sektorspezifischen, materiellen und verfahrens-
rechtlichen Beihilfevorschriften, beibehält und anwendet. Die jeweilige Ziffer 1 im
Abschnitt A des Anhangs II der beiden Beihilfeprotokolle respektive des Anhangs IV
des Stromabkommens führen die Listen der Unionsrechtsakte im Bereich der staatli-
chen Beihilfen sowie weitere Unionsrechtsakte über staatliche Beihilfen, die den je-
weiligen Sektor betreffen.
Absatz 3 sieht vor, dass die Schweiz ihrerseits ihre Vertragspflichten umsetzt, indem
sie innerhalb einer Frist von fünf Jahren nach Inkrafttreten des jeweiligen Beihilfe-
protokolls respektive des Stromabkommens ein System zur Überwachung staatlicher
Beihilfen schafft und unterhält, welches für die Zwecke einheitlicher Wettbewerbsbe-
dingungen in den vom jeweiligen Abkommen erfassten Bereichen des Binnenmarkts
jederzeit ein Mass an Überwachung und Durchsetzung gewährleistet, das dem in der
Europäischen Union gemäss Absatz 2 angewandten System gleichwertig ist.
Das Beihilfeüberwachungssystem umfasst die innerstaatlich umzusetzenden Beihilfe-
überwachungsverfahren und Transparenzvorschriften, die für die Überwachung zu-
ständigen innerstaatlichen Überwachungs- und Justizbehörden, sowie die unmittelbar
anwendbaren materiellrechtlichen Beihilfebestimmungen (insb. Art. 3 Beihilfeproto-
kolle und Art. 13 Stromabkommen). Die jeweilige Ziffer 2, Abschnitt A des An-
112 / 931
hangs II der beiden Beihilfeprotokolle respektive des Anhangs IV des Stromabkom-
mens, wiederholen das Erfordernis der Gleichwertigkeit in Bezug auf die dort aufge-
führten Unionsrechtsakte und dem in Artikel 4 Absatz 2 aufgeführten EU-
Primärrecht. Diese Gleichwertigkeitsanforderung ist daher auch im Lichte von An-
hang II zu betrachten, der in Abschnitt A Punkt 2 vorsieht, dass die Schweiz ein Über-
wachungssystem einführt und aufrechterhält, das dem von der EU gemäss den in Ab-
schnitt A Punkt 1 genannten Rechtsakten vorgesehenen System gleichwertig ist. Die
Gleichwertigkeit ist daher so zu verstehen, dass die Schweiz verpflichtet ist, in ihrem
innerstaatlichen Recht ein Beihilfeüberwachungsverfahren einzuführen, mit dem die
gleichen Ergebnisse erzielt werden wie in der EU durch das in Absatz 2 genannte
Primärrecht und die in Anhang II Abschnitt A Punkt 1 genannten Rechtsakte. Gemäss
Abschnitt B des Anhangs II der beiden Beihilfeprotokolle respektive des Anhangs IV
des Stromabkommens berücksichtigen die Überwachungs- und die zuständigen Jus-
tizbehörden der Schweiz zudem die relevanten Leitlinien und Mitteilungen, die für
die Europäischen Kommission in ihrem Überwachungssystem verbindlich sind, sowie
deren Entscheidungspraxis gebührend. Vorbehaltlich der Vertragsbestimmungen be-
folgen sie die Leitlinien und Mitteilungen in der Einzelfallbeurteilung so weit wie
möglich, um ein gleichwertiges Überwachungs- und Durchsetzungsniveau im Sinne
des Artikel 4 Absatz 3 der Beihilfeprotokolle respektive Absatz 3 des Artikels 14 des
Stromabkommens, zu gewährleisten. Die Europäische Kommission hat dem Ge-
mischten Ausschuss die Leitlinien und Mitteilungen mitzuteilen, die sie im Rahmen
des jeweiligen Abkommens als relevant erachtet. Die Relevanz dieser Leitlinien und
Mitteilungen unterliegt gemäss Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe a der beiden Beihilfe-
protokolle respektive Artikel 17 Absatz 2 Buchstabe a des Stromabkommens der
Konsultation zwischen den Vertragsparteien. Die Überwachungsbehörden veröffent-
lichen die von ihnen angewandten Leitlinien und Mitteilungen (s. Art. 6 Abs. 2
Bst. d).
Die Buchstaben a und b zu Absatz 3 präzisieren institutionelle und verfahrensrechtli-
che Anforderungen an ein gleichwertiges schweizerisches Überwachungssystem. So
werden die Errichtung und Unterhaltung einer unabhängigen Überwachungsbehörde
vorausgesetzt (Bst. a). Gemäss Buchstabe b sind innerstaatliche Verfahren vorzuse-
hen, die gewährleisten, dass die schweizerische Überwachungsbehörde die Verein-
barkeit der Beihilfen mit dem ordnungsgemässen Funktionieren des Binnenmarktes
überprüft. Diese Überprüfung umfasst:
–
eine vorherige Anmeldung von geplanten Beihilfen bei der Überwachungs-
behörde (Unterabsatz i; s. Art. 6 ff. VE-BHÜG);
–
die Prüfung der angemeldeten Beihilfen sowie die Befugnis zur Prüfung
nicht angemeldeter Beihilfen durch die Überwachungsbehörde (Unterab-
satz ii; s. 3. und 4. Kapitel VE-BHÜG);
–
die Anfechtung von Beihilfen, welche die Überwachungsbehörde als mit
dem ordnungsgemässen Funktionieren des Binnenmarktes als unvereinbar
ansieht, vor der zuständigen Justizbehörde (s. 5. Kapitel VE-BHÜG);
113 / 931
–
ab dem Zeitpunkt der Anfechtbarkeit der betroffenen Beihilfemassnahme
die Sicherstellung der aufschiebenden Wirkung (Unterabsatz iii; s. Art. 39
Abs. 1 VE-BHÜG); und
–
die Rückforderung, einschliesslich Zinsen, von gewährten Beihilfen, die mit
dem ordnungsgemässen Funktionieren des Binnenmarktes als unvereinbar
befunden wurden (Unterabsatz iv; s. 6. Kapitel VE-BHÜG).
Absatz 4 klärt sodann, dass die Unterabsätze iii (Anfechtung) und iv (Rückerstattung)
von Absatz 3 Buchstabe b im Einklang mit der verfassungsmässigen Kompetenzord-
nung der Schweiz nicht für Akte der Schweizer Bundesversammlung oder des
Schweizerischen Bundesrates gelten (s. Ziff. 2.2.11.2 und Art. 39 Abs. 2 VE-BHÜG).
Absatz 5 hält jedoch fest, dass in Fällen, in denen die schweizerische Überwachungs-
behörde eine Beihilfe der Bundesversammlung oder des Bundesrates aufgrund ihrer
verfassungsmässig begrenzten Kompetenzen nicht selbst anfechten kann, sie die An-
wendung dieser Beihilfe durch andere Behörden in jedem konkreten Fall anfechten
muss. Das bedeutet, dass die Überwachungsbehörde der Schweiz gegen Umsetzungs-
beihilfen, die gestützt auf von ihr als unzulässig beurteilten Beihilferegelungen der
Bundesversammlung oder des Bundesrates gewährt werden, Beschwerde erheben
muss. Im Rahmen dieser Beschwerdeverfahren soll dann vorfrageweise auch die Bei-
hilferegelung der Bundesversammlung oder des Bundesrates überprüft werden (kon-
krete Normenkontrolle; s. Art. 37 Abs. 2 VE-BHÜG). Diese Pflicht einer (dezentra-
len) Verwaltungsbehörde zur Herbeiführung einer konkreten Normkontrolle von
Erlassen, die von der Bundesversammlung oder dem Bundesrat ausgearbeitet wurden,
stellt ein Novum in der Schweizer Rechtsordnung dar. Stellt die zuständige Beschwer-
deinstanz in solchen Fällen fest, dass die Beihilfe mit dem ordnungsgemässen Funk-
tionieren des Binnenmarktes unvereinbar ist, so berücksichtigen die zuständigen
schweizerischen Justiz- und Verwaltungsbehörden diesen Entscheid bei der Beurtei-
lung von bei ihnen anhängigen Fällen. Diese Pflicht geht nicht über die in der Schweiz
übliche Berücksichtigung von Präjudizien hinaus.
Der in Artikel 4 vorgesehene Zwei-Pfeiler-Ansatz und die entsprechenden verfahrens-
rechtlichen Eckpfeiler, die jede Partei auf ihrem Territorium umsetzen muss, führen
dazu, dass bereits beihilferechtlich geprüfte Sachverhalte nicht erneut durch die an-
dere Vertragspartei überprüft werden dürfen. Dies wird beispielsweise auch aus den
Begleitmaterialien zur Drittstaatensubventionsverordnung deutlich.
84
2.2.5.5
Bestehende Beihilfen
Artikel 5 der beiden Beihilfeprotokolle respektive Artikel 15 des Stromabkommens
sehen ein separates Verfahren für bestehende Beihilfen vor (s. Erläuterungen zu Art.
44 ff. und 56 des VE-BHÜG in Ziff. 2.2.7). Bestehende Beihilfen unterliegen nicht
dem in Absatz 3 Buchstabe b der jeweiligen Artikel 4 der Beihilfeprotokolle respek-
tive des Artikels 14 des Stromabkommens vorgesehenen Überwachungsverfahren
84
Commission Staff Working Document Initial clarifications on the application of Article
4(1), Article 6 and Article 27(1) of Regulation (EU) 2022/2560 on foreign subsidies dis-
torting the internal market, SWD(2024) 201 final, 26.7.2024: «More generally, where cer-
tain positive effects on the internal market have been acknowledged under the EU State aid
rules, such positive effects would likely be taken into account in the assessment under
Regulation (EU) 2022/2560».
114 / 931
(Abs. 1). Zu den bestehenden Beihilfen zählen bestehende Beihilferegelungen, Um-
setzungsbeihilfen und Ad-hoc-Beihilfen, die vor und innerhalb von fünf Jahren nach
Inkrafttreten des jeweiligen Protokolls respektive des Stromabkommens gewährt wer-
den (Abs. 2) und auch nach deren Inkrafttreten noch anwendbar sind. Änderungen
bestehender Beihilferegelungen, die Auswirkungen auf die Vereinbarkeit der Beihilfe
mit dem ordnungsgemässen Funktionieren des Binnenmarktes haben, gelten als neue
Beihilfe und unterliegen dem in Artikel 4 Absatz 3 Buchstabe b der jeweiligen Bei-
hilfeprotokolle respektive dem Artikel 14 Absatz 3 Buchstabe b des Stromabkom-
mens vorgesehenen Beihilfeüberwachungsverfahren. Das bedeutet, bis zur Errichtung
des Beihilfeüberwachungssystems besteht noch keine Möglichkeit, die Zulässigkeit
von Beihilfen zu überprüfen.
Absatz 3 sieht vor, dass die schweizerische Überwachungsbehörde sich innerhalb von
zwölf Monaten nach der Einführung des Überwachungssystems einen Überblick über
bestehende Beihilfen verschaffen wird, die im Geltungsbereich der jeweiligen Ab-
kommen gewährt wurden und noch in Kraft sind. Sie nimmt eine vorläufige Einschät-
zung der Beihilferegelungen («
prima facie assessment
») anhand der in Artikel 3 der
Beihilfeprotokolle respektive Artikel 13 des Stromabkommens vorgesehenen Krite-
rien vor. In den Verhandlungen wurde explizit kommuniziert, dass der erstellte Über-
blick nicht mit der Europäischen Kommission zu teilen ist, um die Unabhängigkeit
der schweizerischen Beihilfeüberwachung (Zwei-Pfeiler-Ansatz) zu gewährleisten.
Es können einzig die Folgen von Rechtsentwicklungen oder anderen sich verändern-
den Umständen für die fortlaufende Prüfung bestehender Beihilferegelungen bespro-
chen werden (s. Ziff. 2.2.5.7).
Absatz 4 sieht vor, dass alle bestehenden Beihilferegelungen in der Schweiz von der
Überwachungsbehörde nach Massgabe der in den Absätzen 5-7 vorgesehenen Best-
immungen fortlaufend auf ihre Vereinbarkeit mit dem ordnungsgemässen Funktionie-
ren des Binnenmarktes überprüft werden. Ist die Überwachungsbehörde der Auffas-
sung, dass eine im Geltungsbereich der jeweiligen Abkommen bestehende
Beihilferegelung nicht oder nicht mehr mit dem ordnungsgemässen Funktionieren des
Binnenmarkts vereinbar ist, so informiert sie die zuständigen Behörden (Beihilfege-
ber) über die Verpflichtung zur Einhaltung des entsprechenden Protokolls respektive
des Beihilfeteils im Stromabkommen (Abs. 5). Die zuständigen Behörden informie-
ren die Überwachungsbehörde ihrerseits über jede Änderung oder die Aufhebung ei-
ner solchen Beihilferegelung. Erachtet die Überwachungsbehörde die Änderungen der
zuständigen Behörden als geeignet, um die Vereinbarkeit der Beihilferegelung mit
dem ordnungsgemässen Funktionieren des Binnenmarktes zu gewährleisten, so ver-
öffentlicht sie die vorgeschlagenen Massnahmen (Abs. 6). Wenn die Überwachungs-
behörde zur Auffassung gelangt, dass die Beihilferegelung weiterhin mit dem ord-
nungsgemässen Funktionieren des Binnenmarkts unvereinbar ist, so veröffentlicht die
Überwachungsbehörde ihre Stellungnahme und erhebt Beschwerde gegen die Anwen-
dung dieser Beihilferegelung im Einzelfall gemäss Artikel 4 Absatz 3 Buchstabe b
Ziffer iii und Artikel 4 Absatz 5 der jeweiligen Beihilfeprotokolle respektive gemäss
Artikel 14 Absatz 3 Buchstabe b Ziffer iii und Artikel 14 Absatz 5 des Stromabkom-
mens (konkrete Normenkontrolle).
115 / 931
2.2.5.6
Transparenz
Artikel 6 Absatz 1 der beiden Beihilfeprotokolle respektive Absatz 1 des Artikels 16
des Stromabkommens enthalten Vorgaben an die Transparenz hinsichtlich Beihilfen,
die im Gebiet der jeweiligen Vertragspartei gewährt werden. Dies auf der Grundlage
von materiell- und verfahrensrechtlichen Vorschriften, die den in der EU für staatliche
Beihilfen im Geltungsbereich des Abkommens geltenden Vorschriften gleichwertig
sind. Absatz 2 präzisiert den Massstab für gleichwertige Transparenzvorschriften.
Konkret haben die Vertragsparteien die Veröffentlichung folgender Angaben zu ge-
währleisten: a) gewährte Beihilfen; b) Stellungnahmen oder Entscheidungen ihrer
Überwachungsbehörden; c) Entscheidungen ihrer zuständigen Justizbehörden betref-
fend die Vereinbarkeit der Beihilfen mit dem ordnungsgemässen Funktionieren des
Binnenmarktes; und d) die von ihren jeweiligen Überwachungsbehörden gemäss Ar-
tikel 7 Absatz 2 Buchstabe a der jeweiligen Beihilfeprotokolle respektive Artikel 17
Absatz 2 Buchstabe a des Stromabkommens angewandten Leitlinien und Mitteilun-
gen.
2.2.5.7
Modalitäten der Zusammenarbeit und Konsultationen
Artikel 7 der beiden Beihilfeprotokolle respektive Artikel 17 des Stromabkommens
sehen vor, dass die Vertragsparteien im Bereich der staatlichen Beihilfen zusammen-
arbeiten und dazu Informationen austauschen, soweit ihr internes Recht und die ver-
fügbaren Mittel dies zulassen (Abs. 1). Zum Zweck einer einheitlichen Umsetzung,
Anwendung und Auslegung der materiellen Regeln über staatliche Beihilfen und einer
harmonischen Fortentwicklung dieser Regeln arbeiten die Vertragsparteien zusam-
men und konsultieren einander in Bezug auf die relevanten Leitlinien und Mitteilun-
gen, auf die in Abschnitt B des Anhangs II der beiden Beihilfeprotokolle respektive
des Anhangs IV des Stromabkommens Bezug genommen wird (Abs. 2 Bst. a). Die
Überwachungsbehörden der Vertragsparteien treffen zudem Vereinbarungen über ei-
nen regelmässigen Informationsaustausch, inklusive Informationen, die für die Beur-
teilung bestehender Beihilfen von Bedeutung sind. Dies dürfte insbesondere sich ver-
ändernde Umstände betreffen, was für die laufende Beurteilung der Vereinbarkeit
bestehender Beihilferegelungen relevant sein könnte.
Artikel 8 der beiden Beihilfeprotokolle respektive Artikel 18 des Stromabkommens
regeln die Konsultation zwischen den Vertragsparteien im jeweiligen Gemischten
Ausschuss im Zusammenhang mit der Umsetzung der jeweiligen Beihilfeprotokolle-
LandVA und -LuftVA respektive des Beihilfeteils im Stromabkommen (Abs. 1). Im
Falle von Entwicklungen, die wesentliche Interessen einer Vertragspartei betreffen
und sich auf die Funktionsweise des jeweiligen Protokolls respektive des Beihilfeteils
auswirken können, sieht Absatz 2 vor, dass der Gemischte Ausschuss auf Verlangen
einer Vertragspartei innerhalb von 30 Tagen auf geeigneter hochrangiger Ebene zu-
sammentritt, um über die Angelegenheit zu beraten.
Eine gemeinsame Erklärung hält weiter fest, dass die Schweiz Konsultationen bean-
tragen kann, wenn die Europäische Kommission selbst eine finanzielle Unterstützung
gewährt, die den Wettbewerb durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder
der Produktion bestimmter Güter verfälscht oder zu verfälschen droht und den Handel
zwischen den Vertragsparteien im Rahmen des Abkommens beeinträchtigt. Diese Er-
116 / 931
klärung bezweckt, der Schweiz einen Anknüpfungspunkt zu geben, allfällige indust-
riepolitische Massnahmen der EU zu adressieren, welche ihrerseits nicht unter die
völkerrechtlichen Beihilfebestimmungen fallen.
2.2.5.8
Integration von EU-Rechtsakten in die Beihilfeanhänge
Artikel 9 der beiden Beihilfeprotokolle respektive Artikel 19 des Stromabkommens
enthalten eine spezifische Bestimmung betreffend die Integration von neuen EU-
Rechtsakten im Bereich der Beihilfebestimmungen. Konkret erfolgt die Integration
neuer EU-Rechtsakte in diesem Bereich gemäss einem speziellen Äquivalenzmecha-
nismus (vgl. Art. 3 Abs. 4 und 6 und Art. 4 Abs. 2 und 3 Beihilfeprotokoll respektive
Art. 13 Abs. 4 und 6 und Art. 14 Abs. 2 und 3 Stromabkommen), und nicht gemäss
Artikel 5 der institutionellen Zusatzprotokolle respektive Artikel 27 des Stromabkom-
mens. Dass das schweizerische Beihilfeüberwachungssystem teilweise umgesetzt
wird und teilweise aus unmittelbar anwendbaren völkerrechtlichen Beihilfebestim-
mungen besteht, ist mitunter der Grund dafür, dass eine besondere Übernahmeme-
thode für Rechtsakte im Bereich staatlicher Beihilfen vorgesehen wird. Der Umfang
und die rechtliche Einbettung der Verweise auf EU-Rechtsakte werden jeweils spezi-
fisch in den Bestimmungen geklärt, auf die in Artikel 9 Absatz 1 der beiden Beihilfe-
protokolle respektive in Artikel 19 des Stromabkommens verwiesen wird. Das kon-
krete Integrationsverfahren via den Gemischten Ausschuss bleibt unverändert (s.
Ziffer 2.1).
2.2.5.9
Schlussbestimmungen
Das Inkrafttreten der beiden Beihilfeprotokolle ist an das Inkrafttreten des Stabilisie-
rungsteils des Pakets Schweiz–EU geknüpft. Dies wird in Artikel 10 der beiden Bei-
hilfeprotokolle festgehalten. Artikel 11 der beiden Beihilfeprotokolle, der Bestim-
mungen zur Anpassung und Beendigung der beiden Beihilfeprotokolle enthält, ist
wortgleich mit den entsprechenden Bestimmungen der beiden institutionellen Zusatz-
protokolle zu diesen Abkommen. Es wird auf die dortigen Ausführungen verwiesen
(s. Ziff. 2.1.6.6).
2.2.6
Grundzüge des Beihilfeüberwachungsgesetzes
2.2.6.1
Beihilfeüberwachungsgesetz
Das VE-BHÜG setzt die Verpflichtungen der Schweiz aus den Protokollen über staat-
liche Beihilfen zum LuftVA und LandVA sowie dem Beihilfeteil des Stromabkom-
mens um. Konkret soll es das Verfahren zur Überwachung staatlicher Beihilfen des
Bundes, der Kantone und der Gemeinden im Rahmen der relevanten Binnenmarktab-
kommen regeln. Es handelt sich mithin um ein Gesetz mit detaillierten verfahrens-
rechtlichen Bestimmungen in Anlehnung an die entsprechenden Verfahrensregeln der
EU.
Der VE-BHÜG soll wichtige und grundlegende Vorschriften im Sinne von Arti-
kel 164 Absatz 1 BV enthalten. Sie sind auf eine Vielzahl von Situationen anwendbar,
haben erhebliche finanzielle Auswirkungen und sind für die Organisation der Behör-
den ausschlaggebend (s. Ziff. 2.2.10.1 und 2.2.10.2). Für die Kantone werden diese
117 / 931
Bestimmungen neue Aufgaben im Zusammenhang mit der Umsetzung einer Beihil-
fenüberwachung sowie neue Verpflichtungen bei der Umsetzung des Bundesrechts
einführen. Zu diesen neuen Verpflichtungen gehören die Anmeldung von geplanten
Beihilfen sowie die Mitteilung von beihilfegewährenden Entscheiden und Erlassen an
die Überwachungsbehörde, als auch die Transparenzvorschriften bezüglich der von
ihnen gewährten Beihilfen. Folglich muss ein solcher normativer Akt in Form eines
Bundesgesetzes erlassen werden.
Der VE-BHÜG ist in zehn Kapitel strukturiert, die jeweils einen wichtigen Baustein
des schweizerischen Beihilfeüberwachungssystems abbilden (s. auch Ziff. 2.2.7):
Verhältnis zum Stabilisierungs- und Weiterentwicklungsteil des Pakes Schweiz
–
EU
Es besteht die Möglichkeit, dass das BHÜG nur für die Bereiche Land- und Luftver-
kehr in Kraft treten wird; und zwar falls der Stabilisierungsteil des Pakets Schweiz–
EU angenommen, aber das Stromabkommen als Teil des Weiterentwicklungsteils ab-
gelehnt wird. Die umgekehrte Situation ist nicht möglich. Dies wird voraussichtlich
mittels Koordinationsbestimmungen zu lösen sein. Für die Zwecke der Vernehmlas-
sung werden die das Stromabkommen betreffenden Teile der Bestimmungen im VE-
BHÜG in eckigen Klammern dargestellt.
2.2.6.2
Verworfene Alternativen
Als Alternativen zu einem neuen Bundesgesetz wurden Anpassungen im Subventi-
onsgesetz vom 5. Oktober 1990
85
(SuG) sowie im Binnenmarktgesetz vom 6. Oktober
1995
86
(BGBM) erwogen und verworfen.
Das SuG regelt geldwerte Vorteile, die Empfängern ausserhalb der Bundesverwaltung
gewährt werden, um die Erfüllung einer vom Empfänger gewählten Aufgabe zu för-
dern oder zu erhalten (Finanzhilfen) sowie Leistungen an Empfänger ausserhalb der
Bundesverwaltung zur Milderung oder zum Ausgleich von finanziellen Lasten, die
85
SR
616.1
86
SR
943.02
118 / 931
sich aus der Erfüllung von bundesrechtlich vorgeschriebenen Aufgaben oder öffent-
lich-rechtlichen Aufgaben ergeben (Abgeltungen). Finanzhilfen und Abgeltungen im
Sinne des SuG sind jedoch nicht notwendigerweise staatliche Beihilfen. Denn das
SuG gilt für alle im Bundesrecht vorgesehenen Finanzhilfen und Abgeltungen, ohne
ihre Auswirkungen auf den Wettbewerb zu berücksichtigen. Im Gegensatz zur Rege-
lung von staatlichen Beihilfen hat das SuG auch keinen wettbewerbspolitischen Hin-
tergrund, sondern stellt eine haushaltsrechtliche bzw. finanzpolitische Rahmenrege-
lung dar. Aus diesen Gründen ist das SuG für die Aufnahme von Regeln für staatliche
Beihilfen nicht der geeignete Erlass.
Das BGBM garantiert wiederum allen Personen mit Sitz oder Niederlassung in der
Schweiz einen freien und diskriminierungsfreien Marktzugang, damit sie in der gan-
zen Schweiz eine Erwerbstätigkeit ausüben können. Auf Ebene der Kantone ent-
spricht das BGBM im Grundsatz der Idee der Personen- und Dienstleistungsfreizü-
gigkeit des EU-Rechts zwischen den EU-Mitgliedsstaaten. Ebenso wie im EU-Recht
bedarf die Einführung einer solchen Freizügigkeit – zumindest aus ökonomischer
Sicht – zugleich einer Kontrolle staatlicher Beihilfen, um diese Rechte auch effektiv
wahrnehmen zu können. Daher hielt bereits die Botschaft zum BGBM von 1994
87
fest, dass «in Reaktion auf die Schaffung des Binnenmarktes Schweiz kein Rückgriff
auf vermehrte Subventionen und auf exzessive Steuererleichterungen eintreten darf».
Damals wurde jedoch aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken (allenfalls fehlende
Bundeskompetenz) auf eine Regulierung staatlicher Beihilfen der Kantone verzichtet.
Zwischenzeitlich wurde die Bundesverfassung totalrevidiert.
88
Jedenfalls die aktuelle
Bundesverfassung steht einer Regulierung der kantonalen Beihilfen durch den Bund
grundsätzlich nicht entgegen (s. Ziff. 2.2.11.2.2). In der Teilrevision des BGBM von
2005
89
wurde dennoch darauf verzichtet, eine Kontrollmöglichkeit für wettbewerbs-
verzerrende kantonale und kommunale Beihilfen einzuführen. Auch das VE-BHÜG
sieht keine sektorübergreifende Überwachung der Beihilfen der Kantone vor, sondern
erfasst nur die Sektoren Luftverkehr, Landverkehr und Strom. Die vorgesehene Bei-
hilfeüberwachung ist sodann primär auf den Schutz einheitlicher Wettbewerbsbedin-
gungen zwischen den Unternehmen der EU und der Schweiz in diesen Sektoren aus-
gerichtet, auch wenn sie auch einen Beitrag zu einem einheitlichen schweizerischen
Wirtschaftsraum leistet (s. Ziff. 2.2.11.2.2). Schliesslich erfordert diese Ausrichtung
auch eine Überwachung der Beihilfen auf Bundesebene, das BGBM ist aber bisher
primär auf Beschränkungen des freien und gleichberechtigten Marktzugangs durch
die Kantone ausgerichtet.
Es wurde auch eine Anpassung der Bundesverfassung erwogen. Dies könnte den
Handlungsspielraum des Bundes für das VE-BHÜG erweitern: Wenn beispielsweise
dem Bund, ähnlich wie im Kartellrecht, für die Beihilfeüberwachung eine umfassende
Bundeskompetenz eingeräumt würde, wären dem Bund weitergehende Eingriffe in
die kantonale Organisations- und Verfahrensautonomie möglich. Damit könnte das
Beihilfeüberwachungsverfahren näher an dem der EU ausgestaltet werden. Es könnte
etwa für kantonale Beihilfen vorgesehen werden, dass diese nur mit der Zustimmung
87
BBl
1995
I 1213, S. 1281
88
Vgl. Botschaft vom 20. Nov. 1996 über eine neue Bundesverfassung. BBl 1997 I 1.
89
BBl
2005
465, S. 477
119 / 931
(rechtlich verbindlicher Entscheid) der Überwachungsbehörde gewährt werden dür-
fen. Bis zum Entscheid der Überwachungsbehörde könnte auch für kantonale Beihil-
fen ein Durchführungsverbot vorgesehen werden. Zudem könnte gegen die Ent-
scheide der Überwachungsbehörde ein direkter Rechtsmittelweg an ein Gericht des
Bundes vorgesehen werden. Weil die Entscheide der Überwachungsbehörde lediglich
in Anwendung von Bundesrecht ergehen würden (Vereinbarkeit der geplanten Bei-
hilfe mit dem Beihilferecht), würde es genügen, wenn die Rechtsmittelinstanz die
Verletzung von Bundesrecht prüfen könnte. Im VE-BHÜG kann die Überwachungs-
behörde dagegen nur rechtlich unverbindliche Stellungnahmen abgeben. Gegen die
Stellungnahme kann somit auch kein Rechtsmittel erhoben werden. Anfechtungsob-
jekt ist vielmehr die kantonale Beihilfe, welche auch in Anwendung von kantonalem
Recht ergeht (insb. die Rechtsgrundlage für die Gewährung der Beihilfe wird i. d. R.
kantonalrechtlich sein). Dementsprechend muss die Rechtsmittelinstanz auch die Ver-
letzung von kantonalem Recht prüfen können, was einen direkten Rechtsmittelweg an
ein Gericht des Bundes bei kantonalen Beihilfen verunmöglicht.
Die Anpassung der Bundesverfassung wurde jedoch verworfen. Der Bundesrat hat in
seinem Mandat zu den Verhandlungen mit der EU vom 8. März 2024 ausdrücklich
vorgegeben, dass die Regeln zu Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen
sowie die Gewaltenteilung, inklusive Artikel 190 BV, zu respektieren sind. Eine An-
passung der Bundesverfassung würde auch einen Eingriff in die kantonale Organisa-
tions- und Verfahrensautonomie konstituieren, welcher nicht absolut zwingend not-
wendig ist, um den Zweck des Gesetzes und der Beihilfeprotokolle sowie des
Beihilfeteils des Stromabkommens zu erreichen. Deshalb soll ein Beihilfeüberwa-
chungssystem in der Schweiz innerhalb bestehender verfassungsrechtlicher Schran-
ken eingeführt werden.
Exkurs: Rechtsmittel ans Bundesverwaltungsgericht bei kantonalen Beihilfen
Ein einheitliches direktes Beschwerderecht an das Bundesverwaltungsgericht auch für
kantonale Beihilfen war ursprünglich ein Anliegen der Kantone. Damit sollte ein auf-
wändiger Kompetenzaufbau im Beihilferecht vermieden werden und das Verfahren
möglichst schlank gehalten werden. Schliesslich wurde diese Option aber aus den fol-
genden Gründen verworfen:
Der Rechtsmittelweg bei Beschwerden gegen kantonale Akte richtet sich nach dem
kantonalen Recht. Der Bund kann den Kantonen keinen bestimmten Beschwerdeweg
vorschreiben oder gar eine direkte Beschwerde an ein Bundesgericht vorsehen und
somit die kantonale Verwaltungsrechtspflege und Verwaltungsgerichtsbarkeit aus-
schliessen. Zwar könnte der Bund den Kantonen den direkten Rechtsmittelweg an das
Bundesverwaltungsgericht auf freiwilliger Basis ermöglichen. Dies stösst aber auf
schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken. Gemäss Artikel 191
b
Absatz 1 BV
sind die Kantone verpflichtet, für die Beurteilung von öffentlich-rechtlichen Streitig-
keiten richterliche Behörden zu bestellen. Diese Verpflichtung gilt in allen Bereichen,
in welchen die Kantone für die Rechtsanwendung zuständig sind. Ein Verzicht der
Kantone auf ihre Gerichtsbarkeit ist somit aus verfassungsrechtlicher Sicht grundsätz-
lich problematisch.
120 / 931
Zudem können auch weitere Beschwerdeberechtigte (bspw. Konkurrenten) Be-
schwerde gegen Beihilfen erheben. Diese müssen, im Gegensatz zur Überwachungs-
behörde, alle Rechtsverletzungen geltend machen können, so insbesondere auch Ver-
letzungen des kantonalen Rechts. In Frage kommen insbesondere die Verletzung der
Rechtsgrundlage für die Beihilfe (insb. der Voraussetzungen und Modalitäten der Bei-
hilfegewährung), sodann die Verletzung der kantonalen Querschnittsregelungen für
Beihilfen (analog zum SuG auf Bundesebene). Die Rechtsmittelinstanz muss somit
kantonale Beihilfen nicht nur auf ihre Vereinbarkeit mit dem Bundesrecht, sondern
auch auf ihre Vereinbarkeit mit dem kantonalen Recht prüfen können (Rechtswegga-
rantie, Art. 29
a
BV). Wenn ein direkter Rechtsmittelweg an das Bundesverwaltungs-
gericht bestünde, hätte dies deshalb zwingend eine der folgenden beiden Varianten
zur Folge. (1) Die Beschwerdegründe vor dem Bundesverwaltungsgericht (Art. 49
VwVG
90
in Verbindung mit Art. 37 VGG
91
) müssten auf die Verletzung von kanto-
nalem Recht ausgedehnt werden. (2) Es müsste eine Spaltung des Rechtsmittelwegs
nach den Beschwerdegründen vorgesehen werden: Die Verletzung von kantonalem
Recht müsste im kantonalen Rechtsmittelsystem, die Verletzung des Beihilferechts
vor dem Bundesverwaltungsgericht geltend gemacht werden.
Eine Erweiterung der Beschwerdegründe vor dem Bundesverwaltungsgericht auf die
Verletzung von kantonalem Recht wäre kaum mit der Autonomie der Kantone
(Art. 47 BV) vereinbar. Die Anwendung und Auslegung kantonalen Rechts sind
grundsätzlich Sache der Kantone.
92
Die Erweiterung der Beschwerdegründe würde
auch grosse praktische Probleme mit sich bringen. So wäre das Bundesverwaltungs-
gericht beispielsweise verpflichtet, die Einhaltung der 26 verschiedenen kantonalen
Rechtsordnungen zu prüfen. Diese Variante ist daher abzulehnen.
Eine Spaltung des Rechtsmittelwegs ist aus Sicht eines effektiven Rechtsschutzes und
aufgrund zahlreicher, schwer zu lösender Probleme in der Umsetzung ebenfalls nicht
erstrebenswert. Für die Rechtsunterworfenen ist eine Spaltung mit einer erhöhten Ge-
fahr des Rechtsverlusts (Anrufung der falschen Rechtsmittelinstanz mit unterschied-
lichen Beschwerdefristen, Vorbringen und Begründung der Beschwerdegründe im
falschen Rechtsmittelverfahren) und bei Beschreitung des Rechtsweges mit einem er-
höhten Aufwand verbunden. Ein schlankes Verfahren kann damit nicht erreicht wer-
den.
Schliesslich wäre bei einem direkten Rechtsmittelweg an das Bundesverwaltungsge-
richt zu beachten, dass dieser lediglich eine freiwillige Möglichkeit für die Kantone
darstellen kann. Dementsprechend müsste ein kohärentes Rechtsmittelsystem sowohl
auf Kantone, welche von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, als auch auf Kantone,
welche dies nicht tun, ausgerichtet sein. Das Funktionieren und die Kohärenz des
Rechtsmittelsystems wären schliesslich in erheblichem Umfang von der Ausgestal-
tung im kantonalen Recht abhängig. Entsprechend hat der Bundesrat im VE-BHÜG
90
SR
172.021
91
SR
173.32
92
Vgl. dazu sowie zu den Ausnahmen Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege
vom 28. Feb. 2001, BBl 2001 4202, hier 4335.
121 / 931
den üblichen Rechtsweg über die kantonalen Gerichte vorgesehen. Nicht ausgeschlos-
sen ist dabei, dass sich die Kantone über ein Konkordat auf ein gemeinsames Gericht
einigen.
2.2.6.3
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
Der Schutz des Wettbewerbs vor Verzerrungen durch Beihilfen erfordert eine Form
der Überwachung, die durch eine unabhängige Behörde analog zur EU sichergestellt
werden muss. Um die Verhältnismässigkeit der Überwachung sicherzustellen, sollen
sich oft wiederholende oder kleinere Fälle, welche den Wettbewerb kaum signifikant
verzerren sollten, in einem geringeren Rahmen überwacht werden. Dies wird jeweils
durch Gruppenfreistellungs- beziehungsweise die De-minimis-Regulierung (s.
Ziff. 2.2.4 und 2.2.5.3) sichergestellt.
Die (unverbindliche) Aufsichtsrolle soll durch eine Überwachungsbehörde auf Bun-
desebene erfüllt werden, um die Verfahrenseffizienz sicherzustellen. Theoretisch
könnten die Aufgaben je nach Kanton und für den Bund durch 27 verschiedene Be-
hörden erfüllt werden. Angesichts der geringen Anzahl erwarteter Fälle (s.
Ziff. 2.2.10) und zur Bildung einer einheitlichen Praxis wäre eine solche Lösung sehr
ineffizient, da die Fachexpertise sowie administrative Unterstützung jeweils separat
aufgebaut werden müssten.
Auch eine Trennung der Überwachungsbehörde für die drei Sektoren wäre ineffizient.
Es kann auch nicht sichergestellt werden, dass in jedem relevanten Sektor (etwa Luft-
fahrt) eine zuständige Regulierungsbehörde besteht. Zudem wäre die einheitliche An-
wendung des Beihilferechts und somit die Rechtssicherheit gefährdet.
Zudem soll die Überwachungsbehörde unabhängig sein, weshalb diese öffentliche
Aufgabe weder durch die Zentralverwaltung erfüllt noch an eine Organisation oder
Person des privaten Rechts übertragen werden kann. Wichtig ist insbesondere die Un-
abhängigkeit der Überwachungsbehörde vom Bundesrat, der Bundesverwaltung und
den Kantonen, da sie jeweils auch ein Interesse an der Zulässigkeit ihrer Beihilfen
haben (s. Erläuterungen zu Art. 3 VE-BHÜG in Ziff. 2.2.7).
2.2.6.4
Umsetzungsfragen
Das vorliegende Gesetz sieht verschiedene Pflichten im Zusammenhang mit der Bei-
hilfeüberwachung vor, welche auch die kantonalen Behörden betrifft, die Beihilfen
gewähren möchten. Sie werden zukünftig einer Anmeldepflicht, einer Mitteilungs-
pflicht sowie Zustellungs- und Berichterstattungspflichten unterliegen.
Die Kantone können Vorprüfstellen einrichten, welche die Anmeldung der Vorhaben
von kantonalen Behörden übernehmen und unter Umständen auch für weitere Pflich-
ten zumindest eine koordinierende Funktion haben könnten.
Das Beschwerdeverfahren gegen kantonale Beihilfen richtet sich grundsätzlich nach
dem kantonalen Verwaltungsverfahrensrecht, jedoch sind zusätzlich die Verfahrens-
bestimmungen des VE-BHÜG zu beachten. Vorgesehen ist beispielsweise eine ein-
heitliche Beschwerdefrist für die Überwachungsbehörde von 30 Tagen oder eine aus-
drückliche Regelung der Wirksamkeit und aufschiebenden Wirkung.
122 / 931
2.2.6.5
Verordnungen sowie Publikationen der
Überwachungsbehörde
Die technischen Fragen im Zusammenhang mit der Beihilfeüberwachung werden auf
Verordnungsstufe (z. B. Organisationsverordnung vom 14. Juni 1999
93
für das Eid-
genössische Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung) geregelt.
Auf Stufe Departementsverordnung des Eidgenössischen Departement für Wirtschaft,
Bildung und Forschung (WBF) werden folgende Elemente geregelt:
–
Modalitäten bei signifikanten Änderungen,
–
Modalitäten zum Anmeldungsverfahren,
–
Das Formular für Konkurrenten im Rahmen von Art. 21 VE-BHÜG,
–
Festlegung eines Zinssatzes im Zusammenhang mit Rückforderungen,
–
Modalitäten zur summarischen Berichterstattung,
–
Modalitäten zur Veröffentlichung der Beihilfen und Stellungnahmen inner-
halb einer Datenbank.
Auf Stufe des Bundesrates wird das folgende Element geregelt:
–
Die Festsetzung der Gebühren für die Beratung.
Als Beispiel für eine ähnliche Verfahrensverordnung kann die kartellrechtlichen Ver-
ordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen dienen (s. Verord-
nung vom 17. Juni 1996
94
über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen).
Der Überwachungsbehörde beziehungsweise den Wettbewerbsbehörden wird grund-
sätzlich Autonomie bei der detaillierten Gestaltung ihrer internen Organisation sowie
gewissen Veröffentlichungen eingeräumt (Ausnahme nach Art. 3 Absätze 1–3 VE-
BHÜG). Dazu werden Formulare und Merkblätter gehören, zum Beispiel für die An-
meldung und Beurteilung von Beihilfen, oder Erläuterungen und Bekanntmachungen
zu formalen Fragen. In jedem Fall wird das Geschäftsreglement zumindest vom Bun-
desrat genehmigt, wie dies heute bei der WEKO der Fall ist.
Im Vergleich dazu kann die Europäische Kommission im EU-Recht
95
Durchführungs-
vorschriften (vergleichbar zu Verordnungen) zu folgenden Punkten erlassen: (1)
Form, Inhalt und andere Einzelheiten von Anmeldungen, (2) Form, Inhalt und andere
Einzelheiten von Jahresberichten, (3) Form, Inhalt und andere Einzelheiten zu Be-
schwerden Dritter und deren Würdigung durch die Europäischen Kommission, (4)
Einzelheiten zu den Fristen und zur Festlegung der Fristen und (5) die Zinssätze (s.
dazu auch die Ausführungen zu Art. 41 Abs. 2 VE-BHÜG).
93
SR
172.216.1
94
SR
251.4
95
Vgl. Art. 22 der EU-Verordnung (EU) 2015/1589.
123 / 931
2.2.7
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des
Beihilfeüberwachungsgesetzes
Ingress
Der Bund kann sich beim Erlass des VE-BHÜG für die Überwachung von Beihilfen
des Bundes auf die inhärente Organisationskompetenz des Bundes (Art. 173 Abs. 2
BV) sowie für die Überwachung von Beihilfen der Kantone auf die Artikel 95 Ab-
satz 2 Satz 1, 54 Absatz 1, 101 Absatz 1 BV und ergänzend auf die sektorspezifischen
Bundeskompetenzen gemäss den Artikeln 87 und 92 Absatz 1 BV stützen. Die detail-
lierten Ausführungen zur Verfassungsgrundlage befinden sich in Ziffer 2.2.11.1.
Mit diesem Gesetz werden die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz aus
den beiden Beihilfeprotokollen respektive dem Beihilfeteil des Stromabkommens um-
gesetzt (s. Ziff. 2.2.5). Folglich muss im vorliegenden Gesetz das Beihilfeüberwa-
chungsverfahren geregelt werden. Mit der Umsetzung der Beihilfeüberwachung in
den von den völkerrechtlichen Verpflichtungen im Bereich des Beihilferechts umfass-
ten Sektoren behalten beziehungsweise erhalten die Schweizer Unternehmen Zugang
zu den Bereichen des Binnenmarkts, an denen die Schweiz teilnimmt. Zudem soll der
VE-BHÜG einen Beitrag zu einem einheitlichen schweizerischen Wirtschaftsrahmen
und zum Schutz des Wettbewerbs leisten. Im Gegensatz zum Kartellgesetz vom
6. Oktober 1995
96
(KG) fokussiert es sich dabei konkret auf die Verhinderung der
schädlichen Auswirkungen von staatlichen Beihilfen.
1. Kapitel: Allgemeine Bestimmungen
Art. 1
Gegenstand und Geltungsbereich
Abs. 1
Der sachliche Geltungsbereich des Vorentwurfs ist auf Beihilfen an Unternehmen,
welche im Geltungsbereich der drei bilateralen Binnenmarktabkommen der Schweiz
mit der EU tätig sind, beschränkt (s. Ziff. 2.2.5.3). Die drei Binnenmarktabkommen
umfassen die Bereiche Land- und Luftverkehr sowie Strom. Konkret setzt der VE-
BHÜG die Verpflichtung in Artikel 4 der beiden Beihilfeprotokolle zu diesen Ab-
kommen sowie in Artikel 14 des Stromabkommens um.
97
Dabei wird der sogenannte
«Zwei-Pfeiler-Ansatz» für das Schweizer Beihilfeüberwachungssystem umgesetzt:
Die direkt anwendbaren materiell-rechtlichen Vorgaben der völkerrechtlichen Beihil-
febestimmungen entsprechen weitgehend dem Beihilferecht der EU
98
. Die Schweiz
führt aber ihr eigenes, gleichwertiges Beihilfeüberwachungssystem ein. Sie legt die
verwendeten EU-Rechtsbegriffe einheitlich aus und wendet diese einheitlich an, so-
weit die völkerrechtlichen Bestimmungen nicht vom EU-Recht abweichen (s.
Ziff. 2.2.5.3).
96
SR
251
97
Art. 4 Abs. 1 und 3 i.V.m Art. 1 der beiden Beihilfeprotokolle respektive Art. 14 Abs. 1
und 3 i.V.m. Art. 11 des Stromabkommens.
98
Insbesondere Art. 93, 106 Absatz 2, 107, 108 und 109 AEUV und die Unionsrechtsakte im
Bereich der staatlichen Beihilfen sowie weitere Unionsrechtsakte über staatliche Beihilfen,
die den jeweiligen Sektor betreffen.
124 / 931
Das Überwachungssystem wird einheitliche Wettbewerbsbedingungen zwischen
Schweizer und EU-Unternehmen gewährleisten, die im Geltungsbereich der Abkom-
men tätig sind. Durch die VE-BHÜG geregelte Beihilfeüberwachung beschränkt sich
auf den Wettbewerb zwischen Unternehmen, die in der Schweiz und/oder in der EU
tätig sind. Die Beihilfedefinition in den Beihilfeprotokollen respektive dem Stromab-
kommen setzt unter anderem eine Verzerrung des Wettbewerbs sowie eine Beein-
trächtigung des Handels zwischen der Schweiz und der EU im Geltungsbereich der
betreffenden Abkommen voraus (s. Ziff. 2.2.5.3). Im Lichte der EuGH-Rechtspre-
chung können diese Voraussetzungen auch dann erfüllt sein, wenn Beihilfen an aus-
schliesslich in der Schweiz tätige Unternehmen gewährt werden, die sich potenziell
(jedoch nicht rein hypothetisch) auf den zwischenparteilichen Handel und den Wett-
bewerb in den erfassten Bereichen des Binnenmarkts auswirken. Grundsätzlich kön-
nen demnach auch Beihilfen, die den Wettbewerb im Binnenmarkt der Schweiz ver-
zerren, Gegenstand der Beihilfeüberwachung sein, sofern die Beihilfen an
Unternehmen für Tätigkeiten gewährt werden, die unter den Geltungsbereich der Ab-
kommen fallen
(s. Ziff. 2.2.11.1).
Der Geltungsbereich des VE-BHÜG umfasst somit ausschliesslich Beihilfen, die den
Handel zwischen der Schweiz und der EU im Geltungsbereich der Abkommen beein-
trächtigen. Dies umfasst auch allfällige Beihilfen von Schweizer Beihilfegebern an
EU-Unternehmen, soweit diese den Handel zwischen der Schweiz und der EU im
Geltungsbereich der Abkommen beeinträchtigen. Beihilfen von Schweizer Beihilfe-
gebern an Unternehmen, welche den Handel zwischen der Schweiz und der EU im
Geltungsbereich der Abkommen nicht beeinträchtigen (z. B. im Rahmen einer Ex-
portrisikoversicherung für Tätigkeiten ausserhalb der EU), unterstehen nicht der
Schweizer Beihilfeüberwachung. Denn der allfällige beeinträchtigte Handel wäre
nicht vom Geltungsbereich der Abkommen erfasst.
Abs. 2
Allgemeiner Teil
Die Merkmale einer Beihilfe werden im vorliegenden Gesetz aus dem Artikel 3 der
Beihilfeprotokolle respektive Artikel 13 des Stromabkommens übernommen (s.
Ziff. 2.2.5.3). Die in diesen Artikeln verwendeten Definitionen entsprechen weitest-
gehend der Beihilfedefinition im EU-Recht im Sinne von Artikel 107 AEUV.
Der VE-BHÜG gilt für Beihilfen, welche aus staatlichen Mitteln gleich welcher Art
gewährt werden und den Wettbewerb verfälschen beziehungsweise zu verfälschen
drohen, indem bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige begünstigt werden,
sofern sie den Handel zwischen der Schweiz und der EU innerhalb des Geltungsbe-
reiches der Abkommen nach Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG beeinträchtigen.
Aus der Beihilfedefinition ergeben sich mehrere Voraussetzungen: Staatliche Her-
kunft der Mittel, Unternehmen als Empfänger, Begünstigung, Selektivität, die Verfäl-
schung des Wettbewerbs und die Beeinträchtigung des Handels. Diese werden im Fol-
genden einzeln erläutert. Wenn sämtliche dieser Voraussetzungen erfüllt sind, sind sie
mit dem ordnungsgemässen Funktionieren des Binnenmarktes grundsätzlich unver-
einbar. Die beihilferechtlichen Bestimmungen der völkerrechtlichen Verträge enthal-
ten aber eine Vielzahl an Rechtfertigungsmöglichkeiten, die das grundsätzliche Ver-
bot in der Praxis stark relativieren (s. Ziff. 2.2.5.3).
125 / 931
Staatliche Herkunft der Mittel
Eine Beihilfe muss dem Staat zugerechnet werden können, das heisst von staatlichen
Organen beziehungsweise Trägern von öffentlichen Aufgaben gewährt werden. Sie
muss zudem unmittelbar oder mittelbar aus staatlichen Mitteln gewährt werden. Wäh-
rend unmittelbar aus staatlichen Mitteln gewährte Vorteile aus öffentlichen Mitteln
beziehungsweise Mitteln des öffentlichen Sektors oder sonstigen öffentlichen Ein-
richtungen stammen, kann der Staat bei mittelbar aus staatlichen Mitteln gewährten
Vorteilen auf diese zugreifen beziehungsweise diese kontrollieren. Die Übertragung
staatlicher Mittel kann verschiedene Formen annehmen, wie zum Beispiel direkte Zu-
schüsse, Darlehen, Garantien, Beteiligungen am Kapital von Unternehmen, Sachleis-
tungen, steuerlichen Beihilfen sowie Schuldenerlasse.
Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG unterscheidet wie die Artikel 3 der Beihilfeprotokolle
respektive Artikel 13 des Stromabkommens zwischen «staatliche[n] oder aus staatli-
chen Mitteln gewährte Beihilfen». Es ist in der Praxis und Rechtsprechung der EU
jedoch anerkannt, dass das «oder» als «und» zu lesen ist. Es handelt sich also um zwei
kumulative Voraussetzungen. Zwar umfasst das Wort «staatlich» im schweizerischen
Recht grundsätzlich bereits alle Träger von öffentlichen beziehungsweise staatlichen
Verwaltungsaufgaben. Neben der klassischen Verwaltung fallen also beispielsweise
auch Private, welche öffentliche (oder staatliche) Aufgaben wahrnehmen, unter den
Begriff «staatlich» (s. dazu auch Art. 2 Abs. 4 des Regierungs- und Verwaltungsor-
ganisationsgesetzes vom 21. März 1997
99
[RVOG] bzw. die Ausführungen zu Art. 2
Bst. a VE-BHÜG). Wird eine staatliche Aufgabe an Private ausgelagert, bleibt sie eine
staatliche Aufgabe, für deren richtige und grundrechtskonforme Erfüllung der Staat
weiterhin Verantwortung trägt. Organisationsform und Natur des Aufgabenträgers
sind somit nicht entscheidend. Es wurden dennoch beide Begriffselemente aufgenom-
men, um sicherzustellen, dass jegliche Konstellation erfasst bleibt und jegliche Ab-
weichungen von den materiellrechtlichen Bestimmungen vermieden wird.
Geldwerte Vorteile, wie nichtrückzahlbare Geldleistungen, Vorzugsbedingungen bei
Darlehen, unentgeltliche oder verbilligte Dienst- und Sachleistungen sowie Abgeltun-
gen zur Milderung oder zum Ausgleich von finanziellen Lasten im Sinne des SuG
können eine Beihilfe darstellen. Der Vorteil, den eine Beihilfe bewirkt, umfasst jegli-
che Art der Belastungsminderung und ist deshalb noch breiter zu verstehen.
100
Eine
Beihilfe kann zudem, wie die Subvention, die Erfüllung einer vom Empfänger ge-
wählten Aufgabe fördern oder Lasten, die sich aus öffentlich Aufgaben ergeben, aus-
gleichen. Dies ist aber im Gegensatz zur Subvention kein Wesensmerkmal der Bei-
hilfe. Bei einer Qualifikation als Subvention spielen hingegen die (potenziellen)
Wirkungen auf den Wettbewerb keine Rolle.
Unternehmen als Empfänger der staatlichen Beihilfe
99
SR
172.010
100
Vgl. bspw. Stephan Breitenmoser/Alain Bai, 2. Teil Abhandlungen / Europarechtlicher
Rahmen für schweizerische Subventionen, in: Schweizerisches Jahrbuch für Europarecht,
2023, S. 395-415, 400 f. sowie Urteil vom 15. März 1994 C-387/92 Banco de Crédito In-
dustrial SA / Ayuntamiento de Valencia, Rn. 12 ff.
126 / 931
Als Beihilfeempfänger kommen nur Unternehmen infrage (s. Erläuterungen zu Art. 2
Bst. b VE-BHÜG). Nach der Rechtsprechung des EuGH umfasst der Begriff des Un-
ternehmens jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ih-
rer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung. Eine wirtschaftliche Tätigkeit liegt
grundsätzlich vor, wenn die Einheit eine Ware oder Dienstleistung auf einem Markt
anbietet. Dabei gilt im europäischen Wettbewerbsrecht ein einheitlicher Unterneh-
mensbegriff. Somit kann in beihilferechtlichen Sachverhalten
tel quel
auf die Praxis
zum kartellrechtlichen Unternehmensbegriff des EU-Rechts zurückgegriffen werden.
Die Legaldefinition des kartellrechtlichen Unternehmensbegriffs gemäss Artikel 2
Absatz 1
bis
KG orientierte sich sehr eng am europäischen Recht. Allerdings ist seit
dem jüngeren Entscheid des EuGH in Sachen
Sumal
101
unklar, inwieweit diese Vor-
bildfunktion in Bezug auf den Schweizer Unternehmensbegriff weiterhin besteht. Un-
ter Produktionszweig ist eine Branche zu verstehen, wobei hier sowohl Waren als
auch Dienstleistungen erfasst werden.
Begünstigung
Durch die Beihilfe muss dem Unternehmen ein wirtschaftlicher Vorteil entstehen, den
es unter normalen Marktbedingungen, das heisst ohne staatliche Intervention, nicht
erhalten hätte. Dabei ist nur die Auswirkung der staatlichen Handlung auf das Unter-
nehmen relevant, nicht jedoch der Grund oder das Ziel der staatlichen Intervention.
Um das Vorliegen eines Vorteils zu beurteilen, muss die finanzielle Situation des Un-
ternehmens nach Gewährung der Beihilfe mit der finanziellen Situation verglichen
werden, die es ohne diese gehabt hätte.
Selektivität
Das Selektivitätskriterium im Rahmen der Beihilfedefinition bezieht sich auf die
Frage ob, eine staatliche Massnahme bestimmte Unternehmen oder Produktions-
zweige bevorzugt und ihnen einen wirtschaftlichen Vorteil verschafft. Eine Mass-
nahme wird als selektiv angesehen, wenn sie nur einzelnen oder einer bestimmten
Gruppe von Unternehmen zugutekommt und damit den Wettbewerb verzerrt. Um als
staatliche Beihilfe zu gelten, muss diese selektive Förderung den Wettbewerb inner-
halb des Geltungsbereichs der Abkommen nach Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG ver-
fälschen oder zu verfälschen drohen (s. Ziff. 2.2.5.3).
Wettbewerbsverfälschung und Beeinträchtigung des Handels
Finanzielle Zuwendungen, die vom Staat gewährt werden, gelten als den Wettbewerb
verfälschend oder dazu drohend, wenn sie den Beihilfeempfänger gegenüber seinen
Wettbewerbern wirtschaftlich besserstellen, das heisst ihm einen Wettbewerbsvorteil
verschaffen können (s. Ziff. 2.2.5.3).
Schliesslich müssen die gewährten Beihilfen den Handel zwischen der Schweiz und
der EU und den Wettbewerb innerhalb des Geltungsbereichs der Abkommen nach
Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG beeinträchtigen respektive verzerren können (s.
Ziff. 2.2.5.3).
Abs. 3
101
EuGH
, ECLI:EU:C:2021:800 –
Sumal
(ECLI:EU:C:2021:800).
127 / 931
Artikel 3 Absatz 6 der Beihilfeprotokolle respektive Artikel 13 Absatz 6 des Strom-
abkommens sehen einen Anwendungsausschluss vor. Danach gelten die Vertragsbe-
stimmungen nicht für Beihilfen, die unter dem sogenannten De-minimis-Schwellen-
wert gewährt wurden.
102
Die EU-Verordnungen
103
zur Freistellung geringfügiger
Beihilfebeträge betreffen Unterstützungsmassnahmen, die von der Beihilfeüberwa-
chung ausgenommen sind («De-minimis-Beihilfen»). Aufgrund ihrer geringen Höhe
wird davon ausgegangen, dass sie keine Auswirkungen auf den Wettbewerb oder den
zwischenstaatlichen Handel haben. Diese Massnahmen erfüllen folglich auch nicht
alle Kriterien des Beihilfebegriffs (Art. 3 Abs. 1 der Beihilfeprotokolle respektive
Art. 13 Abs. 1 des Stromabkommens). Artikel 3 Absatz 6 der Beihilfeprotokolle res-
pektive Artikel 13 Absatz 6 des Stromabkommens schliessen De-minimis-Beihilfen
aber vollständig vom Geltungsbereich der Beihilfeprotokolle respektive des Beihilfe-
teils des Stromabkommens aus. Dementsprechend werden sie auch durch den vorlie-
genden Absatz vom Geltungsbereich des VE-BHÜG ausgeschlossen. Der Schwellen-
wert für solche Beihilfen liegt derzeit
104
bei 300 000 Euro pro Unternehmen über drei
Jahre, wobei in einigen Sektoren abweichende Schwellenwerte gelten können. Der
gewährte Betrag bemisst sich gemäss den Beihilfeprotokollen respektive dem Beihil-
feteil des Stromabkommens nach dem Betrag, der für Tätigkeiten im Geltungsbereich
des jeweiligen Abkommens für ein einzelnes Unternehmen gewährt wird (s.
Ziff. 2.2.5.3). Zur Prüfung, ob der Schwellenwert überschritten wurde, ist der in
Schweizer Franken gewährte Betrag in Euro zu konvertieren. Es gilt der Wechselkurs
am Tag der Beihilfegewährung.
Art. 2
Begriffe
Die aufgelisteten Begriffsdefinitionen dienen dem besseren Verständnis des Gesetzes.
Einige Definitionen wurden unverändert aus dem EU-Recht übernommen, für andere
wurde davon abgewichen, um an der üblichen rechtlichen Terminologie der Schweiz
anzuknüpfen und damit eine bessere Eingliederung in die Schweizer Rechtsordnung
sicherzustellen oder um dem von der EU abweichenden Verfahren der Beihilfeüber-
wachung Rechnung zu tragen. Eine Abweichung vom materiellen Beihilferecht ist
damit nicht verbunden, zumal das VE-BHÜG nur das Verfahren der Beihilfeüberwa-
chung regelt. Bei der Auslegung der einzelnen Begriffe ist im Hinblick auf die Ver-
pflichtung der Schweiz, ein äquivalentes Beihilfeüberwachungssystem zu schaffen,
neben dem materiellen Beihilferecht auch die Rechtsprechung und Praxis der EU zu
berücksichtigen.
102
s. Artikel 3 Absatz 6 i.V.m. Anhang I Abschnitt C des Protokolls respektive Artikel 13
Absatz 6 i.V. m. Anhang III Abschnitt C des Stromabkommens, sowie Ziff. 2.2.5.3 und
2.2.4.
103
Verordnung (EU) Nr. 2023/2831 der Kommission vom 13. Dezember 2023 über die An-
wendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen
Union auf De-minimis-Beihilfen; Verordnung (EU) 2023/2832 der Kommission vom
13. Dezember 2023 über die Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die
Arbeitsweise der Europäischen Union auf De-minimis-Beihilfen an Unternehmen, die
Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erbringen.
104
Neue Verordnung (EU) 2023/2831 der Kommission vom 13. Dezember 2023 über die An-
wendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen
Union auf De-minimis-Beihilfen, in Kraft seit dem 1. Januar 2024.
128 / 931
In der folgenden Tabelle sind die wichtigsten Abweichungen von der EU-
Terminologie dargestellt:
Tabelle 2.2.7 (1): Abweichungen im VE-BHÜG von der beihilferechtlichen Ter-
minologie der EU
Begriff im VE-BHÜG
Begriff im EU-Beihilferecht
Nicht angemeldete bzw. mitgeteilte
Beihilfe
Rechtswidrige Beihilfe
Umsetzungsbeihilfe
Anwendung einer Beihilferege-
lung / Einzelbeihilfe
Einfache Prüfung
Vorläufige Prüfung
Vertiefte Prüfung
Formelles Prüfungsverfahren
Anzeige nach Art. 28 VE-BHÜG
Beschwerde nach Art. 24 Abs. 2
der Verordnung (EU) 2015/1589
Änderungen nach Art. 47 Abs. 1
VE-BHÜG
Zweckdienliche Massnahmen
Bst. a
Als
Beihilfegeber
gilt jede Behörde, welche die Gewährung einer Beihilfe vorbereitet,
eine Beihilfe gewährt, eine Beihilferegelung ausarbeitet oder erlässt. Der Begriff ist
folglich weit und umfasst nicht nur die Behörden, welche am Schluss des Verfahrens
die Beihilfe gewähren. Vielmehr werden alle Behörden erfasst, die für einen Teil des
Erarbeitungs- und Gewährungsprozesses einer Beihilfe verantwortlich sind. Das be-
deutet, dass beispielsweise beim Erlass einer neuen Beihilferegelung oder einer Ad-
hoc-Beihilfe in der Form eines Erlasses unter Umständen mehrere staatliche Stellen
(je nach geltender Organisation) gleichzeitig oder nacheinander unter den Begriff des
Beihilfegebers fallen. So könnte ein entsprechender Erlass zuerst von der Verwaltung
ausgearbeitet und anschliessend vom Parlament verabschiedet werden. Dies bedeutet,
dass die Anmeldepflicht durch die Verwaltung zu erfüllen ist, die Mitteilungspflicht
aber grundsätzlich durch die zuständige Stelle des Parlamentes.
Der Geltungsbereich des BHÜG erstreckt sich in persönlicher Hinsicht auf alle Be-
hörden beziehungsweise Verwaltungseinheiten, die eine Beihilfe im Sinne von Arti-
kel 1 Absatz 2 VE-BHÜG ausarbeiten, gewähren oder erlassen. Da nur staatliche oder
aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen vom Geltungsbereich erfasst sind, kommen
als Beihilfegeber nur staatliche Behörden infrage. Dazu gehören alle Behörden des
Bundes, der Kantone und der Gemeinden. Das BHÜG gilt dabei auch für dezentrale
Behörden sämtlicher Staatsebenen sowie Personen oder Organisationen, denen öffent-
liche Aufgaben anvertraut worden sind (s. für den Bund Art. 2 RVOG). Die Behörde
im Sinne von Artikel 2 Buchstabe a des VE-BHÜG ist folglich – ähnlich wie der Ver-
waltungsbegriff des Verwaltungsverfahrensgesetzes vom 20. Dezember 1968
(VwVG) – funktional zu verstehen (vgl. Art. 1 Abs. 2 VwVG).
129 / 931
Nicht als Beihilfegeber gelten Volk und Stände, die theoretisch im Rahmen einer
Volksinitiative eine Beihilfe gewähren könnten. Entsprechende Beihilfen sind in der
Praxis ohnehin kaum vorstellbar.
Bst. b
Beihilfeempfänger
können ein oder mehrere Unternehmen sein, denen eine Beihilfe
gewährt wird oder gewährt werden soll. Der Marktbezug ist regelmässig dann zu be-
jahen, wenn die Tätigkeit keine rein hoheitliche Aufgabenerfüllung darstellt und
grundsätzlich auch von einem privaten Unternehmen erbracht wird. Indizien hierfür
sind unter anderem die Entgeltlichkeit der Tätigkeit sowie eine Gewinnerzielungs-
möglichkeit; beides ist aber nicht zwingend.
105
Auch Einheiten ohne eigene Rechtspersönlichkeit (bspw. einfache Gesellschaften) so-
wie öffentliche Körperschaften und Einrichtungen (s. für den Bund Art. 6 Abs. 2 und
Abs. 3 der Regierungs- und Verwaltungsorganisationsverordnung vom 25. November
1998
106
[RVOV])) und ihre Regiebetriebe können im beihilferechtlichen Sinne ein
Unternehmen darstellen, wenn sie wirtschaftlich tätig sind.
Bst. c
Beihilferegelungen
sind ein Instrument, das die Beihilfeüberwachung sowohl für Bei-
hilfegeber als auch für die Überwachungsbehörde vereinfachen kann. Indem die Vo-
raussetzungen für die Beihilfegewährung sehr klar und in generell-abstrakter Weise
in einer Beihilferegelung festgelegt werden, muss in der Folge nicht jeder einzelne
darauf gestützte Rechts- oder ausnahmsweise Realakt (Umsetzungsbeihilfen) separat
angemeldet und geprüft werden.
Die Beihilferegelungen bilden das Gegenstück zu den Einzelbeihilfen, zu denen Ad-
hoc-Beihilfen und Umsetzungsbeihilfen gehören (vgl. Erläuterungen zu Art. 2 Bst. d
VE-BHÜG). Es gibt zwei unterschiedliche Kategorien von Beihilferegelungen, die
durch die beiden Ziffern ausgedrückt werden.
Generelle Beihilferegelung (Ziff. 1)
Generelle Beihilferegelungen sind Erlasse, gestützt auf welche ein Beihilfegeber Um-
setzungsbeihilfen gewähren kann, und für die folgenden drei Merkmale zutreffen:
107
–
Es ist eine (gesetzliche) Bestimmung notwendig, die die wesentlichen Ele-
mente der Beihilfe festlegt und gestützt auf welche die Gewährung von ein-
zelnen Umsetzungsbeihilfen möglich ist.
–
Die Gewährung der Umsetzungsbeihilfe erfolgt ohne Entscheidungsspiel-
raum des Beihilfegebers. Dieser folgt lediglich den Kriterien der Beihilfe-
regelung.
105
EuGH, Urteil vom 18.06.1998, Rs. C-35/96, Kommission/Italien, Rn. 36; EuG, Urteil vom
04.03.2003, Rs. T-319/99, FENIN, Rn. 36; MüKo WettbR/Arhold, 4. Aufl. 2022 AEUV
Art. 107 Rn. 498.
106
SR
172.010.1
107
Vgl. z. B. EuG, Urteil vom 14. Februar 2019 Belgien / Kommission, T-131, Rn. 86 ff.
130 / 931
–
Die Beihilfeempfänger sind in der Beihilferegelung generell-abstrakt defi-
niert.
Das bedeutet, dass die Beihilferegelung dem anwendenden Beihilfegeber klare Krite-
rien für die Gewährung vorgeben muss, insbesondere in Bezug auf Höhe, Merkmale
und Bedingungen der Beihilfe. Bei der darauffolgenden Gewährung von Umsetzungs-
beihilfen verfügt der Beihilfegeber mit Bezug auf die wesentlichen Elemente der Bei-
hilfe über keinen Entscheidungsspielraum mehr. In der EU wird der fehlende Ent-
scheidungsspielraum mit dem Ausdruck «ohne nähere Durchführungsmassnahmen»
beschrieben (s. Art. 1 Bst. d Verordnung 2015/1589 der EU). Vielmehr braucht er nur
noch die Beihilferegelung zu vollziehen. In einer generellen Beihilferegelung ist je-
doch noch nicht geregelt, welchen konkreten Unternehmen die Beihilfe gewährt wer-
den soll; diese sind nur generell-abstrakt umschrieben.
Die Gewährung einer Umsetzungsbeihilfe ist eine technische Anwendung eines
Rechtsaktes.
108
Für die Frage, ob ein Entscheidungsspielraum vorliegt oder nicht,
wird die Praxis und Rechtsprechung der EU entscheidend sein. Grundsätzlich können
aber darunter sowohl die Ausübung von Ermessen als auch auslegebedürftige unbe-
stimmte Rechtsbegriffe fallen. Nicht jedes Ermessen oder jeder unbestimmte Rechts-
begriff bedeutet aber sofort einen Entscheidungsspielraum im Sinne dieser Bestim-
mung.
Nicht jede gesetzliche Grundlage für eine Beihilfegewährung ist deshalb eine Beihil-
feregelung. Erlasse stellen keine Beihilferegelung dar, wenn der Beihilfegeber in der
Folge Ermessenspielraum bei der Entscheidung hat, ob im Einzelfall eine Beihilfe
gewährt wird oder hinsichtlich Höhe, Merkmale oder Bedingungen der Beihilfe. Ob
ein Erlass im Einzelfall eine Beihilferegelung darstellt, wird von der Überwachungs-
behörde oder im Falle eines Rechtsmittelverfahrens vom Gericht zu beurteilen sein.
Individuelle Beihilferegelung für bestimmte Unternehmen (Ziff. 2)
Für die Kategorie der individuellen Beihilferegelung gelten grundsätzlich ebenfalls
drei Voraussetzungen:
–
Es ist eine (gesetzliche) Bestimmung notwendig, gestützt auf welche einem
oder mehreren konkret bezeichneten Beihilfeempfängern (Unternehmen)
Umsetzungsbeihilfen gewährt werden können.
–
Die Beihilferegelung darf nicht nur ein bestimmtes Projekt betreffen.
109
–
Die Beihilfe muss für eine unbestimmte Dauer oder für eine unbestimmte
Höhe gewährt werden.
108
Vgl. z. B. Urteil vom 16. September 2021, Commission / Belgique et Magnetrol Internati-
onal, C 337/19 P, ECLI:EU:C:2021:741, Rz. 105: «das Vorliegen näherer Durchführungs-
maßnahmen [impliziert] die Ausübung eines Ermessens seitens der die in Rede stehenden
Massnahmen erlassenden Steuerbehörde, durch das sie die Höhe der Beihilfe, ihre Merk-
male oder die Bedingungen für ihre Gewährung beeinflussen kann. Dagegen stellt die
blosse technische Anwendung der Rechtsakte zur Gewährung der betreffenden Beihilfen
keine „nähere Durchführungsmassnahme“ im Sinne von Art. 1 Buchst. d der Verordnung
2015/1589 dar.».
109
Vgl. z. B. EuG, Urteil vom 19. September 2018, HH Feries et. Al. / Kommission, T-68/15,
Rn. 80 ff.
131 / 931
Im Unterschied zur generellen Beihilferegelung sind die Beihilfeempfänger folglich
nicht generell-abstrakt, sondern konkret bezeichnet. Im Unterschied zur ersten Kate-
gorie schafft eine individuelle Beihilferegelung die rechtliche Grundlage für eine Bei-
hilfegewährung an bestimmte Unternehmen, erfordert jedoch bei der Anwendung eine
Präzisierung hinsichtlich der Dauer oder der Höhe in Form einer Umsetzungsbeihilfe.
Dieser Präzisierungsbedarf unterscheidet die individuelle Beihilferegelung von einer
Ad-hoc-Beihilfe in der Form eines Erlasses. Letztere wird zudem ausschliesslich ein-
mal gewährt.
Beihilfegeber müssen bei dieser Form der Beihilferegelung berücksichtigen, dass Ein-
zelfallgesetze grundsätzlich ausgeschlossen sind. Es ist allerdings möglich, dass ge-
nerell-abstrakte Gesetze auch Bestimmungen mit individuell-konkreter Tragweite
enthalten.
110
Ob diese Form der Beihilferegelung im Schweizer System regelmässig
genutzt wird, wird sich zeigen.
Bst. d
Eine
Einzelbeihilfe
ist eine Beihilfe, die an einen bestimmten Beihilfeempfänger ge-
währt wird. Einzelbeihilfen können in Form einer Umsetzungsbeihilfe oder einer Ad-
hoc-Beihilfe erfolgen. Der Begriff der Einzelbeihilfe ist daher ein Oberbegriff. Er
dient insbesondere der Abgrenzung zu den Beihilferegelungen. Wo eine Differenzie-
rung zwischen den beiden Unterformen nötig ist, ist im Gesetz konkret von Umset-
zungsbeihilfen und Ad-hoc-Beihilfen die Rede.
Die Begriffsbestimmung im Schweizer Recht weicht leicht von derjenigen in Arti-
kel 1 Buchstabe e Verordnung (EU) 2015/1589 ab, welche nur anmeldungspflichtige
(anstatt sämtliche) Beihilfen erfasst, die gestützt auf eine Beihilferegelung gewährt
werden. Die Begriffsbestimmung entspricht jedoch inhaltlich derjenigen in Artikel 2
Absatz 14 Verordnung (EU) 651/2014. Diese breitere Definition ist für die Zwecke
des vorliegenden Gesetzesentwurfs sinnvoller, da somit alle relevanten Beihilfekate-
gorien im Rahmen des VE-BHÜG einheitlich erfasst werden.
Bst. e
Der Begriff der
Umsetzungsbeihilfe
ist ein spezifischer Begriff für das Schweizer Bei-
hilfeüberwachungsverfahren. Das EU-Recht verwendet lediglich den Begriff «Bei-
hilfe»
111
, um diese Kategorie zu definieren. Der Begriff Umsetzungsbeihilfe dient der
Unterscheidung zu Beihilferegelungen und Ad-hoc-Beihilfen. Es handelt sich um eine
Einzelbeihilfe, die gestützt auf eine Beihilferegelung durch einen Rechts- oder aus-
nahmsweise einen Realakt an bestimmte Beihilfeempfänger gewährt wird. Als
Rechtsakt kommt dabei eine Verfügung oder ein öffentlich-rechtlicher Vertrag in-
frage. Umsetzungsbeihilfen müssen nicht mehr angemeldet werden, wenn die Beihil-
feregelung, auf welche sie gestützt sind, bereits beurteilt worden ist (s. Art. 7 Bst. a
VE-BHÜG).
Bst. f
110
Vgl. dazu Bundesamt für Justiz, Gesetzgebungsleitfaden, 5. Aufl., Bern 2025, Rz. 565.
111
Verordnung (EU) Nr. 651/2014 der Kommission vom 17. Juni 2014 zur Feststellung der
Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Binnenmarkt in Anwendung der
Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Art. 2,
Ziff. 14, ii.
132 / 931
Ad-hoc-Beihilfen
sind Einzelbeihilfen, die nicht auf einer Beihilferegelung basieren.
Sie sind individuell-konkret. Sie können grundsätzlich in Form von Verfügungen, öf-
fentlich-rechtlichen Verträgen oder ausnahmsweise als Realakte gewährt werden. In
diesen Fällen haben sie ihre Grundlage in einem Erlass, der dem Beihilfegeber Spiel-
raum bei der Gewährung der Beihilfen gibt und deshalb keine Beihilferegelung dar-
stellt. Eine direkte Abstützung auf verfassungsrechtliche Kompetenzen in ausserge-
wöhnlichen Situationen ist ebenfalls möglich (s. für den Bund etwa Art. 184 Abs. 3
und Art. 185 Abs. 3 BV).
Der Unterschied zwischen einer Umsetzungsbeihilfe und einer Ad-hoc-Beihilfe in der
Form der Verfügung liegt in den jeweiligen rechtlichen Grundlagen: Wenn diese so
ausgestaltet sind, dass der Beihilfegeber keinen Entscheidungsspielraum hinsichtlich
der Höhe, der Merkmale oder der Bedingungen der Beihilfe hat, handelt es sich um
eine Beihilferegelung. In diesem Fall sind die darauf basierenden Einzelbeihilfen als
Umsetzungsbeihilfen zu qualifizieren. Möglich sind allerdings auch individuelle Bei-
hilferegelungen, die an einen oder mehrere Beihilfeempfänger für unbestimmte Zeit
oder in unbestimmter Höhe zu gewährt wird, ohne dass die Beihilfen an ein bestimm-
tes Projekt gebunden sind. Erfüllt die rechtliche Grundlage für eine Beihilfe die Vo-
raussetzungen einer Beihilferegelung nicht, sind die darauf basierenden Einzelbeihil-
fen als Ad-hoc-Beihilfen (in der Regel in der Form der Verfügung) zu betrachten.
Schliesslich ist es nicht absolut ausgeschlossen, dass Ad-hoc-Beihilfen auch in der
Form eines Erlasses gewährt werden. Dies wird jedoch die Ausnahme sein. Der Un-
terschied einer Ad-hoc-Beihilfe in der Form eines Erlasses zu einer individuellen Bei-
hilferegelung liegt darin, dass mit der Ad-hoc-Beihilfe die Beihilfe an ein (oder meh-
rere) Unternehmen gewährt wird, während die Beihilferegelung nur die gesetzliche
Grundlage für die Gewährung darstellt und selber keine Beihilfe gewährt. Bei den Ad-
hoc-Beihilfen in der Form des Erlasses handelt es sich aber ebenfalls um Bestimmun-
gen mit individuell-konkreter Tragweite. Die Grenze zwischen den beiden Beihilfe-
formen ist fliessend. Ein Beispiel für eine solche Ad-hoc-Beihilfe könnte ein Erlass
sein, der einmalige Steuer- oder Schulderlasse beziehungsweise Befreiungen für kon-
krete Beihilfeempfänger regelt. Sowohl die Ad-Hoc Beihilfe in der Form eines Erlas-
ses als auch die individuelle Beihilferegelung werden in der Schweiz selten vorkom-
men, da dies nicht der üblichen Gesetzgebungspraxis entspricht.
Bst. g
Die
beihilferechtlichen Bestimmungen der völkerrechtlichen Verträge
beziehen sich
auf die drei Abkommen, die in Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG zitiert werden. Dazu
gehören die Bestimmungen des Beihilfeprotokolls-LuftVA, des Beihilfeprotokolls-
LandVA [sowie von Teil III des Stromabkommens].
Bst. h
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei der vorliegenden Begriffsdefinition
nicht um eine materielle Bestimmung handelt. Ob eine Beihilfe zulässig oder unzu-
lässig ist, wird in den Beihilfeprotokollen geregelt. Dort wird dafür die Formulierung
«(Un-)Vereinbar mit dem ordnungsgemässen Funktionieren des Binnenmarkts» ver-
wendet. Vorliegend handelt es sich nur um den Verweis auf die entsprechenden Re-
gelungen in den Beihilfeprotokollen sowie dem Stromabkommen und die Einführung
133 / 931
des Kurzbegriffs «zulässig», welche für das vorliegende Gesetz anstelle dieser um-
ständlichen Formulierung verwendet werden kann.
Eine Beihilfe ist
zulässig
, wenn sie mit den beihilferechtlichen Bestimmungen der
völkerrechtlichen Verträge nach Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG zu vereinbaren ist. Ist
die Beihilfe mit diesen Bestimmungen nicht zu vereinbaren, ist sie unzulässig. Das
vorliegende Gesetz nimmt damit das bereits aus dem Kartellgesetz bekannte Begriffs-
paar zulässig/unzulässig auf (s. Art. 5 und 7 KG). Dies erscheint sinnvoll, da die Auf-
gaben der Überwachungsbehörde von den Wettbewerbsbehörden wahrgenommen
werden (s. Art. 3 VE-BHÜG).
2. Kapitel: Überwachungsbehörde
Art. 3
Grundsätze
Abs. 1 bis 3
Die Überwachungsbehörde wird innerhalb der Wettbewerbsbehörden nach dem
1. Abschnitt des 4. Kapitels KG organisiert. Bereits in den exploratorischen Gesprä-
chen hat die Europäische Kommission kommuniziert, dass sie die Voraussetzungen –
insbesondere bezüglich Unabhängigkeit der Institution – bei der WEKO als erfüllt
erachtet, um von einer äquivalenten Überwachung ausgehen zu können.
Zur Überwachung wird eine neue Beihilfekammer innerhalb der Wettbewerbskom-
mission vorgeschrieben. Diese Beihilfekammer behandelt ausschliesslich beihilfe-
rechtliche Fälle. Ihre unverbindliche Stellungnahmen nach den Artikeln 15, 17 Ab-
satz 1, 30 Absatz 2 und 47 Absatz 3 VE-BHÜG sind in dem Sinne endgültig, dass ein
Weiterzug innerhalb der WEKO oder ein anderer Einbezug der WEKO in die beihil-
ferechtlichen Fälle ausgeschlossen ist. Die Beihilfekammer befasst sich somit nicht
mit kartellrechtlichen oder binnenmarktrechtlichen Fällen, für die die WEKO heute
ebenfalls zuständig ist.
Konkret besteht die Beihilfekammer aus drei WEKO-Mitgliedern. Alle drei Kammer-
mitglieder sind unabhängige Sachverständige. Eines der drei Mitglieder gehört gleich-
zeitig dem Präsidium der WEKO an. Der Bundesrat bestimmt alle Mitglieder der Bei-
hilfekammer, die dem WEKO-Präsidium nicht angehören. Mit der Ausnahme des
Präsidiumsmitglieds, welches den Vorsitz in der Beihilfekammer hat (s. Art. 12 des
Geschäftsreglements der WEKO; GR-WEKO
112
), nehmen die Mitglieder der Beihil-
fekammer an den anderen Sitzungen der WEKO nicht teil. Ihre Tätigkeit beschränkt
sich somit auf die Aufgaben der Überwachungsbehörde nach dem VE-BHÜG. Bei der
Auswahl der Mitglieder der Beihilfekammer ist darauf zu achten, dass diese über bei-
hilferechtliche Kenntnisse verfügen. Darüber hinaus sollten die Mitglieder mit kanto-
nalen und kommunalen Gepflogenheiten möglichst gut vertraut sein, da ein beträcht-
licher Teil der zu behandelnden Fälle kantonale Beihilfen betreffen dürfte. Unter
Einbezug der Kantone soll das Prozedere zur Einsetzung der Findungskommission
ausgearbeitet werden, in welcher die Kantone eine Vertretung erhalten sollen. Die
Findungskommission wird zuhanden des WBF eine Vorauswahl derjenigen Mitglie-
der und Vertretungsmitglieder der Beihilfekammer treffen, welche nicht dem WEKO-
112
SR
251.1
134 / 931
Präsidium angehören. Die Mitglieder und Ersatzmitglieder erfüllen dabei die nötigen
Anforderungen bezüglich Qualifikation und Unabhängigkeit. Das WBF wiederum
wird gestützt auf den Vorschlag der Findungskommission dem Bundesrat einen Vor-
schlag unterbreiten. Der Bundesrat bestimmt die Mitglieder der Beihilfekammer in-
klusive Vertretungsmitglieder. Die Wahrung der Unabhängigkeit der WEKO bleibt
dabei das oberste Ziel.
Damit die Beihilfekammer beschlussfähig ist, müssen alle drei Mitglieder anwesend
sein (Art. 21 Abs. 1 KG; vgl. Art. 15 Abs. 1 GR-WEKO). Für den Fall, dass ein Mit-
glied der Beihilfekammer in den Ausstand zu treten hat (vgl. Art. 22 KG in Verbin-
dung mit Art. 10 VwVG) oder dass ein Mitglied zum Beispiel krankheitsbedingt aus-
fällt, übernimmt das vom Bundesrat bestimmte Vertretungsmitglied dessen Aufgaben.
Dies stellt eine Übersteuerung von Artikel 11 Absatz 3 GR-WEKO dar, wonach die
WEKO in solchen Fällen die Vertretung des ausfallenden Mitglieds bestimmt. Der
Preisüberwacher nimmt an den Sitzungen der Beihilfekammer nicht teil.
113
Hinsichtlich der Organisation der Überwachungsbehörde wurden mehrere Optionen
geprüft. So wäre denkbar, der WEKO keinerlei Vorgaben zu machen, wie sie sich zu
organisieren hat. Unter dem heutigen Status Quo wäre es möglich, der WEKO die
Beihilfeüberwachung zu übertragen, ohne in deren Organisationsautonomie einzu-
greifen. Um eine effiziente Überwachung der staatlichen Beihilfen sicherzustellen,
erscheint die Vorschreibung einer eigenen Kammer aber verhältnismässig.
Weiter wurde erwogen, eine eigenständige Beihilfekommission (allenfalls mit geteil-
tem Sekretariat der WEKO) zu schaffen. Die Schaffung einer neuen Aufsichtsbehörde
würde mit einem administrativen sowie finanziellen Mehraufwand einhergehen. Die
Anzahl erwarteter Fälle, welche die Kommission zu prüfen hat, wird aus heutiger
Sicht aber gering sein (s. Ziff. 2.2.10). Zudem kann die Beihilfeüberwachung in be-
stehende Strukturen eingebettet werden.
Schliesslich wäre denkbar, dass die Kantone ein Konkordat errichten, um kantonale
und kommunale Beihilfen zu überwachen. Dabei müsste auch die kantonale Beihilfe-
überwachung die Gleichwertigkeit mit der Beihilfeüberwachung der Europäischen
Union sicherstellen, insbesondere bezüglich der Unabhängigkeit der Überwachungs-
behörde, der Transparenzvorschriften, der abschliessenden Beurteilung vor einer Bei-
hilfegewährung sowie der Rückforderungspflicht. Die Kostenfolgen für den Bund wä-
ren bei dieser Lösung deutlich geringer und das im VE-BHÜG geregelte Verfahren
könnte vereinfacht werden. Insgesamt wäre das Beihilfeüberwachungssystem für die
Schweiz jedoch komplexer.
Zu beachten bleibt, dass der Bundesrat dem WBF den Auftrag erteilt hat, eine Ver-
nehmlassungsvorlage zu einer Reform der Wettbewerbsbehörden auszuarbeiten. Ge-
mäss dem Richtungsentscheid des Bundesrates vom 15. März 2024
114
strebt er dabei
eine Professionalisierung und stärkere Unabhängigkeit der WEKO an. Es soll zudem
eine stärkere Trennung zwischen der WEKO und deren Sekretariat erfolgen. Mit der
113
Vgl. revidierten Art. 5 Abs. 2 VE-PüG im Anhang des VE-BHÜG.
114
Abrufbar unter: https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilun-
gen.msg-id-100426.html.
135 / 931
Ausnahme der Anpassungen von Artikel 18 Absatz 2 VE-KG (s. Ziff. 2.2.8) beein-
flussen sich die beiden Vorlagen nicht gegenseitig und können somit weitgehend un-
abhängig voneinander vorgelegt werden.
Abs. 4
Das Kartellgesetz ist nur im Rahmen dieses Verweises auf die Verfahren der Über-
wachungsbehörde anwendbar. Da die WEKO die Aufgaben der Überwachungsbe-
hörde übernehmen wird, sind die organisationsrechtlichen Bestimmungen zu den
Wettbewerbsbehörden gemäss den Artikeln 18–25 KG für die Überwachungsbehörde
anwendbar. Auch für die Amtshilfe (Art. 41 KG) wird die Bestimmung des Kartell-
gesetzes zur Anwendung kommen. Ferner untersteht die Überwachungsbehörde den
Informationspflichten nach Artikel 49 KG, soweit diese nicht bereits mit den Trans-
parenzvorschriften des VE-BHÜG erfüllt werden.
Die Verweise auf das KG gelten nur, soweit das VE-BHÜG keine Abweichungen
davon vorsieht. So stellt beispielsweise der Absatz 1 eine Ausnahme zur Organisati-
onsautonomie der WEKO gemäss Artikel 19 Absatz 1 KG dar, wonach sie selbst
Kammern bestimmt.
Art. 4
Aufgaben der Überwachungsbehörde
Die Aufgaben der Überwachungsbehörde werden in diesem Artikel zusammenfas-
send aufgezählt, welcher einen Überblick über die Aufgaben der Überwachungsbe-
hörde gibt. Die einzelnen Aufgaben sind in den konkreten Artikeln geregelt:
–
Beratung
: Die Überwachungsbehörde berät die Beihilfegeber informell vor
Beginn eines Prüfungsverfahrens im Sinne der Artikel 13 ff. VE-BHÜG.
Diese Beratung dient dazu, frühzeitig Klarheit über die beabsichtigte Bei-
hilfengewährung zu schaffen (s. Art. 5 VE-BHÜG). Durch die Beratung
wird zudem sichergestellt werden, dass die Überwachungsbehörde dem
Beihilfegeber möglichst früh rechtliche Fragen beantworten kann. Dies er-
leichtert dem Beihilfegeber die Ausarbeitung von Beihilfen, womit ein un-
nötiger bürokratischer Leerlauf verhindert werden kann.
–
Prüfung der Zulässigkeit von Beihilfen und Abgabe von Stellungnahmen
:
Die Überwachungsbehörde ist verpflichtet, alle Beihilfen sämtlicher staat-
licher Ebenen (Bund, Kantone und Gemeinden) auf ihre Zulässigkeit zu
überprüfen. Dabei prüft sie, ob die geplanten Beihilfen die Merkmale einer
Beihilfe erfüllen und ob sie zulässig sind. Die Überwachungsbehörde gibt
nach dem Abschluss der Prüfung eine unverbindliche Stellungnahme ab.
–
Erhebung
von Beschwerden
: Beurteilt die Überwachungsbehörde eine Ver-
fügung oder einen Erlass eines Beihilfegebers als unzulässig, ist sie grund-
sätzlich verpflichtet, dagegen Beschwerde zu erheben. Diese Pflicht stellt
sicher, dass die Überwachungsbehörde aktiv gegen mutmasslich unzuläs-
sige Beihilfen vorgehen und die Einhaltung der beihilferechtlichen Bestim-
mungen einfordern kann. Um die durch die völkerrechtlichen Verträge ge-
forderte Gleichwertigkeit des Überwachungssystems zu erreichen, ist es
136 / 931
notwendig, dass die Überwachungsbehörde auch gegen unzulässige Beihil-
fen anderer Verwaltungseinheiten des Bundes Beschwerde erhebt.
–
Führung von besonderen Verfahren
: Verletzt ein Beihilfegeber die An-
melde- oder die Mitteilungspflicht und erlangt die Überwachungsbehörde
Kenntnis davon, kann sie im Rahmen eines besonderen Verfahrens nach
dem 4. Kapitel die betroffene Beihilfe prüfen und – wo nötig – eine Be-
schwerde erheben.
–
Fortlaufende Prüfung bestehender Beihilferegelungen
: Die Überwachungs-
behörde kann bestehende Beihilferegelungen fortlaufend prüfen. Beurteilt
sie eine bestehende Beihilferegelung als unzulässig, schlägt sie dem Beihil-
fegeber Änderungen, welche die Zulässigkeit herstellen sollen, oder allen-
falls die Aufhebung vor. Bleibt die bestehende Beihilferegelung aus Sicht
der Überwachungsbehörde unzulässig, erhebt die Überwachungsbehörde
Beschwerde gegen zukünftig gestützt darauf gewährte Umsetzungsbeihil-
fen.
–
Veröffentlichung
: Die Überwachungsbehörde veröffentlicht die Informatio-
nen zu gewährten Beihilfen, Stellungnahmen sowie relevante Leitlinien in
einer Datenbank (s. Art. 51 VE-BHÜG). Diese Veröffentlichung dient der
Verwirklichung von grösstmöglicher Transparenz über Beihilfen in den be-
troffenen Sektoren (s. Ziff. 2.2.5.6).
Die WEKO regelt grundsätzlich die Verteilung ihrer Aufgaben in ihrem Geschäfts-
reglement nach Artikel 3 Absatz 4 VE-BHÜG in Verbindung mit Artikel 20 KG. Dies
ist grundsätzlich Sache der internen Organisation der WEKO. Dazu gehört etwa die
Aufgabenteilung zwischen dem Sekretariat und der Beihilfekammer.
137 / 931
3. Kapitel: Ordentliches Verfahren vor der Überwachungsbehörde
1. Abschnitt: Beratung und Anmeldung
Art. 5
Beratung
Um das Risiko von unnötigen (vertieften) Prüfungen oder Beschwerden zu vermin-
dern, wird eine informelle Erörterung der rechtlichen und wirtschaftlichen Aspekte
der geplanten Beihilfen durch die Überwachungsbehörde ermöglicht. In der Beratung
kann die Überwachungsbehörde insbesondere auf die Anforderungen an eine Anmel-
dung sowie auf die wichtigsten Elemente hinweisen, anhand derer die geplante Bei-
hilfe beurteilt werden kann. Der Beihilfegeber kann im Rahmen der Beratung auch
die geplante Anmeldung der Beihilfe konsultieren lassen. Teil der Beratung kann be-
reits darin bestehen, aufzuzeigen, welche Art von Beihilfen mögliche Handlungsfor-
men zur Zielerreichung darstellen können sowie deren allfällige Vor- und Nachteile:
Ob dies eine Beihilferegelung ist, welche zukünftige Umsetzungsbeihilfen erlaubt
138 / 931
oder ob doch besser in Einzelfällen Ad-hoc-Beihilfen angemeldet und gewährt wer-
den sollen. Die Überwachungsbehörde kann im Rahmen ihrer Beratung auch eine
Ersteinschätzung abliefern, ob die geplante Beihilfe in aktueller Version vermutlich
zulässig oder unzulässig wäre.
Im Überwachungsverfahren der EU ist ebenfalls eine Beratungsmöglichkeit durch die
Europäische Kommission als Überwachungsbehörde vorgesehen. Die Beratung ist je-
doch nicht positiv rechtlich geregelt, um der Europäischen Kommission einen maxi-
malen Handlungsspielraum zu ermöglichen. Im schweizerischen System wird hinge-
gen mit der vorliegenden Bestimmung Rechtssicherheit für allfällige Beihilfegeber,
insbesondere auf kantonaler Ebene, geschaffen.
Die Beratung ist unverbindlich und findet auf Anfrage des Beihilfegebers unter Be-
rücksichtigung der verfügbaren Ressourcen der Überwachungsbehörde statt. Die Be-
ratung ist insofern unverbindlich, als sie die Überwachungsbehörde in keiner Weise
in ihrer Prüfung nach der formellen Anmeldung der geplanten Beihilfen einschränkt.
Der Umstand, dass bereits vor der Anmeldung ein Austausch zwischen der Überwa-
chungsbehörde und dem Beihilfegeber stattgefunden hat, bedeutet nicht, dass die
Überwachungsbehörde im Anschluss an die Anmeldung nicht zusätzliche Informati-
onen verlangen kann (s. Art. 22 VE-BHÜG). Die genaue Funktionsweise der Bera-
tung soll durch die Überwachungsbehörde eigenständig geregelt werden. Die Dauer
und Form dieser informellen Beratungsphase hängen weitgehend von der Komplexi-
tät des Einzelfalls ab.
Die Beratung durch die Überwachungsbehörde ist für die Beihilfegeber gebühren-
pflichtig. Es handelt sich dabei grundsätzlich um eine Dienstleistung im Sinne von
Artikel 46
a
RVOG, die aber, obwohl sie gegenüber Behörden erfolgt, in Rechnung
gestellt werden soll. Dies dient der Finanzierung des Beratungsaufwandes. Ausserdem
soll dadurch die Überlastung der Behörde vermieden werden. Sollte der Beratungs-
aufwand langfristig höher beziehungsweise tiefer als geplant ausfallen, kann so der
nötige Stellenbedarf flexibel und sachgerecht angepasst werden. Schliesslich soll auch
verhindert werden, dass die Beratung zu beihilferechtlichen Fragestellungen durch
private Unternehmen aus dem Markt verdrängt wird beziehungsweise kein Markt ent-
stehen kann. Die Stellungnahme oder andere amtliche Verrichtungen der Überwa-
chungsbehörde sind hingegen nicht gebührenpflichtig.
115
Kantonalen Stellen werden die Kosten über Gebühren in Rechnung gestellt. Die Höhe
der Gebühren bemisst sich nach dem Zeitaufwand. Der Bundesrat legt die Gebührens-
ätze analog zur Gebührenverordnung KG vom 25. Februar 1998
116
(GebV-KG) fest.
Im Gegensatz zu Artikel 3 Absatz 1 GebV-KG werden jedoch beim Beratungsauf-
wand Behörden der Kantone, Gemeinden und interkantonale Organe von den Gebüh-
ren nicht befreit. Die Beratung ist auf diese Behörden als Beihilfegeber ausgerichtet.
Bundesintern werden keine Gebühren erhoben, sondern die Kosten werden über Kre-
ditverschiebung der einzelnen Verwaltungseinheiten, die die Beratung in Anspruch
nehmen, an die WEKO verrechnet.
115
S. auch Botschaft zum Entlastungsprogramm 2003 für den Bundeshaushalt (EP 03) vom 2.
Jul. 2003; BBl 2003 5615, hier 5761; Thomas Sägesser, Regierungs- und Verwaltungsor-
ganisationsgesetz, 2. A., Bern 2022, Art. 46a N 17.
116
SR
251.2
139 / 931
Art. 6
Anmeldepflicht
Abs. 1
Grundsätzlich sind alle geplanten Beihilfen, welche die Merkmale einer Beihilfe er-
füllen könnten, vor ihrer Gewährung bei der Überwachungsbehörde anzumelden.
117
Die genauen Voraussetzungen, damit eine Massnahme als Beihilfe qualifiziert wird,
ergeben sich aus Artikel 3 der Beihilfeprotokolle respektive Artikel 13 des Stromab-
kommens, beziehungsweise aus Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG. Die Anmeldepflicht
ist in der Schweiz, wie in der EU, ein zentraler Pfeiler des Überwachungssystems. So
erfährt die Überwachungsbehörde im Regelfall, dass ein Beihilfegeber eine Beihilfe
ausgearbeitet hat. Durch die Anmeldepflicht wird weiter sichergestellt, dass die Über-
wachungsbehörde ihr Prüfungsverfahren vor der Gewährung der Beihilfe einleiten
kann.
Auch die Bundesversammlung und der Bundesrat müssen ihre Vorhaben anmelden,
damit die Überwachungsbehörde Gelegenheit zur Stellungnahme hat. Sie kann jedoch
in der Folge nicht Beschwerde führen, wenn ihre Stellungnahme nicht berücksichtigt
werden sollte (s. Art. 36 Abs. 2 VE-BHÜG). Dieses Vorgehen stellt sicher, dass das
Fachwissen der Überwachungsbehörde einfliesst und ihre Schlussfolgerungen öffent-
lich sind. Gleichzeitig werden auf diese Weise die verfassungsrechtlichen Vorgaben
zur Organisation und Gewaltenteilung respektiert (s. dazu auch Art. 4 Abs. 4 der Bei-
hilfeprotokolle respektive Art. 14 Abs. 4 des Stromabkommens). Konkret wird die
Anmeldepflicht von der federführenden Verwaltungseinheit des Bundes oder den Par-
lamentsdiensten wahrgenommen werden (s. Ausführungen zu Art. 10 VE-BHÜG).
Es ist den Kantonen und Gemeinden überlassen, wie sie die Anmeldung ihrer Vorha-
ben ausgestalten. Sie können, wie gewisse Mitgliedsstaaten der EU im unionsrechtli-
chen Verfahren, eine eigene Vorprüfstelle errichten. Je nach der konkreten Ausgestal-
tung des kantonalen Organisationsrechts kann diese Vorprüfstelle auch die
Anmeldung an die Überwachungsbehörde übernehmen. Gegenüber der Überwa-
chungsbehörde bleiben aber letztendlich die Beihilfegeber verantwortlich.
Abs. 2
Die Beihilfegeber haben der Überwachungsbehörde die nach der Anmeldung vorge-
nommenen Änderungen am Beihilfevorhaben mitzuteilen, damit sie diese in ihre Prü-
fung miteinbeziehen kann. Sind die vorgenommenen Änderungen des Beihilfevorha-
bens so erheblich, dass es sich faktisch um eine neue Beihilfe handelt, kann die
Überwachungsbehörde eine neue Anmeldung verlangen. In diesen Fällen wäre die
Fortsetzung der bisherigen Prüfung zwecklos. Die Überwachungsbehörde entschei-
det, ob sie die gemeldete signifikante Änderung im Rahmen der laufenden Prüfung
berücksichtigen kann oder ob eine erneute Anmeldung notwendig ist.
Abs. 3
Wann eine Änderung signifikant ist, ist in den Grundzügen in Absatz 3 geregelt. Die
Einzelheiten, wie zum Beispiel ab wann von einem deutlichen Anstieg der Beihilfe
ausgegangen werden kann, wird vom WBF auf Verordnungsstufe geregelt werden.
Eine Regelung durch das WBF und nicht durch den Bundesrat ist angezeigt, damit
117
S. Art. 2 der Verordnung 2015/1589.
140 / 931
rasch auf Entwicklungen in der europäischen Praxis reagiert werden kann. Zudem
handelt es sich hier um ein technisches Detail.
Wenn eine Beihilfe zunächst umweltrechtlich motiviert war und schliesslich aber zur
Wettbewerbsförderung verwendet wird, ist dies als Änderung der Zielsetzung relevant
für die Beurteilung der Zulässigkeit der Beihilfe. Die Rechtsnatur der Beihilfe kann
sodann beispielsweise ändern, wenn gesetzliche Grundlagen für Ad-Hoc-Beihilfen
neu als Beihilferegelung dienen sollen. Vorstellbar ist auch, dass eine ursprünglich als
Bürgschaft ausgestaltete Beihilfe schliesslich in Form eines Darlehens gewährt wer-
den soll oder eine direkte Begünstigung plötzlich in die Form eines Steuererlasses
umgewandelt werden soll.
Eine signifikante Änderung kann zu verschiedenen Zeitpunkten des Beihilfeüberwa-
chungsverfahrens stattfinden und hat dementsprechend unterschiedliche Konsequen-
zen:
–
(1) Änderung der geplanten Beihilfe
vor
der Anmeldung: Dies hat keine
weitgehenden Konsequenzen. Möglich ist aber, dass eine allfällig bereits
erfolgte Beratung nicht mehr passend ist;
–
(2) Änderung der geplanten Beihilfe
während
der Prüfung: Die Änderung
muss der Überwachungsbehörde gemeldet werden. Diese entscheidet, ob
sie die Änderung in der laufenden Prüfung berücksichtigen kann. Allenfalls
ist eine Neuanmeldung nötig, welche die Fristen neu auslöst;
–
(3) Änderung der Beihilfe
nach
der Stellungnahme der Überwachungsbe-
hörde aber
vor
der Gewährung: Auch in diesen Fällen muss die Änderung
der Überwachungsbehörde gemeldet werden. Sie entscheidet, ob eine neue
Prüfung nötig ist oder nicht. Hält sie eine neue Prüfung für nötig und wartet
der Beihilfegeber diese jedoch nicht ab, sondern gewährt die geänderte Bei-
hilfe, ist die Überwachungsbehörde bei ihrem Entscheid, Beschwerde zu
erheben, nicht mehr an die Stellungnahme gebunden. Die Beschwerde-
pflicht kann jedoch entfallen, wenn die Überwachungsbehörde zum Schluss
kommt, dass sie die Beihilfe aufgrund der Anpassung in einer neuen Prü-
fung nicht mehr als unzulässig beurteilen würde;
–
(4) (Geplante) Änderung einer bereits bestehenden Beihilfe: Dies stellt eine
neue Beihilfe dar (vgl. Art. 45 VE-BHÜG).
Art. 7
Ausnahmen von der Anmeldepflicht
Von der Anmeldepflicht sind Umsetzungsbeihilfen befreit, die sich auf eine bereits
beurteilte Beihilferegelung stützen. Als Beurteilung gilt die Stellungnahme der Über-
wachungsbehörde oder ein Entscheid einer Rechtsmittelinstanz. Dabei spielt es keine
Rolle, ob die Beihilferegelung als zulässig oder unzulässig beurteilt wurde, sondern
nur, ob bereits eine Prüfung durch die Überwachungsbehörde oder allenfalls ein Ge-
richt stattgefunden hat. Die Anmeldepflicht entfällt insbesondere auch für Umset-
zungsbeihilfen, welche gestützt auf als unzulässig beurteilte Beihilferegelungen in
Form von Erlassen der Bundesversammlung oder des Bundesrates gewährt werden.
141 / 931
Da die zugrundeliegende Beihilferegelung bereits von der Überwachungsbehörde ge-
prüft wurde, sind diese Fälle nur der Mitteilungspflicht (Eröffnung bzw. Publikation)
nach Artikel 24 VE-BHÜG unterstellt.
Die Anmeldepflicht besteht hingegen für Umsetzungsbeihilfen, die im Rahmen einer
Beihilferegelung gewährt werden, welche (noch) nicht beurteilt wurde. Dies trifft ins-
besondere in folgenden Fällen zu: (1) nicht angemeldete Beihilferegelungen; sowie
(2) Beihilferegelungen, die ohne vorgängige Prüfung durch die Überwachungsbe-
hörde Gegenstand eines Rechtsmittelverfahrens sind, in welchem die aufschiebende
Wirkung entzogen wurde.
Es ist dem Beihilfegeber überlassen, ob er zuerst eine Beihilferegelung erlässt, welche
von der Überwachungsbehörde beurteilt wird, und anschliessend gestützt auf diese
Beihilferegelung Umsetzungsbeihilfen gewährt werden oder ob er mit Ad-hoc-Bei-
hilfen arbeitet.
Umsetzungsbeihilfen, welche gestützt auf bestehende Beihilfen gemäss Artikel 44
VE-BHÜG gewährt werden, müssen nicht angemeldet werden. Eine Prüfung der be-
stehenden Beihilferegelung kann im Rahmen der fortlaufenden Prüfung erfolgen (s.
Art. 47 VE-BHÜG).
Die Anmeldepflicht entfällt auch, wenn die geplante Beihilfe gemäss Artikel 3 Ab-
satz 4 der beiden Beihilfeprotokolle respektive Artikel 13 Absatz 4 des Stromabkom-
mens als mit dem Binnenmarkt vereinbar vermutet wird. Hierbei handelt sich um die
Gruppenfreistellungen gemäss Abschnitt C des Anhangs I der Beihilfeprotokolle res-
pektive Abschnitt C des Anhangs III des Stromabkommens; nämlich Beihilfen, die
die Voraussetzungen in den Kapiteln I und III der Verordnung (EU) 651/2014, in den
Artikeln 1–6 des Beschlusses der Kommission 2012/21/EU
118
vom 20. Dezember
2011 oder im Artikel 9 der Verordnung (EG) 1370/2007 erfüllen (s. Ziff. 2.2.5.3).
Art. 8
Durchführungsverbot
Abs. 1
Ein zentraler Aspekt der Beihilfeüberwachung auf Bundesebene ist das Durchfüh-
rungsverbot
119
: Anmeldungspflichtige Beihilfen
des Bundes dürfen nicht umgesetzt
werden, bevor die Überwachungsbehörde diese geprüft und dem Beihilfegeber eine
Stellungnahme abgegeben hat.
Aufgrund der Verfahrens- und Organisationsautonomie der Kantone (s. Art. 3 und 47
BV) kann der Bund im VE-BHÜG den Kantonen kein Durchführungsverbot auferle-
gen (s. Ziff. 2.2.11.1). Mit Blick auf die völkerrechtlichen Verpflichtungen kann es
aber für die Kantone sinnvoll sein ein solches eigenständig zu regeln, beispielsweise
um Beschwerdeverfahren möglichst zu vermeiden.
118
2012/21/EU: Beschluss der Kommission vom 20. Dezember 2011 über die Anwendung
von Artikel 106 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf
staatliche Beihilfen in Form von Ausgleichsleistungen zugunsten bestimmter Unterneh-
men, die mit der Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Inte-
resse betraut sind, ABl. L 7 vom 11.1.2012, p. 3–10.
119
Vgl. Art. 3 EU-Verordnung 2015/1589.
142 / 931
Um dennoch eine mit einem Durchführungsverbot vergleichbare Rechtslage für kan-
tonale Beihilfen zu erreichen, werden alle Beihilfen grundsätzlich erst nach Ablauf
der Beschwerdefrist wirksam und der Beschwerde der Überwachungsbehörde kommt
aufschiebende Wirkung zu (s. Art. 39 VE-BHÜG). Die Überwachungsbehörde kann
somit Beschwerde mit aufschiebender Wirkung erheben, wodurch im Normalfall –
das heisst in Fällen, in denen sich die Beihilfegeber an ihre gesetzliche Anmelde- und
Mitteilungspflicht halten – sichergestellt wird, dass eine Beihilfe erst nach dem Urteil
der zuständigen Rechtsmittelinstanz wirksam wird.
Abs. 2
Wenn die Überwachungsbehörde dem Beihilfegeber die Veröffentlichung ihrer Stel-
lungnahme nicht innerhalb der Fristen nach Artikel 20 VE-BHÜG mitteilt, wird das
Durchführungsverbot auf Bundesebene von Gesetzes wegen aufgehoben. Der Beihil-
fegeber des Bundes kann die Beihilfe folglich gewähren. Er muss sie jedoch weiterhin
mitteilen und trägt deshalb das Risiko, dass die Überwachungsbehörde in der Folge
eine Beschwerde erheben kann. Die Beschwerdemöglichkeit und -pflicht der Über-
wachungsbehörde bleiben weiterhin bestehen.
Art.9
Inhalt und Form der Anmeldung
Abs. 1
Bei der Anmeldung hat der Beihilfegeber sicherzustellen, dass alle für die Prüfung
der geplanten Beihilfe notwendigen Informationen an die Überwachungsbehörde
übermittelt werden.
Abs. 2
Welche Vorgaben der Inhalt und die Form einer Anmeldung im Einzelnen erfüllen
müssen, wird durch das WBF in einer Verordnung definiert. Eine Regelung durch das
WBF ist gerechtfertigt, da es sich dabei um technische Details von untergeordneter
Bedeutung handelt.
Art. 10
Zeitpunkt der Anmeldung
Der Beihilfegeber muss eine geplante Beihilfe anmelden, sobald sie genügend defi-
niert ist und keine signifikanten Änderungen mehr erwartet werden, um eine Prüfung
durch die Überwachungsbehörde zu ermöglichen. Auch für kantonale Beihilfen ist es
sinnvoll, dass die Anmeldung zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu dem die geplante Bei-
hilfe noch an mögliche Rückmeldungen aus dem Prüfungsverfahren der Überwa-
chungsbehörde angepasst werden kann. Mit dem frühen Zeitpunkt wird sichergestellt,
dass die Prüfung den Gesetzgebungs- beziehungsweise Entscheidungsprozess mög-
lichst nicht verlangsamt. Insbesondere auf Bundesebene liegt aufgrund des Durchfüh-
rungsverbots (s. Art. 8 VE-BHÜG) eine möglichst frühe Anmeldung im Interesse des
Beihilfegebers.
Verfügungen können der Überwachungsbehörde als früher Entwurf zugestellt wer-
den, der jedoch bereits die wichtigsten Merkmale enthalten muss. Je früher die An-
meldung erfolgt, desto besser kann die Stellungnahme der Überwachungsbehörde in
den Entwurf aufgenommen werden. Dies birgt allerdings das Risiko, dass es danach
143 / 931
noch zu signifikanten Änderungen kommt und somit eine Neuanmeldung nach Arti-
kel 6 Absatz 2 VE-BHÜG notwendig wird. Auch Beihilfen in der Form von öffent-
lich-rechtlichen Verträgen oder Realakten sollen zu einem geeigneten Zeitpunkt an-
gemeldet werden, bei dem die wichtigsten Merkmale zwar bereits definiert sind, aber
noch Spielraum für mögliche Änderungen besteht. Die Wahl des Zeitpunktes obliegt
grundsätzlich dem Beihilfegeber, jedoch muss er sich an der Vorgabe orientieren, dass
die wichtigsten Merkmale der Beihilfe festgelegt sind, sie aber noch nicht gewährt
wurde.
Die Anmeldung für Erlasse findet spätestens mit der Eröffnung des jeweils ersten an-
wendbaren Konsultationsverfahrens statt. Auf Bundesebene bedeutet dies jeweils fol-
genden Zeitpunkt:
–
Bundesgesetz: erste Ämterkonsultation;
–
Verordnung des Bundesrates: (erste) Ämterkonsultation;
–
Verordnung eines Departements oder Amtes: (erste) Ämterkonsultation
oder departementsinterne Konsultation;
–
Bundesgesetz, welches im Rahmen einer parlamentarischen Initiative oder
einer Standesinitiative ausgearbeitet wird, oder Verordnung der Bundesver-
sammlung: spätestens zum Zeitpunkt der Einladung des Bundesrates zur
Stellungnahme.
120
Die Kantone haben ihre Beihilfevorhaben in der Form von Erlassen zu einem ver-
gleichbaren Zeitpunkt in ihrem jeweiligen Gesetzgebungsverfahren anzumelden.
Falls ein Kanton ein Konsultationsverfahren vorsieht, erfolgt die Anmeldung zu die-
sem Zeitpunkt. Die Anmeldung muss jedenfalls zwingend vor Verabschiedung statt-
finden. Andernfalls bedeutet dies eine Verletzung der Anmeldepflicht.
Art. 11
Bestätigung der Anmeldung
Abs. 1
Die Bestätigung des Eingangs der Anmeldung innert fünf Arbeitstagen verschafft dem
Beihilfegeber Sicherheit, dass er seine Anmeldepflicht eingehalten hat.
Abs. 2
Eine unvollständige Anmeldung erfüllt die Anmeldepflicht jedoch nicht. Im Fall von
unvollständigen Informationen fordert die Überwachungsbehörde ergänzende Aus-
künfte innerhalb einer angemessenen Frist nach. Ist die Anmeldung weiterhin unvoll-
ständig und erachtet es die Überwachungsbehörde als sinnvoll, kann sie die fehlenden
Informationen erneut anfordern.
121
Der Verweis auf das VwVG in Artikel 53 VE-BHÜG für die Berechnung der Fristen
gilt insbesondere für eine allfällige Fristansetzung nach dem vorliegenden Absatz. Die
120
Vgl. Art. 111 Abs. 3 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dez. 2002, ParlG, SR
171.10
.
121
Vgl. auch die vergleichbare Regelung in Art. 52 Abs. 2 und 3 VwVG sowie Art. 5 Abs. 2
EU-Verordnung 2015/1589.
144 / 931
Frist muss angemessen sein, das heisst, der Beihilfegeber hat genügend Zeit die not-
wendigen Unterlagen zusammenzustellen oder – wo nötig – zu beschaffen. Die Über-
wachungsbehörde kann Fristen gemäss Artikel 22 Absatz 2 VwVG auf Gesuch hin
erstrecken.
Art. 12
Rückzug der Anmeldung
Abs. 1
Der Beihilfegeber, der die Beihilfe angemeldet hat, kann eine Anmeldung wieder zu-
rückzuziehen.
122
Dies kann beispielsweise das Ergebnis einer signifikanten Änderung
sein. Ein Rückzug ist ferner möglich, wenn der Beihilfegeber nicht mehr die Absicht
hat, die Beihilfe zu gewähren. Die Überwachungsbehörde kann das Prüfungsverfah-
ren entsprechend einstellen.
Falls eine Benachrichtigung über die Einleitung einer vertieften Prüfung veröffent-
licht wurde, kann der Rückzug der Anmeldung beim entsprechenden Eintrag in der
Datenbank festgehalten werden (s. Art. 51 Abs. 2 Bst. b VE-BHÜG). Dies ermöglicht
auch Transparenz über abgebrochene Vorhaben. Die Einzelheiten werden auf Verord-
nungsstufe geregelt.
Abs. 2
Dieser Absatz regelt die Folgen für das Verpassen der Frist nach Artikel 11 Absatz 2
VE-BHÜG. Wenn die eingeforderten Informationen vom Beihilfegeber nicht inner-
halb der Frist nachgereicht wurden, gilt die Anmeldung ebenfalls als zurückgezogen.
Es sei denn, der Beihilfegeber teilt der Überwachungsbehörde vor Ablauf der festge-
setzten Frist mit, dass er die Anmeldung als vollständig betrachtet, weil die angefor-
derten ergänzenden Informationen nicht verfügbar oder bereits übermittelt worden
sind.
123
In diesem Fall ersetzt das Schreiben des Beihilfegebers die Nachreichung der
eingeforderten Informationen. Gilt die Anmeldung als zurückgezogen, ist die Prüfung
ohne Stellungnahme beendet. Will der Beihilfegeber die Beihilfe dennoch gewähren,
muss er eine neue Anmeldung vornehmen. Dies ist grundsätzlich jederzeit möglich.
Die Fristen nach Artikel 20 VE-BHÜG beginnen dann neu zu laufen.
2. Abschnitt: Prüfungen
Art. 13
Gegenstand der Prüfungen
Die Überwachungsbehörde ist verpflichtet, angemeldete Beihilfen auf ihre Zulässig-
keit beziehungsweise ihre Vereinbarkeit mit dem materiellen Beihilfenrecht hin zu
überprüfen. Sie kann grundsätzlich nicht prüfen, ob eine geplante Beihilfe mit weite-
ren Vorgaben des Bundesrechts sowie des kantonalen Rechts (bspw. Bestimmungen
aus dem Subventions- oder Steuerrecht) zu vereinbaren ist. Diese Aspekte können
allenfalls von Konkurrenten des Beihilfeempfängers oder anderen Parteien im Ver-
waltungsverfahren zur Gewährung der Beihilfe beziehungsweise im anschliessenden
Rechtsmittelverfahren gerügt werden.
122
Vgl. Art. 10 EU-Verordnung 2015/1589.
123
Vgl. Art. 5 Abs. 3 EU-Verordnung 2015/1589.
145 / 931
Die Anmeldung nach Artikel 6 VE-BHÜG ist Voraussetzung für die ordentliche Prü-
fung der geplanten Beihilfe durch die Überwachungsbehörde.
Art. 14
Einfache Prüfung
Abs. 1
Die Überwachungsbehörde prüft die geplante Beihilfe auf ihre Zulässigkeit hin. Die
Prüfung ist wie jene der kartellrechtlichen Zusammenschlusskontrolle
124
in zwei Pha-
sen gegliedert. Die Überwachungsbehörde beginnt mit einer einfachen Prüfung, so-
bald sie die Anmeldung nach Artikel 11 VE-BHÜG bestätigt hat. Für die einfache
sowie die unter Umständen darauffolgende vertiefte Prüfung gelten die allgemeinen
Verfahrensbestimmungen nach dem 9. Kapitel VE-BHÜG.
Abs. 2
Die Überwachungsbehörde kann die einfache Prüfung sistieren. Dies wird insbeson-
dere dann geschehen, wenn der Beihilfegeber eine Sistierung beantragt, um die ge-
plante Beihilfe an die beihilferechtlichen Bestimmungen der völkerrechtlichen Ver-
träge anzupassen. Sollte sich in der Folge herausstellen, dass es sich um eine
signifikante Änderung handelt, kann eine erneute Anmeldung notwendig werden (s.
Art. 6 Abs. 2 VE-BHÜG). Eine Sistierung hat zur Folge, dass die Frist nach Artikel 20
Absatz 1 VE-BHÜG stillsteht. Wenn der Beihilfegeber bis zum Ende der Sistierung
keine vollständige (neue) Anmeldung vorlegt, nimmt die Überwachungsbehörde das
Verfahren an dem Punkt wieder auf, an dem es unterbrochen wurde.
125
Art. 15
Abschluss der einfachen Prüfung
Die einfache Prüfung wird entweder mit einer Stellungnahme der Überwachungsbe-
hörde abgeschlossen oder mit der Einleitung einer vertieften Prüfung. Die Überwa-
chungsbehörde schliesst die einfache Prüfung mit einer Stellungnahme ab, wenn die
Prüfung ergeben hat, dass die geplante Beihilfe zulässig ist, das heisst mit dem mate-
riellen Beihilferecht zu vereinbaren ist, oder dass sie die Merkmale einer Beihilfe
nicht erfüllt. In der ersten Konstellation teilt die Überwachungsbehörde mit, welche
Ausnahmebestimmung der Beihilfeprotokolle respektive des Stromabkommens zur
Anwendung kommen.
126
Hat die Überwachungsbehörde am Ende der einfachen Prüfung hingegen Bedenken
bezüglich der Zulässigkeit der Massnahme oder sie ist unsicher, ob die geplante Bei-
hilfe tatsächlich die Merkmale einer Beihilfe erfüllt, leitet sie eine vertiefte Prüfung
nach Artikel 16 Absatz 1 VE-BHÜG ein.
Art. 16
Vertiefte Prüfung
Abs. 1
124
Vgl. Art. 32–38. KG.
125
Vgl. Pt. 5.2 der Verhaltenskodex für die Durchführung von Beihilfeverfahren, ABl. C 253
vom 19.7.2018, S. 14.
126
Vgl. Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EU-Verordnung 2015/1589.
146 / 931
Wenn die Überwachungsbehörde Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit einer ge-
planten Beihilfe mit der einfachen Prüfung nicht ausräumen kann oder sie unsicher
ist, ob die geplante Beihilfe tatsächlich die Merkmale einer Beihilfe erfüllt, muss sie
eine vertiefte Prüfung einleiten. Die Einleitung der vertieften Prüfung erfolgt nicht
mittels Stellungnahme oder Verfügung. Es handelt sich um eine einfache Mitteilung.
Die Überwachungsbehörde teilt die Veröffentlichung der Mitteilung dem Beihilfege-
ber mit.
Abs. 2
In der Mitteilung fasst die Überwachungsbehörde die wesentlichen Sach- und Rechts-
fragen zusammen, nimmt eine vorläufige Würdigung der geplanten Beihilfe vor und
erklärt ihre Bedenken zu dieser. Die Mitteilung ist wie die Stellungnahme unverbind-
lich und hat den Charakter eines behördlichen Informationsschreibens. Die Mitteilung
wird in der öffentlich zugänglichen Datenbank der Überwachungsbehörde publiziert
(s. Art. 51 Abs. 2 Bst. b VE-BHÜG). Die Überwachungsbehörde kann bereits zusam-
men mit der Mitteilung über die Einleitung einer vertieften Prüfung den Konkurrenten
sowie dem Beihilfegeber und dem Beihilfeempfänger eine Frist nach Artikel 21 Ab-
satz 1 und Artikel 22 Absatz 1 VE-BHÜG setzen, innerhalb welcher sie sich zu der
geplanten Beihilfe äussern können. Ein solches Vorgehen ermöglicht es den Konkur-
renten sowie dem Beihilfegeber und dem Beihilfeempfänger, dass sie sich gleich zu
Beginn der vertieften Prüfung äussern können. Die Überwachungsbehörde ist – falls
sie dies aus sachlichen Gründen für sinnvoll erachtet – jedoch auch berechtigt, nach
der Einleitung einer vertieften Prüfung zuerst weitere Abklärungen zu treffen, bevor
sie den Konkurrenten sowie dem Beihilfegeber und den Beihilfeempfänger eine Frist
zur schriftlichen Äusserung setzt.
Art. 17
Abschluss der vertieften Prüfung
Abs. 1
Die vertiefte Prüfung endet mit einer unverbindlichen Stellungnahme der Überwa-
chungsbehörde. Die Stellungnahme wird nach Artikel 51 VE-BHÜG in der Daten-
bank der Überwachungsbehörde veröffentlicht. Die Überwachungsbehörde teilt dem
Beihilfegeber die Veröffentlichung der Stellungnahme mit.
Abs. 2
Die Überwachungsbehörde führt in ihrer Stellungnahme aus, zu welchem Ergebnis
sie im Rahmen der vertieften Prüfung gelangt ist. Die Überwachungsbehörde kann
zum Schluss gelangen, dass die angemeldete Beihilfe keine Beihilfe darstellt. Stellt
das angemeldete Beihilfevorhaben eine Beihilfe dar, hat die Überwachungsbehörde
weiter zu beurteilen, ob die Beihilfe zulässig oder unzulässig ist.
Abs. 3
Die Überwachungsbehörde kann in ihrer Stellungnahme Änderungen der geplanten
Beihilfe vorschlagen, welche die Zulässigkeit bewirken würden. Sind grössere bezie-
hungsweise signifikanten Änderungen notwendig, kann die Überwachungsbehörde
auch eine neue Anmeldung verlangen. Im Gegensatz zum Verfahren in der EU kann
sie aufgrund der Unverbindlichkeit der Stellungnahme keine Bedingungen, Auflagen
147 / 931
oder Überwachungsmassnahmen anordnen.
127
Aufgrund der Mitteilungspflicht (s.
Art. 24 VE-BHÜG) erfährt die Überwachungsbehörde, ob ihren Vorschlägen entspro-
chen wurde. Hat der Beihilfegeber die Änderungsvorschläge nicht befolgt, muss die
Überwachungsbehörde bei unzulässigen Beihilfen Beschwerde erheben (s. Art. 37
Abs. 1 VE-BHÜG).
Art. 18
Wirkung der Stellungnahmen der Überwachungsbehörde
Die Stellungnahme der Überwachungsbehörde ist unverbindlich. Es handelt sich nicht
um eine Verfügung, weshalb die vertiefte Prüfung kein klassisches Verwaltungsver-
fahren darstellt. Das VwVG ist somit nicht direkt anwendbar.
Die Stellungnahme kann nicht angefochten werden. Sollte der Beihilfegeber nicht ein-
verstanden sein, kann er dies im beihilfegewährenden Akt zum Ausdruck bringen und
eine gegenteilige Entscheidung treffen. Die Überwachungsbehörde ist zur Be-
schwerde verpflichtet, wenn sie eine Beihilfe als unzulässig beurteilt (s. Art. 37 VE-
BHÜG).
Die rechtliche Wirkung der Stellungnahme liegt einzig darin, dass der Beihilfegeber
sie bei der Begründung der Beihilfe berücksichtigen muss. Dies bedingt, dass er sich
in seinem Entscheid auf nachvollziehbare Art und Weise mit der Stellungnahme aus-
einandersetzt. Aus dem Entscheid muss hervorgehen, inwiefern und aus welchen
Gründen der Beihilfegeber mit der Stellungnahme der Überwachungsbehörde nicht
einverstanden ist. Dies ergibt sich in der Regel bereits aus dem Anspruch auf rechtli-
ches Gehör der Parteien im Verfahren vor dem Beihilfegeber. Bei einer Beihilferege-
lung beziehungsweise einer Ad-Hoc Beihilfe in der Form eines Erlasses ist dies in den
das Gesetzesprojekt begleitenden Dokumenten (erläuternder Bericht, Botschaft, Wei-
sungen, etc.) auszuführen.
Art. 19
Widerruf einer Stellungnahme
Abs. 1
Die Überwachungsbehörde kann eine Stellungnahme widerrufen, wenn sich diese als
fehlerhaft erweist und ihre Berichtigung für die zukünftige Rechtsanwendung von Be-
deutung ist. Dies ist der Fall, wenn es um Grundsatzfragen geht oder viele ähnliche
Sachverhalte zu erwarten sind. Eine Stellungnahme kann insbesondere dann fehler-
haft sein, wenn sich nachträglich herausstellt, dass sie auf einer falschen oder unvoll-
ständigen Sachverhaltsfeststellung oder einer fehlerhaften Rechtsanwendung beruht.
Ein Widerruf ist hingegen grundsätzlich nicht nötig, wenn sich die Sach- oder Rechts-
lage geändert hat, da die Stellungnahme keine Rechte oder Pflichten schafft. Eine Än-
derung der Sach- oder Rechtslage kann sich jedoch auf die Beschwerdepflicht der
Überwachungsbehörde auswirken.
Die Überwachungsbehörde wird dabei eine Interessensabwägung vornehmen müssen,
wie sie für den Widerruf einer Verfügung üblich ist.
128
Ein Widerruf ist nur möglich,
wenn das Interesse an der richtigen Anwendung des objektiven Rechts das Interesse
127
Vgl. Art. 9 Abs. 4 EU-Verordnung 2015/1589.
128
Vgl. bspw. BGE 143 II 1 E. 5; 141 IV 55 E. 3.4.2; 137 I 69 E. 2.3.
148 / 931
an der Rechtssicherheit und dem Vertrauensschutz überwiegt. Beruht die Fehlerhaf-
tigkeit der Stellungnahme auf unrichtigen Informationen des Beihilfegebers oder des
Beihilfeempfängers über den beihilferechtlichen Sachverhalt, wird ein Widerruf in
der Regel möglich sein. Es ist dabei zu beachten, dass die Stellungnahme zwar unver-
bindlich ist, jedoch einen Einfluss auf die Entscheidung des Beihilfegebers hat.
Hat sich die Stellungnahme im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens betreffend die
in der Stellungnahme beurteilte Beihilfe als fehlerhaft herausgestellt, ist ein Widerruf
unnötig, da die unverbindliche Stellungnahme der Überwachungsbehörde durch das
entsprechende verbindliche Urteil übersteuert wird. Dieses Urteil wird zudem in der
Datenbank nach Artikel 51 VE-BHÜG veröffentlicht, womit auch Transparenz her-
gestellt wird. Die Überwachungsbehörde ist verpflichtet, sicherzustellen, dass ihre
Datenbank auf dem aktuellen Stand ist, und muss inhaltlich einem Urteil widerspre-
chende Stellungnahmen entsprechend kennzeichnen, indem sie diese beispielsweise
mit einem Verweis auf das Urteil versieht.
Abs. 2
Bevor die Überwachungsbehörde eine Stellungnahme nach Artikel 15 VE-BHÜG wi-
derrufen kann, muss sie zunächst eine vertiefte Prüfung einleiten.
129
In ihrer Stellung-
nahme nach einer einfachen Prüfung kann die Überwachungsbehörde nur zum
Schluss gelangen, dass ein Beihilfevorhaben keine Beihilfe darstellt oder dass sie zu-
lässig ist
.
Gelangt die Überwachungsbehörde in der vertieften Prüfung erneut zum
Schluss, dass keine Beihilfe vorliegt oder die Beihilfe zulässig ist, ersetzt die Stel-
lungnahme, die aus der vertieften Prüfung ergeht, diejenige aus der einfachen Prü-
fung. Da die Stellungnahme aus der einfachen Prüfung im Ergebnis jedoch bestätigt
wird, liegt kein Widerruf vor. Gelangt die Überwachungsbehörde in der vertieften
Prüfung jedoch zum Schluss, dass die Beihilfe unzulässig ist, so widerruft sie die ur-
sprüngliche Stellungnahme und veröffentlicht dafür die neue Stellungnahme, welche
aus der vertieften Prüfung ergangen ist.
Abs. 3
Bevor die Überwachungsbehörde eine Stellungnahme widerruft, hat sie dem Beihil-
fegeber und dem Beihilfeempfänger die Möglichkeit zur Äusserung zu geben. Wurde
vor dem Widerruf nach Artikel 19 Absatz 2 VE-BHÜG eine vertiefte Prüfung einlei-
tet, während welcher sich der Beihilfegeber und der Beihilfeempfänger nach Arti-
kel 22 Absatz 2 VE-BHÜG geäussert haben, kann darauf verzichtet werden.
Art. 20
Fristen
Abs. 1
Die einfache Prüfung wird innerhalb einer Frist von zwei Monaten abgeschlossen. Die
Frist beginnt, sobald die Überwachungsbehörde die Anmeldung nach Artikel 11 VE-
BHÜG bestätigt hat. Für die Berechnung der Prüfungsfristen ist Artikel 53 VE-BHÜG
zu beachten.
Abs. 2
129
Vgl. Art. 11 EU-Verordnung 2015/1589.
149 / 931
Die vertiefte Prüfung wird innerhalb einer Frist von zwölf Monaten abgeschlossen.
Diese kürzere Frist im Vergleich zur EU (18 Monate) erklärt sich dadurch, dass nach
der vertieften Prüfung in der Schweiz unter Umständen ein Gerichtsverfahren folgt,
wodurch die Gesamtdauer bis zu einer Entscheidung länger ausfallen kann.
Abs. 3
Die Dauer der einfachen und vertieften Prüfungsfristen von zwei beziehungsweise
zwölf Monaten kann im Einvernehmen mit dem Beihilfegeber, welcher die Beihilfe
anmeldete, verlängert werden. Eine Verlängerung kann im Interesse der Beihilfegeber
sein, falls dadurch ein allfälliges Beschwerdeverfahren vermieden werden kann.
Art. 21
Rechte der Konkurrenten
Da die Überwachungsbehörde keine Verfügung erlässt, sondern eine unverbindliche
Stellungnahme abgibt, handelt es sich beim Beihilfeüberwachungsverfahren nicht um
ein Verfahren auf Erlass einer Verfügung. Dies bedeutet, dass Konkurrenten (oder
andere Dritte) nicht Partei im Sinne von Artikel 6 VwVG sind. Damit gelangen auch
die üblichen Parteirechte von Dritten, insbesondere der Anspruch auf rechtliches Ge-
hör, nicht zur Anwendung. Die Verfahrensrechte der Konkurrenten im Prüfungsver-
fahren ergeben sich folglich allein aus dem VE-BHÜG. Nach dem VE-BHÜG können
sich Dritte am Prüfungsverfahren grundsätzlich nicht beteiligen. Sie haben insbeson-
dere keine Parteistellung und haben folglich auch kein Akteneinsichtsrecht. Dies ist
darauf zurückzuführen, dass die Beteiligung von Dritten zur Klärung des Sachverhal-
tes im Rahmen eines Prüfungsverfahren in vielen Fällen weniger zentral als in anderen
Rechtsbereichen ist, da sich die Überwachungsbehörde bei der Erstellung des Sach-
verhaltes zu grossen Teilen auf die Vorarbeiten des Beihilfegebers stützen kann. Die
Ausnahme von diesem Grundsatz bilden die Konkurrenten eines Beihilfeempfängers.
Sie haben das Recht sich im Prüfungsverfahren vor der Überwachungsbehörde
schriftlich zu äussern.
Unter Konkurrenten im Sinne von Artikel 21 VE-BHÜG sind grundsätzlich alle An-
bieter zu verstehen, die mit ihren Gütern und Dienstleistungen gegenüber den Nach-
fragern im Wettbewerb zu anderen Anbietern (die Beihilfen empfangen sollen) ste-
hen.
130
Der Umstand, dass sich Konkurrenten am Prüfungsverfahren vor der Überwachungs-
behörde beteiligen können, bedeutet nicht, dass sie die gleiche verfahrensrechtliche
Stellung wie der Beihilfegeber oder -empfänger erlangen können. Die Konkurrenten
haben im VE-BHÜG immerhin das Recht, sich nach Einleitung der vertieften Prüfung
schriftlich zu äussern. Sie können sich dabei sowohl zu rechtlichen Fragen als auch
zum Sachverhalt im Zusammenhang mit der zu prüfenden Beihilfe äussern.
Unter
anderem zu diesem Zweck wird die Mitteilung über die Einleitung des vertieften Ver-
fahrens publiziert. Die Publikation enthält eine Zusammenfassung der wesentlichen
Sach- und Rechtsfragen sowie eine vorläufige Würdigung der Überwachungsbehörde
(s. Art. 16 Abs. 2 VE-BHÜG). Diese Angaben erlauben es den Konkurrenten, eine
substantiierte Äusserung zu machen. Dazu wird den Konkurrenten ein Formular zur
130
S. Bernhard Waldmann, in: Niggli Marcel Alexander et al. (Hrsg.), Bundesgerichtsgesetz,
Basler Kommentar, 3. Aufl., Basel 2018, Art. 89 N. 23 Fn. 171.
150 / 931
Verfügung gestellt, wie es im europäischen Beihilferecht üblich ist. Die Einzelheiten
dieses Formulars werden durch das WBF auf Verordnungsstufe geregelt.
Zudem kann die Überwachungsbehörde die Konkurrenten zu einem weiteren Schrif-
tenwechsel einladen und ihnen zum Beispiel die Möglichkeit geben, sich zu den Ein-
gaben der Beihilfegeber und des Beihilfeempfängers zu äussern. Der Entscheid, ob
ein weiterer Schriftenwechsel sinnvoll ist, liegt im Ermessen der Überwachungsbe-
hörde. Die Überwachungsbehörde setzt für jede schriftliche Äusserung eine angemes-
sene Frist, innerhalb derer sie zu erfolgen hat.
Unter gewissen Umständen haben Konkurrenten neben diesem spezialgesetzlichen
Äusserungsrecht weitere Rechte. Sie können in den Verfahren vor dem Beihilfegeber
und einem allfälligen Rechtsmittelverfahren weitere im jeweils anwendbaren Verfah-
rensrecht vorgesehene Rechte wahrnehmen. Insbesondere können sie allenfalls vom
Beihilfegeber verlangen, dass er ihnen eine beihilfegewährende Verfügung eröffnet,
damit sie anschliessend Beschwerde bei der zuständigen Rechtsmittelinstanz erheben
können. Das Recht sich am Verfahren zu beteiligen beziehungsweise die Eröffnung
eines Entscheides zu verlangen leitet sich aus dem anwendbaren Verfahrensrecht (s.
für den Bund Art. 6 i. V. m. Art. 48 VwVG) oder im Sinne einer Minimalgarantie aus
Artikel 89 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 111 Absatz 1 des Bundesgerichtsge-
setzes vom 17. Juni 2005
131
(BGG) ab. Für die dafür erforderliche Parteistellung kann
auf die Ausführungen zum Beschwerderecht der Konkurrenten in den Erläuterungen
zu Artikel 39 VE-BHÜG verwiesen werden.
Art. 22
Rechte und Pflichten der Beihilfegeber und Beihilfeempfänger
Alle Beihilfegeber und die Beihilfeempfänger müssen der Überwachungsbehörde alle
Auskünfte, Informationen und Unterlagen zur Verfügung stellen, die diese benötigt,
um die Massnahme auf ihre Vereinbarkeit mit den beihilferechtlichen Bestimmungen
zu beurteilen.
132
Zwar ist die Überwachungsbehörde verpflichtet den Sachverhalt von
Amtes wegen abzuklären, sie ist jedoch auf die Mitwirkung des Beihilfegebers und
unter Umständen auch des Beihilfeempfängers angewiesen. Die Beihilfegeber haben
zusätzlich Anmelde- und Mitteilungspflichten, die neben der hier beschriebenen Mit-
wirkungspflicht bestehen.
Die Beihilfegeber und Beihilfeempfänger haben kein Recht zur Verweigerung der
Auskunft. Umgekehrt stehen der Überwachungsbehörde jedoch keine direkten
Zwangsmittel zur Durchsetzung der Mitwirkungspflicht zur Verfügung. Kommen der
Beihilfegeber oder -empfänger ihren Pflichten nicht nach, erhöhen sie das Risiko, dass
die Überwachungsbehörde in ihrer Stellungnahme zum Schluss kommen wird, dass
die Massnahme unzulässig ist.
Da die Überwachungsbehörde keine Verfügung erlässt, sondern eine unverbindliche
Stellungnahme abgibt, handelt es sich nicht um ein Verfahren auf Erlass einer Verfü-
gung. Weder der Beihilfegeber noch der Beihilfeempfänger sind daher Parteien im
Sinne von Artikel 6 VwVG. Die üblichen Parteirechte, insbesondere der Anspruch
auf rechtliches Gehör, sind grundsätzlich nicht anwendbar. Der Beihilfeempfänger
131
SR
173.110
132
Vgl. Art. 7 EU-Verordnung 2015/1589.
151 / 931
muss seine Rechte im Verfahren vor dem Beihilfegeber oder in einem allfälligen Be-
schwerdeverfahren wahren. Grundsätzlich wird der Beihilfeempfänger vor der zustän-
digen Beschwerdeinstanz auch die falsche Anwendung der beihilferechtlichen Best-
immungen der völkerrechtlichen Verträge nach Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG rügen
können. Dies hängt aber einerseits von der Ausgestaltung der konkreten kantonalen
oder bundesrechtlichen Rechtsgrundlage für die Beihilfe
133
ab sowie andererseits vom
anwendbaren Verfahrensrecht.
134
Der Beihilfegeber und der Beihilfeempfänger haben jedoch das Recht sich schriftlich
zur Einleitung einer vertieften Prüfung zu äussern. Die Einleitung der vertieften Prü-
fung ist ein Zeitpunkt, in welchem neue Elemente bezüglich des Sachverhalts oder
der einschlägigen Rechtslage aufgeworfen werden könnten. Entsprechend dürfen sich
die Beihilfegeber oder der Beihilfeempfänger dann äussern. Zudem kann die Überwa-
chungsbehörde die Beihilfegeber und Beihilfeempfänger zu einem weiteren Schrif-
tenwechsel einladen und ihnen zum Beispiel die Möglichkeit geben, sich zu den Ein-
gaben von Konkurrenten zu äussern. Der Entscheid, ob ein weiterer Schriftenwechsel
sinnvoll ist, liegt im Ermessen der Überwachungsbehörde. Die Überwachungsbe-
hörde setzt für jede schriftliche Äusserung eine angemessene Frist.
Art. 23
Vereinfachte Verfahren
Die Überwachungsbehörde kann Erleichterungen für ihre Verfahren vorsehen. Solche
Erleichterungen sind für Beihilfen sinnvoll, die nach Ansicht der Überwachungsbe-
hörde ein geringes Risiko einer Wettbewerbsverzerrung mit sich bringen. Die Erleich-
terungen haben das Ziel, ein schnelles und weniger aufwändiges Prüfungsverfahren
für solche Beihilfen zu schaffen. Die Überwachungsbehörde kann insbesondere eine
erleichterte Anmeldung vorsehen. Die Details dieser Bestimmung werden noch ge-
prüft und während der Vernehmlassung sowie anhand allfälliger Vernehmlassungs-
antworten ausgearbeitet.
Analog zum EU-Überwachungsverfahren sollen aber die Beihilfegeber nicht ver-
pflichtet werden, nach diesen Richtlinien vorzugehen. Vielmehr können die Beihilfe-
geber jeweils auch nach dem ordentlichen Prüfungsverfahren vorgehen, wenn sie dies
vorziehen.
3. Abschnitt: Mitteilungspflicht und Verfahren auf Erlass einer Verfügung
Art. 24
Mitteilungspflicht des Beihilfegebers
Die Mitteilungspflicht ist ein weiterer wichtiger Pfeiler des Beihilfeüberwachungs-
verfahrens. Eine Überwachung der Beihilfen und vor allem die Erhebung einer Be-
schwerde gegen eine als unzulässig eingeschätzte Beihilfe ist nur möglich, wenn die
Überwachungsbehörde Kenntnis der gewährten Beihilfen erhält. Dies wird durch die
Mitteilungspflicht sichergestellt. Dabei handelt sich nicht um eine typische verwal-
tungsrechtliche Pflicht. Einerseits, weil Behörden verpflichtet werden, andererseits,
weil die Mitteilungspflicht nicht im eigentlichen Sinne durchgesetzt beziehungsweise
ihre Verletzung sanktioniert werden kann.
133
Danach beurteilt sich, ob ein Rechtsanspruch besteht.
134
Vgl. dazu insb. die Änderung in Art. 83 Bst. k VE-BGG.
152 / 931
Im Idealfall gewährt der Beihilfegeber die Beihilfe erst nach Abschluss des Prüfungs-
verfahrens mit einer positiven Stellungnahme durch die Überwachungsbehörde. In
solchen Fällen kommt der Mitteilungspflicht nur noch geringe Bedeutung zu. Sie
dient in diesen Fällen dazu, dass die Überwachungsbehörde überprüfen kann, dass die
Beihilfe tatsächlich so verabschiedet wurde, wie sie auch zur Prüfung unterbreitet
worden ist. Dabei kann die Überwachungsbehörde auch sicherstellen, dass die Bei-
hilfe ohne ihr Wissen nicht signifikant geändert wurde. Ob eine relevante Änderung
erfolgt ist, kann nur die Überwachungsbehörde und nicht der Beihilfegeber entschei-
den.
Wartet der Beihilfegeber jedoch die Stellungnahme nicht ab oder handelt entgegen
einer Stellungnahme, die die Beihilfe als unzulässig erklärt, ist die Mitteilungspflicht
von grosser Bedeutung. In diesen Fällen muss die Überwachungsbehörde Beschwerde
erheben (s. Art. 37 ff. VE-BHÜG). Dies ist jedoch nur möglich, wenn die Überwa-
chungsbehörde von der Beihilfe Kenntnis hat. Weder die Anmeldung der geplanten
Beihilfen noch die nachträgliche Veröffentlichung in der Datenbank sind für diesen
Zweck ausreichend. Auf Bundesebene verhindert das Durchführungsverbot nach Ar-
tikel 8 VE-BHÜG eine Beihilferegelung ohne Abwarten der Stellungnahme, weshalb
die Mitteilungspflicht vor allem für die Überwachung von kantonalen Beihilfen wich-
tig ist.
Mitteilungspflicht als Mitwirkungspflicht des Beihilfegebers
Die Mitteilungspflicht ist eine zentrale Mitwirkungspflicht der Beihilfegeber. Ihre
Verletzung wird zwar nicht direkt sanktioniert, hat jedoch erhebliche rechtliche Kon-
sequenzen für den Beihilfegeber. Die Überwachungsbehörde kann während eines
Zeitraums von zehn Jahren im Sinne eines Sicherungsnetzes ein besonderes Verfahren
einleiten, wenn sie von einer nicht (korrekt) mitgeteilten Beihilfe Kenntnis erhält
(s.
Art. 27 ff. VE-BHÜG).
Zeitpunkt der Mitteilung
Unabhängig davon, ob das ordentliche Verfahren korrekt durchlaufen wurde, muss
jeder Beihilfegeber der Überwachungsbehörde die (anstehende) Gewährung einer
Beihilfe mitteilen. Sinnvollerweise erfolgt die Mitteilung so früh vor dem Inkrafttre-
ten beziehungsweise dem Eintritt der Rechtskraft, damit die Überwachungsbehörde
noch genügend Zeit hat, um angemessen reagieren zu können. In diesem Sinne stellt
die Mitteilungspflicht sicher, dass die Überwachungsbehörde Beschwerde gegen eine
Beihilfe erheben kann, wenn sie diese für unzulässig hält und damit, wo möglich, die
Gewährung aufschiebt.
Dabei gilt eine Beihilfe grundsätzlich als gewährt, sobald der Beihilfeempfänger ein
Recht auf die Beihilfe erhält. Das bedeutet, dass Umsetzungsbeihilfen oder Ad-hoc-
Beihilfen in der Form von Verfügungen als gewährt gelten, sobald die Verfügung
rechtskräftig ist und vollstreckt werden kann. Beihilfen in der Form von Realakten
sind in der Regel sofort gewährt. Bei öffentlich-rechtlichen Verträgen kommt es auf
die konkrete Ausgestaltung des Vertrages an. In der Regel wird die Gewährung dem
Vertragsabschluss entsprechen. Ad-hoc-Beihilfen in der Form von Erlassen gelten im
Zeitpunkt des Inkrafttretens als gewährt. Nicht ausschlaggebend sind in der Regel die
effektiven Auszahlungen, die grundsätzlich erst nach der Gewährung erfolgen sollten.
153 / 931
Beihilferegelungen gewähren zwar grundsätzlich keine Beihilfen, sondern erst die da-
rauf gestützten Umsetzungsbeihilfen. Dennoch gilt die Mitteilungspflicht auch für
Beihilferegelungen, und zwar mit deren Publikation nach dem massgebenden Recht.
Mitzuteilende Rechtsakte
Die Mitteilungspflicht gilt für Ad-hoc-Beihilfen und Umsetzungsbeihilfen in der
Form von Verfügungen, öffentlich-rechtlichen Verträgen und Realakten (s. Bst. b und
c). Sollte ausnahmsweise eine Beihilfe in Form eines Realakts gewährt werden,
müsste dieser Realakt in geeigneter Form, beispielsweise in einem Schreiben an die
Überwachungsbehörde mit einer Beschreibung des geplanten Realaktes, mitgeteilt
werden. Dies erfolgt vor der geplanten Vornahme des Realaktes. Andernfalls riskiert
der Beihilfegeber, dass er die per Realakt gewährte Beihilfe zurückverlangen muss.
Die Mitteilung der Umsetzungsbeihilfen ermöglicht es der Überwachungsbehörde,
durch eine Beschwerde eine konkrete Normenkontrolle der betreffenden Beihilfere-
gelung durch ein Gericht zu erwirken (s. Art. 37 Abs. 2 VE-BHÜG). Dies setzt für
Umsetzungsbeihilfen gestützt auf Beihilferegelungen der Bundesversammlung und
des Bundesrates voraus, dass eine andere Verwaltungsbehörde die Umsetzungsbei-
hilfe gewährt hat.
Aus Praktikabilitätsgründen umfasst die Mitteilungspflicht auch Erlasse. Zwar wer-
den Erlasse unabhängig von einer Mitteilungspflicht publiziert, wodurch eine Kennt-
nisnahme der Überwachungsbehörde grundsätzlich möglich wäre. Dies setzt jedoch
eine kontinuierliche Beobachtung der publizierten Erlasse sämtlicher Kantone und
Gemeinden voraus. Dieser Aufwand soll vermieden werden. Die Beschwerdefrist für
eine allfällige abstrakte Normenkontrolle läuft dennoch ab dem massgebenden Zeit-
punkt der Veröffentlichung nach dem anwendbaren Recht (s. Art. 38 VE-BHÜG).
Analog zur Anmeldepflicht sind Umsetzungsbeihilfen, welche gestützt auf eine be-
reits als zulässig beurteilte Beihilferegelung gewährt werden, auch von der Mittei-
lungspflicht befreit (Bst. c). Während bei der Anmeldepflicht der Fokus auf der Tat-
sache liegt, ob bereits eine Prüfung stattgefunden hat, ist bei der Mitteilungspflicht
entscheidend, ob die Zulässigkeit bereits abschliessend festgestellt wurde. Die Aus-
nahme von der Mitteilungspflicht dürfte die meisten Umsetzungsbeihilfen betreffen.
Die Mitteilungspflicht gilt jedoch insbesondere für Umsetzungsbeihilfen, die gestützt
auf als unzulässig beurteilten Beihilferegelungen gewährt werden. Diese Umsetzungs-
beihilfen sind nur von der Anmeldepflicht befreit, da eine erneute Prüfung nicht sinn-
voll, hingegen die Beschwerde gerade notwendig ist. Dabei ist zu beachten, dass ein
Beschwerdeentscheid, welcher die Beihilferegelung als zulässig beurteilt, eine Stel-
lungnahme der Überwachungsbehörde, welche sie zuvor als unzulässig beurteilte,
übersteuert. Dies gilt auch umgekehrt.
Umsetzungsbeihilfen, welche auf bestehenden Beihilferegelungen beruhen, müssen
grundsätzlich nicht mitgeteilt werden. Eine Mitteilungspflicht entsteht erst, wenn die
Überwachungsbehörde die Beihilferegelung in ihrer Stellungnahme nach Artikel 47
Absatz 3 VE-BHÜG als unzulässig beurteilt (Bst. d Ziff. 2). Die Mitteilungspflicht
für Umsetzungsbeihilfen bleibt bestehen, wenn die Stellungnahme der Überwa-
chungsbehörde in einem darauffolgenden Beschwerdeentscheid eines Gerichts bestä-
tigt wird (Bst. d Ziff. 1). Kommt das Gericht hingegen zum Schluss, dass die Beihil-
feregelung
zulässig
ist,
unterstehen
die
gestützt
darauf
gewährten
154 / 931
Umsetzungsbeihilfen nicht mehr der Mitteilungspflicht (s. auch Art. 48 Abs. 2 VE-
BHÜG).
Abs. 2
In Absatz 2 wird der Zeitpunkt und die Form der Mitteilungspflicht für Umsetzungs-
beihilfen oder Ad-hoc-Beihilfen in der Form von Verfügungen geregelt. Diese müssen
der Überwachungsbehörde grundsätzlich gleichzeitig mit den Verfügungsadressaten
eröffnet werden.
135
Die Beschwerdefrist für die Überwachungsbehörde knüpft auch
an der Eröffnung an (s. Art. 38 VE-BHÜG). Die Pflicht zur Eröffnung der Verfügung
an die Überwachungsbehörde macht diese jedoch nicht direkt zur Partei im Verfahren
vor Beihilfegeber, stellt aber sicher, dass die Beihilfe erst mit Ablauf der Beschwer-
defrist für die Überwachungsbehörde rechtskräftig werden kann. Allfällige aus Arti-
kel 111 Absatz 2 BGG in Verbindung mit Artikel 36 VE-BHÜG abgeleitete Rechte
der Überwachungsbehörde bleiben vorbehalten.
Abs. 3
Im Fall von Verträgen muss der Beihilfegeber der Überwachungsbehörde den Vertrag
vor Beginn von dessen Erfüllung mitteilen. Besteht die Beihilfe aus einer Bürgschaft,
Garantie oder einem ähnlichen Sicherungsvertrag zu Gunsten eines Dritten, ist für den
Erfüllungszeitpunkt auf die (gesicherte) Hauptleistung abzustellen. Ob die Sicherung
schliesslich in Anspruch genommen wird oder nicht, wird zu diesem Zeitpunkt in der
Regel noch offen sein. Der Beihilfeempfänger ist aber bei Sicherungsverträgen unter
Umständen bereits mit dem Vertragsschluss begünstigt durch die Wirkungen des Si-
cherungsversprechens. Dies rechtfertigt es, für Sicherungsverträge nicht den Erfül-
lungszeitpunkt der subsidiären oder bedingten Sicherungszahlung als ausschlagge-
bend zu erachten, sondern bereits denjenigen der gesicherten Hauptleistungen. Damit
kann zwar nicht verhindert werden, dass der Beihilfeempfänger bereits begünstigt
wird. Die Überwachungsbehörde erhält jedoch die Möglichkeit bereits vor Beginn der
Erfüllung der Hauptleistung das Verfahren auf Erlass einer Verfügung (Art. 26 VE-
BHÜG) einzuleiten. Indem die Überwachungsbehörde in einem entsprechenden Ge-
such mittels vorsorglicher Massnahme, soweit nach dem anwendbaren Recht mög-
lich,
136
die vorläufige Einstellung der Hauptleistung verlangt, kann sie die entstehende
Begünstigung des Beihilfeempfängers und eine je nach Ausgang des Gerichtsverfah-
rens nötige Rückerstattung auf ein Minimum beschränken. Wollen Beihilfegeber und
Beihilfeempfänger ein allfälliges Rückerstattungsverfahren ganz vermeiden, kann es
sinnvoll sein, zwischen der Mitteilung des öffentlich-rechtlichen Vertrags an die
Überwachungsbehörde und der Erfüllung der Hauptleistung genügend Zeit einzupla-
nen.
Bei Erlassen muss die Veröffentlichung mitgeteilt werden (Abs. 1 Bst. a), um sicher-
zustellen, dass die Überwachungsbehörde davon erfährt. Für Umsetzungsbeihilfen in
der Form von Realakten wird der Zeitpunkt der Mitteilung aufgrund ihrer Formvielfalt
und Seltenheit nicht spezifisch geregelt.
135
Vgl. für den Bund Art. 34 ff. VwVG.
136
Vgl. Regina Kiener, in: VwVG-Kommentar, 2. A., Zürich/St. Gallen 2019, Art. 56 N. 18;
für den Bereich des Kartellrechts BGE 130 II 149 E. 2.1.
155 / 931
Um das Zusammenspiel der Beihilfeüberwachung mit dem SuG sicherzustellen, wird
klargestellt, dass die Eröffnung eines Antrages nach Artikel 19 Absatz 2 SuG an die
Überwachungsbehörde die Mitteilungspflicht ebenfalls erfüllt. Der Beihilfegeber
muss den öffentlich-rechtlichen Vertrag der Überwachungsbehörde nicht zusätzlich
zu einem späteren Zeitpunkt mitteilen. Die Überwachungsbehörde ihrerseits kann so-
dann direkt gegen diesen ihr eröffneten Antrag vorgehen und innert 30 Tagen eine
anfechtbare Verfügung verlangen (vgl. Art. 26 Abs. 2 VE-BHÜG).
Art. 25.
Ausnahmen von der Mitteilungspflicht
Abs. 1
Die Ausnahme für Beihilfen, die in Übereinstimmung mit den genannten völkerrecht-
lichen Verträgen gewährt werden, gilt auch für die Mitteilungspflicht (s. Erläuterun-
gen zu Art. 7 VE-BHÜG).
Abs. 2
Die Bundesversammlung und der Bundesrat unterstehen der Mitteilungspflicht nicht,
da die Überwachungsbehörde gegen von diesen gewährte Beihilfen keine Beschwerde
erheben kann (Art. 36 Abs. 2 VE-BHÜG). Die Zustellungs- und Berichterstattungs-
pflicht ist hingegen, gleich wie die Anmeldungspflicht, anwendbar und stellt sicher,
dass die Überwachungsbehörde Kenntnis aller von der Bundesversammlung und vom
Bundesrat gewährten Beihilfen hat (s. Art. 49 VE-BHÜG).
Art. 26
Verfahren auf Erlass einer Verfügung
Beihilfen können nicht nur in Form einer Verfügung oder eines Erlasses, sondern auch
durch öffentlich-rechtliche Verträge oder Realakte gewährt werden. Im Schweizer
Verwaltungsverfahren sind mit wenigen Ausnahmen weder Realakte noch öffentlich-
rechtliche Verträge zulässige Anfechtungsobjekte in Beschwerdeverfahren.
137
Aus
diesem Grund ist im VE-BHÜG ein Artikel 25
a
VwVG nachgebildetes Vorgehen für
die Überwachungsbehörde vorgesehen. Entsprechend kann für die Auslegung auch
die zu diesem Artikel bestehende Praxis beigezogen werden. Somit ist in jedem Fall
eine gerichtliche Beurteilung durch das zuständige Gericht möglich. Es ist jedoch da-
rauf hinzuweisen, dass die Gewährung einer Beihilfe durch einen Realakt nur die Aus-
nahme sein kann. Grundsätzlich ist für die Gewährung von Beihilfen eine gesetzliche
Grundlage notwendig. Eine Gewährung nur durch Realakte verstösst gegen das Le-
galitätsprinzip.
Ein Vorgehen nach diesem Artikel ist nur erforderlich, wenn sonst kein zulässiges
Anfechtungsobjekt – sprich keine anfechtbare Verfügung – vorliegt. So ist etwa die
Gewährung von Beihilfen mittels Realakte nur möglich, wenn die verwaltungsrecht-
lichen Rechte und Pflichten des Beihilfeempfängers bereits im Gesetz hinreichend
konkret geregelt sind, entsprechend müssen sie vor der Gewährung nicht noch zusätz-
lich mittels Verfügung konkretisiert werden. Geldüberweisungen oder das Überlassen
von Infrastruktur oder Gegenständen zum Gebrauch stellen zwar Realakte dar, grund-
sätzlich stellen sie jedoch die Folge einer Verfügung dar und stellen deshalb in der
137
Vgl. für den Bund Art. 44 VwVG oder Art. 31 VGG.
156 / 931
Regel nicht die Gewährung der Beihilfe, sondern nur noch deren Ausführung dar.
Schlussendlich kommt es jeweils auf die genaue Ausgestaltung der Beihilfe an.
Eine Einschränkung des Geltungsbereichs von Artikel 26 VE-BHÜG besteht auch für
die öffentlich-rechtlichen Verträge. Soweit der Beihilfegeber vor Vertragsschluss eine
Verfügung erlässt (bspw. gemäss Art. 19 Abs. 3 SuG oder für den Zuschlag im öf-
fentlichen Beschaffungsrecht gemäss Art. 41 des Bundesgesetzes vom 21. Juni 2019
über das öffentliche Beschaffungswesen
138
), kann die Überwachungsbehörde bereits
gegen diese Verfügung Beschwerde erheben und muss nicht nach dem vorliegenden
Artikel vorgehen. Für Realakte kommt Artikel 26 VE-BHÜG sodann nur zum Zug,
wenn die Überwachungsbehörde den streitgegenständlichen Realakt nicht bereits ge-
stützt auf das kantonale Verfahrensrecht direkt anfechten kann.
139
Ist nach dem an-
wendbaren kantonalen Verfahrensrecht aber eine unmittelbare Anfechtung des Re-
alaktes möglich, muss die Überwachungsbehörde nicht zuerst nach dem vorliegenden
Artikel eine Verfügung verlangen. Der vorliegende Artikel stellt vielmehr sicher, dass
in jedem Fall ein Anfechtungsobjekt erwirkt werden kann.
Die Überwachungsbehörde kann den Beihilfegeber ersuchen, dass er vom geprüften
öffentlich-rechtlichen Vertrag zurücktritt oder dass er ihn auflöst oder anpasst. Ebenso
kann sie beantragen, dass bereits durch Realakte gewährte Beihilfen vom Beihilfe-
empfänger zurückgefordert werden. Wenn der Beihilfegeber mit der Einschätzung der
Überwachungsbehörde einverstanden ist, wird er den Rücktritt, die Auflösung oder
die Änderungen vornehmen. Beharrt er auf seiner eigenen Einschätzung, entscheidet
er durch Verfügung (Abs. 4). Gegen diese ablehnende Verfügung kann die Überwa-
chungsbehörde in der Folge eine Beschwerde an das zuständige Gericht erheben. Ent-
spricht der Beihilfegeber dem Gesuch der Überwachungsbehörde, wird der Beihilfe-
empfänger gestützt auf das anwendbare Verfahrensrecht beziehungsweise die
Rechtsweggarantie (Art. 29
a
BV) ebenfalls eine Verfügung verlangen können. So-
wohl die Überwachungsbehörde als auch der Beihilfeempfänger können somit eine
gerichtliche Beurteilung erwirken.
Für Realakte sieht Absatz 3 ein ähnliches Vorgehen vor. In diesem Fall kann die Über-
wachungsbehörde den Beihilfegeber ersuchen, dass er die Beihilfegewährung unter-
lässt, einstellt oder widerruft. Auch hier kann sie zudem die Rückerstattung der Bei-
hilfe beantragen. Die Überwachungsbehörde wird dem Beihilfegeber ein Gesuch mit
den entsprechenden Anträgen stellen. Ist der Beihilfegeber mit den Anträgen einver-
standen, entspricht er dem Gesuch. Ist er nicht einverstanden, erlässt er eine ableh-
nende Verfügung (Abs. 4).
Wenn der Beihilfegeber längere Zeit nicht auf das Ersuchen der Überwachungsbe-
hörde reagiert, kann diese auch eine Rechtsverweigerungsbeschwerde beim zuständi-
gen Gericht einreichen, um eine gerichtliche Beurteilung zu erwirken. Dem Bund ste-
hen zudem die weiteren Mittel der Bundesaufsicht zur Verfügung (Art. 49 BV), falls
ein kantonaler Beihilfegeber eine Rückforderung verzögern sollte.
Die Überwachungsbehörde muss gleichzeitig den Beihilfegeber ersuchen, die Rück-
erstattung von allfälligen bereits ausbezahlten Vorteilen beim Beihilfeempfänger zu
138
SR
172.056.1
139
Vgl. beispielsweise Art. 28 Abs. 4 des Gesetzes vom 31. August 2006 des Kantons Grau-
bünden über die Verwaltungsrechtspflege (BR 370.100).
157 / 931
verlangen. Nur so kann sichergestellt werden, dass keine unzulässigen Beihilfen be-
stehen bleiben. Auch hier muss der Beihilfegeber mit Verfügung entscheiden, falls er
die Rückerstattung nicht vornehmen möchte, und das zuständige Gericht wird auf Be-
schwerde der Überwachungsbehörde hin auch über diesen Punkt entscheiden müssen.
Gegen allfällige öffentlich-rechtliche Verträge oder Realakte der Bundesversamm-
lung oder des Bundesrates kann die Überwachungsbehörde nicht vorgehen, da ihr
diesfalls auch das Beschwerderecht fehlt (s. Art. 37 Abs. 4 VE-BHÜG). Möglich sind
Beschwerden von Dritten (vgl. Ausführungen zu Art. 82 VE-BGG). Grundsätzlich
müssen aber sowohl der Bundesrat als auch die Bundesversammlung auf die Gewäh-
rung von Beihilfen in diesen Formen verzichten aufgrund des Beihilfeverbots in Ar-
tikel 3 der Beihilfeprotokolle respektive Artikel 13 des Stromabkommens verzichten.
Andernfalls riskiert die Schweiz ein Streitbeilegungsverfahren über die Frage der Ver-
einbarkeit mit den völkerrechtlichen Verträgen der in dieser Form gewährten Beihil-
fen.
Solche Konstellationen sind in der Praxis aber ohnehin kaum denkbar.
140
4. Kapitel: Besondere Verfahren bei Verletzung der Anmelde- oder Mitteilungs-
pflicht
1. Abschnitt: Grundsätze
Art. 27
Eröffnung von besonderen Verfahren
Im Fokus der besonderen Verfahren steht die Verletzung der Mitteilungspflicht. Denn
wurde die Mitteilungspflicht verletzt, konnte kein Beschwerdeverfahren geführt wer-
140
S. aber die Beispiele in Fn. 121.
158 / 931
den. Das Beschwerdeverfahren stellt sicher, dass keine unzulässigen Beihilfen ge-
währt werden. Es übernimmt grundsätzlich die Funktion, welche innerhalb der EU
dem Durchführungsverbot zukommt. Die besonderen Verfahren sollen deshalb in ers-
ter Linie den Mangel korrigieren, dass das Beschwerdeverfahren umgangen wurde (s.
auch Art. 38 VE-BHÜG).
Die Überwachungsbehörde kann besondere Verfahren von Amtes wegen einleiten.
Sie ist nicht auf Anzeigen von Dritten angewiesen, auch wenn entsprechende Hin-
weise häufig der Auslöser sein können (s. Art. 28 VE-BHÜG). Die Eröffnung eines
besonderen Verfahrens von Amtes wegen ermöglicht es der Überwachungsbehörde,
auf der Grundlage unterschiedlicher Informationen, unabhängig von ihrer Herkunft,
ein Verfahren zu führen.
Die Überwachungsbehörde wird von Amtes wegen ein besonderes Verfahrens einlei-
ten müssen, wenn sie eine Verletzung der Anmelde- oder Mitteilungspflicht festge-
stellt hat. In diesen Fällen besteht nämlich die Möglichkeit, dass eine unzulässige Bei-
hilfe gewährt wurde, ohne dass diese von der Überwachungsbehörde überprüft wurde.
Es ist zu erwarten, dass nicht angemeldete Beihilfen häufig auch nicht mitgeteilt wer-
den, weil beispielsweise der Beihilfegeber davon ausgeht, dass es sich nicht um eine
Beihilfe handelt oder weil er seine Pflichten übersehen hat.
Die Überwachungsbehörde muss jedoch nicht jeder (unglaubwürdigen) Information
nachgehen, sondern hat einen gewissen Ermessensspielraum, ob sie ein besonderes
Verfahren eröffnen möchte oder nicht.
Als besondere Verfahren kommen die Nachmeldung mit anschliessender Prüfung
(Art. 29 ff. VE-BHÜG), die direkte Beschwerde gegen nicht (rechtzeitig) angemel-
dete, aber mitgeteilte Massnahmen (Art. 34 VE-BHÜG) sowie die direkte Be-
schwerde gegen nicht mitgeteilte Massnahmen (Art. 35 VE-BHÜG) in Betracht.
Art. 28
Anzeigerecht
Es ist jeglichen Dritten jederzeit möglich, der Überwachungsbehörde einen möglichen
Verstoss gegen die beihilferechtlichen Bestimmungen der völkerrechtlichen Verträge
nach Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG sowie gegen die Bestimmungen dieses Gesetzes
anzuzeigen. Dieses Anzeigerecht ist der Aufsichtsbeschwerde in Artikel 71 VwVG,
die sich grundsätzlich auf Bundesbehörden bezieht, oder vergleichbaren kantonalen
Rechtsbehelfen nachgebildet. Die angezeigten Verstösse können sowohl von Bundes-
behörden als auch von kantonalen Behörden ausgehen. Der Regelung kommt dekla-
ratorische Bedeutung zu, da das Anzeigerecht der Verwirklichung von verfassungs-
rechtlichen Geboten
141
und der Verwaltungskontrolle dient.
142
Die anzeigende Person erhält durch die Anzeige keine Parteistellung in einem allfäl-
ligen Prüfungsverfahren. Es entspricht jedoch der Praxis zu Artikel 71 Absatz 2
141
Vgl. insb. Art. 5, Art. 33 BV, Art. 49 Abs. 2 oder Art. 178 BV.
142
Vgl. Stefan Vogel, in: VwVG-Kommentar, 2. A., Zürich/St. Gallen 2019, Art. 71 N 2 und
14 m.w.H.
159 / 931
VwVG, dass eine Behörde eine kurze Antwort auf die Anzeige gibt, in der sie ihr etwa
mitteilt, wie mit der Anzeige verfahren wurde.
143
Das Anzeigerecht steht in einem gewissen Zusammenhang mit den Bestimmungen
über die besonderen Verfahren. Nach Artikel 27 VE-BHÜG kann die Überwachungs-
behörde besondere Verfahren von Amtes wegen einleiten, wenn sie eine Verletzung
der Anmelde- oder Mitteilungspflicht festgestellt hat. Dies könnte zum Beispiel durch
eine Anzeige einer Drittperson geschehen.
Schliesslich liegt es im Ermessen der Überwachungsbehörde festzustellen, ob der an-
gezeigte Sachverhalt eine einfache Prüfung rechtfertigt (Opportunitätsprinzip).
2. Abschnitt: Nachmeldung und Prüfung im besonderen Verfahren
Art. 29
Nachmeldung
Die Mitteilungspflicht ist zentral für das ordnungsgemässe Funktionieren des Beihil-
feüberwachungssystems, da die Überwachungsbehörde nur gegen Beihilfen Be-
schwerde erheben kann, von denen sie Kenntnis hat. Das VE-BHÜG regelt deshalb
ausdrücklich, wie die Überwachungsbehörde bei einer Verletzung dieser Pflicht vor-
gehen soll, wenn sie nicht direkt nach Artikel 35 VE-BHÜG eine Beschwerde erheben
kann.
Erhält die Überwachungsbehörde Kenntnis von einer nicht mitgeteilten Beihilfe, kann
sie innert 30 Tagen eine Nachmeldung aller für ein Prüfungsverfahren notwendigen
Informationen verlangen. Kenntnis kann die Überwachungsbehörde beispielsweise
durch eine Anzeige oder durch eigene Nachforschungen erhalten. Dabei reicht in der
Regel nicht ein einfacher Verdacht aus, sondern es ist die Kenntnisnahme des Rechts-
oder Realakts, durch den die Beihilfe gewährt wurde, notwendig.
Der Beihilfegeber und der Beihilfeempfänger müssen in der Folge alle für die Prüfung
erforderlichen Auskünfte erteilen. Häufig werden nicht mitgeteilte Beihilfen auch
nicht angemeldet, womit beide Pflichten verletzt wären. Ob die Beihilfe ursprünglich
angemeldet worden ist, spielt aber für die Anwendung von Artikel 31–35 VE-BHÜG
(2. und 3. Abschnitt) nur insofern eine Rolle, als dass unter Umständen keine Nach-
meldung mehr nötig ist. Ein Beihilfegeber kann beispielsweise auch das Beihilfevor-
haben anmelden, die Beihilfe dann aber in der Folge anders und somit auf unzulässige
Weise gewähren, ohne sie mitzuteilen.
Die Überwachungsbehörde kann folglich von einer Nachmeldung absehen, wenn be-
reits ein Prüfungsverfahren durchlaufen wurde. Der Ermessensspielraum der Überwa-
chungsbehörde ist dabei allerdings gering. Ein Verzicht auf ein Prüfungsverfahren
kann zum Beispiel dann sinnvoll sein, wenn kurz zuvor eine ähnliche Beihilfe geprüft
und als zulässig beurteilt worden ist. Ist sich die Überwachungsbehörde hingegen si-
cher, dass die Beihilfe unzulässig ist, kann sie auch nach Artikel 35 VE-BHÜG direkt
Beschwerde beim zuständigen Gericht erheben, ohne zuvor eine Nachmeldung zu ver-
langen.
143
Vgl. Bundesrat, Entscheid vom 28. Mär. 1979, VPB 43 (1979) Nr. 82, E. II.2; Stefan Vo-
gel, in: VwVG-Kommentar, 2. A., Zürich/St. Gallen, 2019, Art. 71 N. 37 ff.; Oliver Zi-
bung, in: VwVG-Praxiskommentar, 3. A., Zürich 2023, Art. 71 N. 32 ff.
160 / 931
Da die Beihilfe unter Umständen bereits seit langem gewährt worden ist, rechtfertigt
es sich, der Überwachungsbehörde, wo nötig und sinnvoll, Zeit wie für ein ordentli-
ches Verfahren zu geben. Damit ist sichergestellt, dass sie anschliessend nur Be-
schwerden gegen Beihilfen führt, bei denen sich die Bedenken betreffend Zulässigkeit
bestätigt haben.
Erhält die Überwachungsbehörde Kenntnis von einer Beihilferegelung, die nicht mit-
geteilt worden ist, und hat Anlass zu Bedenken über die Zulässigkeit, so kann sie be-
reits während des besonderen Verfahrens gegen darauf gestützte neu gewährte Um-
setzungsbeihilfen Beschwerde erheben oder nach Artikel 26 VE-BHÜG vorgehen.
Eine Nachmeldung ist nicht zielführend, solange das besondere Verfahren betreffend
die Beihilferegelung nicht abgeschlossen ist. Mit der Beschwerde kann die Überwa-
chungsbehörde verhindern, dass eine neue Umsetzungsbeihilfe rechtskräftig gewährt
wird. Die Gewährung von neuen Umsetzungsbeihilfen zu verhindern ist je nach Be-
deutung der betroffenen Beihilfen angezeigt. Möglich ist aber auch, dass die Überwa-
chungsbehörde abwartet, bis feststeht, ob die Beihilferegelung unzulässig ist, um un-
nötige Verfahren zu vermeiden.
Kommt die Überwachungsbehörde in der Prüfung im besonderen Verfahren zum
Schluss, dass es sich um eine unzulässige Beihilferegelung handelt beziehungsweise
wenn sie bereits eine negative Stellungnahme abgegeben hat, richtet sich das Vorge-
hen nach Artikel 31 VE-BHÜG. Ab diesem Zeitpunkt muss sie Beschwerde gegen
darauf gestützte Umsetzungsbeihilfen erheben, um die Gewährung neuer Beihilfen zu
verhindern.
Im Beschwerdeverfahren gegen die Umsetzungsbeihilfe kann das Gericht auch vor-
frageweise die Beihilferegelung überprüfen (konkrete Normenkontrolle). Ob in einer
solchen Konstellation das gerichtliche Verfahren sistiert werden sollte, bis die Prü-
fung der Beihilferegelung durch die Überwachungsbehörde abgeschlossen ist, wird
das zuständige Gericht anhand des anwendbaren Verfahrensrechts im konkreten Fall
entscheiden müssen.
Art.30
Prüfung im besonderen Verfahren
Das Prüfungsverfahren im besonderen Verfahren läuft nach der Nachmeldung grund-
sätzlich gleich ab wie das Prüfungsverfahren bei einer ordentlichen Anmeldung. In
Absatz 1 ist deshalb ein Verweis auf den Artikel 11 (Bestätigung der Anmeldung) und
den 2. Abschnitt des 3. Kapitels (Prüfungen) VE-BHÜG vorgesehen. Es gelten die
allgemeinen Verfahrensbestimmungen nach dem 9. Kapitel VE-BHÜG.
Die Überwachungsbehörde bestätigt dem Beihilfegeber den Eingang der Nachmel-
dung oder verlangt, falls erforderlich, ergänzende Informationen. Sie schliesst die Prü-
fung im Rahmen des besonderen Verfahrens mit einer Stellungnahme ab, der die
Rechtwirkungen nach Artikel 18 VE-BHÜG zukommen.
Die Überwachungsbehörde kann zwar ein besonderes Verfahren betreffend Beihilfen
der Bundesversammlung oder des Bundesrates einleiten, jedoch nur bis zur Stellung-
nahme. Es ist keine Beschwerde möglich (s. die Ausführungen zu Art. 36 Abs. 2 VE-
BHÜG). Zulässig und notwendig ist hingegen die Beschwerde nach Artikel 36 ff. VE-
BHÜG gegen Umsetzungsbeihilfen einer anderen Verwaltungseinheit des Bundes
161 / 931
oder eines Kantons gestützt auf Beihilferegelungen der Bundesversammlung oder des
Bundesrates.
3. Abschnitt: Verfahren zur Beseitigung unzulässiger Beihilfen und deren Rück-
forderung
Art.31
Verfahren bei als unzulässig beurteilten Einzelbeihilfen
Die Überwachungsbehörde kann Verfügungen oder andere Rechts- oder Realakte von
Beihilfegebern nicht aufheben. Dies können nur die Beihilfegebe oder das zuständige
Gericht. Damit ein entsprechendes Verfahren eingeleitet werden kann, ersucht die
Überwachungsbehörde bei Umsetzungsbeihilfen oder Ad-hoc-Beihilfen in der Form
einer Verfügung den Beihilfegeber, die als unzulässig beurteilte Verfügung innert an-
gemessener Frist zu widerrufen und die Rückerstattung allfälliger Vorteile des Bei-
hilfeempfängers zu verlangen. Wenn der Beihilfegeber mit der Stellungnahme bezie-
hungsweise den Anträgen der Überwachungsbehörde einverstanden ist, kann er
entweder seine ursprüngliche Verfügung widerrufen oder entsprechend den Anträgen
der Überwachungsbehörde neu verfügen. Er muss dabei allfällige Vorteile des Beihil-
feempfängers zurückfordern (Abs. 2). Der Beihilfeempfänger kann diese neue Verfü-
gung unter den Voraussetzungen des anwendbaren Verfahrensrechts beim zuständi-
gen Gericht anfechten.
Wenn der Beihilfegeber hingegen nicht mit der Stellungnahme und den Anträgen der
Überwachungsbehörde einverstanden ist, muss er seine Ablehnung verfügen. Gegen
diese Verfügung kann die Überwachungsbehörde beim zuständigen Gericht Be-
schwerde erheben.
Wenn der Beihilfegeber längere Zeit nicht auf das Ersuchen der Überwachungsbe-
hörde reagiert, kann diese auch eine Rechtsverzögerung- oder verweigerungsbe-
schwerde beim zuständigen Gericht einreichen, um eine gerichtliche Beurteilung zu
erwirken. Der unbenutzte Ablauf der von der Überwachungsbehörde angesetzten an-
gemessenen Frist alleine reicht zwar in der Regel noch nicht aus, stellt aber ein starkes
Indiz für eine Rechtsverzögerung oder -verweigerung dar. Dem Bund stehen zudem
die weiteren Mittel der Bundesaufsicht zur Verfügung (s. Art. 49 BV), falls eine kan-
tonaler Beihilfegeber eine Rückforderung verzögern sollte.
Beurteilt die Überwachungsbehörde eine nicht mitgeteilte Umsetzungsbeihilfe in der
Form eines öffentlich-rechtlichen Vertrages als unzulässig, verlangt die Überwa-
chungsbehörde vom Beihilfegeber den Rücktritt vom Vertrag, die Auflösung oder die
Anpassung des Vertrages. Dabei kommt es darauf an, ob die Beihilfe der eigentliche
Hauptgegenstand des Vertrages oder lediglich ein untergeordneter Teil ist. Der Bei-
hilfegeber kann dabei, soweit möglich, nach den Bedingungen des jeweiligen Vertra-
ges vorgehen. Je nach Situation kann aber auch eine ausserordentliche Auflösung not-
wendig werden. In jedem Fall muss der Beihilfegeber (auch) verfügen, damit ein
Anfechtungsobjekt für eine gerichtliche Beurteilung besteht.
Handelt es sich bei der nicht mitgeteilten und von der Überwachungsbehörde als un-
zulässig beurteilten Umsetzungsbeihilfe oder Ad-hoc-Beihilfe ausnahmsweise um ei-
nen Realakt, kann die Überwachungsbehörde vom Beihilfegeber verlangen, dass er
die Handlungen unterlässt, einstellt oder widerruft und dass er die Rückerstattung all-
fälliger Vorteile des Beihilfeempfängers verlangt. Dieses Vorgehen ist an Artikel 25
a
162 / 931
VwVG sowie an die Regelung für mitgeteilte, aber unzulässige Realakte angelehnt (s.
Art. 26 VE-BHÜG). Ist der Beihilfegeber einverstanden mit der Stellungnahme und
den Anträgen der Überwachungsbehörde, folgt er diesen (Unterlassen, Einstellen oder
Widerrufen). Er verlangt zudem die Rückerstattung allfälliger Vorteile (Abs. 2). Der
Beihilfeempfänger wird diesfalls gestützt auf das anwendbare Verfahrensrecht bezie-
hungsweise die Rechtsweggarantie (Art. 29
a
BV) eine Verfügung verlangen und un-
ter den Voraussetzungen des anwendbaren Verfahrensrechts eine gerichtliche Beur-
teilung erwirken können.
Ist der Beihilfegeber nicht einverstanden mit der Stellungnahme und den Anträgen
der Überwachungsbehörde, muss er dies in einer Verfügung entscheiden, welche die
Überwachungsbehörde vor dem zuständigen Gericht anfechten kann.
Der ordentliche Beschwerdeweg nach dem anwendbaren kantonalen Verfahrensrecht
ermöglicht im Falle einer kantonalen Beihilfe eine eigenständige innerkantonale
Überprüfung und, wo nötig, eine Selbstkorrektur. Ein Weiterzug an das Bundesgericht
ist grundsätzlich möglich, wenn die Voraussetzungen des BGG erfüllt sind (vgl. dazu
auch Art. 83 Bst. k und m VE-BGG).
Gibt das Gericht der Überwachungsbehörde recht, muss der Beihilfeempfänger die
gewährte Beihilfe zurückerstatten.
Art. 32
Verfahren bei als unzulässig beurteilten Ad-hoc-Beihilfen in der
Form eines Erlasses
Es ist möglich, dass eine Ad-hoc-Beihilfe (s. die Erläuterungen zu Art. 2 Bst. d VE-
BHÜG) in der Form eines Erlasses gewährt wird. Wurde eine Ad-hoc-Beihilfe in der
Form eines Erlasses nicht mitgeteilt, kommt eine abstrakte Normenkontrolle vor Ge-
richt nicht mehr in Frage, weil die Beschwerdefrist (s. Art. 38 VE-BHÜG) in aller
Regel bereits abgelaufen ist. Falls dies ausnahmsweise nicht der Fall sein soll, muss
die Überwachungsbehörde nach Artikel 35 VE-BHÜG vorgehen. Eine konkrete Nor-
menkontrolle ist im Normalfall ebenfalls ausgeschlossen, da die Beihilfe direkt durch
den Erlass gewährt wurde und keine Umsetzungsbeihilfen mehr notwendig sind, die
von der Überwachungsbehörde angefochten werden könnten. Ein Beispiel für eine
solche Ad-hoc-Beihilfe könnte ein Rechtssatz sein, der einmalige Steuer- oder
Schulderlasse für konkrete Beihilfeempfänger regelt. Diese Beihilfen kennzeichnen
sich dadurch, dass die Begünstigung durch eine negative Leistung beziehungsweise
einen Forderungsverzicht entsteht. Bei entsprechenden Beihilfen ist es vorstellbar,
dass die Beihilfe ex lege gewährt ist. Es wird dabei aber auf die konkrete Ausgestal-
tung des Rechtssatzes ankommen. Sind beispielsweise zusätzlich Veranlagungsverfü-
gungen vorgesehen, kann die Überwachungsbehörde grundsätzlich auch Beschwerde
gegen diese Verfügungen erheben, mit welchen die Entstehung beziehungsweise der
Erlass der Steuerforderung konkretisiert wird.
Die Überwachungsbehörde kann im Falle von Ad-hoc Beihilfen durch Erlass bezie-
hungsweise Rechtssatz beim zuständigen Beihilfegeber beantragen, dass er innert an-
gemessener Frist die Rückerstattung allfälliger Vorteile des Beihilfeempfängers in die
Wege leitet. In der Regel wird dies für den Beihilfegeber jedoch nur möglich sein,
wenn der entsprechende Erlass geändert oder ein neuer Erlass ausgearbeitet wird. Eine
Beihilfe, die durch einen Erlass (bspw. ein kantonales Gesetz) gewährt wurde, kann
163 / 931
grundsätzlich auch nur in dieser Form wieder weggenommen werden. Eine Verfügung
wird dazu in aller Regel nicht genügen. Es kommt jedoch auf die konkrete Ausgestal-
tung des betroffenen Erlasses sowie des anwendbaren Verfahrens- oder Organisati-
onsrechts an. Entsprechend lässt Absatz 2 offen, in welcher Form der Beihilfegeber
entscheiden muss. Entscheidet der Beihilfegeber durch Erlass, ermöglicht dies der
Überwachungsbehörde unter Umständen den Rechtsweg über die abstrakte Normen-
kontrolle gegen die neuen Bestimmungen zu beschreiten und eine gerichtliche Beur-
teilung zu erwirken. Dies jedoch nur, wenn die neuen oder geänderten Bestimmungen
selber wiederum eine Beihilfe darstellen.
144
Wenn der Beihilfegeber in einer Form,
die keine Anfechtung erlaubt, entscheidet oder untätig bleibt, kann der Bund bei kan-
tonalen Beihilfen auf weitere Mittel der Bundesaufsicht
145
zurückgreifen. Dadurch
kann die korrekte Anwendung des BHÜG beziehungsweise der beihilferechtlichen
Bestimmungen der völkerrechtlichen Verträge sichergestellt werden.
Art. 33
Verfahren bei als unzulässig beurteilten Beihilferegelungen
Kommt die Überwachungsbehörde in ihrer Stellungnahme im Rahmen des besonde-
ren Verfahrens zum Schluss, dass eine nicht mitgeteilte Beihilferegelung unzulässig
ist, ist der Beihilfegeber verpflichtet, alle den Erlass anwendenden Beihilfegeber, die
gestützt auf die als unzulässig beurteilte Beihilferegelung Umsetzungsbeihilfen ge-
währen könnten, auf ihre (zukünftige) Mitteilungspflicht hinzuweisen. Es soll nicht
an der Überwachungsbehörde liegen, herauszufinden, welche Beihilfegeber gestützt
auf die unzulässige Beihilferegelung Umsetzungsbeihilfen erlassen könnten. Sobald
ihr jedoch Umsetzungsbeihilfen mitgeteilt werden, ist sie verpflichtet, dagegen vor-
zugehen, das heisst eine Beschwerde beim zuständigen Gericht zu erheben. Diese
Pflicht ergibt sich aus der Beschwerdepflicht.
Neben den Beschwerden gegen neue Umsetzungsbeihilfen muss die Überwachungs-
behörde auch die Rückerstattung bereits gewährter und ausbezahlter Umsetzungsbei-
hilfen, die sich auf die von ihr als unzulässig beurteilte Beihilferegelung stützen, ver-
anlassen. Sie verlangt dazu bei den einzelnen Beihilfegeber deren Widerruf und die
Rückforderung allfälliger Vorteile des Beihilfegebers. Das konkrete Vorgehen richtet
sich nach Artikel 31 VE-BHÜG.
4. Abschnitt: Direkte Beschwerde ohne Nachmeldung
Art. 34
Beschwerdepflicht bei Beihilfen, die vor einer Stellungnahme der
Überwachungsbehörde mitgeteilt werden
Wenn der Beihilfegeber keine Anmeldung durchführt oder die Beihilfe zu einem Zeit-
punkt gewährt, bevor die Stellungnahme der Überwachungsbehörde erfolgen kann,
ist die Überwachungsbehörde verpflichtet, Beschwerde zu erheben. In Bezug auf Bei-
hilfen des Bundes verhindert das Durchführungsverbot ein entsprechendes Vorgehen
des Beihilfegebers.
144
Vgl. bspw. Art. 87 BGG.
145
Vgl. dazu anstatt vieler Giovanni Biaggini, Kommentar BV, 2. A., Zürich 2017, Art. 49
N. 25.
164 / 931
Erhält die Überwachungsbehörde Kenntnis von einer nicht angemeldeten Beihilfe, die
aber noch nicht (rechtskräftig) gewährt wurde, kann sie zunächst den Beihilfegeber
auf die Anmelde- und Mitteilungspflicht hinweisen. Teilt der Beihilfegeber eine Bei-
hilfe gemäss Artikel 24 VE-BHÜG mit, ohne aber zuvor das ordentliche Verfahren
durchlaufen zu haben, muss die Überwachungsbehörde sofort Beschwerde erheben.
Dies bedeutet, dass sie somit innerhalb der Beschwerdefrist handeln muss und nur auf
eine Beschwerde verzichten kann, wenn sie ihre Bedenken innerhalb dieser Frist aus-
räumen kann. In dieser Konstellation kann sie die Gewährung der Beihilfe durch die
Beschwerde und der daraus folgenden aufschiebenden Wirkung verhindern, weshalb
es nicht opportun ist, zunächst ein besonderes Verfahren zu eröffnen. Es erfolgt in
dieser Konstellation keine Prüfung nach dem 2. Abschnitt des 3. Kapitels VE-BHÜG
durch die Überwachungsbehörde.
Handelt es sich bei der nicht mitgeteilten Beihilfe um einen öffentlich-rechtlichen
Vertrag oder ausnahmsweise um einen Realakt, ist in der Regel keine unmittelbare
Beschwerde möglich. Die Überwachungsbehörde muss zunächst nach dem Verfahren
auf Erlass einer Verfügung (s. Art. 26 VE-BHÜG) vorgehen und, wo nötig, vorsorg-
liche Massnahmen beantragen. Sobald jedoch der Beihilfegeber verfügt hat, kann sie
dagegen Beschwerde erheben.
Möglich ist auch, dass der Beihilfegeber die Beihilfe zwar anmeldet, aber sofort da-
nach gewährt und mitteilt. Auch in diesem Fall muss die Überwachungsbehörde Be-
schwerde erheben, um die rechtskräftige Gewährung der nicht geprüften Beihilfe zu
verhindern.
Art. 35
Beschwerde bei Verletzung der Mitteilungspflicht
Wird die Eröffnungspflicht
146
gegenüber einer Bundesbehörde wie der Überwa-
chungsbehörde verletzt, stellt dies einen Eröffnungsmangel dar. Die Mitteilungs-
pflicht nach Artikel 24 VE-BHÜG ist eine entsprechende Eröffnungspflicht. Die
Folge einer mangelhaften Eröffnung ist grundsätzlich, dass die betroffene Verfügung
oder der Entscheid für die Bundesbehörde nicht in Rechtskraft erwächst. Die Bundes-
behörde kann deshalb, sobald sie Kenntnis erhält, die Verfügung oder den Entscheid
auch nachträglich anfechten.
147
Dies jedoch nur innert der 30-tägigen Beschwerde-
frist, die ab Kenntnis der Beihilfegewährung durch die Überwachungsbehörde läuft
(s. Art. 38 VE-BHÜG). Der vorliegende Artikel stellt sicher, dass der Überwachungs-
behörde diese Beschwerdemöglichkeit neben der neu durch das VE-BHÜG spezial-
gesetzlich vorgesehenen Nachmeldung erhalten bleibt und nicht übersteuert wird. Zu
berücksichtigen ist jedoch, dass Erlasse mit Ablauf der Beschwerdefrist wirksam wer-
den. Die fehlende Mitteilung an die Überwachungsbehörde nach Artikel 24 VE-
BHÜG kann den Eintritt der Wirksamkeit nicht verhindern. Die Überwachungsbe-
hörde kann diesfalls nur noch nach Artikel 33 beziehungsweise 32 VE-BHÜG vorge-
hen.
146
Vgl. dazu insb. Verordnung über die Eröffnung letztinstanzlicher kantonaler Entscheide in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 8. November 2006, SR
173.110.47
.
147
Vgl. dazu Urteil 1C_238/2021 vom 27. April 2022 E. 1.3.1; Yannick Fuchs/Markus Mül-
ler, Behördenbeschwerde als Mittel der Bundesaufsicht, ZBl 124/2023, S. 459–480, 470.
165 / 931
Eine Beschwerde kommt grundsätzlich in Frage, wenn die Überwachungsbehörde
schnell (während der laufenden Beschwerdefrist) zur Überzeugung gelangt, dass die
Beihilfe unzulässig ist, beispielsweise weil sie bereits einen ähnlichen Fall geprüft hat
und ihr die notwendigen Informationen bereits vorliegen. Dies ist auch der Fall, wenn
die Überwachungsbehörde im Rahmen einer ordentlichen Prüfung eine negative Stel-
lungnahme abgegeben hat, die Gewährung der Beihilfe aber schliesslich nicht mitge-
teilt wurde. In diesem Fall ist eine Nachmeldung nicht mehr erforderlich. In aller Re-
gel wird die Überwachungsbehörde jedoch nicht über genügend Informationen für
eine eindeutige Beurteilung verfügen und ist deshalb auf das Vorgehen nach den Ar-
tikeln 29 und 30 VE-BHÜG angewiesen. Artikel 35 VE-BHÜG wird deshalb voraus-
sichtlich nur in Ausnahmefällen zum Tragen kommen. Es obliegt der Überwachungs-
behörde zu entscheiden, welches Vorgehen zielführender ist.
Handelt es sich bei der nicht mitgeteilten Massnahme um einen öffentlich-rechtlichen
Vertrag oder ausnahmsweise um einen Realakt, ist keine unmittelbare Beschwerde
möglich, weshalb die Überwachungsbehörde zunächst ein Anfechtungsobjekt erwir-
ken muss. Sie kann nach Artikel 26 VE-BHÜG vorgehen. Gegen Beihilfen der Bun-
desversammlung sowie des Bundesrates kann die Überwachungsbehörde keine Be-
schwerde erheben, auch wenn sie nicht mitgeteilt worden sind (s. Art. 37 Abs. 4 VE-
BHÜG bzw. Art. 189 Abs. 4 BV). Grundsätzlich müssen aber sowohl der Bundesrat
als auch die Bundesversammlung auf die Gewährung von Beihilfen in diesen Formen
verzichten aufgrund des Beihilfeverbots in Artikel 3 der Beihilfeprotokolle respektive
Artikel 13 des Stromabkommens verzichten. Andernfalls riskiert die Schweiz ein
Streitbeilegungsverfahren über die Frage der Vereinbarkeit mit den völkerrechtlichen
Verträgen der in dieser Form gewährten Beihilfen. Solche Konstellationen sind in der
Praxis aber ohnehin kaum denkbar.
148
5. Kapitel: Beschwerdeverfahren
Vorbemerkung
Die Beihilfe ist nicht an eine bestimmte Form gebunden und kann in Form einer Ver-
fügung, eines Erlasses, eines öffentlich-rechtlichen Vertrags oder ausnahmsweise ei-
nes Realakts gewährt werden. Um am bestehenden Rechtssystem beziehungsweise
Verfahrensrecht anknüpfen zu können, wird im vorliegenden Kapitel des VE-BHÜG,
wo möglich, jeweils die Rechtsform «Verfügung» oder «Erlass» verwendet, anstatt
der generelle Begriff «Beihilfe». Dies erleichtert auch das Zusammenspiel mit dem
anwendbaren Verwaltungsverfahrensrecht.
Die Bestimmungen des 5. Kapitels gelten für alle kantonalen Rechtsmittelverfahren
(erste und zweite Instanz), die das Beihilferecht betreffen, auch wenn diese im kanto-
nalen Recht nicht als Beschwerdeverfahren bezeichnet werden. In Rechtsmittelver-
fahren betreffend Beihilfen, die von einem Beihilfegeber des Bundes gewährt wurden,
gilt das vorliegende Kapitel für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht.
Für das Verfahren vor dem Bundesgericht gehen die Bestimmungen des BGG vor.
148
S. aber die Beispiele in Fn. 121.
166 / 931
Art. 36
Beschwerdelegitimation der Überwachungsbehörde
Die Bestimmung regelt sowohl die zulässigen Anfechtungsobjekte als auch die Legi-
timation der Überwachungsbehörde für deren Beschwerde.
149
Die Artikel 36 und 37
VE-BHÜG stellen sicher, dass die Überwachungsbehörde auch ohne eigene Rechts-
persönlichkeit gegen Beihilfen anderer Bundesbehörden Beschwerde erheben kann.
Es handelt sich um die notwendige spezialgesetzliche Regelung nach Artikel 37 VGG
in Verbindung mit Artikel 48 Absatz 2 VwVG, Artikel 37
a
Absatz 2 VE-VGG und
Artikel 89 Absatz 2 Buchstabe d BGG.
150
Die Überwachungsbehörde kann Beschwerde gegen Umsetzungsbeihilfen und Ad-
hoc-Beihilfen in der Form von Verfügungen, Verfügungen betreffend Umsetzungs-
beihilfen in der Form von öffentlich-rechtlichen Verträgen oder ausnahmsweise von
Realakten (s. insb. Art. 26 Abs. 3 und Art. 31 Abs. 3 VE-BHÜG) sowie gegen Beihil-
feregelungen und Ad-hoc-Beihilfen in der Form von Erlassen erheben.
Sie kann Beschwerde gegen Beihilfen aller Beihilfegeber mit Ausnahme der Bundes-
versammlung sowie des Bundesrats erheben (Abs. 2). Damit sind Beihilfegeber der
Kantone, Gemeinden und die übrigen Bundesbehörden (Departemente, Ämter oder
andere Verwaltungseinheiten) erfasst.
Der Umstand, dass die Überwachungsbehörde abstrakt gegen Beihilferegelungen und
Ad-hoc-Beihilfen in der Form von Erlassen der übrigen Bundesbehörden (insb. De-
partemente, Ämter, etc.) vorgehen kann, bedingt eine Änderung von Artikel 31 des
Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005
151
(VGG). Aktuell ist eine abstrakte
Normenkontrolle auf Bundesebene nämlich nicht vorgesehen. In Artikel 31 VGG ist
daher neu vorzusehen, dass das Bundesverwaltungsgericht auch für Beschwerden
nach diesem Artikel zuständig ist (s. dazu die Ausführungen zu Art. 31
a
VE-VGG in
Ziff. 2.2.8.2).
Für Fälle, in denen die Überwachungsbehörde nicht verpflichtet ist, Beschwerde zu
erheben (s. Art. 37 VE-BHÜG), statuiert der vorliegende Artikel ein Beschwerderecht
der Überwachungsbehörde. Beispielsweise besteht keine Beschwerdepflicht nach der
ersten gerichtlichen Beurteilung einer Beihilfe. In solchen Fällen kann die Überwa-
chungsbehörde entscheiden, ob sie sich der gerichtlichen Beurteilung anschliesst oder
das Verfahren weiterzieht.
Art. 37
Beschwerdepflicht der Überwachungsbehörde
Die Überwachungsbehörde muss Beschwerde gegen eine Beihilfe erheben, wenn sie
zuvor in ihrer Stellungnahme zum Schluss gekommen ist, dass diese Beihilfe gegen
die beihilferechtlichen Bestimmungen der völkerrechtlichen Verträge verstösst und
sie die Beihilfe somit als unzulässig beurteilt. Hat der Beihilfegeber die Beihilfe nach
der Stellungnahme der Überwachungsbehörde entsprechend angepasst, kann die Be-
schwerdepflicht entfallen. Entscheidend ist in solchen Fällen die Beurteilung der
149
S. für das Beschwerderecht der WEKO auch Artikel 39 Abs. 2 E-KG; BBl 2023 1464, S. 4
sowie BBl 2023 1463, S. 44.
150
S. bspw. Urteil 1C_66/2015 vom 12. November 2015 E. 1.2.4 in fine.
151
SR
173.32
167 / 931
Überwachungsbehörde, ob sie die Beihilfe durch die Änderungen als zulässig erach-
tet.
In ihrer Beschwerde muss die Überwachungsbehörde die Aufhebung der Beihilfe ver-
langen. Im Fall von Umsetzungsbeihilfen ist die Aufhebung nur möglich für die kon-
krete Umsetzungsbeihilfe und nicht gleichzeitig für die Beihilferegelung, auf die sie
gestützt ist. Die Zulässigkeit der Beihilferegelung kann aber im Rahmen des Be-
schwerdeverfahrens gegen die Umsetzungsbeihilfe vorfrageweise geprüft werden
(konkrete Normenkontrolle). Wird die Beschwerde von der zuständigen Rechtsmitte-
linstanz vollständig gutgeheissen, führt dies zur Aufhebung der angefochtenen Bei-
hilfe. Daneben muss die Überwachungsbehörde immer auch die Rückforderung all-
fälliger Vorteile verlangen, um sicherzustellen, dass die rechtswidrige Beihilfe
möglichst geringfügige schädliche Auswirkungen auf den Wettbewerb hat.
Handelt es sich bei der angefochtenen Beihilfe um eine Beihilferegelung, sollte keine
Rückforderung notwendig sein beziehungsweise ist die Rückforderung von allenfalls
bereits gewährten Umsetzungsbeihilfen separat zu erwirken. Auch bei Ad-hoc-Bei-
hilfen in der Form eines Erlasses kann die Rückforderung je nach Ausgestaltung der
Beihilfe nicht Gegenstand der abstrakten Normenkontrolle sein. Gerichte können auf-
grund der Gewaltenteilung einen Erlass grundsätzlich nur aufheben, aber nicht abän-
dern, auch wenn in gewissen Kantonen die Schaffung von Übergangsregelungen mög-
lich ist.
152
In diesem Fall muss der Beihilfegeber die Rückforderung jedoch
nachträglich veranlassen, da der gewährte Vorteil keine gesetzliche Grundlage mehr
hat. Dies wird aber kaum je vorkommen, da im Zeitpunkt der abstrakten Normenkon-
trolle nur in Ausnahmefällen bereits Beihilfen gewährt sein werden.
Die Beschwerdepflicht der Überwachungsbehörde entfällt, sobald ein Gericht (im
Sinne von Art. 29
a
BV) die Beihilfe als zulässig beurteilt hat. In diesen Fällen ist die
Überwachungsbehörde nicht mehr verpflichtet, die Sache an die nächste gerichtliche
Instanz weiterzuziehen. Für Verfahren gegen Beihilfegeber des Bundes bedeutet dies,
dass die Überwachungsbehörde ein erstes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts nicht
zwingend an das Bundesgericht weiterziehen muss. Ob die Beschwerdepflicht der
Überwachungsbehörde gegen kantonale Beihilfegeber ebenfalls bereits nach der ers-
ten Instanz entfällt, hängt davon ab, ob die Kantone eine verwaltungsinterne oder eine
gerichtliche Instanz (z. B. das obere kantonale Gericht im Sinne von Art. 86 Abs. 2
BGG) als erste Instanz vorsehen.
Die Überwachungsbehörde kann Beihilfen der Bundesversammlung sowie des Bun-
desrats nicht direkt anfechten. Sie ist jedoch verpflichtet, gegen Umsetzungsbeihilfen,
welche gestützt auf negativ beurteilte Beihilferegelungen der Bundesversammlung
oder des Bundesrats gewährt werden, Beschwerde zu erheben, soweit sie die Umset-
zungsbeihilfen ebenfalls für unzulässig hält. Die Beschwerde ist möglich, wenn – wie
das üblicherweise der Fall ist – eine andere Bundesstelle (z. B. ein Departement oder
ein Amt) oder eine kantonale Behörde die Umsetzungsbeihilfe gewährt. Diese Pflicht
der Überwachungsbehörde als dezentrale Verwaltungsbehörde zur Herbeiführung ei-
ner konkreten Normkontrolle von Erlassen, die von der Bundesversammlung oder
152
Ralph David Doleschal, Die abstrakte Normenkontrolle in den Kantonen, Diss. ZStöR,
2019, insb. Ziff. V.3.6.
168 / 931
dem Bundesrat ausgearbeitet wurden, stellt ein Novum in der Schweizer Rechtsord-
nung dar. Im Beschwerdeverfahren gegen die Umsetzungsbeihilfe kann das Gericht
vorfrageweise auch die Beihilferegelung überprüfen (konkrete Normenkontrolle). In
Bezug auf Beihilferegelungen in der Form von Bundesgesetzen ist dabei Artikel 190
beziehungsweise Artikel 5 Absatz 4 BV zu berücksichtigen. Ein Gericht muss das Ge-
setz möglichst völkerrechtskonform auslegen, was vorliegend im Einklang mit den
beihilferechtlichen Bestimmungen der völkerrechtlichen Verträge nach Artikel 1 Ab-
satz 2 VE-BHÜG bedeutet. Wo dies nicht möglich ist, geht das Bundesgericht grund-
sätzlich von einem Vorrang des Völkerrechts aus. Vorbehalten bleibt die Schubert-
Praxis, wonach das Bundesgericht allenfalls vom Vorrang des Völkerrechts abweicht,
wenn der Bundesgesetzgeber die Verletzung von völkerrechtlichen Verpflichtungen
bewusst in Kauf genommen hat und dafür die politische Verantwortung über-
nimmt.
153
Die Neuerung beim Streitbeilegungsmechanismus in den Binnenmarktab-
kommen (Einführung eines Schiedsgerichts mit der Möglichkeit von verhältnismäs-
sigen Ausgleichsmassnahmen) wird vom Bundesgericht jedoch zu berücksichtigen
sein und dürfte Auswirkungen auf seine diesbezügliche Rechtsprechung haben.
Die Überwachungsbehörde muss jedoch – trotz negativer Stellungnahme – keine Be-
schwerde erheben, wenn die Beihilfe seit der Stellungnahme geändert wurde und nach
Einschätzung der Überwachungsbehörde nun als zulässig betrachtet werden kann.
Dies soll unnötige Verfahren vermeiden.
Art. 38
Beschwerdefrist
Die Beschwerdepflicht der Überwachungsbehörde knüpft bei Verfügungen an die
Mitteilungspflicht der Beihilfegeber an. Beihilfegeber sind verpflichtet alle Beihilfen,
die sie gewähren, der Überwachungsbehörde mitzuteilen (s. Art. 24 VE-BHÜG).
Die
Beschwerdefrist von 30 Tagen beginnt mit der Eröffnung der Beihilfe in der Form
einer Verfügung an die Überwachungsbehörde. Dies entspricht der Regelung von Ar-
tikel 50 Absatz 1 VwVG. Eine ausdrückliche Regelung im VE-BHÜG ist notwendig,
damit der Fristenlauf für die Überwachungsbehörde auch in kantonalen Verfahren
einheitlich ist. Artikel 38 VE-BHÜG regelt nur die Frist für Beschwerden der Über-
wachungsbehörde. Für alle anderen Beschwerden gelten die im anwendbaren Verfah-
rensrecht festgelegten Fristen (s. Art. 40 VE-BHÜG).
Der Fristenlauf für Beschwerden gegen Erlasse wird aus Überlegungen der Rechtssi-
cherheit nicht an die Mitteilungspflicht geknüpft. Vielmehr ist dafür die Veröffentli-
chung gemäss anwendbarem Publikations- und Verfahrensrecht massgebend.
Die Berechnung der Beschwerdefrist folgt den Regeln des anwendbaren Verfahrens-
rechts und nicht dem Verweis ins VwVG. Damit wird der Eingriff in die Autonomie
der Kantone möglichst klein gehalten.
Art. 39
Aufschiebende Wirkung und Wirksamkeit
Ein Ziel der Beihilfeüberwachung ist sicherzustellen, dass keine unzulässige Beihilfe
gewährt wird. Auch eine nur vorübergehend gewährte Beihilfe kann eine schädliche
153
BGE 99 Ib 39 E. 3; 138 II 524 E. 5.3.1.
169 / 931
Auswirkung auf den Wettbewerb haben. Um dies zu verhindern, ist die aufschiebende
Wirkung der Beschwerden der Überwachungsbehörde ein zentrales Element des
Überwachungsverfahrens.
154
Während des Beschwerdeverfahrens betreffend eine
Verfügung oder einen Erlass sollen die entsprechenden Beihilfen grundsätzlich noch
nicht ausbezahlt werden.
Die Gewährung der aufschiebenden Wirkung für Beschwerden ist jedoch nicht aus-
reichend, um das oben genannte Ziel zu erreichen, da auf Bundesebene und in den
meisten Kantonen die aufschiebende Wirkung erst beginnt, wenn ein (ordentliches)
Rechtsmittel ergriffen wird (s. Art. 55 Abs. 1 VwVG).
155
Neben der Regelung der auf-
schiebenden Wirkung wird im Vorentwurf deshalb auch die Wirksamkeit der Verfü-
gungen und Erlasse geregelt. Um sicherzustellen, dass die Beihilfe während der
Rechtsmittelfrist und des gesamten Beschwerdeverfahrens nicht gewährt wird, regelt
der Vorentwurf ausdrücklich, zu welchem Zeitpunkt die Beihilfe wirksam wird. Eine
Beihilfe kann in drei verschiedenen Zeitpunkten beziehungsweise Konstellationen
wirksam werden, nämlich:
–
bei unbenutztem Ablauf der Rechtsmittelfrist; oder
–
mit dem Eintritt der Rechtskraft eines Beschwerdeentscheids; oder
–
mit dem Entzug der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde.
Die letzte Konstellation stellt sicher, dass der Beihilfegeber oder das zuständige Ge-
richt die Möglichkeit behält, nach dem anwendbaren Verfahrensrecht über einen all-
fälligen Entzug der aufschiebenden Wirkung zu entscheiden. Auf Bundesebene richtet
sich dies nach Artikel 55 VwVG. Ein Entzug kann jedoch nur in Ausnahmefällen ge-
rechtfertigt sein. Es besteht ein erhebliches öffentliches Interesse am Aufschub der
Wirksamkeit, das heisst, dass keine unzulässige Beihilfe gewährt wird, beziehungs-
weise am Schutz des Wettbewerbs. Dies wird in der Interessensabwägung zu berück-
sichtigen sein, wobei die Gründe für eine sofortige Vollstreckbarkeit entsprechend
überzeugend sein müssen.
156
Im Falle von Erlassen muss die zuständige Instanz zu-
sätzlich die generell-abstrakte Wirkung beziehungsweise die Allgemeinverbindlich-
keit berücksichtigen, die gegen eine aufschiebende Wirkung sprechen kann.
157
Um
den Wettbewerbsschutz sicherzustellen, ist die Überwachungsbehörde in der Regel
auch verpflichtet, gegen einen Zwischenentscheid vorzugehen, der die aufschiebende
Wirkung entzieht.
Die Regelung zur Wirksamkeit von Beihilfen im VE-BHÜG hat als «lex specialis»
Vorrang vor anderen gesetzlichen Bestimmungen, die die aufschiebende Wirkung
ausdrücklich entziehen, wenn es um beihilfegewährende Verfügungen oder Erlasse
geht. Regelt ein neues Gesetz nach dem BHÜG die aufschiebende Wirkung in einem
154
Vgl. dazu auch Art. 4 Abs. 3 Bst. b Ziff. III der beiden Beihilfeprotokolle respektive
Art. 14 Abs. 3 Bst. b Ziff. III des Stromabkommens.
155
Vgl. Benjamin Märkli, Die aufschiebende Wirkung im öffentlichen Recht des Bundes und
der Kantone, Diss., 2022, Rz. 490 ff.
156
Vgl. zur Interessensabwägung BGE 110 V 40 E. 5.
157
Vgl. bspw. Urteile 2P.263/2001 vom 5. November 2001 E. 2b.bb; 2C_774/2014;
2C_813/2014; 2C_815/2014; 2C_816/2014 sowie Kaspar Plüss, Aufschiebende Wirkung
im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle, ZBl 115/2014, S. 414-419.
170 / 931
der erfassten Sektoren, muss das Verhältnis zum vorliegenden Artikel ausdrücklich
geklärt werden. Grundsätzlich geht das BHÜG als Spezialgesetz in Bezug auf Beihil-
fen vor.
Bei öffentlich-rechtlichen Verträgen mit beihilfegewährenden Klauseln kann die
Überwachungsbehörde nach Artikel 26 VE-BHÜG vorgehen und wenn nötig beim
Beihilfegeber beziehungsweise beim zuständigen Gericht die notwendigen vorsorgli-
chen Massnahmen beantragen, um eine vorzeitige Gewährung der Beihilfe zu verhin-
dern. Da Beihilfen in der Form von Realakten sofort umgesetzt sind, erübrigt sich für
diese eine Regelung der aufschiebenden Wirkung. In diesem Fall muss die Überwa-
chungsbehörde ebenfalls nach dem Verfahren auf Erlass einer Verfügung vorgehen
und kann, entsprechend den Möglichkeiten des anwendbaren Verfahrensrechts, vor-
sorgliche Massnahmen verlangen.
Art.40
Anwendbares Verfahrensrecht
Grundsätzlich richten sich die Beschwerdeverfahren im Zusammenhang mit der An-
wendung des Gesetzes nach dem anwendbaren Verfahrensrecht. Das vorliegende Ge-
setz sieht lediglich wenige spezialgesetzliche Regeln vor, insbesondere zu den zuläs-
sigen Anfechtungsgegenständen, der Beschwerdelegitimation und -pflicht der
Überwachungsbehörde sowie zur Beschwerdefrist der Überwachungsbehörde. Für
Beschwerden gegen Verfügungen und Erlasse des Bundes richtet sich das Beschwer-
deverfahren daher nach den allgemeinen Bestimmungen der Bundesrechtspflege
(insb. VwVG, VGG, BGG), während bei Verfügungen und Erlassen der Kantone das
jeweils anwendbare kantonale Verfahrensrecht gilt.
Nach dem anwendbaren Verfahrensrecht bestimmen sich insbesondere zunächst die
zulässigen Anfechtungsobjekte für Beschwerden von Dritten (s. insb. auch Art. 82
Bst. b
bis
VE-BGG und Art. 31
a
VE-VGG). Auch die Legitimation von Dritten zur
Erhebung einer Beschwerde gegen Beihilfen richtet sich nach dem anwendbaren Ver-
fahrensrecht: Nach Artikel 89 Absatz 1 BGG ist zur Beschwerde berechtigt, wer unter
anderem durch den angefochtenen Entscheid besonders berührt ist und ein schutzwür-
diges Interesse an dessen Aufhebung oder Änderung hat. Unter welchen Umständen
diese Voraussetzungen bei einem Konkurrenten im Sinne von Artikel 21 VE-BHÜG
erfüllt sind, richtet sich grundsätzlich nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung
wobei zukünftig auch die beihilferechtlichen Bestimmungen der völkerrechtlichen
Verträge sowie die entsprechende EU-Praxis zu berücksichtigen sind. Notwendig ist
eine schutzwürdige besonders enge Beziehungsnähe des Konkurrenten zum Streitge-
genstand beziehungsweise zur in Frage stehenden Beihilfe. Diese Beziehungsnähe
muss sich aus der einschlägigen gesetzlichen Ordnung ergeben. So kann ein schutz-
würdiges Interesse für Konkurrenten vorliegen, wenn sie durch wirtschaftspolitische
oder sonstige Regelungen in eine solche besondere Beziehungsnähe untereinander
versetzt werden. Ein Konkurrent kann zudem beschwerdebefugt sein, soweit er gel-
tend macht, dass andere Konkurrenten privilegiert behandelt würden. Das allgemeine
Interesse an der richtigen Anwendung der für alle geltenden Vorschriften reicht dazu
jedoch nicht aus.
158
158
Vgl. BGE 142 II 80 E. 1.4.2; 139 II 328 E. 3.4 f.; vgl. auch BGE 147 II 144 E. 4.5.
171 / 931
Mit dem durch die völkerrechtlichen Verträge nach Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG
übernommene Beihilferecht sowie dem damit verbundenen Überwachungsverfahren
dürfte eine gesetzliche Ordnung bestehen, welche grundsätzlich eine schutzwürdige
besondere Beziehungsnähe begründet. In dieser Hinsicht ist das Beihilferecht mit dem
Kartellrecht zu vergleichen.
159
So dient das Beihilferecht dem Schutz des Wettbe-
werbs und verhindert insbesondere schädliche Auswirkungen von Beihilfen. Der
Wettbewerb wird durch die Auswirkungen einer Beihilfe verfälscht, wenn sie geeig-
net ist, die Wettbewerbsposition des Beihilfeempfängers gegenüber seinen Wettbe-
werbern zu verbessern. Damit verfolgt das Beihilferecht insbesondere auch das Ziel,
unter Konkurrenten gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. Beteiligt sich ein
Konkurrent an einem Verfahren der Überwachungsbehörde oder einem darauffolgen-
den Rechtsmittelverfahren, setzt er sich für die Gewährleistung eines wirksamen
Wettbewerbs ein, auch wenn er selbst aus «egoistischen» Interessen handelt. Ob es
zudem Konstellationen geben wird, in denen ein Konkurrent geltend machen kann,
dass einer seiner Konkurrenten im Sinne der oben beschriebenen Rechtsprechung pri-
vilegiert behandelt werde, indem er eine unzulässige (und damit wettbewerbsverzer-
rende) Beihilfe erhalte, ist fraglich, da sich in der Praxis kaum Anwendungsfälle die-
ser Fallgruppe finden lassen.
160
Bei der Prüfung, ob die genannten Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind, werden
die rechtsanwendenden Behörden neben der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu-
künftig im Hinblick auf die Verpflichtung der Schweiz, ein gleichwertiges Beihilfe-
überwachungssystem zu schaffen, auch die einschlägige unionsrechtliche Rechtspre-
chung zu berücksichtigen haben.
161
Generell müssen die Schweizer Justizbehörden
bei der Anwendung des BHÜG die einschlägige Rechtsprechung des EuGH berück-
sichtigen, soweit diese Berücksichtigung die Einhaltung der Pflicht der Schweiz ein
gleichwertiges System zu schaffen, sicherstellt.
Daneben sind insbesondere die allgemeinen verfahrensrechtlichen Bestimmungen zu
Beschwerdegründen (s. für die Beschwerdegründe bei Beschwerden gegen Bundes-
erlasse vor dem Bundesverwaltungsgericht den neuen Artikel 37
b
VE-VGG und
Ziff. 2.2.8.2), Formvorschriften, dem rechtlichen Gehör, den zulässigen Vorinstan-
zen, allfälligen Streitwertgrenzen und dem Novenrecht, das heisst insbesondere wann
neue Tatsachen vorgebracht werden können, anwendbar.
Bezüglich der möglichen Beschwerdegründe, die die Überwachungsbehörde in ihrer
Beschwerde vorbringen kann, ist darauf hinzuweisen, dass die Überwachungsbehörde
nach Artikel 4 Buchstaben b, d und e VE-BHÜG die Aufgabe hat sicherzustellen, dass
keine unzulässigen geplanten Beihilfen gewährt werden. Sinn und Zweck der in die-
sem Gesetz speziell geregelten Behördenbeschwerde der Überwachungsbehörde ist
die einheitliche und korrekte Anwendung des Bundesrechts (insb. des BHÜG) und
die Zulässigkeit der Beihilfen zu gewährleisten.
162
Folglich kann die Überwachungs-
behörde in Beschwerdeverfahren gegen kantonale Beihilfegeber keine Verletzung
von kantonalem Recht (bspw. im Bereich der Subventionen) rügen. Hingegen können
159
Vgl. BGE 139 II 328 E. 3.4 f.
160
Vgl. René Wiederkehr/Stefan Eggenschwiler, Die allgemeine Beschwerdebefugnis Dritter,
2. A., Bern 2025, Rz. 129 ff. zur geringen praktischen Bedeutung dieser Praxis.
161
Vgl. etwa Urteil C-224/23 P des Europäischen Gerichtshofs vom 5. September 2024.
162
Vgl. BGE 148 II 369 E. 3.3.7.
172 / 931
allenfalls beschwerdeberechtigte Beihilfeempfänger sowie Dritte alle nach dem an-
wendbaren Verfahrensrecht zulässigen Beschwerdegründe rügen. Dazu gehört auch
die Verletzung der beihilferechtlichen Bestimmungen der völkerrechtlichen Verträge.
So dürfte etwa die Rüge der Unangemessenheit nur in wenigen Verfahrensordnungen
zulässig sein.
6. Kapitel: Rückforderung
Art. 41
Modalitäten der Rückerstattung
Abs. 1
In aller Regel ist eine Rückforderung im normalen Beschwerdeverfahren aufgrund der
aufschiebenden Wirkung der Beschwerde nicht notwendig. Die Frage der Rückforde-
rung stellt sich vor allem bei den besonderen Verfahren wegen einer Verletzung der
Anmelde- beziehungsweise Mitteilungspflicht (s. 4. Kapitel VE-BHÜG). Zu berück-
sichtigen ist dabei, dass für die kantonalen Beihilfegeber kein Durchführungsverbot
gilt. Eine Rückforderung wird notwendig, wenn die Beihilfe bereits gewährt und aus-
bezahlt beziehungsweise zugewandt wurde, bevor die Überwachungsbehörde über-
haupt davon Kenntnis nimmt oder eine Beschwerde erheben konnte. Die Rückforde-
rung ist im vorliegenden Kontext von entscheidender Bedeutung, um die
Wettbewerbsverzerrung möglichst zu beheben, die durch den gewährten Vorteil ver-
ursacht wurde.
Kommt die Überwachungsbehörde in der Prüfung in einem besonderen Verfahren
zum Schluss, dass die geprüfte Beihilfe unzulässig ist, hat sie auch die Rückforderung
der Beihilfe anzustossen. Dafür hat sie im Verfahren zur Beseitigung der unzulässigen
Beihilfen jeweils nicht nur den Widerruf der Beihilfe zu beantragen, sondern auch die
Rückforderung allfälliger Vorteile (s. Art. 31 Abs. 2 und 32 Abs. 1 VE-BHÜG). Dazu
gehören auch allfällige Zinsen, die der Beihilfeempfänger erhalten hat.
163
In der Folge
wird der Beihilfegeber, wenn er mit den Anträgen der Überwachungsbehörde einver-
standen ist, auch die Rückerstattung anordnen. Verfügt der Beihilfegeber die Rücker-
stattung nicht, weil er mit den Anträgen der Überwachungsbehörde nicht einverstan-
den ist, muss die Überwachungsbehörde in der Folge Beschwerde erheben. Wird im
Beschwerdeverfahren die Unzulässigkeit der Beihilfe bestätigt, so muss der unterle-
gene Beihilfegeber die Beihilfe nachträglich zurückfordern.
Weigert sich der Beihilfeempfänger schliesslich, einem Urteil oder einer Verfügung,
welche die Rückerstattung anordnet, nachzukommen, kann und muss der Beihilfege-
ber die üblichen Vollstreckungswege beschreiten.
164
Der Begriff der Rückerstattung muss sodann weit verstanden werden. Besteht die un-
zulässige Beihilfe aus dem Erlass einer Forderung, bedeutet die Rückerstattung, dass
der Beihilfegeber die Forderung wieder geltend machen muss. Auch andere entstan-
dene wirtschaftliche Vorteile (bspw. durch eine Garantie), welche eine unzulässige
Beihilfe darstellen, müssen zurückgefordert werden. Zinsen fallen grundsätzlich für
163
Vgl. Erläuterungen zu Art. 4 Abs. 3 Bst. b Ziff. iv der völkerrechtlichen Bestimmungen zu
staatlichen Beihilfen in Ziff. 2.2.5.
164
Vgl. für den Bund Art. 40 VwVG.
173 / 931
den Zeitraum ab dem Tag, an dem die als unzulässig beurteilte Beihilfe dem Beihil-
feempfänger zur Verfügung stand, bis zur tatsächlichen Rückerstattung an.
165
Vorbehalt des Vertrauensschutzes
Vorbehalten bleibt jedoch der aus Artikel 9 der Bundesverfassung abgeleitete An-
spruch der Beihilfeempfänger auf Schutz ihres Vertrauens auf die Richtigkeit behörd-
lichen Handelns. Unter den in der Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen
können sich die Beihilfeempfänger unter Berufung auf Artikel 9 BV gegen die Rück-
erstattung einer rechtswidrigen Beihilfe wehren, namentlich wenn sie sich auf die
Rechtmässigkeit der Beihilfe verlassen durften.
166
In diesem Fall würde eine Rücker-
stattung nicht erfolgen. In der EU-Rechtsprechung kommt der Vertrauensschutz im
Beihilferecht jedoch äusserst selten zur Anwendung.
Eine erfolgreiche Berufung auf den Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3
und Art. 9 BV) beruht auf vier Voraussetzungen:
1. Vertrauensgrundlage: Potenzielle Vertrauensgrundlagen sind allein jene behördli-
chen Handlungen, die sich auf eine konkrete, den Rechtssuchenden berührende An-
gelegenheit beziehen und von einer Behörde ausgehen, die für die betreffende Hand-
lung zuständig ist oder die der Rechtssuchende aus zureichenden Gründen für
zuständig hält.
2. Berechtigtes Vertrauen: Der Beihilfeempfänger, der sich auf Vertrauensschutz be-
rufen will, muss berechtigterweise auf diese Grundlagen vertrauen dürfen. Das Ver-
trauen ist berechtigt, wenn sich das Verhalten des Beihilfegebers auf eine konkrete
Angelegenheit bezieht. Eine generelle Ansichtsäusserung genügt beispielsweise
nicht. Der Beihilfeempfänger muss bei der Beurteilung der Vertrauensgrundlage die
gebotene Sorgfalt walten lassen. Dabei muss er grundsätzlich nicht die Kenntnisse
und Fähigkeiten von Juristinnen und Juristen anwenden.
3. Eine Vertrauensbetätigung: Der Beihilfeempfänger muss nachteilige Dispositionen
getroffen haben, die er nicht mehr rückgängig machen kann.
4. Interessenabwägung: Die Berufung auf Treu und Glauben scheitert, wenn überwie-
gende öffentliche Interessen gegenüberstehen, insbesondere das Interesse an der rich-
tigen Durchführung des objektiven Rechts. In diesem Zusammenhang ist von den
rechtsanwendenden Behörden auch zu berücksichtigen, dass die Verfahrensregeln des
VE-BHÜG verhindern sollen, dass es zu Wettbewerbsverzerrungen kommt.
In den meisten Fällen wird der Vertrauensschutz einer Rückforderung nicht entgegen-
stehen. Zwar muss der Beihilfeempfänger nicht alle beihilferechtlichen Bestimmun-
gen der völkerrechtlichen Verträge kennen, missachtet er aber eine negative Stellung-
nahme der Überwachungsbehörde, kann kein berechtigtes Vertrauen des
Beihilfeempfängers entstehen.
Zudem muss die rechtswidrig gewährte Beihilfe vom Beihilfeempfänger bereits wei-
terverwendet worden sein, damit eine Vertrauensbetätigung vorliegt. Schliesslich
könnten überwiegende öffentliche Interessen, wie das Interesse an der richtigen
Durchführung des Beihilferechts, einer erfolgreichen Berufung auf den Grundsatz von
165
Vgl. Art. 14 Abs. 2 der EU-Verordnung 2015/1589.
166
Vgl. BGE 148 II 233 E. 5.5.1.
174 / 931
Treu und Glauben entgegenstehen. In diesen Fällen kann möglicherweise ein Vertrau-
ensschaden geschuldet sein, das heisst der Ersatz von nutzlos gewordenen Aufwen-
dungen (negatives Interesse).
167
Abs. 2
Die Rückerstattung muss samt Zinsen erfolgen, da jeglicher Vorteil der vorüberge-
hend zur Verfügung gestandenen Beihilfe rückgängig gemacht werden soll. So decken
Zinsen auch die Opportunitätskosten der Beschaffung der Mittel auf dem privaten
Markt ab.
Der Zinssatz für die allfälligen Zinszahlungen wird vom WBF auf Verordnungsstufe
festgelegt. Eine Regelung durch das WBF rechtfertigt sich dadurch, dass der Zinssatz
durch die Marktbedingungen technisch vorgeschrieben ist und entsprechend regel-
mässig angepasst werden muss. Die Methodik wird sich an Artikel 9 der Verordnung
Nr. 794/2004 der Europäischen Kommission orientieren. Die Höhe des Zinssatzes
wird anhand des Umfangs und der Häufigkeit der Interbankgeschäfte berechnet. Der
sogenannte Interbank-Swap-Satz wird dabei angepasst, um die erhöhten Geschäftsri-
siken ausserhalb des Bankensektors zu berücksichtigen.
168
Abs. 3
Kantone können einen anderen Zinssatz festlegen. Dieser darf jedoch nicht tiefer als
derjenige auf Bundesebene (Abs. 2) liegen. Zudem bleibt der Zinssatz von fünf Pro-
zent nach Artikel 30 Absatz 3 SuG vorbehalten unter der Voraussetzung, dass es sich
bei der Beihilfe auch um eine Finanzhilfe oder Abgeltung handelt und der Beihilfe-
empfänger schuldhaft gehandelt hat. Sollte der Zinssatz nach dem BHÜG höher lie-
gen, gilt dieser.
Art. 42
Verjährung des Rückforderungsrechts bei unzulässigen
Einzelbeihilfen
Abs. 1
Die absolute Verjährungsfrist des Rückforderungsrechts des Beihilfegebers für Um-
setzungsbeihilfen und Ad-hoc-Beihilfen beträgt zehn Jahre. Das entspricht der Ver-
jährungsfrist in der EU.
169
Eine relative Verjährungsfrist ist nicht vorgesehen, da die
Überwachungsbehörde bereits aufgrund der Fristen der besonderen Verfahren han-
deln muss. So hat sie beispielsweise innert 30 Tagen ab Kenntnis einer nicht mitge-
teilten Beihilfe eine Nachmeldung zu verlangen (s. Art. 29 VE-BHÜG). Zudem blei-
ben längere kantonale Verjährungsfristen vorbehalten, was bedeutet, dass in diesen
Fällen die Verjährung erst nach Ablauf der längeren kantonalen Frist eintritt.
Die Bestimmung ist nicht auf Beihilferegelungen anwendbar, da die eigentliche Ge-
währung der Beihilfe durch die Umsetzungsbeihilfe erfolgt. Erst dadurch kann ein
Rückforderungsrecht entstehen (s. Ausführungen zu Art. 44 VE-BHÜG).
167
S. Urteile 2C_960/2013, 2C_968/2014, 2C_973/2014 vom 28. Oktober 2014 E. 3.4.3 ff
und 4.5.4; 2C_97/2023 vom 19. August 2024 E. 6.2.2; Ulrich Häfelin/Georg Müller/Felix
Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 8. A., Zürich/St. Gallen 2020, N 706 ff.
168
S. Erwägung 12 zur Verordnung (EG) Nr. 794/2004 der Kommission.
169
Vgl. Art. 17 Abs. 1 der EU-Verordnung 2015/1589.
175 / 931
Der Beihilfegeber hat nicht nur ein Rückforderungsrecht, sondern auch eine Rückfor-
derungspflicht. Er muss das materielle Recht durchsetzen und dafür sorgen, dass eine
konforme Rechtslage durch die Rückforderung von unzulässigen Vorteilen erreicht
wird. Gleichzeitig muss der Bund mit den Mitteln der Bundesaufsicht sicherstellen,
dass der Beihilfegeber dieser Pflicht nachkommt. Dabei ist die Rückforderung weit
zu verstehen und umfasst auch allfällige Nachforderungen, falls die Beihilfe beispiels-
weise im Erlass einer Schuld oder Steuer bestand (s. auch die Ausführungen zu Art. 41
VE-BHÜG).
Stellt eine Beihilfe auch eine Finanzhilfe oder Abgeltung dar, laufen ab Entstehung
des Rückforderungsanspruchs zusätzlich die Verjährungsfristen nach SuG. Deren Ab-
lauf könnte eine Rückforderung der Beihilfe verhindern. Aufgrund der Handlungs-
fristen in den besonderen Verfahren ist aber davon auszugehen, dass der Beihilfegeber
die Beihilfe innert der dreijährigen subventionsrechtlichen relativen Verjährungsfrist
zurückfordern kann. Da zudem die absolute Verjährungsfrist nach Artikel 32 Absatz 2
SuG erst ab Kenntnis des Rückforderungsanspruchs läuft, sollte auch diese Verjäh-
rungsfrist einer Rückforderung nicht im Wege stehen. Es ist deshalb davon auszuge-
hen, dass die subventionsrechtlichen Verjährungsfristen einer Rückforderung von
Beihilfen nicht vorzeitig verhindern werden.
Abs. 2
Ist das Rückforderungsrecht verjährt, kann der Beihilfegeber die Vorteile nicht mehr
vom Beihilfeempfänger zurückverlangen. Die Überwachungsbehörde kann gegen die
verjährten Beihilfen nicht mehr mit den üblichen Mitteln vorgehen. Sie kann weder
eine Prüfung noch ein Beschwerdeverfahren einleiten, da die Beihilfen bereits ge-
währt wurden und die Anfechtungsfristen für eine ordentliche Beschwerde abgelaufen
sind. Ausdrücklich geregelt wird zudem, dass sie auch kein besonderes Verfahren ge-
mäss 4. Kapitel VE-BHÜG mehr einleiten kann, wozu nach der Logik des VE-BHÜG
auch die direkte Beschwerde innert 30 Tagen nach Kenntnisnahme der geplante Mas-
snahme durch die Überwachungsbehörde nach Artikel 35 VE-BHÜG zählt. Die Über-
wachungsbehörde geht aber bei bestehenden Beihilferegelungen nach Artikel 44 ff.
VE-BHÜG weiterhin vor.
Die Verjährungsfrist beginnt mit der Gewährung der Beihilfe. Umsetzungsbeihilfen
oder Ad-hoc-Beihilfen in der Form von Verfügungen gelten als gewährt, sobald die
Verfügung rechtskräftig ist für den Beihilfeempfänger und vollstreckt werden kann.
Realakte sind in der Regel sofort gewährt und bei öffentlich-rechtlichen Verträgen
kommt es auf die konkrete Ausgestaltung des Vertrages an, jedoch wird in der Regel
auf den Vertragsabschluss abgestellt werden können. Bei Ad-hoc-Beihilfen in der
Form von Erlassen ist das Datum des Inkrafttretens relevant. Es spielt hingegen keine
Rolle, wenn effektive Auszahlungen zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen.
Art. 43
Unterbrechung der Verjährung
Im Gegensatz zur EU wird die Verjährung nicht mit der Ergreifung jeglicher Mass-
nahmen unterbrochen,
170
sondern diese wird zugunsten der Rechtssicherheit auf zwei
170
Vgl. Art. 17 Abs. 2 der EU-Verordnung 2015/1589.
176 / 931
zentrale Handlungen der Überwachungsbehörde beschränkt: Der Einleitung einer ver-
tieften Prüfung und die Erhebung einer Beschwerde. Die Unterbrechung ist für be-
sondere Verfahren gemäss 4. Kapitel VE-BHÜG relevant, denn die Verjährungsfrist
läuft erst ab der Gewährung der Beihilfe. Damit der Überwachungsbehörde möglichst
Zeit für eine vertiefte Prüfung bleibt, soll die Verjährung bereits mit der Einleitung
der vertieften Prüfung unterbrochen werden. Je nach Konstellation würde es zu lange
dauern, bis es zur Beschwerdeerhebung kommt, um die Verjährung noch rechtzeitig
unterbrechen zu können. Die Wirkung der Unterbrechung wird in Absatz 2 geregelt.
Die Verjährungsfrist beginnt von Neuem zu laufen. Dies entspricht der Regelung im
Obligationenrecht
171
(s. Art. 137 OR). Für die Berechnung der Verjährungsfrist kön-
nen deshalb die Bestimmungen des Obligationenrechts sinngemäss angewendet wer-
den. Wird die Verjährung durch eine Beschwerde unterbrochen, beginnt die Verjäh-
rung erst wieder zu laufen, wenn das Beschwerdeverfahren rechtskräftig
abgeschlossen ist. Dies entspricht ebenfalls der aktuellen Rechtslage im Bereich des
Obligationenrechts.
172
Für nicht mitgeteilte Beihilferegelungen gilt die Verjährungsfrist nicht. Stattdessen
gelten diese zehn Jahre nach ihrem Inkrafttreten als bestehende Beihilfen (s. Art. 44
Abs. 1 Bst. b VE-BHÜG).
173
7. Kapitel: Fortlaufende Prüfung von bestehenden Beihilferegelungen
171
SR
220
172
S. Art. 138 OR sowie BGE 147 III 419.
173
Vgl. Art. 17 Abs. 3 der EU-Verordnung 2015/1589.
177 / 931
Bestehende Beihilferegelungen werden von der Überwachungsbehörde fortlaufend
geprüft. Mit der fortlaufenden Prüfung wird sichergestellt, dass bereits von einem Ge-
richt oder von der Überwachungsbehörde beurteilte Beihilferegelungen sowie Beihil-
feregelungen, welche die Überwachungsbehörde aus verschiedenen Gründen nicht
beurteilen konnte, zu einem späteren Zeitpunkt von der Überwachungsbehörde erneut
beziehungsweise erstmals überprüft werden können. Die fortlaufende Prüfung ermög-
licht eine lückenlose Überwachung der Beihilferegelungen, welche in Kraft sind.
Art. 44
Bestehende Beihilferegelungen
Abs. 1
Das VE-BHÜG sieht vier Kategorien von bestehenden Beihilferegelungen vor. Sie
unterscheiden sich durch den «Weg», auf welchem sie zu bestehenden Beihilferege-
lungen werden. Die Rechtsfolgen einer Qualifikation als bestehende Beihilferegelung
sind für alle vier Kategorien dieselben: Es gelangen Artikel 45–47 VE-BHÜG zur
Anwendung und es ist kein besonderes Verfahren (mehr) möglich (Abs. 2).
Die erste Kategorie (Bst. a) von bestehenden Beihilferegelungen bilden Beihilferege-
lungen, die in einem gerichtlichen Beschwerdeentscheid oder, falls keine Beschwerde
178 / 931
erhoben wurde, in einer Stellungnahme der Überwachungsbehörde als zulässig beur-
teilt wurden. Diese Beihilferegelungen werden sofort nach ihrem Inkrafttreten zu be-
stehenden Beihilferegelungen. Von Buchstabe a sind auch Beihilferegelungen erfasst,
die von der Überwachungsbehörde in einem besonderen Verfahren überprüft und als
zulässig beurteilt worden sind. Diese Beihilferegelungen werden, nachdem die Über-
wachungsbehörde in einem besonderen Verfahren ihre positive Stellungnahme abge-
ben konnte, rückwirkend auf ihr Inkrafttreten zu bestehenden Beihilferegelungen.
Buchstabe a ermöglicht, dass die Überwachungsbehörde bereits als zulässig beurteilte
Beihilferegelungen weiterhin fortlaufend überprüfen und reagieren kann, falls sich an
der Zulässigkeit der Beihilferegelung etwas ändern sollte (s. auch Bst. c).
Nach Buchstabe b bilden nicht mitgeteilte Beihilferegelungen die zweite Kategorie
der bestehenden Beihilferegelungen. Für diese Beihilferegelungen gilt eine Frist von
zehn Jahren seit ihrem Inkrafttreten bis sie als bestehende Beihilferegelungen gelten.
Bis zu diesem Zeitpunkt kann gegen eine Beihilferegelung ein besonderes Verfahren
nach den Artikeln 27 ff. VE-BHÜG eingeleitet werden, da sie unter Verletzung der
Mitteilungspflicht (Art. 24 VE-BHÜG) erlassen wurde. Eine nicht mitgeteilte Beihil-
feregelung wird folglich nach zehn Jahren (Bst. b) oder nach Abschluss des besonde-
ren Verfahrens mit einer Stellungnahme, dass sie zulässig ist (Bst. a) zu einer beste-
henden Beihilferegelung. Buchstabe b ist das Pendant zu Artikel 42 VE-BHÜG,
wonach das Rückforderungsrecht innert zehn Jahren nach der Gewährung verjährt
und die Überwachungsbehörde kein besonderes Verfahren mehr gegen (nicht mitge-
teilte) Einzelbeihilfen einleiten kann. Da durch den Erlass einer Beihilferegelung noch
kein geldwerter Vorteil gewährt wird, ist bei Beihilferegelungen auch keine Rückfor-
derung möglich. Somit kann kein Rückforderungsrecht verjähren, weshalb die nicht
mitgeteilten Beihilferegelungen nicht unter Artikel 42 VE-BHÜG fallen. Stattdessen
unterstehen sie nach Ablauf der 10-jährigen Frist einer fortlaufenden Prüfung durch
die Überwachungsbehörde.
Die dritte Kategorie von bestehenden Beihilfen umfasst Bestimmungen in Erlassen,
die zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens keine Beihilferegelungen waren und aufgrund
von Änderungen der sachlichen Gegebenheiten oder der beihilferechtlichen Bestim-
mungen der völkerrechtlichen Verträge eine Beihilferegelung geworden sind (Bst. c).
Diese Bestimmungen erfüllten die Merkmale einer Beihilfe im Zeitpunkt ihres In-
krafttretens folglich nicht und unterstanden auch keiner Prüfung durch die Überwa-
chungsbehörde. Eine Möglichkeit wäre je nach Konstellation, dass eine geförderte
Einheit neu die Merkmale eines Unternehmens beziehungsweise einer marktwirt-
schaftlichen Tätigkeit erfüllt und damit neu als Beihilfeempfänger klassifiziert wird.
Änderungen des materiellen Beihilferechts ergeben sich aus Anpassungen der völker-
rechtlichen Verträge nach Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG, was insbesondere auch im
Rahmen der dynamischen Rechtsübernahme geschehen kann (s. auch Ziff. 2.2.5.8).
Wird eine bereits beurteilte Beihilferegelung aufgrund von Änderungen der beihilfe-
rechtlichen Bestimmungen der völkerrechtlichen Verträge neu unzulässig, ist dies ein
Anwendungsfall von Buchstabe a.
Schliesslich gelten nach Buchstabe d auch die Beihilferegelungen, welche vor dem
Inkrafttreten des BHÜG erlassen werden, als bestehende Beihilferegelungen. Gegen
diese Beihilferegelungen kann die Überwachungsbehörde weder ein ordentliches
noch ein besonderes Verfahren einleiten. Die Überwachungsbehörde ist auch nicht
179 / 931
legitimiert, gegen diese Beihilferegelungen Beschwerde zu erheben. Möglich ist ein-
zig eine Überprüfung im Rahmen der fortlaufenden Prüfung.
Die Überwachungsbehörde beginnt mit der fortlaufenden Prüfung, indem sie in den
zwölf Monaten nach Inkrafttreten des BHÜG zunächst eine Übersicht über die beste-
henden Beihilferegelungen mit einer Einschätzung zur Zulässigkeit erstellt (s. Art. 56
Abs. 2 VE-BHÜG und Ziff. 2.2.5.5). Erst danach kann die Überwachungsbehörde die
fortlaufende Prüfung nach Artikel 46 ff. VE-BHÜG aufnehmen.
Abs. 2
Die Überwachungsbehörde kann kein besonderes Verfahren eröffnen gegen beste-
hende Beihilferegelungen. Dies gilt zwar für alle bestehenden Beihilferegelungen, nur
in Bezug auf die Beihilferegelungen nach Absatz 1 Buchstabe b ist aber eine aus-
drückliche Regelung notwendig. In den Fällen von Buchstaben a, c und d konnte keine
Anmelde- oder Mitteilungspflicht verletzt werden.
Das bedeutet, dass die Beihilfeüberwachungsbehörde gegen nicht mitgeteilte Beihil-
feregelungen nur während zehn Jahren ein besonderes Verfahren einleiten kann. Dies
entspricht grundsätzlich der Rechtslage, wie sie für Einzelbeihilfen gilt (s. Art. 42
Abs. 2 VE-BHÜG). Sobald eine nicht mitgeteilte Beihilferegelung zehn Jahre in Kraft
ist, gilt sie als bestehende Beihilferegelung. Ab diesem Zeitpunkt untersteht sie statt-
dessen der fortlaufenden Prüfung des 7. Kapitels.
Art. 45
Änderung bestehender Beihilferegelungen
Wird eine bestehende Beihilferegelung signifikant geändert, gilt sie als neues Beihil-
fevorhaben.
174
Wann eine Änderung einer bestehenden Beihilferegelung signifikant
ist, bestimmt sich nach Artikel 6 Absatz 3 VE-BHÜG. In diesem Fall untersteht die
Änderung dem ordentlichen Verfahren. Dies bedeutet, dass den Beihilfegeber bezüg-
lich der Änderung dieser Beihilferegelung die Anmeldepflicht nach Artikel 6 VE-
BHÜG trifft, worauf die Überwachungsbehörde eine einfache Prüfung einleitet. Die
Änderung der Beihilfe untersteht in der Folge auch der Mitteilungspflicht, damit die
Überwachungsbehörde gegebenenfalls eine Beschwerde erheben kann.
Art. 46
Fortlaufende Prüfung
Abs. 1
Bestehende Beihilferegelungen werden nach Abschluss einer ordentlichen Prüfung
und eines allfälligen Beschwerdeverfahrens von der Überwachungsbehörde fortlau-
fend auf ihre Vereinbarkeit mit den beihilferechtlichen Bestimmungen der völker-
rechtlichen Verträge geprüft.
Damit die Überwachungsbehörde über die notwendigen Informationen für die fort-
laufende Prüfung verfügt, ist im Vorentwurf vorgesehen, dass die Überwachungsbe-
hörde nach Artikel 22 VE-BHÜG vom Beihilfegeber und -empfänger Auskünfte ver-
langen kann.
174
Vgl. Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 794/2004 über das vereinfachte Anmeldeverfahren
für bestimmte Änderungen bestehender Beihilfen.
180 / 931
Abs. 2
Im Rahmen der fortlaufenden Prüfung kann die Überwachungsbehörde auch einzelne
Wirtschaftszweige untersuchen. Dies trifft beim Verdacht zu, dass im Wirtschafts-
zweig mehrere unzulässige bestehende Beihilferegelungen bestehen.
175
Dieses Instru-
ment ist somit ein Spezialfall der fortlaufenden Prüfung, indem die Überwachungsbe-
hörde systematisch eine Branche anhand der ihr zur Verfügung stehenden Mittel (s.
Art. 22 VE-BHÜG) untersucht. Dies kann beispielsweise sinnvoll sein, wenn zahlrei-
che Anzeigen zu einem Wirtschaftszweig eingereicht wurden oder die sachlichen Ge-
gebenheiten beziehungsweise beihilferechtlichen Bestimmungen der völkerrechtli-
chen Verträge sich für einen konkreten Wirtschaftszweig besonders stark geändert
haben.
Die Details dieser Bestimmung werden noch geprüft und während der Vernehmlas-
sung sowie anhand allfälliger Vernehmlassungsantworten ausgearbeitet.
Art. 47
Prüfung bei bestehenden Beihilferegelungen
Abs. 1
Der erste Schritt der fortlaufenden Prüfung wird im Vorentwurf nicht detailliert gere-
gelt. Der Überwachungsbehörde soll bei der Ausgestaltung ein gewisser Spielraum
zukommen. Das Verfahren muss jedenfalls nicht der einfachen Prüfung, wie sie in
Artikel 14 VE-BHÜG geregelt ist, entsprechen. Folglich kann die Überwachungsbe-
hörde das konkrete Verfahren nach ihrem Ermessen und den vorliegenden Gegeben-
heiten ausgestalten. Hat die Überwachungsbehörde aufgrund der fortlaufenden Prü-
fung Grund zur Annahme, dass eine bestehende Beihilferegelung unzulässig ist, teilt
sie dies dem Beihilfegeber mit. Zusammen mit dieser Mitteilung schlägt sie dem Bei-
hilfegeber Änderungen der Beihilferegelung oder deren Aufhebung vor.
Abs. 2 und 3
Der Beihilfegeber hat sich mit den Vorschlägen der Überwachungsbehörde auseinan-
derzusetzen. In der Folge hat der Beihilfegeber die Überwachungsbehörde über die
vorgenommenen Änderungen oder die Aufhebung der Beihilferegelung zu informie-
ren. Passt der Beihilfegeber die Beihilferegelung entsprechend den Vorschlägen der
Überwachungsbehörde an oder hebt er sie sogar ganz auf, ist die Prüfung für die Über-
wachungsbehörde abgeschlossen, da sie das Ziel einer konformen Rechtslage erreicht
hat. Ist die Beihilferegelung nach Ansicht der Überwachungsbehörde auch nach den
vorgenommenen Änderungen immer noch unzulässig oder weigert sich der Beihilfe-
geber, die Beihilferegelung aufzuheben, obwohl dies nach Ansicht der Überwa-
chungsbehörde der einzige gangbare Weg wäre, leitet die Überwachungsbehörde eine
vertiefte Prüfung nach Artikel 16 VE-BHÜG ein.
Die Überwachungsbehörde schliesst die vertiefte Prüfung einer bestehenden Beihil-
feregelung mit einer Stellungnahme ab. Kommt sie zum Schluss, dass die bestehende
Beihilferegelung unzulässig ist, erhebt sie Beschwerde gegen zukünftig darauf ge-
stützte Umsetzungsbeihilfen (s. Art. 48 Abs. 1VE-BHÜG).
175
Vgl. Art. 25 Abs. 1 der EU-Verordnung 2015/1589.
181 / 931
Art. 48
Verfahren bei als unzulässig beurteilten bestehenden
Beihilferegelungen
Das Verfahren bei als unzulässig beurteilten bestehenden Beihilferegelungen ent-
spricht demjenigen für Beihilferegelungen, die in einem besonderen Verfahren als un-
zulässig beurteilt worden sind (s. Art. 33 VE-BHÜG).
Handelt es sich um eine bestehende Beihilferegelung, kann die Überwachungsbe-
hörde allerdings erst gegen darauf gestützte Umsetzungsbeihilfen Beschwerde erhe-
ben, wenn sie die Stellungnahme veröffentlicht hat, in der sie die Beihilferegelung als
unzulässig beurteilt.
Der Beihilfegeber, der die Beihilferegelung erlassen hat, ist nach Abschluss der Prü-
fung verpflichtet alle Beihilfegeber, welche gestützt auf diese bestehende Beihilfere-
gelung Umsetzungsbeihilfen gewähren können, auf die Stellungnahme und auf ihre
zukünftige Mitteilungspflicht bezüglich neuer Umsetzungsbeihilfen hinzuweisen (s.
Erläuterungen zur Mitteilungspflicht Art. 24 Abs. 1 Bst. d VE-BHÜG). Die neu ent-
stehende Mitteilungspflicht wird es der Überwachungsbehörde ermöglichen, gegen
alle neuen Umsetzungsbeihilfen, die gestützt auf diese unzulässige bestehende Bei-
hilferegelung gewährt werden, Beschwerde zu erheben.
Im Gegensatz zum besonderen Verfahren kann die Überwachungsbehörde nicht ge-
gen Umsetzungsbeihilfen vorgehen, welche vor der Veröffentlichung der Stellung-
nahme zur Unzulässigkeit gewährt wurden. Es bestand keine Mitteilungspflicht, wes-
halb kein besonderes Verfahren eingeleitet werden kann wegen deren Verletzung. Die
Überwachungsbehörde kann nur gegen zukünftige auf die unzulässige bestehende
Beihilferegelung gestützte Umsetzungsbeihilfe (
pro futuro
) vorgehen.
8. Kapitel: Transparenz
Art. 49
Zustellungs- und Berichterstattungspflicht der Beihilfegeber
Der vorliegende Artikel betrifft die bereits geprüften und mitgeteilten Beihilfen, die
veröffentlicht werden sollen. Sobald die Verfügungen und Urteile (Abs. 1) rechtskräf-
tig sind, stellen die Beihilfegeber der Überwachungsbehörde diese nach Schwärzung
der Geschäftsgeheimnisse zu. Sie erstatten zudem Bericht über Erlasse und Verträge
sobald diese in Kraft beziehungsweise abgeschlossen sind, damit auch diese Informa-
tionen veröffentlicht werden können. Dies schafft die notwendige Transparenz über
die gewährten Beihilfen. Damit werden die beihilferechtlichen Bestimmungen zur
Transparenz umgesetzt, zu denen sich die Schweiz verpflichtet hat (s. Art. 6 der Bei-
hilfeprotokolle respektive Art. 16 des Stromabkommens). Zusätzlich wird der Wider-
ruf von Stellungnahmen gekennzeichnet.
Die eigentliche Veröffentlichung erfolgt durch die Überwachungsbehörde, die jedoch
die endgütigen Unterlagen und Informationen von den Beihilfegebern benötigt. Ent-
sprechend ist diese zusätzliche Zustellungs- und Berichterstattungspflicht notwendig.
Es sind grundsätzlich die Beihilfegeber dafür verantwortlich, dass alle Geschäftsge-
heimnisse aus den zu publizierenden Unterlagen entfernt werden (Abs. 3). Für die
Beurteilung, was zu schwärzen ist, ist die vertiefte Kenntnis des Beihilfegebers der
Angelegenheit notwendig. Mit diesem Vorgehen wird sichergestellt, dass keine Ge-
schäftsgeheimnisse publiziert werden.
182 / 931
Die Zustellungs- und Berichterstattungspflicht ist einerseits von der Anmeldepflicht
zu unterscheiden. Dort geht es um geplante Beihilfen, die vor ihrer Gewährung ge-
prüft werden müssen. Andererseits ist sie auch von der Mitteilungspflicht zu unter-
scheiden, wo es darum geht, die gewährte aber noch nicht rechtskräftige Beihilfe mit-
zuteilen, um der Überwachungsbehörde die Ausübung der Beschwerdepflicht zur
ermöglichen. Auch die Bundesversammlung und der Bundesrat müssen der Überwa-
chungsbehörde die von ihnen gewährten Beihilfen nach Eintritt der Rechtskraft be-
ziehungsweise in Kraft treten zustellen. Dies stellt sicher, dass die Überwachungsbe-
hörde Kenntnis aller Beihilfen hat und sie veröffentlichen kann.
Die im vorliegenden Artikel vorgesehenen Pflichten der Beihilfegeber bewirken keine
neue Prüfung der Beihilfen durch die Überwachungsbehörde.
Art. 50
Summarische Berichterstattung
Beihilfen, die von der Anmeldepflicht und der Berichterstattungspflicht ausgenom-
men sind, weil sie in den völkerrechtlichen Verträgen nach Artikel 1 Absatz 2 VE-
BHÜG als vereinbar mit dem Binnenmarkt vermutet werden (Art. 3 Abs. 4 der Bei-
hilfeprotokolle respektive Art. 13 Abs. 4 des Stromabkommens) unterliegen einer
summarischen Berichterstattungspflicht. Die spezifischen Anforderungen dieser sum-
marischen Pflicht werden in einer Verordnung des WBF geregelt, da es sich dabei nur
um formelle Details handelt. Gemäss der Allgemeinen Gruppenfreistellungsverord-
nung der EU (s. Ziff. 2.2.4) umfasst die summarische Berichterstattung mindestens
eine Kurzbeschreibung sowie den Wortlaut der Beihilfe. Bei Umsetzungsbeihilfen
und Ad-hoc-Beihilfen über 500 000 Euro können weitere Informationen verlangt wer-
den.
Art. 51
Veröffentlichung
Die Überwachungsbehörde führt eine Datenbank, um die notwendige Transparenz
über Beihilfen in den von den völkerrechtlichen Verträgen erfassten Bereichen herzu-
stellen (s. dazu Art. 1 Abs. 2 VE-BHÜG). Ebenso erfasst werden die laufenden ver-
tieften Prüfungen durch die Publikation der Einleitung der vertieften Prüfung sowie
die laufenden Beschwerdeverfahren aufgrund einer entsprechenden Information der
Überwachungsbehörde (Bst. d). Kenntnis über Beschwerden der Überwachungsbe-
hörde ist aufgrund der aufschiebenden Wirkung zentral. Die Datenbank ist öffentlich
zugänglich.
Die Beihilfegeber und Beihilfeempfänger werden nicht anonymisiert. Die Überwa-
chungsbehörde stellt sicher, dass ihre eigenen Veröffentlichungen wie Stellungnah-
men (Bst. a), Mitteilungen über die Einleitung von vertieften Prüfungen (Bst. b) oder
Informationen über erhobene Beschwerden (Bst. d) keine Geschäftsgeheimnisse ent-
halten. Soweit die Unterlagen oder Informationen von den Beihilfegebern stammen,
sind diese verantwortlich für die Einhaltung der Geschäftsgeheimnisse (s. Art. 49
Abs. 3 VE-BHÜG). Die Beihilfegeber haben darauf zu achten, dass die Schwärzung
verhältnismässig ist und nicht das gesamte Dokument betrifft. Die Überwachungsbe-
hörde kann soweit notwendig entsprechende Weisungen erlassen.
In Absatz 2 wird aufgelistet, welche Informationen und Unterlagen die Überwa-
chungsbehörde veröffentlichen muss. Die Liste ist nicht abschliessend, da sich aus der
183 / 931
Verordnung weitere (untergeordnete) Veröffentlichungspflichten ergeben können. Im
Gegensatz zu den Transparenzvorschriften in der EU werden auch die beihilfegewäh-
renden Rechtsakte (Bst. a) veröffentlicht. Dies kann aufgrund der Geschäftsgeheim-
nisbereinigung zu Mehraufwand führen, stellt jedoch ein wesentliches Transparenz-
merkmal dar. Denn im Gegensatz zum EU-System kann keine Beschwerde gegen die
(unverbindlichen) Stellungnahmen der Überwachungsbehörde, sondern bloss direkt
gegen die Beihilfe erhoben werden. Folglich ist Kenntnis über die gewährten Beihil-
fen hilfreich, um eine konstante Schweizer Praxis zu entwickeln.
Daneben wird es auch möglich sein, gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz vom
17. Dezember 2004
176
(BGÖ) Einsicht in Dokumente der Überwachungsbehörde zu
erhalten. Das Öffentlichkeitsgesetz wird auf die Überwachungsbehörde anwendbar
sein. Sie muss amtliche Dokumente jedoch nicht zugänglich machen, bevor sie ihre
Stellungnahme veröffentlicht hat (Art. 8 Abs. 2 BGÖ). Der Umgang mit Geschäfts-
geheimnissen richtet sich neben den Transparenzvorschriften (s. Art. 49 ff. VE-
BHÜG) auch nach Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe g BGÖ sowie Artikel 25 KG.
Analog zu Artikel 9 Absatz 2 VE-BHÜG werden die Einzelheiten des Inhalts und die
Form der zu veröffentlichenden Unterlagen und Informationen durch das WBF gere-
gelt. Eine Regelung durch den Bundesrat ist aufgrund der geringen Tragweite und des
hohen Detaillierungsgrads nicht angezeigt.
9. Kapitel: Allgemeine Verfahrensbestimmungen
Art. 52
Feststellung des Sachverhalts
Die Überwachungsbehörde muss den Sachverhalt von Amtes wegen ermitteln. Es
liegt in ihrer Verantwortung die rechtserheblichen Tatsachen festzustellen. Sie trägt
die Beweisführungslast, die jedoch durch Mitwirkungspflichten eingeschränkt wird.
Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Beihilfegeber über besseren Zugang zu den
tatsächlichen Begebenheiten verfügt. Sowohl der Beihilfegeber als auch der Beihilfe-
empfänger haben aufgrund ihrer Nähe zum Sachverhalt beziehungsweise zum in
Frage stehenden Beihilfevorhaben eine Mitwirkungspflicht (s. Art. 22 Abs. 1 VE-
BHÜG). Vor allem die Auskünfte des Beihilfegebers werden zentral sein, denn er will
die Beihilfe gewähren und muss somit über alle notwendigen Informationen verfügen.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Beihilfegeber im Verwaltungsverfahren, wel-
ches zur Gewährung der Beihilfe führt, nach dem anwendbaren Verfahrensrecht eben-
falls verpflichtet ist, den Sachverhalt von Amtes wegen zu erstellen und dazu die not-
wendigen Informationen vom Beihilfeempfänger einzufordern.
In Bezug auf die geltend gemachten Ausnahmen (bzw. Vereinbarkeiten mit dem ord-
nungsgemässen Funktionieren des Binnenmarktes) oder Rechtfertigungsgründe be-
steht eine erhöhte Mitwirkungspflicht. Der Beihilfegeber hat alle für die diesbezügli-
che Beurteilung notwendigen Informationen einzureichen. Unabhängig von der im
Einzelfall angerufenen Rechtsgrundlage für die Vereinbarkeit/Rechtfertigung, obliegt
es dem Beihilfegeber, der Überwachungsbehörde alle notwendigen Informationen
176
SR
152.3
184 / 931
(bspw. bezifferbare Nachweise zum
Funding Gap
) für die Prüfung zu liefern, ob eine
Massnahme unter die Ausnahmetatbestände fällt, beziehungsweise als zulässig beur-
teilt werden kann. Kommt er dieser Pflicht nicht nach (bspw. indem er den
Funding
Gap
nicht nachweisen oder allfällig Inkonsistenzen nicht ausräumen kann), gelten die
Zulässigkeitsvoraussetzungen als nicht erstellt.
Das Prüfungsverfahren wird mehrheitlich schriftlich stattfinden, wie dies in Verwal-
tungsverfahren üblich ist. Die Überwachungsbehörde wird zudem ihre Sachverhalts-
ermittlung in der Regel auf Urkunden stützen. Sie kann aber auch Auskünfte vom
Beihilfegeber oder vom Beihilfeempfänger sowie von Dritten verlangen oder Gutach-
ten von Sachverständigen einholen.
Welche Urkunden notwendig sind, hängt von den konkreten Umständen ab. Meistens
wird die Überwachungsbehörde diese bezeichnen können. Allerdings obliegt auch
hier insbesondere dem Beihilfegeber die Pflicht offenzulegen, was überhaupt für Un-
terlagen vorhanden sind.
Die Überwachungsbehörde hat nicht alle üblicherweise in einem Verwaltungsverfah-
ren vorgesehenen Beweismittel zur Verfügung.
177
Dies soll das Prüfungsverfahren
entlasten und beschleunigen, da es schliesslich nur mit einer unverbindlichen Stel-
lungnahme und nicht mit einer Verfügung endet. Die Überwachungsbehörde kann
deshalb keine Zeugen einvernehmen oder Augenscheine vor Ort vornehmen. Es ist
aber möglich, dass sich die Überwachungsbehörde auf Urkunden (Protokolle) über
bereits durch den Beihilfegeber in seinem Verfahren auf Gewährung der Beihilfe
durchgeführten Zeugeneinvernahme oder Augenscheine abstützt.
Art. 53
Berechnung von Prüfungsfristen
Zur Berechnung der Prüfungsfristen gelten die Artikel 20–24 VwVG. Der Verweis
stellt klar, dass sich die Berechnung der Fristen im Prüfungsverfahren nach den Best-
immungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes richtet. Darunter fallen auch bereits
die Fristen im Rahmen der Anmeldung, so insbesondere die Frist, welche die Über-
wachungsbehörde für ergänzende Auskünfte ansetzen kann (s. Art. 11 Abs. 2 VE-
BHÜG). Es handelt sich bei dieser Nachfrist um eine behördliche Frist, die gemäss
Artikel 22 Absatz 2 VwVG erstreckt werden kann.
Zusätzlich ist das Europäische Übereinkommen vom 16. Mai 1972
178
über die Berech-
nung von Fristen zu berücksichtigen, insbesondere für die Berechnung der in Monaten
angegebenen Dauer der einfachen und vertieften Prüfungsfristen. Das Abkommen ist
auf (besondere) Verwaltungsverfahren unmittelbar anwendbar, ohne dass ein aus-
drücklicher Verweis notwendig ist (s. Art. 1 Abs. 1 des Abkommens vom 16. Mai
1972).
179
177
Vgl. Art. 12 VwVG.
178
SR
0.221.122.3
179
S. auch Botschaft zum Bundesgesetz über die Zustellung von Sendungen an Wochenenden
und Feiertagen vom 12. Februar 2025; BBl 2025 565, S. 32.
185 / 931
Art. 54
Elektronische Kommunikation und Aktenführung
Die Verfahren der Überwachungsbehörde sind besondere Verwaltungsverfahren und
keine Justizverfahren. Aus diesem Grund sieht Artikel 54 VE-BHÜG vor, dass die
Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 2024
180
über die Plattformen
für die elektronische Kommunikation in der Justiz (BEKJ) für die Verfahren der Über-
wachungsbehörde analog zur Regelung in Artikel 6
a
VwVG nur teilweise für an-
wendbar erklärt werden.
181
Absatz 2 bestimmt, dass die Überwachungsbehörde die nach Artikel 6
a
Absatz 2
VwVG zu schaffende Plattform nutzt und statuiert die Pflicht zur elektronischen Ak-
tenführung. Die elektronische Akte gilt als massgeblich. Unter gewissen Umständen
kann es vorkommen, dass nicht von sämtlichen Beweismitteln adäquate elektronische
Kopien angefertigt werden können. Für solche Fälle gilt eine Ausnahmeregelung.
Die Aktenweitergabe erfolgt ebenfalls elektronisch über die Plattform. Dies betrifft
insbesondere die Akten, die der Beihilfegeber der Überwachungsbehörde zustellen
muss oder Akten bei der Weiterleitung wegen Unzuständigkeit sowie auch bei der
Amtshilfe.
Aus Absatz 3 ergibt sich sodann, dass für alle Prüfungsverfahren der Überwachungs-
behörde eine Pflicht zur elektronischen Übermittlung besteht. Damit werden die Prü-
fungen der Überwachungsbehörde möglichst effizient ausgestaltet. Da die Prüfungs-
verfahren vor der Überwachungsbehörde nur von Behörden (Beihilfegeber) und
Unternehmen (Beihilfeempfänger/Konkurrenten) geführt werden, ist es grundsätzlich
möglich, keine Ausnahmen von dieser Pflicht vorzusehen. Sowohl für Behörden als
auch für Unternehmen ist es zumutbar die Plattform zu nutzen. Weiterhin zulässig ist
es aber für Privatpersonen eine Anzeige nach Artikel 28 VE-BHÜG auf anderem
Wege, das heisst nicht über die Plattform, zu machen.
10. Kapitel: Schlussbestimmungen
Art. 55
Änderung anderer Erlasse
Die Einrichtung des Beihilfeüberwachungsverfahrens bedingt die Änderung verschie-
dener Erlasse, die im Anhang aufgeführt sind. Es handelt sich dabei hauptsächlich um
Änderungen des VGG sowie des BGG. Die Änderungen dieser Bestimmungen wer-
den unter Ziffer 2.2.8 erläutert.
Art. 56
Übergangsbestimmungen
Abs. 1
Die Überwachungsbehörde kann gegen Beihilfen, die bis zu fünf Jahre nach Inkraft-
treten des Beihilfeprotokolls-LuftVA, des Beihilfeprotokolls-LandVA und des Strom-
abkommens gewährt wurden, nicht nach den Kapiteln 3 [
Ordentliches Verfahren vor
der Überwachungsbehörde
], 4 [
Besondere Verfahren bei Verletzung der Anmelde-
oder Mitteilungspflicht
] und 5 [
Beschwerdeverfahren
] vorgehen.
180
BBl
2025
19
181
Vgl. BBl
2023
679, S. 42.
186 / 931
Für diese Beihilfen gelten entsprechend auch die Anmelde- und Mitteilungspflicht
nicht. Das Ziel der Übergangsfrist ist es, dass die betroffenen Organe von Bund und
Kantonen ihre Gesetzgebung an die erwähnten völkerrechtlichen Verträge anpassen
und die notwendigen organisatorischen Bestimmungen erlassen können.
Abs. 2
Die Überwachungsbehörde erstellt innert zwölf Monaten nach Aufnahme ihrer Tätig-
keit eine Übersicht der bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes bereits bestehenden Bei-
hilferegelungen. Sie führt dabei eine vorläufige Bewertung durch, ob diese bestehen-
den Beihilfen mit den beihilferechtlichen Bestimmungen der völkerrechtlichen
Verträge zu vereinbaren sind. Die Formulierung «schätzt ein» nimmt dabei Bezug auf
die «
prima facie
»-Formulierung der Beihilfeprotokolle respektive des Stromabkom-
mens (s. Ziff. 2.2.5.5). Diese Einschätzung hat keine Auswirkungen auf die Anmelde-
und Mitteilungspflicht der Beihilfegeber. Sie ist aber für die Priorisierung der Über-
wachungsbehörde im Rahmen der fortlaufenden Prüfung von Bedeutung (Abs. 3).
Abs. 3
Nach Ablauf der Frist von Absatz 2 kann die Überwachungsbehörde die bestehenden
Beihilferegelungen nach Artikel 44 Absatz 1 Buchstabe d VE-BHÜG im Rahmen der
fortlaufenden Prüfung untersuchen. Da es die anderen Kategorien der bestehenden
Beihilferegelungen zu diesem Zeitpunkt noch nicht geben kann, wird nur auf den
Buchstaben d Bezug genommen.
Art. 57
Referendum und Inkrafttreten
Das BHÜG untersteht dem fakultativen Referendum. Der genaue Zeitpunkt des In-
krafttretens wird vom Bundesrat bestimmt. Es tritt aber spätestens fünf Jahre nach
Inkrafttreten des Beihilfeprotokolls-LuftVA, des Beihilfeprotokolls-LandVA [und
des Stromabkommens] in Kraft (s. Ziff. 2.2.5.4).
2.2.8
Änderung anderer Erlasse
2.2.8.1
Bundesgerichtsgesetz vom 17. Juni 2005
182
(BGG)
Art. 82 Bst. b
bis
BGG
Artikel 82 BGG regelt die Zulässigkeit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen An-
gelegenheiten. Vorgesehen sind zwei zulässige Anfechtungsobjekte (Entscheide und
kantonale Erlasse, Bst. a und b) sowie das besondere Rechtsgebiet der politischen
Rechte (Bst. c).
Um zu gewährleisten, dass die Überwachungsbehörde Beihilferegelungen und Ad-
hoc-Beihilfen in der Form von Erlassen von Verwaltungseinheiten des Bundes (bspw.
von Departementen oder Ämtern) auch vor Bundesgericht bringen kann, muss diese
Zulässigkeit breiter gefasst werden. Zwar wird das Bundesverwaltungsgericht als Vo-
rinstanz entscheiden, womit die Überwachungsbehörde formell gegen einen Ent-
182
SR
173.110
187 / 931
scheid des Bundesverwaltungsgerichts vorgehen wird. Jedoch bleibt auch die Be-
schwerde ans Bundesgericht ein Rechtsmittel gegen einen Erlass. Das Bundesgericht
hat dies in Bezug auf Rechtsmittel gegen Entscheide über kantonale Erlasse bereits
ausdrücklich so entschieden.
183
Eine Ad-hoc-Beihilfe in der Form eines Erlasses liegt grundsätzlich vor, wenn der
Vorteil bereits mit dem Inkrafttreten des Erlasses entsteht. Es ist keinerlei Umset-
zungsakt notwendig, das heisst auch keine technische Anwendung im Sinne einer
Umsetzungsbeihilfe (s. die Ausführungen zu Art. 2 Bst. d VE-BHÜG). Vorstellbar ist
die Aufhebung von Steuer- oder anderweitigen Schulden durch einen Rechtsatz, wo-
bei es aber auf die konkrete Ausgestaltung ankommen wird. Zu unterscheiden sind
die Erlasse mit Ad-hoc-Beihilfen von gesetzlichen Grundlagen für Ad-hoc-Beihilfen
in der Form von Verfügungen, öffentlich-rechtlichen Verträgen oder Realakten. Bei
Ersteren handelt es sich grundsätzlich um Erlasse, welche den anwendenden Beihil-
fegebern einen Ermessensspielraum geben (s. dazu auch die Ausführungen zum Be-
griff der Beihilferegelung in Art. 2 Bst. c VE-BHÜG).
Der Vorentwurf sieht deshalb eine Erweiterung der Anfechtungsobjekte mit der
Schaffung eines neuen Buchstaben b
bis
vor. Anfechtbar sind neu auch Erlasse des
Bundes, sofern sie eine Beihilferegelung oder eine Ad-hoc-Beihilfe enthalten. Um
eine mit der EU-Beihilfeüberwachung gleichwertige Überwachung sicherzustellen,
muss es Dritten möglich sein, eine gerichtliche Überprüfung von Beihilfen der Bun-
desversammlung und des Bundesrates auch in Form von Verordnungen zu erwirken,
weshalb diese von Buchstaben b
bis
mitumfasst sind. Es handelt sich dabei um eine
Ausnahme im Sinne von Artikel 189 Absatz 4 BV. Daneben werden insbesondere
auch Verordnungen der Departemente und der Ämter anfechtbar sein. Ausgenommen
bleiben einzig Verfassungsänderungen und Bundesgesetze.
Nicht erfasst von Buchstaben b
bis
sind hingegen Entscheide des Bundesverwaltungs-
gerichtes über Einzelakte der Bundesversammlung, mit welchen Beihilfen gewährt
werden. Diese sind analog zu Entscheiden über Verfügungen des Bundesrates von
Artikel 82 Buchstabe a BGG erfasst. Dementsprechend sollen auf die Einzelakte die
Bestimmungen der Verfügungen sinngemäss angewandt werden (s. dazu Art. 33
Abs. 2 VE-VGG). Es handelt sich deshalb grundsätzlich um Entscheide in einer An-
gelegenheit des öffentlichen Rechts. Ausschlaggebend ist diesbezüglich grundsätz-
lich, was vor dem Bundesverwaltungsgericht angefochten werden kann (s. Art. 31
a
VE-VGG).
184
Die Überwachungsbehörde kann gegen die von Buchstaben b
bis
erfassten Beihilfen
der Bundesversammlung sowie des Bundesrates keine Beschwerde ans Bundesgericht
erheben. Dies ergibt sich ausdrücklich aus Artikel 36 Absatz 2 VE-BHÜG. Eine sol-
che Beschwerde können nur Dritte erheben, wobei es sich in der Regel um Konkur-
renten oder potenzielle Beihilfeempfänger handeln wird (s. die Ausführungen zu Art.
40 VE-BHÜG). Für die Legitimation zu einer solchen abstrakten Normenkontrolle ist
die virtuelle Betroffenheit massgebend (s. die Ausführung zur Art. 37
a
VE-VGG).
183
BGE 149 I 81 E. 4.1; Urteil 2C_694/2021 vom 8. September 2023 E. 1.2 [nicht publiziert
in BGE 150 I 39].
184
S. dazu auch Bernhard Waldmann, in: Waldmann et al., Bundesverfassung Basler Kom-
mentar, Basel 2015, Art. 82 N 7.
188 / 931
Art. 83 Bst. k BGG
Entscheide betreffend Subventionen, auf die kein Anspruch besteht, können nicht vor
Bundesgericht angefochten werden. Ob ein Rechtsanspruch auf die Beihilfe oder nicht
besteht, darf aber keinen Unterschied machen für die Überprüfung beziehungsweise
das Beschwerderecht der Überwachungsbehörde bezüglich ihrer Zulässigkeit bezie-
hungsweise der Vereinbarkeit mit den beihilferechtlichen Bestimmungen der völker-
rechtlichen Verträge. Der Vorentwurf sieht hier deshalb eine Gegenausnahme vor,
damit die Überwachungsbehörde auch die Frage der Zulässigkeit von Beihilfen, auf
die kein Anspruch besteht, wo nötig, bis vor Bundesgericht ziehen kann. Damit wird
sichergestellt, dass das Bundesgericht die einheitliche Anwendung des Beihilferechts
schweizweit sicherstellen kann.
Art. 83 Bst. m BGG
Entscheide über die Stundung oder den Erlass von Abgaben können nach dem gelten-
den Recht nicht vor Bundesgericht angefochten werden. Werden solche Entscheide
im sachlichen Geltungsbereich des VE-BHÜG getroffen, können sie unter Umständen
eine Beihilfe darstellen. Ist dies der Fall, muss die Überwachungsbehörde das Recht
haben, den Entscheid bezüglich seiner Vereinbarkeit mit den beihilferechtlichen Best-
immungen der völkerrechtlichen Verträge nach Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG vor
Bundesgericht anzufechten. Der Vorentwurf sieht hier deshalb eine Gegenausnahme
vor. Nur so kann gewährleistet werden, dass das Bundesgericht die einheitliche An-
wendung des Beihilferechts schweizweit sicherstellt.
Art. 87 BGG
Die Sachüberschrift wird dahingehend präzisiert, dass die Anfechtung von kantonalen
Erlassen geregelt wird. Dies ist notwendig, da neu auch gewisse Erlasse des Bundes
angefochten werden können (s. Art. 82 Bst. b
bis
VE-BGG).
Art. 98a BGG
Für Beschwerden vor dem Bundesgericht gelten grundsätzlich die Rügegründe nach
Artikel 95 BGG. Diese sind jedoch nicht auf die Anfechtung von Erlassen des Bundes
ausgerichtet. Entsprechend wird ein neuer Artikel 98
a
eingefügt, der dieser neuen An-
fechtungsmöglichkeit Rechnung trägt. Handelt es sich um Erlasse eines Departe-
ments, eines Bundesamtes oder einer weiteren Verwaltungseinheit, kann die Verlet-
zung von übergeordnetem Bundesrecht (namentlich von Bundesgesetzen oder der
Verfassung) oder Völkerrecht gerügt werden. Diese Einschränkung ergibt sich grund-
sätzlich bereits aus der Hierarchie der Normen, soll aber ausdrücklich auch für das
bundesgerichtliche Verfahren klargestellt werden (s. dazu auch Art. 37
b
VE-VGG).
Aus dem Geltungsbereich des VE-BHÜG ergibt sich, dass die Überwachungsbehörde
im Rahmen einer Behördenbeschwerde nur eine Verletzung der beihilferechtlichen
Bestimmungen der völkerrechtlichen Verträge rügen kann (s. Ausführungen zu Art. 4
VE-BHÜG).
189 / 931
Handelt es sich um eine Beschwerde von potenziellen Beihilfeempfängern oder von
Dritten, wie zum Beispiel möglichen Konkurrenten, gegen eine Verordnung der Bun-
desversammlung oder des Bundesrates, kann nach Absatz 2 nur die Unzulässigkeit
der Beihilfe gerügt werden. Diese Einschränkung der Rügegründe ist aufgrund der
Gewaltenteilung sinnvoll. Akte der Bundesversammlung oder des Bundesrats sollen
nur in Ausnahmefällen und im notwendigen Umfang vom Bundesgericht überprüft
werden können (Art. 189 Abs. 4 BV).
185
Für die Überwachungsbehörde wird Ab-
satz 2 hingegen nicht zur Anwendung gelangen, da sie Verordnungen der Bundesver-
sammlung und des Bundesrates nicht anfechten kann (s. Art. 36 Abs. 2 VE-BHÜG).
Art. 103 Abs. 2 Bst. e BGG
Im Verfahren vor Bundesgericht gilt der Grundsatz, dass Beschwerden keine auf-
schiebende Wirkung haben (Art. 103 Abs. 1 BGG). Die Beschwerde der Überwa-
chungsbehörde soll hingegen aufschiebende Wirkung haben. Beihilfen in der Form
von Verfügungen und Erlassen sollen grundsätzlich erst wirksam werden, wenn sie in
Rechtskraft erwachsen beziehungsweise in Kraft getreten sind (s. Art. 39 VE-BHÜG).
Entsprechend wird in Artikel 103 Absatz 2 ein neuer Buchstabe e eingefügt. Die auf-
schiebende Wirkung soll auch vor Bundesgericht von Gesetzes wegen gelten in Ver-
fahren, die von der Überwachungsbehörde auf dem Gebiet der Beihilfeüberwachung
geführt werden. Keine aufschiebende Wirkung von Gesetzes wegen haben hingegen
Beschwerden von Beihilfeempfängern oder Konkurrenten. Die aufschiebende Wir-
kung soll die Gewährung von unzulässigen Beihilfen verhindern. Sie ist entsprechend
nicht notwendig, wenn ein Beihilfeempfänger einen Entscheid anficht, der die Bei-
hilfe als unzulässig beurteilt oder wenn die Überwachungsbehörde auf eine Be-
schwerde verzichtet und «nur» ein Konkurrent Beschwerde erhebt.
Die ausdrückliche Regelung im BGG ist angesichts der Wichtigkeit der aufschieben-
den Wirkung für die Beihilfeüberwachung notwendig. Zudem erlaubt dies eine An-
knüpfung am System des BGG. Dem Instruktionsrichter oder der Instruktionsrichterin
soll es möglich sein, nach Artikel 103 Absatz 3 BGG eine andere Anordnung zu tref-
fen, das heisst im Ausnahmefall die aufschiebende Wirkung zu entziehen.
186
2.2.8.2
Verwaltungsgerichtsgesetz vom 17. Juni 2005
187
(VGG)
Art. 31a
Beschwerdeobjekte auf dem Gebiet der Beihilfeüberwachung
In Artikel 31VGG wird geregelt, welche Beschwerden das Bundesverwaltungsgericht
beurteilt. Das aktuelle Recht sieht eine Beschränkung auf Beschwerden gegen Verfü-
gungen nach Artikel 5 VwVG vor. Dies schliesst Beschwerden gegen Erlasse oder
gegen Einzelakte der Bundesversammlung aus. Damit solche Beschwerden in Zu-
kunft möglich sind, muss die Zulässigkeit der Beschwerde erweitert werden. Der Vor-
185
Vgl. dazu Botschaft über eine neue Bundesverfassung vom 20. November 1996, BBl 1997
I 1, hier 532 sowie Johannes Reich in: Ehrenzeller et al. (Hrsg.), Bundesverfassung St.
Galler Kommentar, 4. A., Zürich/St. Gallen 2023, Art. 189 Rz. 44 m.w.H. und Rz. 50.
186
Vgl. dazu Ausführungen zu Art. 42 VE-BHÜG.
187
SR
173.32
190 / 931
entwurf ergänzt deshalb mit Artikel 31
a
VE-VGG die zwei fehlenden Anfechtungs-
objekte: Erlasse des Bundes mit Beihilferegelungen oder Ad-hoc-Beihilfen (Bst. a)
und Einzelakte der Bundesversammlung (Bst. b).
Buchstabe a stellt sicher, dass die Überwachungsbehörde und andere Beschwerdebe-
rechtigte nicht nur gegen Beihilfen in Form von Verfügungen, sondern auch in der
Form von Erlassen vorgehen können. Es muss sich bei Letzteren um Beihilferegelun-
gen oder Ad-hoc-Beihilfen in der Form von Erlassen handeln (s. zum Begriff Art. 2
Bst. d VE-BHÜG sowie die Ausführungen zu Art. 82 Bst. b
bis
VE-BGG). Anfech-
tungsobjekt und damit auch Verfahrensgegenstand ist jeweils nicht der gesamte Er-
lass, sondern nur diejenigen Bestimmungen, welche die Beihilferegelung oder die Ad-
Hoc-Beihilfe darstellen.
Soweit es sich bei den Erlassen um Verordnungen der Bundesversammlung oder des
Bundesrates handelt, wird hiermit eine Ausnahme nach Artikel 189 Absatz 4 BV vor-
gesehen. Davon ausgenommen bleiben Verfassungsänderungen und Bundesgesetze
(s. auch Art. 82 Bst. b
bis
VE-BGG).
Buchstabe b sieht den Einzelakt der Bundesversammlung ausdrücklich als Anfech-
tungsobjekt vor. Die Bundesversammlung kann keine Verfügungen im Sinne von Ar-
tikel 5 VwVG erlassen (s. Art. 1 Abs. 2 Bst. b VwVG e contrario). Sie kennt nur die
Handlungsform des Erlasses oder des Bundesbeschlusses (Art. 163 BV). Die Verfas-
sung erlaubt jedoch, dass ein Bundesgesetz der Bundesversammlung die Entschei-
dung über Einzelakte überträgt (Art. 173 Abs. 1 Bst. h BV). In ausserordentlichen
Umständen ist es zudem möglich, dass die Bundesversammlung individuell-konkrete
Einzelakte in der Form von Bundesbeschlüssen erlässt (Art. 173 Abs. 1 Bst. c BV und
Art. 29 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 2002
188
). Typische Anwendungs-
fälle solcher Einzelakte sind Subventionen, die in ausserordentlichen Situationen aus
Billigkeitsgründen ausgerichtet werden sollen, aber keine gesetzliche Grundlage ha-
ben. Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, dass zukünftig auch eine Beihilfe durch ei-
nen Einzelakt der Bundesversammlung gewährt werden könnte.
189
Entsprechend
muss auch der Rechtsschutz sichergestellt werden, um die Gleichwertigkeit mit dem
Beihilfeüberwachungssystem der EU garantieren zu können. Beschwerde führen kön-
nen allerdings nur Dritte, nicht aber die Überwachungsbehörde (s. Art. 36 Abs. 2 VE-
BHÜG).
Zwar regelt Artikel 40 VE-BHÜG, dass die für die Verfügung geltenden Regeln zur
Anwendung kommen, weshalb es möglich ist, dass Einzelakte der Bundesversamm-
lung bereits unter Artikel 31 VGG fallen. Die Anfechtungsobjekte im VGG werden
dennoch ergänzt, damit auch aus diesem Verfahrenserlass hervorgeht, dass beihilfe-
gewährende Einzelakte der Bundesversammlung anfechtbar sind (s. zudem die Aus-
führungen zu Art. 40 VE-BHÜG).
188
SR
171.10
189
Vgl. bspw. Bundesbeschluss über die finanzielle Beteiligung des Bundes an der Stillle-
gung des Versuchsatomkraftwerks Lucens VD vom 13.12.1991, BBl
1991
1108 oder Bun-
desgesetz über die Sanierung der Compagnie des Chemins de fer fribourgeois (GFM) vom
23.06.2000, AS
2001
132, das heute aufgrund von Art. 22 Abs. 4 ParlG grundsätzlich in
der Form des Bundesbeschlusses erfolgen müsste; vgl. auch zum Ganzen Luzian Oder-
matt/Esther Tophinke, in: Graf/Caroni (Hrsg.); Kommentar zum Parlamentsgesetz, 2. A.,
Basel 2024, Art. 29 N 13 f. m.w.H.
191 / 931
Der Geltungsbereich von Art. 31
a
VE-VGG ist in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt:
Zunächst besteht auf Bundesebene keine abstrakte Beschwerdemöglichkeit, wenn der
Erlass lediglich eine gesetzliche Grundlage für Ad-hoc-Beihilfen in der Form von
Verfügungen, öffentlich-rechtlichen Verträgen oder Realakten schafft. Es handelt sich
diesfalls beim Erlass noch nicht um die eigentliche Beihilfe beziehungsweise diese
wird noch nicht gewährt. Die Abgrenzung kann im Einzelfall zu Schwierigkeiten füh-
ren und muss sich in der Schweizer Rechtspraxis erst etablieren. Weiter sind nur po-
tenzielle Beihilfeempfänger oder Dritte, wie zum Beispiel mögliche Konkurrenten,
legitimiert gegen Beihilfen in der Form von Verordnungen der Bundesversammlung
und des Bundesrates Beschwerde zu erheben (s. die Ausführungen zu Art. 40 VE-
BHÜG). Für die Überwachungsbehörde ist eine entsprechende Beschwerde ausge-
schlossen (s. Art. 36 Abs. 2 VE-BHÜG). Auch für Dritte bleibt eine Beschwerde ge-
gen Bundesgesetze und gegen Verfassungsänderungen ausgeschlossen. Erfasst wer-
den auch hier nur Erlasse mit Beihilferegelungen oder Ad-hoc-Beihilfen und nicht
Erlasse, welche die rechtliche Grundlage für Ad-hoc-Beihilfen schaffen (s. auch die
Ausführungen zu Art. 82 Bst. b
bis
VE-BGG).
Schliesslich können Beihilfen in anderer Form, das heisst öffentlich-rechtliche Ver-
träge oder Realakte, nicht direkt mit Beschwerde angefochten werden. Die Überwa-
chungsbehörde kann nach dem Verfahren auf Erlass einer Verfügung vorgehen (s.
Art. 26 VE-BHÜG).
Zuletzt ist eine Abgrenzung zu kantonalen Beihilfen vorzunehmen. Anfechtungsob-
jekt einer Beschwerde nach Artikel 31
a
VE-VGG sind nur Beihilfen des Bundes. Die
Überwachungsbehörde muss Beihilfen von kantonalen Beihilfegebern nach dem an-
wendbaren kantonalen Verfahrensrecht anfechten und somit auf dem kantonalen
Rechtsweg. Dies entspricht der üblichen Ausgestaltung der Rechtswege und wahrt die
Autonomie der Kantone. Es gibt den Kantonen die Möglichkeit ihre eigene Praxis zu
überprüfen und wo nötig selbst zu korrigieren.
Art. 33
Die Erweiterung der Beschwerdeobjekte führt dazu, dass auch die zulässigen Vo-
rinstanzen in Artikel 33 VGG ergänzt werden müssen. Da es nicht nur um Verfügun-
gen des Bundesrates geht, sondern auch um Verordnungen, das heisst Erlasse, ergänzt
der Vorentwurf den bestehenden Buchstaben b
190
und sieht daneben einen neuen Ab-
satz 2 vor. Dieser hält ausdrücklich fest, dass die Beschwerde zulässig ist gegen Ver-
ordnungen der Vorinstanzen nach Absatz 1, das heisst insbesondere des Bundesrates.
Es handelt sich dabei um eine gesetzliche Ausnahme im Sinne von Artikel 189 Ab-
satz 4 BV.
Zusätzlich wird mit Absatz 2 Buchstabe b sichergestellt, dass auch Einzelakte und
Verordnungen der Bundesversammlung, durch welche Beihilfen gewährt werden, mit
Beschwerde von Dritten angefochten werden können. Ausgenommen bleiben Bun-
desgesetze und Verfassungsänderungen (s. auch Art. 82 Bst. b
bis
VE-BGG sowie
190
Die exakte Formulierung des Buchstabens muss mit der Teilrevision des BGG koordiniert
werden (vgl. Vernehmlassung 2024/36 vom 6. Dez. 2024).
192 / 931
Art. 4 Abs. 3 und 4 der Beihilfeprotokolle und Artikel 14 Abs. 3 und 4 des Stromab-
kommens).
Art. 37 Abs. 2
Der VE-BHÜG sieht vor, dass auch Beihilfen der Bundesversammlung angefochten
werden können. Es handelt sich dabei um eine gesetzliche Ausnahme gemäss Arti-
kel 189 Absatz 4 BV. Ausgenommen sind Verfassungsänderungen und Bundesge-
setze (s. auch Art. 31
a
und 33 Abs. 2 VE-VGG).
Auf das Beschwerdeverfahren gegen Einzelakte sollen die Bestimmungen für Verfü-
gungen sinngemäss angewandt werden, da sie grundsätzlich verfügungsähnlich sind
und ein ähnliches Rechtsschutzbedürfnis wie bei Verfügungen besteht. Das bedeutet
insbesondere die analoge Anwendung von Artikel 47 ff. VwVG. In Bezug auf den
Rügegrund der Unangemessenheit nach Artikel 49 Buchstaben c VwVG werden die
Gerichte berücksichtigen müssen, dass es sich um einen Akt der Bundesversammlung
handelt und sich, soweit es sich um politische Entscheide handelt sowie aus Überle-
gungen der Gewaltenteilung, Zurückhaltung auferlegen.
191
Die Beschwerdefrist für
die Anfechtung von Einzelakten wird folglich sinngemäss nach Artikel 50 VwVG be-
rechnet. Anstelle der Eröffnung der Verfügung wird hier jedoch auf die Publikation
des Einzelakts abzustellen sein. Im Hinblick darauf wird die Bundesversammlung
Bundesbeschlüsse, welche Beihilfen gewähren, in Anwendung von Artikel 2 Buch-
staben f und h des Publikationsgesetzes vom 18. Juni 2004 (PublG)
192
publizieren
müssen. Nach diesen Bestimmungen werden Bundesbeschlüsse bereits heute publi-
ziert, wenn sie dem Referendum unterstehen oder wenn es die Bundesversammlung
so beschliesst (vgl. Art. 2 Bst. f und h PublG). Sollte ein Bundesbeschluss, welcher
eine Beihilfe gewährt, nicht publiziert werden, so stellt dies grundsätzlich einen ver-
fahrensrechtlichen Mangel dar, woraus dem Beschwerdeführer oder der Beschwerde-
führerin keine Nachteile erwachsen dürfen (s. auch Art. 38 VwVG und Art. 49 BGG).
Art. 37a
Beschwerdelegitimation bei Erlassanfechtung auf dem Gebiet der Beihilfe-
überwachung
Die Beschwerdelegitimation für Beschwerden vor dem Bundesverwaltungsgericht ist
in Artikel 48 VwVG in Verbindung mit Artikel 37 VGG geregelt. Daraus ergibt sich
jedoch nur die Legitimation für Beschwerdeverfahren gegen Verfügungen. Eine spe-
zielle Bestimmung zur Legitimation für Beschwerden gegen Erlasse fehlt im VwVG,
welches auf Verfügungen ausgelegt ist. Artikel 37
a
VGG füllt diese Lücke für Bei-
hilferegelungen und Ad-hoc-Beihilfen des Bundes in der Form von Erlassen (Art. 31
a
VE-VGG). Die weiteren Bestimmungen zum Beschwerdeverfahren des VwVG
(Art. 44 ff.) sind aber grundsätzlich auch bei den Beschwerden gegen Bundeserlasse
anwendbar über den Verweis in Artikel 37 VGG beziehungsweise Artikel 40 VE-
BHÜG.
Die Überwachungsbehörde kann sich für ihre Legitimation zur Beschwerde an das
Bundesverwaltungsgericht auf die Artikel 36 oder 37 VE-BHÜG in Verbindung mit
191
S. bspw. in Bezug auf Akte des Bundesrates BGE 147 IV 439 E. 3.3.1; 130 I 26 E. 2.2;
129 II 193 E. 5.1; Urteil A-6086/2010 vom 16. Juni 2011 E. 6.1.
192
SR
170.512
193 / 931
Artikel 37
a
VE-VGG stützen. Artikel 37
a
regelt aber insbesondere auch die Be-
schwerdelegitimation von Dritten, das heisst der potenziellen Beihilfeempfänger und
deren Konkurrenten, soweit sie Erlasse des Bundes anfechten.
Die Legitimation gemäss Artikel 37
a
VE-VGG setzt voraus, dass die Beschwerdefüh-
rerin oder der Beschwerdeführer durch den Erlass besonders berührt ist und ein
schutzwürdiges Interesse an dessen Aufhebung hat. Die Legitimation nach Arti-
kel 37
a
VE-VGG vor dem Bundesverwaltungsgericht soll grundsätzlich derjenigen
vor dem Bundesgericht nach Artikel 89 Absatz 1 Buchstabe b BGG entsprechen.
193
Um besonders berührt zu sein, genügt zwar ein aktuelles oder virtuelles Berührtsein.
Vorausgesetzt ist aber, dass die Beschwerdeführerin oder der Beschwerdeführer von
der angefochtenen Regelung früher oder später einmal mit einer minimalen Wahr-
scheinlichkeit unmittelbar betroffen ist. Dies kann bei Beihilferegelungen oder Ad-
hoc-Beihilfen grundsätzlich nur auf potenzielle Beihilfeempfänger sowie je nach Aus-
gestaltung der Reglung mögliche nicht berücksichtigte Konkurrenten zutreffen. In der
Regel werden nur diese sich darauf berufen können, dass die in Frage stehende Bei-
hilferegelung oder die Ad-hoc-Beihilfe auf sie angewandt werden könnte beziehungs-
weise sie gerade ausschliessen würde (s. dazu auch die Ausführungen zu Art. 21 VE-
BHÜG). Bei der Anfechtung eines Erlasses, so insbesondere bei einer generellen Bei-
hilferegelung, wird häufig noch nicht mit Sicherheit gesagt werden können, ob ein
betroffenes Unternehmen nun Beihilfeempfänger oder ausgeschlossener Konkurrent
sein wird. In beiden Fällen muss aber das Unternehmen eine virtuelle Betroffenheit
geltend machen können.
Art. 37b
Beschwerdegründe bei Erlassanfechtung auf dem Gebiet der
Beihilfeüberwachung
Die Beschwerdegründe für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsge-
richt ergeben sich aus Artikel 49 VwVG in Verbindung mit Artikel 37 VGG. Auch
hier fehlt eine Regelung für Beschwerden gegen Erlasse im Sinne einer abstrakten
Normenkontrolle. Aus diesem Grund wird ein neuer Artikel 37
b
eingefügt, der die
möglichen Rügen festlegt.
Die Überwachungsbehörde oder Konkurrenten können die Verletzung von überge-
ordnetem Bundesrecht und Völkerrecht rügen. Da sich die Beschwerde gegen Ver-
ordnungen von Departementen, Ämtern oder weiteren untergeordneten Verwaltungs-
einheiten richtet, beinhaltet dies grundsätzlich Verordnungen des Bundesrates,
Bundesgesetze, die Bundesverfassung und Völkerrecht. Anders als bei Beschwerden
gegen Verfügungen soll die Unangemessenheit nicht gerügt werden können.
Für die Beschwerde der Überwachungsbehörde ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass
es sich dabei um eine Behördenbeschwerde handelt. Sie wird grundsätzlich nur Rügen
im Zusammenhang mit ihren gesetzlichen Aufgaben vorbringen. Das heisst mit dem
Zweck die einheitliche und korrekte Anwendung des BHÜG und der beihilferechtli-
chen Bestimmungen der völkerrechtlichen Abkommen sicherzustellen.
193
Vgl. BGE 136 I 49 E. 2.1.
194 / 931
Bei Beschwerden Dritter gegen eine Beihilfe in der Form von Verordnungen der Bun-
desversammlung sowie des Bundesrats, sind die Rügegründe eingeschränkt. Sie kön-
nen diesfalls nur die Unvereinbarkeit der Beihilfe mit den beihilferechtlichen Bestim-
mungen der völkerrechtlichen Verträge rügen. Diese Einschränkung ist Folge der
Gewaltenteilung. Akte der Bundesversammlung und des Bundesrates sollen nur in
Ausnahmefällen und im notwendigen Umfang von einem Bundesgericht überprüft
werden können (Art. 189 Abs. 4 BV; s. auch die Ausführungen zur Art. 98
a
VE-
BGG).
194
Dies gilt im Besonderen für die Erlasse. Handelt es sich um Verfügungen
oder Einzelakte der Bundesversammlung, ist es hingegen gerechtfertigt, die Rechts-
weggarantie (Art. 29
a
BV) höher zu gewichten und keine Einschränkung der Rüge-
gründe vorzusehen. Dies entspricht auch der bisherigen Konzeption des VGG, wo für
die bereits anfechtbaren Verfügungen des Bundesrates und der Organe der Bundes-
versammlung (Art. 33 Bst. a und b VGG) keine eingeschränkten Rügegründe vorge-
sehen sind.
Art. 37c
Beschwerdefrist bei Erlassanfechtung auf dem Gebiet der Beihilfeüberwa-
chung
Die Beschwerdefrist nach Artikel 50 Absatz 1 VwVG kann nicht auf die Anfechtung
von Erlassen des Bundes angewendet werden. Artikel 37
c
VE-VGG regelt deshalb
neu den Beginn und die Dauer der Beschwerdefrist für den Fall einer Erlassanfech-
tung. Es wird dabei an die Regelung von Artikel 101 BGG angeknüpft. Die massge-
bende Veröffentlichung richtet sich dabei nach dem Publikationsgesetz. Verordnun-
gen des Bundesrates und der Bundesversammlung sowie Erlasse von weiteren
Verwaltungseinheiten des Bundes werden mindestens fünf Tage vor dem Inkrafttre-
ten veröffentlicht (s. Art. 7 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Bst. c, d und e PublG).
2.2.8.3
Kartellgesetz vom 6. Oktober 1995
195
(KG)
Art. 18 Abs. 2
Mit der Schaffung der separaten Beihilfekammer werden zwei weitere Personen Mit-
glieder der Wettbewerbskommission, die jedoch mit der Ausnahme der Sitzungen der
Beihilfekammer nicht an den restlichen Sitzungen der Wettbewerbskommission teil-
nehmen (s. Erläuterungen zu Art. 3 VE-BHÜG in Ziff. 2.2.7). Entsprechend gilt es
Artikel 18 Absatz 2 anzupassen, sodass diese beiden Mitglieder der Beihilfekammer
zusätzlich zur vorgegebenen Anzahl der Mitglieder gezählt werden. Die vorgegebene
Anzahl wird in Übereinstimmung mit der parallel laufenden Reform der Wettbe-
werbsbehörden auf fünf bis sieben Mitglieder plus die zwei zusätzlichen Mitglieder
der Beihilfekammer festgelegt. Falls die Reform der Wettbewerbsbehörden nicht an-
genommen werden sollte, müsste im vorliegenden Satz die Anzahl Mitglieder von
fünf bis sieben auf den bisherigen Stand von elf bis 15 angepasst werden.
194
Vgl. dazu Botschaft über eine neue Bundesverfassung vom 20. November 1996 I, 1 ff.,
532 sowie Johannes Reich in: Ehrenzeller et al., Bundesverfassung St. Galler Kommentar,
4. A. 2023, Rz. 44 m.w.H. und Rz. 50.
195
SR
251
195 / 931
2.2.8.4
Luftfahrtgesetz vom 21. Dezember 1948
196
Art. 103
Das bisher in Artikel 103 LFG vorgesehene Verfahren für die Überprüfung von Bei-
hilfen im Bereich des Luftverkehrs wird mit dem Abschluss der 5-jährigen Über-
gangsphase neu im VE-BHÜG für alle betroffenen Binnenmarktabkommen und damit
auch für den Bereich Luftverkehr geregelt. Folglich kann Artikel 103 LFG mit dem
Inkrafttreten des BHÜG aufgehoben werden (s. auch Ziff. 2.2.9).
2.2.8.5
Preisüberwachungsgesetz vom 20. Dezember 1985
197
(PüG)
Art. 5 Abs. 2
Beihilfen sind vom Geltungsbereich des PüG nicht erfasst. Wäre die Beihilfeüberwa-
chung einer anderen Aufsichtsbehörde als der Wettbewerbskommission zugeteilt, be-
stünde auch für den Preisüberwacher kein Anspruch auf Sitzungsteilnahme mit bera-
tender Stimme. Deshalb wird der Preisüberwacher an den entsprechenden Sitzungen
der Beihilfekammer nicht teilnehmen.
2.2.9
Zwischenzeitliche Änderung des Luftfahrtgesetzes
Mit dem Inkrafttreten des Pakets Schweiz–EU wird der Artikel 13 des LuftVA aufge-
hoben, welcher als Grundlage für die bisherige Beihilfeüberwachung im Luftver-
kehrsbereich gilt (s. Ziff. 2.6.6.3). Entsprechend soll der dazugehörige Artikel 103
Absatz 1 LFG, welcher sich bislang auf Artikel 13 des LuftVA stützt, neu auf die ma-
teriellrechtlichen Verpflichtungen nach Artikel 3 des Beihilfeprotokolls-LuftVA ver-
weisen. Sobald das neue Überwachungsverfahren innert der fünfjährigen Übergangs-
frist aufgebaut wird, wird die Grundlage für die Überwachung im Luftverkehrsbereich
durch das BHÜG ersetzt und der Artikel 103 LFG wird aufgehoben (vgl.
Ziff. 2.2.8.4).
Diese Anpassung erfolgt in einem separaten Änderungserlass. Ansonsten bleibt Arti-
kel 103 LFG und somit auch das Verfahren der Beihilfeüberwachung bis zum Inkraft-
treten des BHÜG unverändert.
2.2.10
Auswirkungen des Paketelements
Um die Auswirkungen der Einführung der Beihilfeüberwachung für die Schweiz ein-
zuschätzen, muss die erwartete Anzahl an künftigen, neuen Beihilfefällen beziffert
werden. In Anlehnung an die Erfahrungswerte der EU und ihrer Mitgliedsstaaten ist
langfristig im Schweizer Beihilfeüberwachungsverfahren jährlich mit rund fünf anzu-
meldenden Beihilfevorhaben zu rechnen, welche einer einfachen Prüfung nach Arti-
kel 14 VE-BHÜG unterstehen werden. Zudem werden weitere fünf AGVO-Beihilfen
nach Artikel 25 Absatz 1 VE-BHÜG sowie eine vertiefte Prüfung nach Artikel 16
VE-BHÜG erwartet. Diese Zahlen könnten aufgrund des eingeschränkten Geltungs-
bereichs der betroffenen Binnenmarktabkommen niedriger ausfallen. Gleichzeitig
196
SR
748.0
197
SR
942.20
196 / 931
könnte etwa der fragmentierte Schweizer Strommarkt oder die föderalistische Orga-
nisationsstruktur der Schweiz die Anzahl der Fälle erhöhen. Auch die Tatsache, dass
die unverbindliche Beratung im Gegensatz zur EU kostenpflichtig ist, könnte die An-
zahl der Verfahren erhöhen.
Die Schätzungen basieren auf ersten Berechnungen und qualitativen Analysen inklu-
sive einem Quick-Check und werden während der Vernehmlassung weiter geprüft.
Zu Beginn der Systemeinführung könnten vermehrt Prüfungsverfahren stattfinden.
Beispielsweise führte Kroatien zehn Jahre vor ihrem EU-Beitritt bereits eine eigene
Beihilfeüberwachung durch ihre Wettbewerbsbehörde ein. Insbesondere in den ersten
Jahren wurden zahlreiche Beihilfen im Landverkehrsbereich gemeldet (was mit der
parallelen, unabhängig stattfindenden Modernisierung zusammenhing).
198
Zudem
wurden für Kroatien fünf der sieben bisherigen Prüfungen in den drei Sektoren wäh-
rend der ersten vier Jahre seit dem EU-Beitritt im Jahr 2013 durchgeführt. Ein solcher
Ballungseffekt war hingegen für Bulgarien und Rumänien nach ihren Beitritten im
Jahr 2007 in Bezug auf die drei Sektoren nicht ersichtlich.
2.2.10.1
Auswirkungen auf den Bund
Die folgenden Einschätzungen basieren auf der Annahme, dass das Paket Schweiz–
EU im Jahr 2028 in Kraft treten wird. Die 5-jährige Übergangsphase würde dann die
Jahre 2028-2032 erfassen. Die Schweizer Beihilfeüberwachung würde mit dem In-
krafttreten des BHÜG, das heisst fünf Jahre nach der Ratifizierung der völkerrechtli-
chen Verträge nach Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG (s. Art. 56 Abs. 3 VE-BHÜG), ab
dem Jahr 2033 funktionieren.
198
Annual Report on State Aid 2008, Croatian Competition Authority. Abrufbar unter:
www.aztn.hr > About Us > Annual reports.
197 / 931
Tabelle 2.2.10.1 (1): Geschätzter Ressourcenbedarf zur Umsetzung der Beihilfe-
überwachung für den Bund
Übergangsphase
2028-
2030
2031 2032
2033
2034
Ab
2035
Personal-
aufwand
(in VZÄ-
Stellen)
SECO
- System-
einführung
2/Jahr
2
2
- Nationale
Kompetenz-
stelle
1
1
1
WEKO
- Beihilfeüber-
wachung
1.5
1.5
5.5
5.5
5.5
- Beratung
4.5*
4.5*
3*
Insgesamt
2/Jahr
3.5
3.5
11*
11*
9.5*
Sachauf-
wand (in
1 000
Franken)
WEKO
- Datenbank
250
250
100
100
100
- Parteientschä-
digungen
100
100
100
Insgesamt
--
250
250
200
200
200
*2/3 des Beratungsaufwands wird über Gebühren durch die kantonalen Beihilfegeber,
das verbleibende Drittel auf Bundesebene durch intern kompensierte Kreditverschie-
bung von den federführenden Verwaltungseinheiten an die WEKO finanziert.
Neben den positiven, indirekten Auswirkungen über ökonomische Effekte (s.
Ziff. 2.2.10.3) wird die Einführung einer Beihilfeüberwachung zu zusätzlichem Auf-
wand für den Bund führen. Dieser wird insbesondere bei der WEKO, die für die Prü-
fung der Beihilfen verantwortlich sein wird, anfallen. Insgesamt ist auf Bundesebene
mit Einführungskosten von 500 000 Franken in den Jahren 2031 und 2032 zu rechnen.
Dauerhaft werden jährliche Ausgaben von 200 000 Franken erwartet. Im Übergang
werden in der WEKO und im SECO zudem zwischen zwei und elf VZÄ-Stellen sowie
ab 2035 neuneinhalb VZÄ-Stellen geschaffen.
Die WEKO überwacht zwar bereits Beihilfen im Geltungsbereich des LuftVA. Das
neue Verfahren wird jedoch aufgrund der sektoriellen Ausweitung und der eingeführ-
ten Anmelde- und Beschwerdepflichten (s. Erläuterungen in Ziff. 2.2.7 zu Art. 6 und
Art. 37 VE-BHÜG) zu neuen Bundesausgaben führen. Insgesamt ist mit einer dauer-
haften Personalerhöhung von siebeneinhalb Vollzeitäquivalenten im Sekretariat der
Wettbewerbskommission sowie einer Vollzeitäquivalenten in der Beihilfekammer zu
rechnen. Zwei VZÄ-Stellen werden über die kostenpflichtige Beratung durch die kan-
tonalen Beihilfegeber über Gebühreneinnahmen finanziert (s. Art. 5 VE-BHÜG). Die
Beratungskosten könnten insbesondere in den ersten Jahren nach der Einführung des
198 / 931
neuen Überwachungsverfahrens höher ausfallen, weshalb mit drei weiteren temporä-
ren VZÄ-Stellen verteilt über die ersten beide Jahre nach der Einführung (2033 und
2034) zu rechnen ist. Weitere Ausgaben können aufgrund allfälliger Parteientschädi-
gungen [
Bundesbehörden dürfen hingegen grundsätzlich keine Gerichtskosten aufer-
legt werden, wenn sie ihre spezialgesetzliche vorgesehene Aufsichtsfunktion ausüben
(BGE 148 II 369, E. 3).
] und der Datenbank-Betreuung (s. Art. 51 VE-BHÜG) entste-
hen.
Es ist mit zusätzlichen, einmaligen Ausgaben im Zusammenhang mit dem Aufbau der
Überwachungsbehörde zu rechnen. Mit Inkrafttreten des BHÜG muss die neue Über-
wachungsbehörde einsatzbereit sein. Dies bedeutet, dass die WEKO zwei Jahre vor
Inkrafttreten die für den Aufbau der Überwachungsbehörde beziehungsweise für die
Sicherstellung ihrer Einsatzbereitschaft ab Tag 1 notwendigen Ressourcen benötigt.
Damit ist in einem ersten Schritt der Wissens- und Kompetenzaufbau im Beihilferecht
innerhalb der Behörde sicherzustellen, der gegenwärtig nicht in genügendem Aus-
mass vorhanden ist. Dies gilt insbesondere in Bezug auf das sektorspezifische Recht
und die entsprechende Praxis in den Bereichen Strom und Landverkehr, die zukünftig
neu der Beihilfeprüfung unterliegen werden. Gleichzeitig sind die konkrete Organisa-
tion beziehungsweise die damit zusammenhängenden Prozess- und Organisationsab-
läufe vorzubereiten. Schliesslich sind der Aufbau und die Inbetriebnahme einer Da-
tenbank sicherzustellen. Für die genannten Vorbereitungsarbeiten werden bei der
WEKO eineinhalb VZÄ-Stellen während einer Vorbereitungsphase von zwei Jahren
vor Inkrafttreten vorgesehen.
Es ist mit gewissem Mehraufwand auch für Beihilfegeber auf Bundesebene zu rech-
nen, welche ihre Beihilfen anmelden, allenfalls nach der Stellungnahme der Überwa-
chungsbehörde anpassen, mitteilen und sich bei einem gerichtlichen Verfahren betei-
ligen würden. Dieser Mehraufwand könnte aber auch dazu führen, dass
Beihilfevorhaben nur dann in Angriff genommen werden, wenn ein echtes öffentli-
ches Interesse besteht und insgesamt somit weniger Beihilfen als bisher gewährt wer-
den, was die öffentlichen Haushalte entlasten würde. Zudem sind die Verwaltungsbe-
hörden des Bundes im Verlauf der Prüfung als Beihilfegeber nach Artikel 22 Absatz
1 VE-BHÜG sowie im Rahmen der Amtshilfe nach Artikel 3 Absatz 4 VE-BHÜG zu
Auskünften bei Verfahren der Überwachungsbehörde verpflichtet. Auch die allfällige
Anpassung bestehender Beihilferegelungen nach Artikel 47 Absatz 2 VE-BHÜG
kann zusätzlichen Aufwand für die Bundesbehörden verursachen. Aufgrund mögli-
cher Beschwerdeverfahren nach dem 5. Kapitel VE-BHÜG könnte auch ein gewisser
Mehraufwand für das Bundes- und Bundesverwaltungsgericht entstehen. Da jährlich
insgesamt auf Bundes- und kantonaler Ebene mit rund fünf Untersuchungen zu rech-
nen ist (s. Ziff. 2.2.10), sind diese Mehrkosten breit verteilt und fallen damit bei un-
terschiedlichen Stellen an. Deshalb werden auf Bundesebene diese Mehrkosten im
Rahmen der bestehenden Ressourcen finanziert.
Schliesslich soll auf Verordnungsstufe eine nationale Kompetenzstelle im SECO ein-
gerichtet werden, welche die Arbeiten zu beihilferechtlicher Gesetzgebung sowie den
internationalen Austausch im Kontext beihilferechtlicher Entwicklungen verantwor-
tet. Dies wird mit einer Vollzeitäquivalenten-Stelle ab dem Jahr 2033 abgedeckt. Im
Rahmen der Systemeinführung ist zudem im federführenden SECO mit erheblichem
199 / 931
Mehraufwand in der fünfjährigen Übergangsphase zu rechnen. Dies betrifft insbeson-
dere die Ausarbeitung der dazugehörigen Verordnung(en) (s. Ziff. 2.2.6.5) sowie Ko-
ordinationsarbeiten mit den Kantonen und der Europäischen Union und wird jährlich
mit bis Ende 2032 befristeten zwei VZÄ-Stellen abgedeckt.
Der Bundesrat wird den ausgewiesenen Ressourcenbedarf zu gegebener Zeit überprü-
fen und darauf achten, dass ein allfälliger Mehrbedarf an Personalaufwand innerhalb
des Eigenbereichs des Bundes kompensiert wird. Einzige Ausnahme ist das über Ge-
bühreneinnahmen finanzierte Personal (2 VZÄ).
2.2.10.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf
urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete
Die Vorlage hat keine spezifischen Auswirkungen auf städtische Zentren, Agglome-
rationen und Berggebiete.
Bei den Kantonen sind Mehrausgaben aufgrund der neuen Aufgaben zu erwarten. Es
ist mit vorübergehenden Einführungskosten von schätzungsweise achteinhalb VZÄ-
Stellen sowie dauerhaften jährlichen Vollzugskosten von schätzungsweise zwei VZÄ-
Stellen bei der Überwachungsbehörde für alle Kantone insgesamt zu rechnen. Da der
Bund eine zentrale Datenbank einrichten wird, fallen dafür bei den Kantonen keine
Kosten an.
Tabelle 2.2.10.2 (1): Geschätzter Ressourcenbedarf der Beihilfeüberwachung für
die Kantone
Kantone
Vorübergehende, einma-
lige Einführungskosten
(in VZÄ-Stellen)
Dauerhafte jährliche
Vollzugskosten
(in VZÄ-Stellen)
Kostenpflichtige Beratung bei
der WEKO als Überwachungsbe-
hörde
2
2
Kantonale Gesetzesanpassungen
6,5
-
Insgesamt
8,5
2
Aufgrund der fehlenden Erfahrung der Kantone zumindest zu Beginn mit der Beihil-
feüberwachung ist mit einem erheblichen Beratungsaufwand (s. Art. 5 VE-BHÜG) zu
rechnen. Auch wenn die zu meldende Fallanzahl insbesondere langfristig tief sein
sollte (s. Ziff. 2.2.10), können Fragen zu Vorhaben auftreten, die schlussendlich nicht
angemeldet werden müssen. Die Beratung durch die Überwachungsbehörde soll nach
Aufwand berechnet und den Beihilfegebern in Rechnung gestellt werden (s. Art. 5
VE-BHÜG). Entsprechend werden schätzungsweise zwei VZÄ-Stellen bei der Über-
wachungsbehörde pro Jahr über die Aufwandentschädigung durch die Kantone ge-
genfinanziert. Dieser Aufwand könnte insbesondere in den ersten Jahren nach der
Einführung des neuen Überwachungsverfahrens höher ausfallen, weshalb mit einer
weiteren Ausgabe von zwei VZÄ-Stellen verteilt über die ersten beiden Jahre nach
der Einführung (2033 und 2034) zu rechnen ist (s. mittlere Spalte in Tabelle 2.2.10.2
(1)). Um die Beratung möglichst effizient einzusetzen, könnten Kantone und Gemein-
den analog zu gewissen Mitgliedsstaaten der EU eine eigene Vorprüfstelle errichten
(s. Erläuterungen zu Art. 6 Abs. 1 VE-BHÜG) und diese auch zur Koordination der
Beratung beauftragen.
200 / 931
Weitere Mehrkosten werden für Beihilfegeber auf kantonaler Ebene entstehen, da sie
ihre Beihilfen anmelden, allenfalls nach der Stellungnahme der Überwachungsbe-
hörde anpassen, die finalisierten Beihilfen mitteilen und sich bei einem gerichtlichen
Verfahren beteiligen. Zudem sind die Verwaltungsbehörden der Kantone im Verlauf
der Prüfung als Beihilfegeber nach Artikel 22 Absatz 1 VE-BHÜG sowie im Rahmen
der Amtshilfe nach Artikel 3 Absatz 4 VE-BHÜG zu Auskünften bei Verfahren der
Überwachungsbehörde verpflichtet. Auch die allfällige Anpassung bestehender Bei-
hilferegelungen nach Artikel 47 Absatz 2 VE-BHÜG kann zusätzlichen Aufwand für
die kantonalen Behörden verursachen. Schliesslich wird die Beihilfeüberwachung
weitere Kosten für kantonale Gerichte verursachen, wenn Beschwerden gegen kanto-
nale Beihilfen erhoben werden. Jedes neue Gesetz führt zu einer potenziellen Mehr-
belastung der Gerichte, insbesondere in der Beihilfeüberwachung, wo jedoch die Be-
schwerdepflicht der Überwachungsbehörde besteht. Da jährlich auf Bundes- und
kantonaler Ebene aber insgesamt mit schätzungsweise fünf Untersuchungen und weit
weniger Beschwerden zu rechnen ist (s. Ziff. 2.2.10), werden diese Mehrkosten wahr-
scheinlich tief ausfallen. Die dauerhaften internen Mehrkosten für kantonale Beihil-
fegeber und Gerichte sollten analog zur Bundesebene zumindest teilweise intern kom-
pensiert werden können, wobei die konkrete Finanzierung den Kantonen überlassen
ist.
Um den Kompetenzaufbau zusammenzulegen, könnten Kantone im Rahmen eines
Konkordats ein interkantonales Gericht als 1. Instanz bei Beschwerden gegen kanto-
nale Beihilfen festlegen (s. Ziff. 2.2.6.2). Dies könnte im Verlauf der fünfjährigen
Übergangsfrist stattfinden.
Innert der fünfjährigen Übergangsfrist könnten allenfalls auch kantonale Gesetze und
Verordnungen angepasst werden, um sie den beihilferechtlichen Bestimmungen an-
zupassen. Auch wenn weitgehende Revisionen nicht zu erwarten sind, wird bereits
die Überprüfung des allfälligen Revisionsbedarfs nennenswerte Ressourcen binden.
Entsprechend wird pro Kanton einmalig mit einer Viertel VZÄ-Stelle gerechnet – ins-
gesamt also sechseinhalb VZÄ-Stellen über alle Kantone hinweg.
2.2.10.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
Generelle volkswirtschaftliche Einbettung der Auswirkungen der Beihilfebestimmun-
gen
Die Einführung der Beihilfeüberwachung in den drei Sektoren wird die Wettbewerbs-
lage in der Schweiz und damit die Rahmenbedingungen im Standort Schweiz in den
drei Sektoren stärken. Auch wenn Beihilfen in der EU sehr selten als unzulässig be-
urteilt werden (s. Ziff. 2.2.10), bewirkt eine Überwachung eine wettbewerbsfreundli-
chere Ausgestaltung der geplanten Beihilfen. Es ist auch damit zu rechnen, dass stark
wettbewerbsverzerrende Beihilfen aufgrund der Beratung durch die Überwachungs-
behörde nach Artikel 5 VE-BHÜG angepasst oder zurückgezogen werden.
Generell wird sich der gestärkte Wettbewerbsschutz positiv auf die Volkswirtschaft
und damit auch auf den Wohlstand in der Schweiz auswirken. Die Sicherstellung von
gleichen Rahmenbedingungen, bei denen bestimmte Unternehmen oder Produktions-
zweige nicht durch Beihilfen bevorzugt werden, verhindert die Fehlallokation von
Ressourcen und steigert damit langfristig das Produktivitätswachstum. Gleichzeitig
201 / 931
ist zu berücksichtigen, dass gewisse Beihilfen bei Vorliegen eines Marktversagens
oder anderen überwiegenden öffentlichen Interessen politisch erwünscht sind. Um
diese Ziele gegeneinander abzuwägen und den Wettbewerb nicht unnötig zu schädi-
gen, ist ein grundsätzliches Regelwerk zur Beihilfekontrolle notwendig. Dieses legt
fest, in welchen Fällen Beihilfen zulässig und wie sie möglichst wettbewerbsfreund-
lich auszugestalten sind. Staatliche Beihilfen, welche dem Wettbewerb übermässig
schaden, sind hingegen negativ für den Wohlstand eines Landes und deswegen zu
vermeiden.
Die Einführung einer Beihilfeüberwachung ist mit der Beteiligung am Binnenmarkt
der EU direkt verbunden. Somit sind auch die positiven wirtschaftlichen Auswirkun-
gen der betroffenen drei Binnenmarktabkommen im Zusammenhang mit der Beihil-
feüberwachung zu berücksichtigen (s. Ziff. 2.5.9, 2.6.9 und 2.10.9).
Auswirkungen auf einzelne Gruppen
In der EU ist die Anzahl an staatlichen Beihilfen, welche durch die Europäische Kom-
mission verboten werden, sehr gering und es existiert eine Vielzahl an Ausnahmebe-
stimmungen. Es ist davon auszugehen, dass der Grossteil an existierenden staatlichen
Beihilfen in der Schweiz auch künftig gewährt werden dürften. Bei Inkrafttreten des
BHÜG bereits gesprochene Beihilfen können unter keinen Umständen zurückgefor-
dert werden. Die Auswirkungen auf die Schweizer Unternehmen dürften damit be-
grenzt sein. Die Einführung der Beihilfeüberwachung ist auch mit gewissen, wenn
auch geringen Regulierungskosten für die Unternehmen verbunden. Die Lieferung
nötiger Informationen für die Beurteilung der Beihilfe nach Artikel 22 Absatz 1 VE-
BHÜG sollte vernachlässigbar sein, da die Beratung, Anmeldung und Austausch je-
weils zwischen der Überwachungsbehörde und dem Beihilfegeber stattfindet. Unter-
nehmen können zudem betroffen sein, wenn sie ihre Rechte als betroffene Dritte bei
einer allfälligen Äusserung in vertieften Prüfungen nach Artikel 22 Absatz 2 VE-
BHÜG oder bei Beschwerden geltend machen. Insgesamt gilt aber zu betonen, dass
der administrative Mehraufwand in erster Linie die Verwaltungsbehörden und nicht
die Unternehmen betrifft (s. Ziff. 2.2.10.1 und 2.2.10.2).
Als weitere Gruppe sind Konsumenten indirekt von der Beihilfeüberwachung durch
einen verstärkten Schutz des Wettbewerbs in positiver Weise betroffen. Ein florieren-
der Wettbewerb wirkt sich üblicherweise preisdämpfend aus.
2.2.10.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
Die Vorlage hat keine nennenswerten Auswirkungen auf die Gesellschaft.
2.2.10.5
Auswirkungen auf die Umwelt
Die Vorlage könnte sich zwar theoretisch auf die Förderung der erneuerbaren Ener-
giequellen und somit auch auf die Umwelt auswirken, da die Beihilfeüberwachung im
Stromabkommen erfasst ist. Die Erfahrungen aus der EU lassen aber vermuten, dass
diese Förderung grösstenteils weiterhin möglich sein sollte. Neben zahlreichen Aus-
nahmen im Bereich der Dekarbonisierung wurde im Stromsektor in der EU seit 2012
eine einzige Beihilfe als unzulässig beurteilt. Entsprechend wurde die Frage nach den
202 / 931
Auswirkungen auf die Umwelt nicht vertieft untersucht. Zudem sieht das Stromab-
kommen Absicherungen für bestehende Förderinstrumente namentlich im Bereich der
erneuerbaren Energien und die Kompensation von ökologischen Massnahmen im Zu-
sammenhang mit der Wasserkraft vor.
2.2.10.6
Andere Auswirkungen
Es werden keine weiteren nennenswerten Auswirkungen erwartet.
2.2.11
Rechtliche Aspekte des Paketelements
2.2.11.1
Verfassungsmässigkeit der Protokolle
Die Bestimmungen zu staatlichen Beihilfen werden in die bestehenden LandVA und
LuftVA durch die Beihilfeprotokolle und in das neue Stromabkommen direkt im Text
des Abkommens aufgenommen. Die Verfassungsmässigkeit des Stromabkommens
wird in der Ziffer 2.11.10.1 erläutert. Die Beihilfeprotokolle stützen sich auf Arti-
kel 54 Absatz 1 und 101 Absatz 1 BV, wonach der Bund für die auswärtigen Angele-
genheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV ermächtigt den Bundesrat, völker-
rechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Die Bundesversammlung ist
nach Artikel 166 Absatz 2 BV für die Genehmigung völkerrechtlicher Verträge zu-
ständig, sofern für deren Abschluss nicht aufgrund von Gesetz oder völkerrechtlichem
Vertrag der Bundesrat zuständig ist (Art. 24 Abs. 2 ParlG; Art. 7
a
Abs. 1 RVOG). Bei
den Beihilfeprotokollen handelt es sich nicht um völkerrechtliche Verträge, für deren
selbstständigen Abschluss der Bundesrat aufgrund eines Gesetzes oder eines von der
Bundesversammlung genehmigten völkerrechtlichen Vertrags ermächtigt ist. Es han-
delt sich auch nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag von beschränkter Tragweite
nach Artikel 7
a
Absatz 2 RVOG. Zudem erfordert die Umsetzung der Beihilfeproto-
kolle den Erlass eines neuen Bundesgesetzes. Die Beihilfeprotokolle sind folglich der
Bundesversammlung zur Genehmigung zu unterbreiten.
2.2.11.2
Verfassungsmässigkeit der Umsetzungsgesetzgebung
Der Bund kann sich beim Erlass des BHÜG für die Überwachung von Beihilfen des
Bundes auf die inhärente Organisationskompetenz des Bundes sowie für die Überwa-
chung von Beihilfen der Kantone auf die Artikel 95 Absatz 2 Satz 1, 54 Absatz 1, 101
Absatz 1 und ergänzend auf die sektorspezifischen Bundeskompetenzen gemäss Ar-
tikel 87 (Schienengüter‑ und ‑personenverkehr) und Artikel 92 Absatz 1 BV (Stras-
senpersonenverkehr) stützen.
2.2.11.2.1
Überwachung von Beihilfen des Bundes
Diverse Sachkompetenzen der Bundesverfassung ermächtigen den Bund zur Gewäh-
rung von Beihilfen. Gestützt auf diese Bestimmungen sowie seine inhärente unge-
schriebene Kompetenz, die Organisation und das Verfahren von Bundesbehörden zu
regeln (s. Art. 164 Abs. 1 Bst. g BV), ist der Bund zur Regelung der Beihilfegewäh-
rung durch Bundesbehörden sowie zu deren Überwachung befugt. Für Bundeszustän-
digkeiten, die sich aus der Existenz und der Natur der Eidgenossenschaft ergeben und
203 / 931
für die eine explizite Zuweisung einer Rechtsetzungskompetenz fehlt, wird nach heu-
tiger Praxis im Ingress stellvertretend für die Bundeskompetenz Artikel 173 Absatz 2
BV genannt.
Der Bund ist grundsätzlich frei, das Verfahren seiner Behörden zur Beihilfegewäh-
rung zu regeln. Aufgrund der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung der Gewaltentei-
lung sowie der verfassungsrechtlichen Stellung des Bundesrates als oberste leitende
und vollziehende Behörde des Bundes sind die Kompetenzen der Überwachungsbe-
hörde jedoch in Bezug auf die Akte der Bundesversammlung und des Bundesrates
eingeschränkt. Sie kann gegen solche Akte keine Beschwerde erheben (s. dementspre-
chend Art. 36 Abs. 2; vgl. jedoch auch 37 Abs. 2 VE-BHÜG). Nach Artikel 189 Ab-
satz 4 BV kann zwar grundsätzlich eine Beschwerdemöglichkeit gegen Akte der Bun-
desversammlung (mit Ausnahme von Bundesgesetzen; s. Art. 190 BV) und des
Bundesrates auf Gesetzesstufe vorgesehen werden (s. dementsprechend Art. 31
a
und
33 Abs. 1 Bst. b und Abs. 2 VE-VGG sowie Art. 82 Bst. b
bis
VE-BGG). Für ein mög-
liches Beschwerderecht einer Verwaltungsbehörde wie der Überwachungsbehörde
sind nebst Artikel 189 Absatz 4 BV aber auch die übrigen Verfassungsbestimmungen
zur Behördenorganisation des Bundes zu beachten. Ein Beschwerderecht einer Ver-
waltungsbehörde gegen Akte der Bundesversammlung wäre mit der gegenwärtigen
verfassungsrechtlichen Ausgestaltung der Gewaltenteilung nicht vereinbar. Hinsicht-
lich eines Beschwerderechts einer Verwaltungsbehörde gegen Akte des Bundesrates
bestünden zumindest verfassungsrechtliche Bedenken. Denn der Bundesrat ist auf-
grund seiner verfassungsrechtlichen Stellung als oberste leitende und vollziehende
Behörde des Bundes auch weisungsunabhängigen Verwaltungsbehörden hierarchisch
übergeordnet. Keinerlei verfassungsrechtliche Bedenken bestehen hinsichtlich der
auch für Akte der Bundesversammlung und des Bundesrates vorgesehenen unverbind-
lichen Stellungnahme der Überwachungsbehörde.
2.2.11.2.2
Überwachung von Beihilfen der Kantone
Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich auf Beihilfen sämtlicher staatlichen
Einheiten – einschliesslich denjenigen ausserhalb der Zentralverwaltung – aller föde-
ralen Ebenen unterhalb der Bundesebenen – insbesondere auch der Gemeinden. Der
Einfachheit halber wird jeweils nur von den Kantonen gesprochen.
Bindung an die innerstaatliche Kompetenzaufteilung bei der Umsetzung völkerrecht-
licher Verträge
Gestützt auf seine Kompetenzen im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten
(Art. 54 Abs. 1 und 101 Abs. 1 BV) kann der Bund mittels völkerrechtlichen Vertrags
eine Regulierung von Beihilfen vereinbaren (s. Ziff. 2.2.11.1). Beim Abschluss völ-
kerrechtlicher Verträge ist der Bund nicht an die interne Kompetenzaufteilung zwi-
schen dem Bund und den Kantonen gebunden. Er kann somit völkerrechtlich auch
eine Regulierung von Beihilfen vereinbaren, welche auch für die Kantone gilt und
welche weiter geht als diejenige, welche er selbst gestützt auf seine Bundeskompe-
tenzen erlassen könnte. Von dieser Kompetenz wird der Bund mit dem Abschluss der
Zusatzprotokolle über staatliche Beihilfen zum LuftVA- und LandVA sowie dem Bei-
hilfeteil des Stromabkommens Gebrauch machen. Bei der Umsetzung der völker-
204 / 931
rechtlich vereinbarten Vorgaben im Landesrecht bleibt der Bund jedoch an die inner-
staatliche Kompetenzaufteilung gebunden. Für die Umsetzung der völkerrechtlichen
Beihilfebestimmungen mit dem BHÜG benötigt der Bund somit auch hinsichtlich der
Überwachung von Beihilfen der Kantone eine Bundeskompetenz.
Sektorübergreifende Bundeskompetenz zur Regulierung von Beihilfen der Kantone
199
Der Vorteil einer Abstützung des BHÜG auf eine sektorübergreifende Bundeskom-
petenz besteht darin, dass dieselbe Bundeskompetenz auch bei einer allfälligen Über-
nahme der beihilferechtlichen Bestimmungen in weiteren Binnenmarktabkommen
mit der EU herangezogen werden könnte.
Nach Artikel 95 Absatz 2 Satz 1 BV hat der Bund für einen einheitlichen schweizeri-
schen Wirtschaftsraum (Binnenmarkt) zu sorgen. Der Bund kann gestützt auf Arti-
kel 95 Absatz 2 Satz 1 BV von Kantonen gewährte staatliche Beihilfen begrenzen, die
dazu führen, dass der Marktzugang der nicht durch die Beihilfe begünstigten, externen
Anbieter eingeschränkt wird. Dies trifft zu, wenn die Beihilfen die Aufnahme der
wirtschaftlichen Tätigkeit der externen Anbieter verhindern oder erheblich erschwe-
ren. Eine entsprechende Regulierung hätte sich jedoch auf das Notwendige zu be-
schränken und den Kantonen genügend Spielraum bei der Erfüllung ihrer Aufgaben
zu belassen. Ein grundsätzliches Beihilfeverbot mit detaillierter Regelung der Aus-
nahmen beziehungsweise Rechtfertigungsmöglichkeiten, wie in der EU, wäre im na-
tionalen Recht daher nicht möglich. In verfahrensrechtlicher Hinsicht wären Eingriffe
in die Organisations- und Verfahrensautonomie der Kantone nur zulässig, soweit sie
für die Sicherstellung der richtigen und einheitlichen Anwendung des – in seinem
Umfang im Vergleich zur EU beschränkten – Beihilferechts des Bundes in den Kan-
tonen unerlässlich wären.
Artikel 95 Absatz 2 Satz 1 BV kann aufgrund seines Wortlauts («schweizerischen
Wirtschaftsraum») nur zur Regulierung von Beihilfen, die zu einer Diskriminierung
oder übermässigen Wettbewerbsverzerrung im Binnenmarkt der Schweiz führen, her-
angezogen werden. Gestützt auf seine Kompetenzen im Bereich der auswärtigen An-
gelegenheiten (Art. 54 Abs. 1 und 101 Abs. 1 BV) kann der Bund diesen Schutz vor
Diskriminierung und übermässiger Wettbewerbsverzerrungen jedoch auch autonom
auf Anbieter aus dem Ausland ausdehnen.
Tragweite der Kompetenz für den Erlass des BHÜG
Das materielle Beihilferecht ergibt sich direkt anwendbar aus den Beihilfeprotokollen
respektive dem Stromabkommen. Eine Umsetzung im Landesrecht ist nicht notwen-
dig und das BHÜG enthält dementsprechend keine materiellen Bestimmungen (vgl.
auch Ziff. 2.2.5 und die Erläuterungen zum 1. Kapitel in Ziff. 2.2.7). Die fehlende
Kompetenz des Bundes nach Artikel 95 Absatz 2 Satz 1 BV, materielles Beihilferecht
in diesem Umfang mit Geltung für die Kantone zu erlassen, schadet daher nicht.
199
Für eine ausführliche Herleitung s. Bundesamt für Justiz, Gutachten zu einer Bundeskom-
petenz zu einer sektorenübergreifenden Regulierung von Beihilfen, Bern 28. März 2023,
www.seco.admin.ch > Wirtschaftslage & Wirtschaftspolitik > Wirtschaftspolitik > Wett-
bewerb > Staat und Wettbewerb > Staatliche Beihilfen.
205 / 931
Damit sich der Bund für die Regelung des Verfahrens der Beihilfegewährung sowie
der Beihilfeüberwachung für kantonalen Beihilfen im BHÜG auf Artikel 95 Absatz 2
Satz 1 in Verbindung mit Artikeln 54 Absatz 1 und 101 Absatz 1 BV stützen kann,
müssen die folgenden beiden Voraussetzungen erfüllt sein:
Erstens
müssen die Regelungen im BHÜG im Rahmen einer Beihilfeüberwachung
bleiben, welche der Bund auch autonom (d. h. nicht in Umsetzung einer völkerrecht-
lichen Verpflichtung) vorsehen könnte. Dies gilt insbesondere für die möglichen Ein-
griffe in die kantonale Organisations- und Verfahrensautonomie. Diese Vorausset-
zung wird mit dem VE-BHÜG erfüllt. Beispielsweise entscheidet die
Überwachungsbehörde des Bundes nicht rechtsverbindlich über die Zulässigkeit von
(kantonalen) Beihilfen, sondern es ist eine unverbindliche Stellungnahme verbunden
mit einem Beschwerderecht vorgesehen und für Beihilfen der Kantone gilt kein
Durchführungsverbot (vgl. auch Ziff. 2.2.6.2 und die Erläuterungen zu Art. 8 VE-
BHÜG in Ziff. 2.2.7).
Zweitens
muss die Beihilfeüberwachung zur Verhinderung von Diskriminierung kan-
tonsexterner Anbieter und zur Beseitigung übermässiger kantonaler Beschränkungen
des zwischenkantonalen Wirtschaftsverkehrs beitragen. Dieser Beitrag zu den Zielen
nach Artikel 95 Absatz 2 Satz 1 BV muss in seinem Umfang dem Beitrag entspre-
chen, welcher eine gestützt auf diese Bundeskompetenz autonom erlassene Regulie-
rung und Überwachung von kantonalen Beihilfen leisten würde, oder darf zumindest
nicht wesentlich dahinter zurückbleiben.
Beitrag der Beihilfeüberwachung zu einem einheitlichen schweizerischen Wirt-
schaftsraum im Sinne von Artikel 95 Absatz 2 Satz 1 BV
Die zwischen der Schweiz und der EU völkerrechtlich vereinbarte Regulierung von
Beihilfen dient nicht primär einem einheitlichen schweizerischen Wirtschaftsraum,
sondern dem Schutz einheitlicher Wettbewerbsbedingungen zwischen den Unterneh-
men der Vertragsparteien in den Bereichen, die vom Geltungsbereich der betreffenden
Abkommen erfasst werden (s. Ziff. 2.2.5.1). Dementsprechend werden durch die Bei-
hilfeprotokolle respektive das Stromabkommen und in dessen Umsetzung auch durch
das VE-BHÜG nur Beihilfen erfasst, welche den Handel zwischen der Schweiz und
der EU beeinträchtigen. Im Lichte der EuGH-Rechtsprechung, zu deren Berücksich-
tigung sich die Schweiz im Rahmen des institutionellen Protokolls verpflichtet (s.
Ziff. 2.1.6.3.1), kann diese Voraussetzung jedoch auch dann erfüllt sein, wenn Beihil-
fen an ausschliesslich in der Schweiz tätige Unternehmen gewährt werden. Denn diese
Beihilfen erschweren es den Unternehmen aus der EU, in den Schweizer Binnenmarkt
einzutreten.
200
Somit können auch die Auswirkungen von Beihilfen auf den Wettbe-
werb im Binnenmarkt der Schweiz Gegenstand der Beihilfeüberwachung nach dem
BHÜG sein, sofern die Beihilfen an Unternehmen für Tätigkeiten gewährt werden,
die unter den Geltungsbereich der Abkommen fallen. Durch den Schutz der Anbieter
der EU vor Wettbewerbsverzerrungen durch Beihilfen werden auch die inländischen
200
Urteil des EuGH vom 24. Juli 2003, Altmark Trans, C-280/00, ECLI:EU:C:2003:415,
Rn. 77 ff.; Urteil des EuGH vom 8. Mai 2013, Libert u. a., verbundene Rechtssachen
C‑197/11 und C‑203/11, ECLI:EU:C:2013:288, Rn. 78 f.; Urteil des EuGH vom 21. De-
zember 2016, Vervloet u.a., C-76/15, ECLI:EU:C:2016:975, Rn. 104.
206 / 931
Anbieter, welche bereits auf dem Markt tätig sind oder dort eine Tätigkeit aufnehmen
möchten, geschützt. Während bei einer autonomen Regulierung von kantonalen Bei-
hilfen nach Artikel 95 Absatz 2 Satz 1 BV die Schutzwirkung gestützt auf die Arti-
kel 54 Absatz 1 und 101 Absatz 1 BV auf Anbieter aus dem Ausland ausgedehnt wer-
den kann, kommt umgekehrt der Schutz der Anbieter aus der EU gemäss den
Beihilfeprotokollen respektive dem Stromabkommen den im Binnenmarkt der
Schweiz tätigen Anbietern zugute. Der Beitrag zu einem einheitlichen schweizeri-
schen Wirtschaftsraum ist vergleichbar. Der Bund kann sich somit für die Überwa-
chung von Beihilfen der Kantone grundsätzlich auf Artikel 95 Absatz 2 Satz 1 in Ver-
bindung mit den Artikeln 54 Absatz 1 und 101 Absatz 1 BV stützen.
Eingeschränkter Beitrag aufgrund des Geltungsbereichs des Landverkehrsabkom-
mens
Durch die Beihilfeprotokolle respektive das Stromabkommen und deren Umsetzung
auch durch den VE-BHÜG werden nur Beihilfen erfasst, welche den Handel zwischen
der Schweiz und der EU im Geltungsbereich der Binnenmarktabkommen beinträchti-
gen (vgl. Erläuterungen zu Art. 1 Abs. 2 VE-BHÜG in Ziff. 2.2.7).
Der Geltungsbereich des LandVA erfasst nur grenzüberschreitende Sachverhalte, der
ausschliesslich nationale Verkehr in der Schweiz ist nicht erfasst.
201
Im Bereich des
ausschliesslich nationalen Verkehrs in der Schweiz ist somit ein Markteintritt von Un-
ternehmen aus der EU gar nicht vorgesehen, womit voraussichtlich auch die entspre-
chende EuGH-Rechtsprechung keine Anwendung finden kann. Dementsprechend
sind Beihilfen an ausschliesslich in der Schweiz tätige Unternehmen in diesem Sektor
voraussichtlich nicht erfasst (s. Ziff. 2.5.6.4 und 2.5.8.3.). Somit werden in diesem
Sektor nicht – wie von Artikel 95 Absatz 2 Satz 1 BV angestrebt – sämtliche Beihilfen
mit Auswirkungen im Binnenmarkt der Schweiz von der Beihilfeüberwachung erfasst
und diese Auswirkungen sind auch nicht Gegenstand der Prüfung. Zwar werden auch
die Anbieter im Binnenmarkt der Schweiz durch die Beihilfeüberwachung mittelbar
vor Wettbewerbsverzerrungen durch Beihilfen an die im Geltungsbereich des
LandVA (grenzüberschreitend) tätigen Unternehmen geschützt. Umgekehrt werden
letztere Unternehmen aber nicht vor Wettbewerbsverzerrungen durch Beihilfen an
ausschliesslich in der Schweiz tätige Anbieter geschützt. Diese Ungleichbehandlung
steht im Widerspruch zur Zielsetzung eines einheitlichen schweizerischen Wirt-
schaftsraums nach Artikel 95 Absatz 2 Satz 1 BV. Deshalb kann sich der Bund für die
Überwachung von Beihilfen der Kantone im Bereich des LandVA nicht ausschliess-
lich auf die Artikel 95 Absatz 2 Satz 1 und 101 Absatz 1 BV stützen.
Die Geltungsbereiche des LuftVA und des Stromabkommens sind nicht so ausgestal-
tet, dass sie den Beitrag der Beihilfeüberwachung zu einem einheitlichen schweizeri-
schen Wirtschaftsraum einschränken. Insbesondere werden vom LuftVA durch die
gegenseitige Gewährung entsprechender Verkehrsrechte neu auch der Flugverkehr
zwischen Punkten innerhalb der Schweiz sowie zwischen Punkten innerhalb eines
201
S. Art. 2 LandVA; vgl. auch die Erläuterungen zu Art. 1 Abs. 1 Änderungsprotokoll zum
LandVA in Ziff. 2.5.6.2.
207 / 931
Mitgliedstaates der EU erfasst.
202
Damit haben Luftfahrtunternehmen aus der EU
auch im Bereich des Inlandflugverkehrs Zugang zum Schweizer Binnenmarkt.
Ergänzende Abstützung auf sektorspezifische Bundeskompetenzen
Der Bund kann sich für die Überwachung von Beihilfen der Kantone im Bereich des
LandVA ergänzend auf Sachkompetenzen abstützen, welche eine Beihilfeüberwa-
chung durch den Bund in diesen Bereichen unabhängig vom Ziel eines einheitlichen
schweizerischen Wirtschaftsraums ermöglichen.
Nach Artikel 87 BV hat der Bund eine umfassende Gesetzgebungskompetenz für den
Eisenbahnverkehr, worunter sämtliche schienengebundenen Verkehrsträger fallen.
Sachlich erstreckt sich die Kompetenz auch auf die Marktordnung.
203
Der Bund kann
sich somit für die Überwachung von Beihilfen der Kantone im Bereich des Eisen-
bahngüter‑ und ‑personenverkehrs ergänzend auf Artikel 87 BV stützen.
Artikel 92 Absatz 1 BV verleiht dem Bund eine umfassende Bundeskompetenz im
Bereich des Post- und Fernmeldewesens. Teil des Postwesens ist auch die regelmäs-
sige und gewerbsmässige Personenbeförderung auf der Strasse. Die Kompetenz er-
streckt sich hier sachlich ebenfalls auf die Marktordnung.
204
Der Bund kann sich so-
mit für die Überwachung von Beihilfen der Kantone im Bereich des
Strassenpersonenverkehr ergänzend auf Artikel 92 Absatz 1 BV stützen.
Im Bereich des Strassengüterverkehrs fehlt eine Bundeskompetenz, welche sich sach-
lich auf die Marktordnung und auf eine Überwachung von Beihilfen der Kantone er-
streckt, auf die der Bund sich ergänzend abstützen könnte. Nach Artikel 82 Absatz 1
BV verfügt der Bund zwar über eine umfassende Gesetzgebungskompetenz im Be-
reich des Strassenverkehrs, welche neben eigentlichen Verkehrsvorschriften auch Re-
gelungen in Gebieten mit einem engen Bezug zum Strassenverkehr umfasst, nament-
lich
die
Zulassungsordnung
für
Fahrzeuge
und
Fahrzeugführer,
das
Verkehrsstrafrecht oder haftpflicht- und versicherungsrechtliche Fragen.
205
Diese
Aufzählung zeigt jedoch, dass sich die Kompetenz sachlich nicht auf eine Marktord-
nung des Güterverkehrs auf der Strasse erstreckt. Der Gütertransport ist sodann nicht
Teil des Postwesens nach Artikel 92 Absatz 1 BV. Es ist jedoch vertretbar, die sekto-
rübergreifende Kompetenz aus Artikel 95 Absatz 2 Satz 1 BV – trotz des aufgrund
des Geltungsbereichs des LandVA eingeschränkten Beitrags der Beihilfeüberwa-
chung im Bereich des Strassengüterverkehr zu einem einheitlichen schweizerischen
Wirtschaftsraum – auf diesen Bereich zu erstrecken. Eine Ausklammerung des Stras-
sengüterverkehrs aus dem VE-BHÜG und damit eine gesonderte Beihilfeüberwa-
chung durch die Kantone nur in diesem Sektor würde ebenfalls zu uneinheitlichen
202
S. Art. 1 Abs. 2 Änderungsprotokoll zum LuftVA sowie die Erläuterungen dazu in
Ziff. 2.6.6.1.
203
Kern, in: Waldmann/Belser/Epiney (Hrsg.), Basler Kommentar, Bundesverfassung, Basel
2015, Art. 87 N 13.
204
Hettich/Steiner in: Ehrenzeller/Egli/Hettich/Hongler/Schindler/Schmid/Schweizer (Hrsg.),
Die Schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, Zürich 2023, Art. 92 N 15.
205
Vogel, in: Ehrenzeller/Egli/Hettich/Hongler/Schindler/Schmid/Schweizer (Hrsg.), Die
Schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, Zürich 2023, Art. 82 N 5.
208 / 931
Verhältnissen führen. Ausserdem ist davon auszugehen, dass die dem Beihilfeproto-
koll und dem VE-BHÜG unterstellte Überwachung kantonaler Beihilfen an im Gel-
tungsbereich des LandVA (grenzüberschreitend) tätige schweizerische Unternehmen
des Strassengüterverkehrs auch eine disziplinierende Wirkung auf die Beihilfegewäh-
rung an nur innerstaatlich tätige Unternehmen hat.
Der Bund verfügt somit über eine Verfassungsgrundlage für die Überwachung von
Beihilfen der Kantone im gesamten Geltungsbereich des VE-BHÜG.
Bei einer allfälligen Übernahme der beihilferechtlichen Bestimmungen in weiteren
Binnenmarktabkommen mit der EU wird jeweils zu prüfen sein, ob deren Geltungs-
bereich den Beitrag der Beihilfeüberwachung zu einem einheitlichen schweizerischen
Wirtschaftsraum einschränken. Ist dies der Fall, muss sich der Bund für die Umset-
zung (im BHÜG) ergänzend auf eine sektorspezifische Bundeskompetenz abstützen
können. Ist dies nicht der Fall, kann sich der Bund ausschliesslich auf Artikel 95 Ab-
satz 2 Satz 1 in Verbindung mit den Artikeln 54 Absatz 1 und 101 Absatz 1 BV stüt-
zen.
2.2.11.2.3
Nicht einschlägige Verfassungsgrundlagen
206
Eine sektorübergreifende Überwachung kantonaler Beihilfen kann sich nicht auf Ar-
tikel 96 Absatz 1 BV stützen. Nach Artikel 96 Absatz 1 BV erlässt der Bund Vor-
schriften gegen volkswirtschaftlich oder sozial schädliche Auswirkungen von Kartel-
len und anderen Wettbewerbsbeschränkungen. Auch Beihilfen können zu
Wettbewerbsverzerrungen mit entsprechenden Auswirkungen führen
207
, womit ihre
Regulierung zumindest vom Wortlaut von Artikel 96 Absatz 1 BV gedeckt wäre.
Während die Artikel 27 und 94 BV den Wettbewerb vor Verzerrung durch staatliche
Massnahmen schützen, zielt Artikel 96 BV aber primär auf einen Schutz des Wettbe-
werbs vor Verzerrungen durch Private.
208
Zwar wird auch staatliches Handeln von
Artikel 96 BV erfasst, jedoch nur soweit es um eine Teilnahme am Wirtschaftsprozess
als Anbieter oder Nachfrager von Gütern und Dienstleistungen geht. Die Gewährung
von Beihilfen ist keine solche staatliche Wirtschaftstätigkeit.
209
Gegen eine Abstüt-
zung auf Artikel 96 BV als eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Be-
kämpfung sämtlicher Wettbewerbsbeschränkungen spricht auch, dass der Begriff der
206
Für weitere nicht einschlägige Verfassungsgrundlagen s. Bundesamt für Justiz, Gutachten
zu einer Bundeskompetenz zu einer sektorenübergreifenden Regulierung von Beihilfen,
Bern 28. März 2023, www.seco.admin.ch > Wirtschaftslage & Wirtschaftspolitik > Wirt-
schaftspolitik > Wettbewerb > Staat und Wettbewerb > Staatliche Beihilfen.
207
Martenet, in: Martenet/Dubey (Hrsg.), Commentaire romand, Constitution fédérale, Basel
2021, Art. 96 N 26.
208
Biaggini, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 2017, Art. 96
N 4; Jacobs, in: Ehrenzeller/Egli/Hettich/Hongler/Schindler/Schmid/Schweizer (Hrsg.),
Die Schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, Zürich 2023, Art. 96 N 6;
Uhlmann, in: Waldmann/Belser/Epiney (Hrsg.), Basler Kommentar, Bundesverfassung,
Basel 2015, Art. 96 N 7.
209
Dies anerkennt im Grundsatz auch Martenet, in: Martenet/Dubey (Hrsg.), Commentaire
romand, Constitution fédérale, Basel 2021, Art. 96 N 26, der aber Art. 96 BV in einem
Konglomerat mit Art. 92, Art. 95 Abs. 2 und Art. 98 BV dennoch für eine Bundeskompe-
tenz zur Regulierung von Beihilfen heranziehen möchte, wobei auch er die primäre Grund-
lage in Art. 95 Abs. 2 BV zu sehen scheint.
209 / 931
anderen Wettbewerbsbeschränkungen ursprünglich aus dem Kartellgesetz stammt
und erst später in die BV aufgenommen wurde mit dem Ziel klarzustellen, dass nicht
nur Kartelle sondern – unabhängig von ihrer Organisations- oder Erscheinungsform –
möglichst alle wettbewerbsbeschränkenden Gebilde erfasst werden sollen.
210
2.2.11.2.4
Fazit zur Verfassungsmässigkeit
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass eine Verfassungsgrundlage für den
gesamten Geltungsbereich des VE-BHÜG besteht. Der Bund kann sich beim Erlass
des BHÜG für die Überwachung von Beihilfen des Bundes auf die inhärente Organi-
sationskompetenz des Bundes sowie für die Überwachung von Beihilfen der Kantone
auf die Artikel 95 Absatz 2 Satz 1, 54 Absatz 1 und 101 Absatz 1 BV und ergänzend
auf die sektorspezifischen Bundeskompetenzen gemäss den Artikeln 87 und 92 Ab-
satz 1 BV stützen.
2.2.11.3
Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen
Die völkerrechtlichen Beihilfebestimmungen zwischen der Schweiz und der EU und
deren Umsetzung im VE-BHÜG orientieren sich am EU-Recht. Für die Zwecke ein-
heitlicher Wettbewerbsbedingungen in den Teilen des Binnenmarktes, die im Gel-
tungsbereich der relevanten Abkommen liegen, schafft und unterhält die Schweiz ein
System zur Beihilfeüberwachung, welches jederzeit ein Mass an Überwachung und
Durchsetzung gewährleistet, das dem in der Europäischen Union angewandten Sys-
tem gleichwertig ist. Diese Regelungen stehen im Einklang mit den Regeln der WTO,
insbesondere dem WTO-Übereinkommen über Subventionen und Ausgleichsmass-
nahmen
211
, welche weiterhin auf die betroffenen Beihilfen anwendbar sind.
2.2.11.4
Erlassform
Die Frage der Form der zu erlassenden Rechtsakte wird in den Teilen des erläuternden
Berichtes behandelt, die Bestimmungen über staatliche Beihilfen enthalten (s.
Ziff. 2.5, 2.6 und 2.10).
2.2.11.5
Vorläufige Anwendung
Es ist keine vorläufige Anwendung vorgesehen.
2.2.11.6
Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass
Die Verfahrensbestimmungen des VE-BHÜG gehen den kantonalen Verfahrensrech-
ten vor. Es sind keine weiteren besonderen rechtliche Aspekte zu erwähnen.
2.2.11.7
Datenschutz
Die Überwachungsbehörde wird im Rahmen ihrer Tätigkeiten nach dem VE-BHÜG
Personendaten und Daten juristischer Personen bearbeiten. Ob sie in diesem Rahmen
210
Biaggini, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 2017, Art. 96
N 5; Jacobs, in: Ehrenzeller/Egli/Hettich/Hongler/Schindler/Schmid/Schweizer (Hrsg.),
Die Schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, Zürich 2023, Art. 96 N 13
f.; Uhlmann, in: Waldmann/Belser/Epiney (Hrsg.), Basler Kommentar, Bundesverfassung,
Basel 2015, Art. 96 N 15.
211
Anhang 1A.13 zum Abkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation; SR
0.632.20
.
210 / 931
auch besonders schützenswerte Personendaten bearbeitet und bekanntgegeben wird
sowie besonders schützenswerte Daten juristischer Personen bekanntgeben wird und
dementsprechend dafür jeweils eine formell-gesetzliche Rechtsgrundlage geschaffen
werden muss, wird während der Vernehmlassung noch geprüft.
211 / 931
2.3
Personenfreizügigkeit
2.3.1
Zusammenfassung
Mit dem Änderungsprotokoll zum Abkommen vom 21. Juni 1999
212
zwischen der
Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft
und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (
Freizügigkeitsabkom-
men
, FZA) haben sich die Schweiz und die EU auf die Aufdatierung der Regeln zur
Personenfreizügigkeit geeinigt. Die Schweizer Wirtschaft kann somit weiterhin bei
Bedarf Arbeitskräfte aus der EU rekrutieren, was von grosser Bedeutung für den Wirt-
schaftsstandort Schweiz und die Planungssicherheit der Unternehmen ist. Umgekehrt
verleiht das Freizügigkeitsabkommen Schweizer Bürgerinnen und Bürgern umfas-
sende Mobilitätsrechte in der EU, wovon rund eine halbe Million Schweizerinnen und
Schweizer profitieren. Das FZA umfasst nebst der Zuwanderung und der grenzüber-
schreitenden Dienstleistungserbringung (inkl. Lohnschutz) auch die Koordinierung
der Systeme der sozialen Sicherheit (Anhang II) sowie die Anerkennung beruflicher
Qualifikationen (Anhang III). Dieser Geltungsbereich des FZA bleibt durch das Än-
derungsprotokoll unverändert. Die Richtlinie 2004/38/EG
213
wird massgeschneidert
auf die Schweiz übernommen und mit einem wirksamen dreistufigen Schutzkonzept
verknüpft, welches Ausnahmen und Absicherungen umfasst sowie durch die konkre-
tisierte Schutzklausel vervollständigt wird. Betreffend die grenzüberschreitende
Dienstleistungserbringung (inkl. Lohnschutz) wurde zur Übernahme der EU-
Entsenderichtlinien ins FZA ebenfalls ein dreistufiges Absicherungskonzept mit Aus-
nahmen, Prinzipien und einer Non-Regression-Klausel ausgehandelt. Das Änderungs-
protokoll zum FZA zusammen mit den innerstaatlichen Umsetzungs- und Begleit-
massnahmen stellen sicher, dass die Zuwanderung aus der EU entsprechend den
Zielen des Bundesrates arbeitsmarktorientiert bleibt, und gewährleisten die geltenden
Lohn- und Arbeitsbedingungen in der Schweiz. Der Bundesrat erachtet das Verhand-
lungsmandat als vollständig erfüllt. In Bezug auf die Schutzklausel wurde das Ver-
handlungsmandat übertroffen, indem die Konkretisierung für den gesamten Geltungs-
bereich des FZA gilt (s. Ziff. 5.3). Der Bundesrat beantragt im Rahmen des
Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU die Genehmigung des Änderungsproto-
kolls und der dazugehörenden Umsetzungsgesetzgebung.
Zuwanderung
Das FZA regelt die Rechte und Pflichten von Staatsangehörigen einer Vertragspartei
und ihrer Familienangehörigen, wenn sie sich in das Hoheitsgebiet einer anderen Ver-
tragspartei begeben, um dort zu leben, zu arbeiten oder zu studieren. Dies betrifft so-
wohl Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten in der Schweiz, als auch Schweizer
Staatsangehörige in EU-Mitgliedstaaten. Seit dem Abschluss des FZA wurde der An-
hang I, welcher die Bestimmungen im Zuwanderungsbereich enthält, mit Ausnahme
212
SR
0.142.112.681
213
Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004
über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet
der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung
(EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG,
72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und
93/96/EWG, in der Fassung gemäss Anhang I Abschnitt 2 des Änderungsprotokolls zum
FZA.
212 / 931
der Bestimmungen zur Ausweitung des FZA auf neue EU-Mitgliedstaaten nicht mehr
angepasst. Gleichzeitig hat sich das EU-Recht
214
im Bereich des freien Personenver-
kehrs namentlich mit der Einführung der Richtlinie 2004/38/EG
215
innerhalb der EU
weiterentwickelt. Im Mittelpunkt der Verhandlungen zwischen der Schweiz und der
EU über das Änderungsprotokoll zum FZA stand denn auch die Teilübernahme dieser
Richtlinie. Damit sollen im Grundsatz innerhalb der EU sowie zwischen der Schweiz
und der EU wieder dieselben Regeln bei der Personenfreizügigkeit zur Anwendung
gelangen. Das Prinzip der dynamischen Übernahme von EU-Recht wird somit für die
Schweiz in Zukunft auch für den Bereich des freien Personenverkehrs gelten.
Im
Verhandlungsmandat
vom 8. März 2024 setzte der Bundesrat im Bereich der Zu-
wanderung drei Ziele für die Verhandlungen fest: Erstens sollte die Ausrichtung der
Migration im Rahmen des FZA auf die Erwerbstätigkeit beibehalten werden, um die
Folgen für die Sozialsysteme zu begrenzen und Missbräuche zu bekämpfen. Zweitens
sollte die Schweizer Bundesverfassung in Sachen strafrechtliche Landesverweisung
respektiert werden. Und drittens sollte das Meldeverfahren für wirtschaftlich moti-
vierte Kurzaufenthalte bewahrt werden. Diese Ziele wurden mit dem Verhandlungs-
ergebnis zum Änderungsprotokoll zum FZA sowie den dazugehörigen inländischen
Umsetzungs- und Begleitmassnahmen vollumfänglich erreicht.
Das relevante EU-Recht wird begleitet von einem
dreistufigen Schutzkonzept
ins FZA
übernommen. Dieses Schutzkonzept umfasst drei Ausnahmen (betr. Daueraufenthalt,
Landesverweisung und biometrische Identitätskarte) und zwei Absicherungen (zur
Aufenthaltsbeendigung und dem Meldeverfahren) sowie eine konkretisierte Schutz-
klausel in Artikel 14a FZA. Ein zentraler Mehrwert der konkretisieren Schutzklausel
liegt in ihrem institutionellen Mechanismus unter Einbezug eines Schiedsgerichts: Die
Schweiz kann bei Uneinigkeit im Gemischten Ausschuss (GA), ohne Zustimmung der
EU, das Schiedsgericht in einem ordentlichen oder einem dringlichen Verfahren an-
rufen. Die konkretisierte Schutzklausel ist anwendbar auf Sachverhalte im gesamten
Geltungsbereich des FZA, auch auf den Lohnschutz. In der innerstaatlichen Gesetz-
gebung werden unter anderem die Bedingungen für eine Aufenthaltsbeendigung und
das Meldeverfahren festgehalten. Ebenfalls in der innerstaatlichen Gesetzgebung wer-
den die Voraussetzungen für die Auslösung der Schutzklausel mit Indikatoren in den
Bereichen Arbeitsmarkt, soziale Sicherheit, Wohnungswesen und Verkehr, sowie
Schwellenwerten betreffend die Nettozuwanderung aus der EU, der Zunahme der Be-
schäftigung von Grenzgängerinnen und Grenzgängern, der Arbeitslosigkeit und des
Sozialhilfebezugs definiert. Auch werden die Kompetenzen für die Auslösung der
Schutzklausel sowie das Ergreifen allfälliger Schutzmassnahmen festgelegt. Das Zu-
sammenspiel der vertraglichen Schutzklausel im FZA und deren innerstaatliche Um-
214
Die Bezeichnung «EU-Recht» dient der einfacheren Lesbarkeit. Erst seit dem Inkrafttreten
des Vertrags von Lissabon vom 1. Dezember 2009 ist die EU die Rechtsnachfolgerin der
Europäischen Gemeinschaft.
215
Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004
über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet
der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung
(EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG,
72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und
93/96/EWG, ABl. L 158 vom 30.4.2004, p. 77–123.
213 / 931
setzung ergibt ein wirksames Instrument. Ebenfalls in der innerstaatlichen Gesetzge-
bung wird das neu geltende Gleichbehandlungsgebot bei den Studiengebühren von
Studierenden aus der Schweiz und der EU an vorwiegend öffentlich finanzierten
Hochschulen mit Begleitmassnahmen ergänzt, um die finanziellen Auswirkungen bei
den betroffenen Hochschulen abzufedern.
Lohnschutz
Mit dem FZA wurde die grenzüberschreitende, personengebundene Dienstleistungs-
erbringung bis maximal 90 Arbeitstage pro Kalenderjahr liberalisiert. Damit solche
Dienstleistungserbringungen durch Arbeitnehmende (im Rahmen sogenannter Ent-
sendungen) und Selbstständigerwerbende aus der EU in der Schweiz nicht zu miss-
bräuchlichen Unterschreitungen der schweizerischen Lohn- und Arbeitsbedingungen
führen, und damit in- und ausländische Unternehmen die gleichen Wettbewerbsbe-
dingungen haben, wurden in der Schweiz im Jahr 2004 die sogenannten flankierenden
Massnahmen (FlaM) eingeführt. So verpflichtet das Entsendegesetz vom 8. Oktober
1999
216
(EntsG) ausländische Arbeitgebende, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer in die Schweiz entsenden, zur Einhaltung der schweizerischen Lohn- und Ar-
beitsbedingungen. Zur Bekämpfung von sogenannter Scheinselbstständigkeit und der
damit verbundenen möglichen Umgehung der Einhaltung der schweizerischen Lohn-
und Arbeitsbedingungen enthält das EntsG zudem Massnahmen, die sich an selbst-
ständige grenzüberschreitende Dienstleistungserbringende richten.
Das Ziel der Verhandlungen bestand gemäss dem Schweizer Verhandlungsmandat in
der Angleichung des Rechts betreffend entsandte Arbeitnehmende gemäss FZA an
das in diesem Bereich geltende EU-Recht. Dies unter der Voraussetzung, dass das in
der Schweiz aktuell geltende Schutzniveau betreffend Lohn- und Arbeitsbedingungen
dauerhaft erhalten bleibt und Schweizer Unternehmen nicht einem unlauteren Wett-
bewerb ausgesetzt werden. Hierfür strebte der Bundesrat in den Verhandlungen mit
der EU zum Lohnschutz die Vereinbarung eines dreistufigen Absicherungskonzepts
an bestehend aus Ausnahmen, Prinzipien und einer Non-Regression-Klausel.
Der Bundesrat war sich bereits beim Start der exploratorischen Gespräche mit der EU
gemeinsam mit Kantonen und Sozialpartnern einig, dass zusätzlich zum Verhand-
lungsergebnis auch inländische Massnahmen zur Aufrechterhaltung des aktuellen
Lohnschutzniveaus nötig sind. Der Bundesrat hat diese Massnahmen parallel zu den
Verhandlungen zusammen mit Kantonen und Sozialpartnern erarbeitet und schlägt
deren Umsetzung im Rahmen der Anpassungen des EntsG, des Bundesgesetzes über
das öffentliche Beschaffungswesen (BöB)
217
, des Bundesgesetzes über die Allge-
meinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen (AVEG)
218
und des Obligati-
onsrechts (OR)
219
vor.
216
Bundesgesetz vom 8. Oktober 1999 über die flankierenden Massnahmen bei entsandten
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und über die Kontrolle der in Normalarbeitsverträ-
gen vorgesehenen Mindestlöhne;
SR 823.20.
217
Bundesgesetzes vom 21. Juni 2019, SR
172.056.1.
218
Bundesgesetz vom 28. September 1956, SR
221.215.311.
219
SR
220
214 / 931
Mit der inländischen Massnahme zur Umsetzung der Spesenregelung der EU nutzt
die Schweiz den vom relevanten EU-Recht gewährten Spielraum maximal und ge-
währleistet das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort», um un-
lauteren Wettbewerb zu verhindern.
Alle inländischen Massnahmen zur Sicherung des Lohnschutzes sind gezielt auf Be-
reiche ausgerichtet, in denen Handlungsbedarf besteht. Betroffen davon sind in erster
Linie Entsendebetriebe aus dem EU-Raum. Soweit sich die Massnahmen auch an
Schweizer Unternehmen richten, bauen sie auf dem Bestehenden auf und schaffen
keine neuen Belastungen für Schweizer Firmen. Der flexible Arbeitsmarkt wird nicht
eingeschränkt.
Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit
Dank der Aufdatierung der Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Si-
cherheit (Anhang II FZA) werden die sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche von
Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten in der Schweiz sowie von Schweizerinnen
und Schweizern in EU-Mitgliedstaaten auch künftig geschützt. Die für die Schweiz
wichtigsten bestehenden Ausnahmen konnten von der dynamischen Rechtsüber-
nahme ausgenommen werden. Die Auswirkungen der Übernahme der Richtlinie
2014/50/EU
220
auf die weitergehende berufliche Vorsorge konnten entsprechend den
Interessen der Schweiz gemildert werden.
Anerkennung von Berufsqualifikationen
Der Bereich der Anerkennung von Berufsqualifikationen (Anhang III FZA) wird mit
dem Änderungsprotokoll zum FZA erstmals seit 2015 aufdatiert. So kann die Schweiz
bei der Anerkennung von beruflichen Qualifikationen neu am Binnenmarkt-Informa-
tionssystem IMI der EU teilnehmen. Damit wird die Schweiz in Zukunft unter ande-
rem vorgewarnt, wenn Staatsangehörigen eines EU-Mitgliedstaates die Bewilligung
zur Berufsausübung entzogen wird (Vorwarnmechanismus). Dazu wird der Anhang
III FZA aufdatiert. Schweizer Bürger und Unternehmen werden in der EU über die
gleichen Regeln profitieren wie andere EU-Bürger, wenn sie einen reglementierten
Beruf in der EU ausüben wollen.
2.3.2
Ausgangslage
Zuwanderung
Das FZA ist seit dem 1. Juni 2002 in Kraft und bildet eine zentrale Säule der bilatera-
len Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU. In verschiedenen Schritten und
in Anwendung von Übergangsbestimmungen, welche eine graduelle Öffnung des
schweizerischen Arbeitsmarkts ermöglichten, wurde das FZA nach 2006 auf die
neuen EU-Mitgliedstaaten ausgeweitet. Seit 2017 gelten die Bestimmungen des FZA
auch für den jüngsten EU-Mitgliedstaat Kroatien.
220
Richtlinie Nr. 2014/50/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April
2014 über Mindestvorschriften zur Erhöhung der Mobilität von Arbeitnehmern zwischen
den Mitgliedstaaten durch Verbesserung des Erwerbs und der Wahrung von Zusatzrenten-
ansprüchen, ABl. L 128 vom 30.4.2014, S. 1-7.
215 / 931
Das FZA ist von grosser Bedeutung für die Schweiz, denn es erlaubt der hiesigen
Wirtschaft bei Bedarf auf Arbeitskräfte aus der EU zuzugreifen. Auch vor dem Hin-
tergrund der demografischen Alterung der Bevölkerung in der Schweiz spielt die Zu-
wanderung aus der EU sowohl für die Deckung des Arbeitskräftebedarfs als auch für
die Finanzierung der Sozialwerke eine wichtige Rolle. Ende 2024 lebten über 1,5 Mio.
Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten in der Schweiz. Rund 64 Prozent der zwi-
schen 2002 und 2024 eingewanderten Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten sind
aufgrund der Erwerbstätigkeit in die Schweiz eingereist; rund 23 Prozent im Rahmen
des Familiennachzugs; weitere 8 Prozent kamen zur Aus- und Weiterbildung in die
Schweiz und 5 Prozent gelten als Personen, die keine Erwerbstätigkeit in der Schweiz
ausüben (z.B. Rentnerinnen und Rentner). Der Anteil der Erwerbstätigen hat stetig
zugenommen und ist so von 53 Prozent im Jahr 2002 auf 71 Prozent im Jahr 2024
angestiegen
221
. Rund 400 000 Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten arbeiteten
Ende 2024 ausserdem als Grenzgängerin oder Grenzgänger in der Schweiz
222
. Diese
Zahlen belegen, dass die Zuwanderung gestützt auf das FZA stark von der wirtschaft-
lichen Entwicklung und den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes in der Schweiz abhängt.
Die Vorteile des FZA sind auch für Schweizer Staatsangehörige von Bedeutung. Aus-
landschweizerinnen und -schweizer, welche in einem EU-Mitgliedstaaten wohnen,
arbeiten oder studieren, geniessen aufgrund des FZA die gleichen Rechte wie Staats-
angehörige der EU in der Schweiz. Auch die Zahl der Schweizer Staatsangehörigen,
die in EU-Mitgliedstaaten wohnhaft sind, stieg seit 2002 von 337 000 auf rund
466 000 im Jahr 2024
223
.
Durch die auch im Vergleich zu anderen EU-Mitgliedstaaten hohen Zuwanderungs-
zahlen in der Schweiz hat das FZA politische und gesellschaftliche Debatten ausge-
löst. So haben Volk und Stände am 9. Februar 2014 die eidgenössische Volksinitiative
«Gegen Masseneinwanderung» angenommen, welche als Artikel 121
a
in die Bundes-
verfassung
224
(BV) aufgenommen wurde. Der Bundesrat hat daraufhin Verhandlun-
gen mit der EU angestrebt, um eine Anpassung des FZA zu erreichen. Die EU war zu
diesem Schritt jedoch nicht bereit. Schliesslich haben die Eidgenössischen Räte Ende
2016 beschlossen, den neuen Verfassungsartikel, der unter anderem eine eigenstän-
dige Steuerung der Zuwanderung forderte, mit der Stellenmeldepflicht umzusetzen
und somit die Vereinbarkeit mit dem FZA zu gewährleisten. Das Parlament hatte sich
damit bewusst für den Erhalt des FZA und der bilateralen Verträge ausgesprochen.
Ebenso haben Volk und Stände in den Jahren 2014 («Ecopop-Initiative») und 2020
(«Begrenzungsinitiative») Volksinitiativen abgelehnt, welche eine Kündigung des
FZA zur Folge gehabt hätten, und haben sich somit für den Erhalt der Bilateralen I
ausgesprochen.
221
Siehe Jahresstatistik Zuwanderung 2024, abrufbar unter www.sem.admin.ch > Publikation
& Service > Statistiken > Ausländerstatistik > Statistik Zuwanderung.
222
Siehe Grenzgängerstatistik des BFS, abrufbar unter www.bfs.admin.ch > Statistiken > Ar-
beit und Erwerb > Erwerbstätigkeit und Arbeitszeit > Erwerbsbevölkerung, Erwerbsbetei-
ligung > Grenzgängerinnen und Grenzgänger.
223
Abrufbar unter: www.bfs.admin.ch > Statistiken > Bevölkerung > Migration und Integra-
tion > Auslandschweizer/-innen > Tabellen > Im Ausland niedergelassene Schweizerinnen
und Schweiz nach Wohnsitzstaat, 1993-2024.
224
SR
101
216 / 931
Seit 2006 wird innerhalb der EU die Richtlinie 2004/38/EG, welche als Weiterent-
wicklung der Personenfreizügigkeit gilt, angewendet. Der Anhang I des FZA, der die
wesentlichen materiellen Bestimmungen der Personenfreizügigkeit enthält, wurde
hingegen mit Ausnahme der Bestimmungen zur Ausweitung des FZA auf die neuen
EU-Mitgliedstaaten seit dem Abschluss des Abkommens 1999 nicht mehr revidiert.
Das FZA sieht ausserdem vor, dass nur die bis zum Abschluss des Abkommens erlas-
sene Rechtsprechung verbindlich für die Schweiz gilt. Der statische Charakter von
Anhang I FZA führt somit auch dazu, dass der EU-
Acquis
und die EU-
Rechtsprechung im Bereich der Personenfreizügigkeit nicht oder nur unvollständig
von der Schweiz übernommen wurden. Um dennoch eine möglichst parallele Rechts-
lage in der EU und in der Schweiz zu gewährleisten, weicht das Bundesgericht jedoch
praxisgemäss von der Auslegung abkommensrelevanter unionsrechtlicher Bestim-
mungen durch den EuGH nach dem Unterzeichnungsdatum nur beim Vorliegen «trif-
tiger» Gründe ab
225
.
Aufgrund der grossen wirtschaftlichen und politischen Bedeutung der Personenfrei-
zügigkeit fordert die EU von der Schweiz die Übernahme der Richtlinie 2004/38/EG,
um das Auseinanderdriften der Bestimmungen im Verhältnis Schweiz–EU zu behe-
ben. Diese Forderungen sind nicht neu, sondern bestanden bereits im Rahmen der
Verhandlungen zum Entwurf für ein institutionelles Rahmenabkommen, welche der
Bundesrat 2021 beendet hatte (s. Ziff. 2.1.2.2). Eine Einigung im Rahmen des Pakets
Schweiz–EU war deshalb ohne eine Verhandlungslösung im Bereich der Personen-
freizügigkeit nicht realisierbar.
Lohnschutz
Das FZA regelt die grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung, die grundsätz-
lich auf 90 Arbeitstage pro Kalenderjahr begrenzt ist
226
. In Anhang I des FZA von
1999 wird auf die EU-Richtlinie 96/71/EG
227
(Entsenderichtlinie) Bezug genommen.
Diese regelt gewisse Mindestanforderungen an Beschäftigungs- und Arbeitsbedin-
gungen für entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Schweiz hatte die
Entsenderichtlinie im Rahmen des Entsendegesetzes von 1999 umgesetzt. Das Ent-
sendegesetz ist Teil der FlaM zum Schutz der Schweizer Lohn- und Arbeitsbedingun-
gen.
Das EU-Entsenderecht entwickelte sich seit Abschluss des FZA im Jahr 1999 weiter.
2014 wurde die Richtlinie 2014/67/EU
228
(Durchsetzungsrichtlinie) erlassen mit dem
225
BGE
139
II 393 E. 4.1.1.
226
In den Bereichen, in denen ein Dienstleistungsabkommen zwischen der Schweiz und der
EU (z. B. öffentliches Beschaffungswesen) besteht, garantiert das FZA das Recht auf Ein-
reise und Aufenthalt für die Dauer der Dienstleistungserbringung.
227
Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996
über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen,
ABl. L 18 vom 21.1.1997, S. 1–6 (in der zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Abkom-
mens geltenden Fassung).
228
Richtlinie 2014/67/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur
Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen
der Erbringung von Dienstleistungen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr.
1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt-Informations-
systems („IMI-Verordnung“), ABl. L 159 vom 28.05.2014, S. 11–31.
217 / 931
Ziel, die praktische Anwendung der Entsendevorschriften zu verbessern, die Umge-
hung von Vorschriften zu bekämpfen und einen besseren Austausch von Informatio-
nen unter den Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Im Jahr 2018 wurde die Entsende-
richtlinie mit der Richtlinie (EU) 2018/957
229
revidiert. Entsandte Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer unterliegen seither den gleichen Vorschriften über Entlohnung und
Arbeitsbedingungen wie einheimische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Nach
der bisherigen Regelung bestand lediglich ein Anspruch auf die im Gastland geltenden
Mindeststandards, wie den Mindestlohn. Entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer haben nun auch einen Anspruch auf alle Lohnbestandteile im Gastland, wie
beispielsweise Zulagen für Nacht- und Feiertagsarbeit. Ziel ist die Umsetzung des
Grundsatzes „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“. Beide Richtlinien
sind bisher nicht in das FZA übernommen worden.
In der Vergangenheit kritisierte die EU verschiedentlich die schweizerischen FlaM als
unverhältnismässig und diskriminierend. Im Fokus standen die Voranmeldefrist von
acht Kalendertagen und die Pflicht, vor Arbeitsbeginn eine Kaution zur Deckung all-
fälliger Forderungen der paritätischen Vollzugsorgane zu hinterlegen. Die Schweiz
begründete diese Massnahmen einerseits mit der kurzen Dienstleistungsdauer auf-
grund der Beschränkung der Dienstleistungserbringung auf 90 Arbeitstage pro Kalen-
derjahr und anderseits mit den im Ausland nicht durchsetzbaren Forderungen der pa-
ritätischen Kommissionen (PK). Namentlich für diese beiden kritisierten FlaM galt
es, in den Verhandlungen Lösungen zu finden.
Anhang II FZA/Sozialversicherungskoordinierung
Die Koordinierung der Sozialversicherungssysteme ist eine unverzichtbare Begleit-
massnahme zum freien Personenverkehr, indem sie Nachteile, die sich aus der grenz-
überschreitenden Mobilität innerhalb des EU/EFTA-Raumes und der Schweiz erge-
ben können, minimiert oder beseitigt. Die Schweiz beteiligt sich seit dem Inkrafttreten
des FZA an der im EU-Recht vorgesehenen Koordinierung der nationalen Systeme
der sozialen Sicherheit. Artikel 8 FZA legt die Grundprinzipien dieser Koordinierung
fest und verweist auf Anhang II des Abkommens. In diesem Anhang vereinbaren die
Parteien die Anwendung des relevanten EU-Rechts. Dazu gehört insbesondere die
Verordnung (EG) Nr. 883/2004
230
.
Die Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit zielt darauf ab,
Hindernisse für den Personenverkehr im Bereich der sozialen Sicherheit zu beseitigen,
ohne die nationalen Sozialversicherungsgesetze zu harmonisieren. Sie betrifft alle So-
zialversicherungszweige und erfasst Staatsangehörige aus sämtlichen Vertragsstaaten
sowie deren Familienangehörige. Die betroffenen Staaten sind verpflichtet, bei der
Ausarbeitung und Anwendung ihrer eigenen Rechtsvorschriften gemeinsame Regeln
und Grundsätze zu beachten, wie die Unterstellung unter eine einzige nationale Ge-
229
Richtlinie (EU) 2018/957 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Juni 2018
zur Änderung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen
der Erbringung von Dienstleistungen, ABl. L 173 vom 9.7.2018, p. 16–24.
230
Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April
2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, in der für die Schweiz nach
Anhang II zum FZA jeweils verbindlichen Fassung (eine unverbindliche, konsolidierte
Fassung dieser Verordnung ist veröffentlicht in SR
0.831.109.268.1
).
218 / 931
setzgebung bei grenzüberschreitenden Tätigkeiten, die Gleichbehandlung von Inlän-
dern und Ausländern, die Zusammenrechnung ausländischer Versicherungszeiten für
den Erwerb von Leistungen, den Export von Geldleistungen und die Übernahme der
Kosten für im Ausland gewährte medizinische Behandlungen. So bietet Anhang II
FZA Lösungen für die meisten grenzüberschreitenden Situationen im Bereich der so-
zialen Sicherheit.
Jede Revision von Anhang II FZA erfordert die Zustimmung der Parteien bei der Be-
schlussfassung im durch das FZA eingesetzten Gemischten Ausschuss. Der Anhang II
FZA wurde seit 2002 viermal aktualisiert, und die Schweiz hat praktisch die gesamten
neuen Regelungen übernommen. Damit ist das gute Funktionieren des multilateralen
Koordinierungsrechts gewährleistet.
Seit der letzten Aufdatierung von Anhang II FZA hat sich das EU-Recht bei der Ko-
ordinierung der nationalen Sozialversicherungssysteme kaum entwickelt. Neu zu
übernehmen sind die Richtlinie 2014/50/EU betreffend Zusatzrentenansprüche sowie
weitere technische Anpassungen und Beschlüsse. Die Anpassungen durch Kommis-
sionsverordnungen betreffen Eintragungen in den Anhängen der Koordinierungsver-
ordnungen infolge Anpassungen in den nationalen Rechtsvorschriften der Mitglied-
staaten. Die zu übernehmenden Beschlüsse und Empfehlungen regeln Auslegungs-
und Anwendungsfragen der Koordinierungsbestimmungen, beispielsweise die Ar-
beitsweise der Ausschüsse für die soziale Sicherheit, die Modalitäten für die Ablö-
sung des Informationsaustausches im Papierformat durch den elektronischen Daten-
austausch, die Umsetzung der neu eingeführten Fristen für die Kostenerstattung oder
die Berechnung des Differenzbetrags bei den Familienleistungen.
Anhang III FZA/Anerkennung von Berufsqualifikationen
Die Schweiz nimmt gestützt auf Anhang III FZA am EU-Anerkennungssystem von
Berufsqualifikationen teil. Dabei gilt, dass eine Person, die nach den Kriterien des
Herkunftsstaates vollständig zur Ausübung eines Berufs qualifiziert ist, denselben Be-
ruf in allen EU-Staaten – unter Vorbehalt der rechtmässigen Modalitäten des Aufnah-
mestaates – ausüben darf.
Die im Rahmen des Anerkennungssystems reglementierten Berufe sind Berufe, für
deren Ausübung ein bestimmtes Diplom, ein Zeugnis oder ein Ausweis vorausgesetzt
wird. Damit ein Beruf gestützt auf die Richtlinie 2005/36/EG
231
als reglementiert gilt,
müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:
–
Es muss eine Rechtsgrundlage (sog. Rechts- oder Verwaltungsvorschrift)
auf kommunaler, kantonaler oder nationaler Ebene vorliegen.
–
Die Rechts- oder Verwaltungsvorschrift der geforderten Berufsqualifikati-
onen bezieht sich auf einen konkreten Verweis im Schweizer Bildungssys-
tem. Es muss aus einer Rechtsgrundlage (Gesetz, Verordnung, Reglement
231
Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September
2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, in der Fassung gemäss Anhang III,
2. Abschnitt des Änderungsprotokolls zum FZA.
219 / 931
etc.) klar hervorgehen, welcher Bildungsgang abgelegt werden muss, um
den Beruf ausüben zu dürfen.
2.3.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
Zuwanderung
Der Bundesrat hat in seinem Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 drei grosse
Ziele festgelegt: 1. die Ausrichtung der Zuwanderung auf die Erwerbstätigkeit beibe-
halten, um die Folgen für die Sozialsysteme zu begrenzen und Missbräuche zu be-
kämpfen; 2. die Vorgaben der Bundesverfassung zur strafrechtlichen Landesverwei-
sung einhalten; 3. Meldeverfahren für wirtschaftlich motivierte Kurzaufenthalte
bewahren. Zur Erreichung dieser vitalen Interessen sollte das relevante EU-Recht un-
ter Beachtung von drei Ausnahmen (Daueraufenthalt, Landesverweisung, biometri-
sche Identitätskarte) und zwei Absicherungen (Aufenthaltsbeendigung, Meldeverfah-
ren) übernommen werden. Zusätzlich sollte der Mechanismus des FZA zur
Bewältigung unerwarteter Auswirkungen, d.h. die Schutzklausel gemäss Artikel 14
Absatz 2 FZA, konkretisiert werden.
Nachdem es der Schweiz bereits im
Common Understanding
vom 27. Oktober 2023
gelungen war, sich mit der EU über die Ausnahmen und Absicherungen zur Errei-
chung der gesetzten Ziele zu einigen, gestaltete sich die erste Phase der Verhandlun-
gen schwierig. So hatten die Delegationen namentlich kein gemeinsames Verständnis
betreffend die Struktur des Änderungsprotokolls und das Zusammenspiel der dyna-
mischen Rechtsübernahme mit dem bestehenden Geltungsbereich des FZA. Die EU-
Delegation war der Ansicht, dass die vorbestehenden Ausnahmen und die
Sui-generis-
Bestimmungen des FZA aufgrund der dynamischen Rechtsübernahme keinen Da-
seinsgrund mehr hätten und aufgehoben werden müssten. Die EU wollte daher auch
die im FZA bestehenden Ausnahmen nicht anerkennen, während die Schweiz der An-
sicht war, dass diese durch das
Common Understanding
bereits garantiert seien; dieses
hielt nämlich fest, dass der Geltungsbereich des FZA unverändert bleibe. Weiter ent-
hielt das Verhandlungsmandat der beiden Delegationen Bedingungen, die über die
Vereinbarungen des
Common Understanding
hinausgingen und für Differenzen sorg-
ten. So verlangte die Schweiz insbesondere eine Konkretisierung der Schutzklausel.
Die EU ihrerseits forderte, dass die Schweiz die Richtlinie 2006/123/EG betreffend
Dienstleistungen ins FZA übernehmen müsse.
232
Dank Fortschritten in den Verhandlungen zu den institutionellen Elementen ging es
ab dem Sommer 2024 dann auch in Bezug auf das FZA vorwärts. Da die Schweiz auf
einer Konkretisierung der Schutzklausel insistierte, obwohl diese nicht Teil des
Com-
mon Understandings
war, brachte die EU eine neue Forderung im Zusammenhang
mit der bestehenden Ausnahmeregelung in Bezug auf die Zulassung zu Universitäten
und Hochschulen, die Studiengebühren und die Gewährung von Unterhaltsbeihilfen
ein.
Am Schluss konnte im Bereich der Hauptdifferenzen folgendes Verhandlungsresultat
erzielt werden: Die Forderung der EU bezüglich Richtlinie 2006/123/EG betreffend
232
Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember
2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt, ABl. L 376 vom 27.12.2006, S. 36–68
.
220 / 931
Dienstleistungen konnte von der Schweiz zurückgedrängt werden. Die Parteien einig-
ten sich darauf, dass diese Richtlinie nicht Teil des für das FZA relevanten EU-
Acquis
ist. Im Gegenzug erklärte sich die Schweiz zu einer Präzisierung der Bestimmung zum
Niederlassungsrecht für Selbstständigerwerbende betreffend das Beschränkungsver-
bot bereit. Die bestehende Schutzklausel im FZA konnte zudem konkretisiert werden.
Die Schweiz erreichte dabei, dass sie das Verfahren zur Aktivierung der Schutzklausel
künftig eigenständig, d.h. ohne Zustimmung der EU einleiten kann. Das neue Schutz-
klauselverfahren stellt insgesamt eine bedeutende Verbesserung dar.
Des Weiteren konnten die bestehenden Ausnahmen im FZA abgesichert werden, in-
klusive der Ausnahme betreffend den Zugang zu Hochschulen. Einzig bei den Stu-
diengebühren wird die Schweiz bei EU-Bürgern und -Bürgerinnen künftig den Nicht-
diskriminierungsgrundsatz anwenden müssen.
Lohnschutz
Im Bereich des Lohnschutzes hatte der Bundesrat im Verhandlungsmandat vom
8. März 2024 für die Verhandlungen mehrere Ziele formuliert. Erstens sollte eine
Angleichung des Rechts entsandter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gemäss
FZA an das in diesem Bereich geltende EU-Recht angestrebt werden. Um das in der
Schweiz aktuell geltende Schutzniveau betreffend Lohn- und Arbeitsbedingungen zu
erhalten, sollten Ausnahmen bezüglich der Voranmeldefrist, der vorgängigen Hinter-
legung einer Kaution im Wiederholungsfall sowie der Dokumentationspflicht von
selbstständigen Dienstleistungserbringerinnen und Dienstleistungserbringern abgesi-
chert werden. Weiter sah das Verhandlungsmandat vor, das Prinzip «gleicher Lohn
für gleiche Arbeit am gleichen Ort» und das schweizerische duale Vollzugssystem
abzusichern sowie eine Non-Regression-Klausel zu vereinbaren. Betreffend Spesen
sollte eine Lösung angestrebt werden, die den Grundsatz «gleicher Lohn für gleiche
Arbeit am gleichen Ort» garantiert, unlauteren Wettbewerb verhindert und die Rechts-
gleichheit zwischen den in- und ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mern sicherstellt. Weiter strebte der Bundesrat eine Assoziierung als Drittstaat an die
Europäische Arbeitsbehörde (ELA) an, soweit im Interesse der Schweiz.
Das Verhandlungsziel eines dreistufigen Absicherungskonzepts, bestehend aus Aus-
nahmen, Prinzipien und der Non-Regression-Klausel wurde in den Verhandlungen
erreicht.
Obwohl im
Common Understanding
nicht vorgesehen
,
forderte die Schweiz in den
Verhandlungen dennoch eine Ausnahme in Bezug auf die EU-Spesenregelung, um
das Risiko von Wettbewerbsverzerrungen bei Entsendungen in die Schweiz zu besei-
tigen. Eine Ausnahme konnte nicht erreicht werden. Die EU verwies die Schweiz
diesbezüglich auf den grossen Spielraum bei der innenstaatlichen Umsetzung, wel-
chen auch die EU-Mitgliedstaaten nutzen.
Anhang II FZA/Sozialversicherungskoordinierung
Entwicklungen des EU-Rechts und der EuGH-Rechtsprechung im Bereich der Koor-
dinierung der Sozialversicherungssysteme können mit Mehrkosten verbunden sein.
Die Schweiz hat deshalb von der EU verlangt, im FZA bereits bestehende Ausnah-
meregelungen von der dynamischen Rechtsübernahme auszunehmen. Solche Aus-
221 / 931
nahmen wurden von der EU bereits im Rahmen der Verhandlungen zu einem instituti-
onellen Rahmenabkommen akzeptiert
233
. Zielsetzung der Paketverhandlungen in die-
sem Bereich war es daher, diese Ausnahmen auch im Änderungsprotokoll zum FZA
abzusichern.
Dieses Ziel wurde erreicht. Bezüglich Übernahme der Richtlinie 2014/50/EU er-
reichte die Schweiz zudem, dass die weitergehende berufliche Vorsorge als Teil der
gesetzlichen Rentenversicherung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 unterstellt und
damit vom Geltungsbereich der Richtlinie 2014/50/EU ausgenommen wird.
Anhang III FZA/Anerkennung von Berufsqualifikationen
Teil der Verhandlungen war die Aufdatierung des Anhangs III FZA mit dem relevan-
ten EU-Recht im Bereich der Anerkennung von Berufsqualifikationen seit der letzten
Anpassung von 2015, insbesondere die Übernahme der Richtlinie (EU) 2018/958 vom
28. Juni 2018
234
über eine Verhältnismässigkeitsprüfung vor Erlass neuer Berufsreg-
lementierungen. Im Übrigen werden die seit 2002 bekannten und angewandten Regeln
und Grundsätze in den neuen Anhang III FZA übernommen.
Binnenmarkt-Informationssystem IMI
Die Teilnahme der Schweiz am Binnenmarkt-Informationssystem IMI für den Be-
reich der Anerkennung von Berufsqualifikationen war bereits bis Ende 2021 Gegen-
stand von technischen Verhandlungen mit der EU betreffend eine Revision von An-
hang III FZA gewesen. Auf technischer Stufe wurden sich die beiden Parteien damals
über die Teilnahme der Schweiz einig, doch kam es unter anderem aufgrund einer
Bestimmung im Bundesgesetz vom 18. März 1994
235
über die Krankenversicherung
(KVG) zu keiner definitiven Einigung
236
. Die damals bereits ausgehandelte Lösung
wurde vollständig in das Änderungsprotokoll des FZA übernommen.
Neu wurde im Bereich der Entsendungen eine Teilnahme der Schweiz als Drittstaat
am IMI ausgehandelt und die Verordnung (EU) 1024/2012
237
(IMI-Verordnung) ent-
sprechend in Anhang I des FZA übernommen. Wie im
Common Understanding
vor-
gesehen, erhält die Schweiz für die Realisierung ihrer Teilnahme am IMI im Bereich
233
Vgl. Entwurf für ein institutionelles Rahmenabkommen, Protokoll 2 über die Re-geln zur
Berücksichtigung der Besonderheiten, auf die sich die Vertragsparteien in den Bereichen
Personenfreizügigkeit, Verkehr auf Schiene und Strasse und Handel mit landwirtschaftli-
chen Erzeugnissen geeinigt haben, www.eda.admin.ch > Bilate-raler Weg > Überblick >
Institutionelles Abkommen (bis 2021 > Informationen und Dokumente zum Institutionel-
len Abkommen > Dokumente.
234
Richtlinie (EU) 2018/958 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Juni 2018
über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass neuer Berufsreglementierungen, in der
Fassung gemäss Anhang III Abschnitt 2 des Änderungsprotokolls zum FZA.
235
SR
832.10
236
Aus Sicht der EU besteht eine Inkompatibilität zwischen dem revidierten KVG und dem
FZA hinsichtlich der Zulassungsvoraussetzungen für Ärztinnen und Ärzte (Art. 37 KVG).
Das Parlament verabschiedete die entsprechende KVG-Teilrevision im Wissen um diese
Beurteilung durch die EU. Das revidierte KVG ist seit 2022 in Kraft.
237
Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Ok-
tober 2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt-Informations-
systems und zur Aufhebung der Entscheidung 2008/49/EG der Kommission („IMI-
Verordnung“), ABl. L 316 vom 14/11/2012, p. 1–11.
222 / 931
der Entsendungen eine Übergangsfrist von drei Jahren nach Inkrafttreten des Pakets
Schweiz–EU.
Verhandlungsabschluss
Die Verhandlungsdelegationen in den Bereichen Zuwanderung (SEM) und Entsen-
dung von Arbeitnehmenden (SECO) arbeiteten eng zusammen. Fragen, die beide Be-
reiche betreffen, insbesondere zu formellen Aspekten und zum Geltungsbereich, ver-
handelten die Delegationen gar gemeinsam. Dieses Vorgehen förderte insbesondere
die Kohärenz der vorgebrachten Argumente.
Die erste Verhandlungsrunde fand am 19. März 2024 statt. Insgesamt haben 14 offi-
zielle Verhandlungsrunden stattgefunden, die meisten davon virtuell. Zum Lohn-
schutz gab es fünf zusätzliche separate Verhandlungsrunden. Die Verhandlungsrun-
den wurden durch verschiedenste Austausche und Treffen auf allen Hierarchiestufen
mit der Delegation der EU ergänzt.
Parallel zu den Verhandlungen informierten und konsultierten das SEM und das
SECO die Vertretungen der kantonalen Verbände regelmässig über den Stand der
Verhandlungen und die diskutierten Themen, insbesondere um zu prüfen, ob die ge-
planten Regelungen auf nationaler Ebene umgesetzt werden könnten. Rund 13 Ge-
spräche fanden mit den Kantonen im Bereich der Zuwanderung statt und über 80 Ge-
sprächsrunden mit den Sozialpartnern und den Kantonen zum Lohnschutz. Zudem hat
das WBF/SBFI die akademischen und hochschulpolitischen Gremien miteinbezogen
und sie regelmässig informiert. Die Vertretungen der kantonalen Behörden nahmen
an den Verhandlungen und deren Vorbereitung teil (s. Ziff. 1.3.3.).
An seiner Sitzung vom 20. Dezember 2024 nahm der Bundesrat Kenntnis vom mate-
riellen Verhandlungsabschluss und beurteilte das Verhandlungsmandat in den Berei-
chen Zuwanderung und Lohnschutz als erfüllt. Im Mai 2025 wurden die Verhandlun-
gen mittels Paraphierung der Abkommenstexte formell abgeschlossen.
2.3.4
Vorverfahren
Zwischen 2014 und 2021 führten die Schweiz und die EU Verhandlungen über einen
Entwurf für ein institutionelles Rahmenabkommen im Bereich des Marktzugangs und
Anfang 2021 Nachverhandlungen. Es verblieben jedoch substanzielle Differenzen bei
zentralen Schweizer Interessen, insbesondere im Bereich der Personenfreizügigkeit
und des Lohnschutzes. Deshalb entschied der Bundesrat am 26. Mai 2021 nach einer
gesamtheitlichen Interessensabwägung, das Abkommen nicht zu unterzeichnen und
die Verhandlungen dazu zu beenden (s. Ziff. 2.1.2.2).
Im Februar 2022 legte der Bundesrat die Leitlinien für ein neues Verhandlungspaket
fest, mit dem der bilaterale Weg mit der EU stabilisiert und weiterentwickelt werden
sollte und nahm im März 2022 exploratorische Gespräche mit der EU auf.
Im Zuwanderungsbereich wurde eine technische Arbeitsgruppe Bund–Kantone ge-
schaffen, in welcher auf Seite der Kantone die KdK, die VDK, die SODK, die KKJPD,
aber auch die Fachverbände und – vereine wie die VKM und der VSAA vertreten
waren. Die Arbeitsgruppe traf sich in regelmässigen Abständen, nicht nur während
der exploratorischen Gespräche, sondern auch während der formellen Verhandlungen.
223 / 931
Die kantonalen Vertreterinnen und Vertreter brachten sich ein in Bezug auf Umset-
zungs- und Vollzugsfragen, die parallel zu den aussenpolitischen Gesprächen geführt
wurden. Damit wurde sichergestellt, dass sich die kantonalen Konferenzen und Ver-
bände fortlaufend einbringen und allfällige problematische Aspekte im Vollzug sig-
nalisiert werden konnten.
Im Rahmen der exploratorischen Gespräche im Bereich der Zuwanderung einigten
sich die Schweiz und die EU hinsichtlich der Übernahme der Richtlinie 2004/38/EG
auf Ausnahmen bei der strafrechtlichen Landesverweisung und bei der Gewährung
des Daueraufenthaltsrechts sowie der Übergangsfrist für die Übernahme einer biomet-
rischen Identitätskarte. Ausserdem wurden Absicherungen vereinbart, die das Melde-
verfahren sowie die Beendigung des Aufenthalts von unfreiwillig arbeitslosen Staats-
angehörigen der EU-Mitgliedstaaten betrafen.
Die exploratorischen Gespräche im Bereich des Lohnschutzes ergaben, dass mit der
EU, im Falle der Übernahme des relevanten EU-Entsenderechts, ein dreistufiges Ab-
sicherungsdispositiv vereinbart werden sollte. Das Absicherungsdispositiv beinhal-
tete die Absicherung zweier Prinzipien («gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen
Ort» sowie duales Vollzugssystem der Schweiz) sowie mehrere Ausnahmen: Eine
viertägige Voranmeldepflicht inklusive autonomer Festlegung der Kontrolldichte auf
der Basis einer objektiven Risikoanalyse, eine Kautionspflicht im Wiederholungsfall
mit verhältnismässigen Sanktionen bis hin zu einer Dienstleistungssperre und eine
Dokumentationspflicht für selbstständige Dienstleistungserbringende. Eine von der
Schweiz geforderte Ausnahme betreffend die Spesenregelung wies die EU in den ex-
ploratorischen Gesprächen zurück. Dafür war die EU bereit, eine Non-Regression-
Klausel zu vereinbaren, damit die Schweiz künftige Entwicklungen im EU-Recht
nicht übernehmen müsste, welche das Schutzniveau der entsandten Arbeitnehmenden
bedeutend schwächen würden.
Die Ergebnisse der exploratorischen Gespräche zur Zuwanderung und zum Lohn-
schutz wurden in den Ziffern 13 und 14 des
Common Understanding
festgehalten.
2.3.5
Grundzüge der Protokolle
2.3.5.1
Institutionelle Elemente
Mit dem Institutionellen Protokoll zum FZA (IP-FZA, s. Ziff. 2.3.6.1) werden die
neuen institutionellen Elemente ins Abkommen integriert. Das IP-FZA enthält insbe-
sondere die relevanten Bestimmungen zur dynamischen Rechtsübernahme, zur ein-
heitlichen Auslegung und Anwendung sowie zur Streitbeilegung. Damit ersetzt das
IP-FZA auch die bisherigen institutionellen Bestimmungen des FZA. Es sind dies ge-
mäss Artikel 2 Absatz 2 IP-FZA die Artikel 16 (Bezugnahme auf das Gemeinschafts-
recht), Artikel 17 (Entwicklung des Rechts) und Artikel 19 (Streitbeilegung). Soweit
im Abkommen auf Rechtsakte der Union Bezug genommen wird, ist für die Anwen-
dung von unionsrechtlichen Begriffen neu gemäss Artikel 7 Absatz 2 IP-FZA auch
die Rechtsprechung des EuGH nach Unterzeichnung des Abkommens heranzuziehen.
Eine grosse Bedeutung kommt im FZA den bestehenden und neu verhandelten Aus-
nahmen inklusive Non-Regression-Klausel zu. Die dynamische Rechtsübernahme ist
224 / 931
in den von diesen Ausnahmen und von der Non-Regression-Klausel abgedeckten Be-
reichen ausgeschlossen. Sie werden entsprechend in Artikel 5 Absatz 7 IP-FZA auf-
gelistet. Spezifisch auf das FZA zugeschnitten sind sodann Artikel 5 Absatz 10 und
Artikel 10 Absatz 6, welche die rechtliche Bedeutung der Absicherungen und Prin-
zipen definieren, sowie einzelne Bestimmungen im Zusammenhang mit dem Schutz-
klauselverfahren in der Anlage zum Schiedsgericht (s. Ziff. 2.1.5.4).
2.3.5.2
Änderungsprotokoll
2.3.5.2.1
Personenfreizügigkeit (Anhang I FZA)
Die Schweiz und die EU einigten sich in den Verhandlungen auf ein Änderungspro-
tokoll und ein Institutionelles Protokoll. Wie in allen Binnenmarktabkommen wird
letzteres dem FZA als Protokoll angehängt und ist somit integraler Bestandteil des
Abkommens. Mit dem Änderungsprotokoll werden gewisse Artikel im Hauptteil und
im Anhang I des FZA inhaltlich angepasst und sämtliche materiellen Bestimmungen
aus dem Anhang I in den Hauptteil des FZA verschoben. Die materiellen Bestimmun-
gen im Hauptteil definieren den Geltungsbereich des FZA und begrenzen die dyna-
mische Rechtsübernahme. Diese findet nur im Rahmen des durch den Hauptteil defi-
nierten Geltungsbereichs statt; Bestimmungen im Hauptteil können nur durch
Revisionen des Abkommens, unter Zustimmung aller Vertragsparteien, abgeändert
werden. Mittels Änderungsprotokoll werden dem FZA zudem drei neue Zusatzproto-
kolle, zwölf Gemeinsame Erklärungen sowie eine Einseitige Erklärung angehängt. Im
Anhang I befinden sich künftig nur noch Verweise auf EU-Rechtsakte mit techni-
schen Anpassungen, um den Ausnahmen und anderen abgesicherten Besonderheiten
der Schweiz Rechnung zu tragen. Dort finden sich beispielsweise die zweijährige
Übergangsfrist für die Richtlinie 2004/38/EG sowie die dreijährige Übergangsfrist für
die Entsenderichtlinie.
Der Bundesrat strebte die Absicherung der vitalen Interessen der Schweiz mittels ei-
nes dreistufigen Schutzkonzepts an. Dieses umfasst drei Ausnahmen, zwei Absiche-
rungen und eine konkretisierte Schutzklausel. Damit soll gewährleistet werden, dass
die Zuwanderung aus der EU arbeitsmarktorientiert bleibt, die direkte Einwanderung
in die Sozialsysteme verhindert wird und die Landesverweisung von straffälligen
Ausländerinnen und Ausländern gemäss bisheriger Gesetzgebung grundsätzlich mög-
lich bleibt. Mit der Konkretisierung der Schutzklausel strebte er ein zusätzliches In-
strument an für den Fall, dass die Anwendung des FZA zu schwerwiegenden wirt-
schaftlichen oder sozialen Problemen führt. Diese Ziele wurden erreicht.
Ausnahme Daueraufenthaltsrecht für Erwerbstätige
In Bezug auf das in der Richtlinie 2004/38/EG vorgesehene Daueraufenthaltsrecht
konnte die Schweiz eine gewichtige Ausnahme erzielen. Währenddem das Dauer-
aufenthaltsrecht innerhalb der EU allen Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten so-
wie ihren drittstaatsangehörigen Familienangehörigen ungeachtet ihrer Erwerbssitua-
tion nach fünfjährigem Aufenthalt zusteht, steht es in der Schweiz nur erwerbstätigen
EU-Staatsangehörigen und ihren Familienangehörigen zu. Perioden vollständiger So-
zialhilfeabhängigkeit von sechs Monaten oder mehr werden nicht an die Fünfjahres-
frist für den Erwerb des Daueraufenthaltsrechts gezählt. Dadurch erhalten Personen
225 / 931
das Daueraufenthaltsrecht, die nachhaltig in den Arbeitsmarkt integriert sind. Das Ri-
siko, dass diese Personen arbeitslos werden, ist gering, was das Risiko von Sozialhil-
febezug nach Erhalt des Daueraufenthalts beschränkt.
Ausnahme strafrechtliche Landesverweisung
In Bezug auf die strafrechtliche Landesverweisung wurde eine weitere wichtige Aus-
nahme erreicht: Die Schweiz übernimmt keine Bestimmungen der Richtlinie
2004/38/EG betreffend die Landesverweisung, die über die Verpflichtungen gemäss
heutigem FZA hinausgehen. Damit kann die Schweiz die Vorgaben der Bundesver-
fassung zur strafrechtlichen Landesverweisung wahren. Die bisherigen Gesetzesbe-
stimmungen betreffend die strafrechtliche Landesverweisung (s. Art. 66
a
ff. Strafge-
setzbuch
238
[StGB] und Art. 49
a
ff. Militärstrafgesetz vom 13. Juni 1927
239
[MStG]),
die auf straffällige ausländische Staatsangehörige Anwendung finden, bleiben unver-
ändert bestehen.
Ausnahme biometrische Identitätskarten
Mit dieser Ausnahme werden die in der Verordnung (EU) 2019/1157
240
genannten
Fristen für die Einführung biometrischer Identitätskarten derogiert. Die Schweiz er-
hält nach Inkrafttreten des Änderungsprotokolls ein Jahr Zeit, um biometrische Iden-
titätskarten einzuführen. Zudem bleiben alle bis zu diesem Zeitpunkt ausgestellten
Schweizer Identitätskarten ohne Chip in der EU weiterhin bis zu ihrem Ablaufdatum
gültig (längstens zehn Jahre).
Absicherung Beendigung Aufenthalt von ehemaligen Erwerbstätigen
Unter dem FZA von 1999 haben Staatsangehörige der Vertragsparteien das Recht
nach Beendigung eines Arbeitsverhältnisses mit einer Dauer von weniger als einem
Jahr im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei zu bleiben, um sich eine Beschäfti-
gung zu suchen, und sich während eines angemessenen Zeitraums von bis zu sechs
Monaten dort aufzuhalten, sofern dies erforderlich ist, um von den ihrer beruflichen
Befähigung entsprechenden Stellenangeboten Kenntnis zu nehmen und gegebenen-
falls die erforderlichen Massnahmen im Hinblick auf ihre Einstellung zu treffen
(Art. 2 Abs. 1 Anhang I FZA). Sie gelten während dieser Frist als Nichterwerbstätige
und können während der Dauer dieses Aufenthalts von der Sozialhilfe ausgeschlossen
werden (Art. 2 Abs. 1 letzter Satz Anhang I FZA). Im nationalen Recht wurde von
dieser Möglichkeit des Sozialhilfeausschlusses Gebrauch gemacht. (vgl. Art. 61
a
Abs 3 des Ausländer- und Integrationsgesetzes vom 16. Dezember 2005
241
(AIG). Im
Gegensatz dazu hält das Änderungsprotokoll zum FZA in Verbindung mit Artikel 7
238
SR
311.0
239
SR
321.0
240
Verordnung (EU) 2019/1157 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni
2019 - zur Erhöhung der Sicherheit der Personalausweise von Unionsbürgern und der Auf-
enthaltsdokumente, die Unionsbürgern und deren Familienangehörigen ausgestellt werden,
die ihr Recht auf Freizügigkeit ausüben, in der Fassung gemäss Anhang I Abschnitt 2 des
Änderungsprotokolls zum FZA.
241
SR
142.20
226 / 931
Absatz 3 Buchstabe c der Richtlinie 2004/38/EG fest, dass die Erwerbstätigeneigenei-
genschaft für mindestens sechs Monate aufrechterhalten bleibt, wenn Staatsangehö-
rige der EU-Mitgliedstaaten bei einer Erwerbstätigkeit von unter zwölf Monaten un-
freiwillig arbeitslos werden. Im VE-AIG wird die Frist auf sechs Monate festgelegt
(vgl. Art. 61
a
Abs 1). Während dieser sechs Monate behalten Staatsangehörige der
EU-Mitgliedstaaten ihre Erwerbstätigeneigenschaft und können daher auch Sozial-
hilfe beziehen. Um allfälligen Missbräuchen vorzubeugen, setzt dies allerdings vo-
raus, dass sie beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) angemeldet sind
und sich diesem zur Verfügung stellen. Diese Bestimmung gilt sowohl für Arbeitneh-
mende als auch für selbstständig Erwerbstätige.
Auch die unfreiwillige Beendigung der Erwerbstätigkeit von Arbeitnehmenden bei
einem Aufenthalt von über zwölf Monaten gemäss Artikel 6 Absatz 6 Anhang I des
FZA von 1999 wurde in Artikel 61
a
Absatz 4 AIG kodifiziert. Die Richtlinie
2004/38/EG sieht nun vor, dass die Erwerbstätigeneigenschaft erhalten bleibt, solange
sich Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten bei einem unfreiwilligen Verlust der
Erwerbstätigkeit nach einer Beschäftigung von über zwölf Monaten der öAV zur Ver-
fügung stellen. Auch dies gilt sowohl für Arbeitnehmende als auch selbstständig Er-
werbstätige. Die Erwerbstätigeneigenschaft besteht bei unfreiwilligem Verlust der Er-
werbstätigkeit nach einer Beschäftigung von über zwölf Monaten also nur solange
grundsätzlich unbeschränkt fort, als sich die Person dem zuständigen Arbeitsamt zur
Verfügung stellt.
Zusätzlich hat die Schweiz mit der EU in einer Gemeinsamen Erklärung die Absiche-
rung ausgehandelt, wonach der Aufnahmestaat im Einzelfall und unter Anwendung
der gleichen Massstäbe wie bei seinen eigenen Staatsangehörigen berücksichtigen
kann, ob ein Arbeitsuchender ernsthaft in gutem Glauben mit dem zuständigen Amt
zusammenarbeitet, um wieder eine Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt zu finden.
Ziel dieser Zusammenarbeit ist es, dass Arbeitsuchende innerhalb eines angemesse-
nen Zeitraums eine Stelle finden (zur nationalen Umsetzung dieser Bestimmungen
vgl. Art. 61
a
Abs. 2 VE-AIG). Andernfalls können die Erwerbstätigeneigenschaft und
das damit verbundene Aufenthaltsrecht verloren gehen. Damit wird auch der miss-
bräuchlichen Inanspruchnahme staatlicher Leistungen vorgebeugt.
Absicherung Meldeverfahren beim bedingungslosen Recht auf Aufenthalt
bis zu drei Monaten
Das FZA von 1999 enthält keine spezielle Bestimmung für Aufenthalte von bis zu
drei Monaten, ausser in Artikel 5 Absatz 3 FZA in Verbindung mit Artikel 23 An-
hang I FZA, der das Recht auf Einreise und Aufenthalt von höchstens drei Monaten
für Dienstleistungsempfängerinnen und -empfänger vorsieht.
242
Artikel 6 Absatz 2
und Artikel 7 Absatz 2 Anhang I FZA sehen sodann vor, dass Arbeitnehmende und
abhängig beschäftigte Grenzgängerinnen und Grenzgänger bei einer Beschäftigung
von höchstens drei Monaten keine Aufenthaltserlaubnis benötigen beziehungsweise
ausgestellt wird. Die Voraussetzungen für den Aufenthalt von Staatsangehörigen der
EU-Mitgliedstaaten von bis zu drei Monaten richteten sich viel mehr nach nationalem
Recht, namentlich dem AIG und den dazugehörigen Verordnungen (insbesondere die
242
BGE
149
I 248, E. 6.2.
227 / 931
Verordnung vom 24. Oktober 2007
243
über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätig-
keit, [VZAE] sowie die Verordnung vom 22. Mai 2002
244
über den freien Personen-
verkehr [VFP]). Artikel 10 AIG, der besagt, dass ausländische Personen für einen
Aufenthalt ohne Erwerbstätigkeit bis zu drei Monaten keine Bewilligung benötigen,
verschafft keinen direkten Anspruch auf Anwesenheit.
245
Das Änderungsprotokoll
zum FZA in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 1 der Richtlinie 2004/38/EG verschafft
dagegen das Recht auf Aufenthalt für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten. Staats-
angehörige der EU-Mitgliedstaaten müssen dabei im Besitz eines gültigen Personal-
ausweises oder Reisepasses sein. Ansonsten sind keine weiteren Bedingungen zu er-
füllen oder Formalitäten zu erledigen. Die Rechte der Staatsangehörigen der EU-
Mitgliedstaaten gehen demnach bei einem Aufenthalt von bis zu drei Monaten weiter
als unter dem FZA von 1999.
Die Schweiz konnte dazu eine wichtige weitere Absicherung aushandeln. Die gemein-
same Erklärung über die Meldung betreffend Stellenantritte und die Einseitige Erklä-
rung der Schweiz über die bei Selbstständigen zu ergreifenden Massnahmen im Rah-
men des Meldeverfahrens für kurzfristige Erwerbstätigkeit ermöglicht es der Schweiz,
das bisherige Meldeverfahren für Stellenantritte im Kurzaufenthalt bis zu drei Mona-
ten aufrechtzuerhalten und die Meldepflicht auf selbstständige Erwerbstätige auszu-
dehnen (s. Ziff. 2.3.6.2.6).
Konkretisierung der Schutzklausel
Es ist der Schweiz gelungen, mit der EU eine Konkretisierung der bestehenden
Schutzklausel auszuhandeln (Art. 14 Abs. 2 FZA). Neu kann die Schweiz eigenstän-
dig das Verfahren zur Aktivierung der Schutzklausel einleiten, wenn die Anwendung
des FZA zu schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Schwierigkeiten führt.
Gibt es im Gemischten Ausschuss des Freizügigkeitsabkommens (GA) keine Eini-
gung, kann die Schweiz das Schiedsgericht ohne Zustimmung der EU anrufen. Das
Schiedsgericht entscheidet, ob schwerwiegende wirtschaftliche Probleme vorliegen.
Wird dies bejaht, kann die Schweiz eigenständig geeignete Schutzmassnahmen er-
greifen. Entsteht dadurch ein Ungleichgewicht, kann die EU ihrerseits Ausgleichs-
massnahmen innerhalb des FZA ergreifen. Wenn das Schiedsgericht das Vorliegen
schwerwiegender wirtschaftlicher Probleme verneint, kann die Schweiz dennoch ent-
scheiden, geeignete Massnahmen zur Beseitigung der festgestellten Probleme zu er-
greifen. Sie muss dann aber in Kauf nehmen, dass die EU ihrerseits ein Streitbeile-
gungsverfahren wegen Verletzung des FZA initiieren und verhältnismässige
Ausgleichsmassnahmen in einem der Binnenmarktabkommen (ausgenommen dem
Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens) ergreifen könnte (s. Erläuterungen zur
Schutzklausel und zur innerstaatlichen Umsetzung gemäss Art. 21
b
VE-AIG in
Ziff. 2.3.8.1.1)
243
SR
142.201
244
SR
142.203
245
BGE
149
I 248, E. 6.3.
228 / 931
Studierende
Die Schweiz verpflichtet sich neu, Studierende, die Staatsangehörige der EU-
Mitgliedstaaten sind und zum Studium in die Schweiz kommen, bei den Studienge-
bühren an den mehrheitlich öffentlich finanzierten universitären Hochschulen und
Fachhochschulen gleich zu behandeln wie Schweizer Studierende. Umgekehrt werden
Schweizer Studierende in der EU hinsichtlich Studiengebühren ebenfalls wie EU-
Studierende behandelt. Das allgemeine Diskriminierungsverbot des Artikels 2 FZA
gilt ausdrücklich auch für allfällige spezifische öffentliche Unterstützungsmechanis-
men für Studiengebühren. Die Zulassung und die Unterhaltsbeiträge (Stipendien)
bleiben hingegen wie bisher ausdrücklich vom Geltungsbereich des FZA und damit
vom allgemeinen Diskriminierungsverbot ausgenommen. Das heutige System der Zu-
lassung zu den schweizerischen Hochschulen und damit insbesondere der prüfungs-
freie Zugang für schweizerische Maturandinnen und Maturanden bleibt somit gewähr-
leistet. Die bei Inkrafttreten des Abkommens bestehenden Anteile der EU-
Studierenden in der Schweiz und der Schweizer Studierenden in der EU sollen insge-
samt nicht verringert werden. Für die schweizerischen Hochschulen ergibt sich daraus
weder eine Verpflichtung, eine Mindestzahl von Studienplätzen für Studierende aus
der EU zu garantieren, noch den Anteil der Studierenden aus der EU zu erhöhen. Dies
steht zudem unter dem Vorbehalt der Erhaltung der Qualität und der Besonderheiten
des Bildungssystems, einschliesslich des Zulassungssystems und der Organisation der
Kompetenzen. Die Schweizerische Hochschulkonferenz (SHK), das gemeinsame
hochschulpolitische Organ von Bund und Kantonen, wird die Entwicklungen der Stu-
dierendenanteile und der Zulassungsbeschränkungen entsprechend monitoren.
Gleichstellung von Selbstständigen
Während das FZA von 1999 unterschiedliche Bestimmungen für Arbeitnehmende mit
Wohnsitz in der Schweiz und für selbstständig Erwerbstätige aus der EU mit Nieder-
lassungsrecht vorsah, besteht unter dem Änderungsprotokoll zum FZA in Verbindung
mit der Richtlinie 2004/38/EG eine einzige Bestimmung für Arbeitnehmende und
Selbstständige (Art. 7 Abs. 1 Bst. a und Art. 8 Absatz 3, 1. Aufzählungspunkt). Dem-
nach sind auch die Voraussetzungen für das Vorliegen einer selbstständigen Erwerbs-
tätigkeit die gleichen wie bei Arbeitnehmenden. Konkret wird für eine selbstständige
Erwerbstätigkeit eine tatsächliche und echte Tätigkeit verlangt, welche nicht völlig
untergeordnet und unwesentlich sein darf.
Auch gemäss Änderungsprotokoll zum FZA in Verbindung mit der Richtlinie
2004/38/EG kann wie bereits unter dem FZA für das Gewähren eines Aufenthalts-
rechts ein Nachweis der Selbstständigkeit verlangt werden (Art. 8 Abs. 3 Aufzähl-
punkt 1 Richtlinie 2004/38/EG).
Die Gleichstellung von Selbstständigen mit Unselbstständigen gemäss Änderungs-
protokoll zum FZA in Verbindung mit der Richtlinie 2004/38/EG bezieht sich auch
darauf, dass selbstständig Erwerbstätige für die Aufrechterhaltung der Erwerbstäti-
geneigenschaft den gleichen Voraussetzungen unterliegen wie Unselbstständige und
damit ihre Erwerbstätigeneigenschaft beibehalten, wenn sie mit dem RAV kooperie-
ren. Dauerte die Erwerbstätigkeit weniger als ein Jahr, so ist die Aufrechterhaltung
der Erwerbstätigeneigenschaft auf sechs Monate nach Aufgabe der Erwerbstätigkeit
229 / 931
beschränkt (Art. 7 Abs. 3 Bst. c Richtlinie 2004/38/EG in Verbindung mit Art. 61
a
Abs. 1 VE-AIG).
Familiennachzug
Der Kreis der Personen, die Anspruch auf Familiennachzug haben, wird im Ände-
rungsprotokoll zum FZA in Verbindung mit der Richtlinie 2004/38/EG erweitert auf
Personen in eingetragener Partnerschaft, unterhaltsberechtigte Verwandte in aufstei-
gender Linie von Personen in eingetragener Partnerschaft sowie auf Nachkommen
von Personen in eingetragener Partnerschaft, die unter 21 Jahre alt sind oder denen
Unterhalt gewährt wird. Weiter wird der Personenkreis, der einen erleichterten Fami-
liennachzug geltend machen kann, auf pflegebedürftige Familienangehörige sowie
Lebenspartnerinnen und Lebenspartner erweitert und die Pflichten des Aufnahmes-
taates bei der Prüfung der persönlichen Umstände und Begründung von Ablehnungen
ausgeweitet. Ausserdem wird die Bedingung einer angemessenen Wohnung beim Fa-
miliennachzug in der Richtlinie nicht mehr erwähnt. Zusätzlich haben alle nachgezo-
genen Familienangehörigen Anspruch auf Erwerbstätigkeit. Ausserdem verlangt die
Richtlinie 2004/38/EG für die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts bei einer
Scheidung, Aufhebung der Ehe oder der Beendigung der eingetragenen Partnerschaft
bei Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines EU-Staates besitzen,
dass die Ehe oder eingetragene Partnerschaft mindestens drei Jahre bestanden hat,
wovon jedoch nur ein Jahr davon in der Schweiz gelebt worden sein muss. Im Gegen-
satz dazu kennt das FZA von 1999 keine entsprechende Regelung. Es gelten zurzeit
die Bestimmungen des AIG, welche zwar ebenfalls verlangen, dass die Ehegemein-
schaft mindestens drei Jahre besteht, die drei Jahre müssen aber gemäss bundesge-
richtlicher Rechtsprechung
246
in der Schweiz gelebt worden sein (Art. 50 Abs. 1 lit. a
AIG).
Ausnahme beim Immobilienerwerb
Die heute geltende Ausnahme zum Immobilienerwerb (Art. 25 Anhang I des FZA von
1999) wird neu in Artikel 7 f im Hauptteil des FZA inhaltlich unverändert weiterge-
führt (s. Erläuterungen zu Art. 1 Ziff. 6 des Änderungsprotokolls betreffend Art. 7f
des FZA (Immobilienerwerb) in Ziff. 2.3.6.2.2).
Zusatzprotokoll zu Bewilligungen für Langzeitaufenthalte
(Niederlassungsbewilligungen)
Das Verhandlungsmandat des Bundesrats sah vor, dass die Schweiz bereit ist, allen
Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten unter Gleichbehandlung und nach einer
Mindestdauer eines vorgängigen Aufenthalts von fünf Jahren eine Niederlassungsbe-
willigung zu erteilen, wobei die Integrationskriterien nach AIG eingehalten werden
sollen. Diese Verpflichtung wurde reziprok in einem Protokoll zum FZA festgehalten,
das ausdrücklich vorbehält, dass Bewilligungen für Langzeitaufenthalte (Niederlas-
sungsbewilligungen) ausserhalb des Geltungsbereichs des FZA liegen (s. Erläuterun-
gen unter Ziff. 2.3.6.4).
246
Urteil 2C_634/2023 vom 13. Januar 2025, E. 4.1.
230 / 931
Teilnahme am EURES
Das Europäische Netz der Arbeitsvermittlungen (EURES) hat zum Ziel, die Mobilität
der Arbeitnehmenden innerhalb der EU- und EFTA-Mitgliedstaaten zu erleichtern.
Mit einer Beteiligung der Schweiz am EURES können Schweizer Arbeitsnehmende
ebenfalls Zugang auf EURES veröffentliche Stellenausschreibung haben. Bisher war
die Beteiligung der Schweiz am EURES gestützt auf Artikel 11 Anhang I FZA vor-
gesehen. Die Zusammenarbeit war in einer bilateralen Vereinbarung mit der Europä-
ische Kommission geregelt. Neu wendet die Schweiz das entsprechende EU-Recht
an: Die Teilnahme am EURES ergibt sich aus der Übernahme der Verordnung (EU)
2016/589. Die Schweiz verpflichtet sich nach Artikel 1des Anhangs zum IP-FZA be-
treffend die Anwendung von Artikel 13 dieses Protokolls zu einem finanziellen Bei-
trag am EURES. Der Mechanismus, welcher in Artikel 13 des IP-FZA festgelegt wird,
ist in Ziffer 2.3.9.1.1 genauer beschrieben. Eine Gemeinsame Erklärung zu Stellenan-
geboten wurde ebenfalls abgeschlossen (s. Erläuterungen unter Ziff. 2.3.6.2.6). Diese
Gemeinsamen Erklärung hält die Absicherung der nationalen Gesetzgebung betref-
fend die Einführung einer Stellenmeldepflicht zur Umsetzung von Artikel 121a BV
fest.
Lohnschutz
Im Rahmen der Aufdatierung des FZA wird die auch die EU-Entsenderichtlinien
übernehmen. Die Übernahme des EU-Entsenderechts umfasst die Richtlinie
96/71/EG
247
, sowie die Richtlinie 2014/67/EU
248
.
Mit Ausnahmen von der dynamischen Rechtsübernahme wurden Schweizer Beson-
derheiten abgesichert: die Voranmeldefrist für ausländische Firmen, die Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer in die Schweiz entsenden oder als selbstständige Dienst-
leistungserbringende in der Schweiz Arbeiten verrichten, die autonome Festlegung
der Kontrolldichte, die Kautionspflicht im Wiederholungsfall als Ausnahme in Bezug
auf die Richtlinie 2014/67/EU und die Dokumentationspflicht für selbstständige
grenzüberschreitende Dienstleistungserbringende als Massnahme zur Bekämpfung
der Scheinselbstständigkeit. Sollte sich das EU-Entsenderecht ändern, unterliegen
diese Ausnahmen nicht der dynamischen Rechtsübernahme und bleiben somit beste-
hen.
Zudem wurden zwei Prinzipien abgesichert: «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am
gleichen Ort» sowie das duale Vollzugssystem der Schweiz. Das heisst die Schweiz
setzt weiterhin das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» um.
Das bedeutet, dass Entsendebetriebe die in der Schweiz geltenden Regeln für die Be-
zahlung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auch für alle entsandten Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer einhalten müssen. Das duale Vollzugssystem bei den
FlaM umfasst die Kontrolle der Lohn- und Arbeitsbedingungen durch die Sozialpart-
ner (paritätische Kommissionen) und die Kantone. Die Sozialpartner können auch ihre
247
Richtlinie 96/71/EG, in der Fassung gemäss Anhang I Abschnitt 2 des Änderungsproto-
kolls zum FZA.
248
Richtlinie 2014/67/EU, in der Fassung gemäss Anhang I Abschnitt 2 des Änderungsproto-
kolls zum FZA.
231 / 931
in den Gesamtarbeitsverträgen vorgesehenen Sanktionen weiterhin in verhältnismäs-
siger und nichtdiskriminierender Art und Weise anwenden. Die Schweiz und die EU
sind übereingekommen, dass diese beiden Prinzipien bei der Integration von EU-
Rechtsakten in die Schweizer Rechtsordnung zu berücksichtigen sind.
Mit der Non-Regression-Klausel wurde vereinbart, dass künftige Anpassungen oder
neue Entwicklungen des EU-Entsenderechts, die das zwischen der Schweiz und der
EU im angepassten FZA zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Änderungsprotokolls
im Abkommen vereinbarte Schutzniveau betreffend die Arbeits- und Lohnbedingun-
gen bedeutend verschlechtern würden, nicht in das FZA übernommen werden müssen.
Sie bezieht sich folglich auf die Bestimmungen zur grenzüberschreitenden Dienstleis-
tungserbringung des FZA, inkl. der diesbezüglichen Ausnahmen und Prinzipien sowie
des im Anhang gelisteten relevanten EU-Rechts. Die Non-Regression-Klausel sichert
somit das Schweizer Lohnschutzniveau gegen Rückschritte aufgrund der dynami-
schen Rechtsübernahme ab oder stellt anders formuliert eine Ausnahme von der dy-
namischen Rechtsübernahme dar.
Die Gemeinsame Erklärung über die Beteiligung der Schweiz an den Tätigkeiten der
Europäischen Arbeitsbehörde ermöglicht schliesslich die weitere Teilnahme der
Schweiz im Management-Board der Europäischen Arbeitsbehörde (ELA). Zu einem
späteren Zeitpunkt steht es der Schweiz offen, eine stärkere Einbindung, das heisst
den Abschluss einer Vereinbarung zur weiteren Zusammenarbeit mit der ELA, zu
prüfen.
Die Schweiz nimmt zudem neu als Drittstaat gemäss der IMI-Verordnung im Bereich
Entsendungen am Binnenmarkt-Informationssystem IMI teil (s. Ziff. 2.3.6.2.3.). Die
Schweiz verpflichtet sich nach Artikel 1 des Anhangs zum IP-FZA betreffend die An-
wendung von Artikel 13 dieses Protokolls zu einem finanziellen Beitrag am IMI. Der
Mechanismus, welcher in Artikel 13 des IP-FZA festgelegt wird, ist in Ziffer 2.3.9.1.1
genauer beschrieben.
2.3.5.2.2
Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
(Anhang II FZA)
Durch die in den Verhandlungen erreichte Unterstellung der weitergehenden Berufli-
chen Vorsorge unter die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 können die Auswirkungen
der Übernahme der Richtlinie 2014/50/EU abgeschwächt werden. Artikel 5 der Richt-
linie sieht vor, dass unverfallbare Rentenanwartschaften im Zusatzrentensystem, in
dem sie erworben wurden, erhalten werden müssen, wenn die Arbeitnehmenden aus
dem Beschäftigungsverhältnis ausscheiden. Lediglich für Beträge unterhalb eines ge-
ringen Schwellenwertes kann die Möglichkeit einer Barauszahlung des Kapitals ein-
geräumt werden. Faktisch kommt das einem Barauszahlungsverbot gleich. Das ange-
sparte Kapital in der weitergehenden Beruflichen Vorsorge müsste deshalb bei einem
Wegzug aus der Schweiz in einen Mitgliedstaat der EU in der Schweiz blockiert wer-
den. Durch die Unterstellung der weitergehenden Vorsorge unter die Verordnung
(EG) Nr. 883/2004 gilt anstelle dieses Verbots nur eine Einschränkung der Baraus-
zahlung beim Umzug in einen EU-Mitgliedstaat, wie dies bereits für die obligatori-
sche Minimalvorsorge vorgesehen ist. So gelten für die gesamte Berufliche Vorsorge
die gleichen Regeln, was die Durchführung massgeblich erleichtern wird.
232 / 931
Die vierjährige Übergangsfrist für das Inkrafttreten dieser Regelung erlaubt es den
Versicherten, ihre Vorsorgeplanung entsprechend anzupassen. Gleichzeitig erhalten
die Vorsorgeeinrichtungen die erforderliche Zeit, ihre Prozesse in Einklang mit den
neuen Regelungen zu bringen.
In den Verhandlungen wurde erreicht, dass bestimmte bestehende spezielle Regelun-
gen und Vorbehalte der Schweiz von der dynamischen Rechtsübernahme ausge-
schlossen werden (s. Ziff. 2.3.6.2.4).
Nicht mehr in Kraft stehende Rechtsakte wurden aus Anhang II FZA gestrichen und
neu erlassene hinzugefügt. So betreffen weitere technische Anpassungen in verschie-
denen Verordnungen, Beschlüssen und Empfehlungen z.B. die Nachführung von na-
tionalen Eintragungen einzelner EU-Mitgliedstaaten in die Anhänge der Koordinie-
rungsverordnungen, Umsetzungsfragen des elektronischen Datenaustauschs oder die
Arbeitsweise verschiedener Gremien auf EU-Ebene im Sozialversicherungsbereich.
2.3.5.2.3
Anerkennung von Berufsqualifikationen (Anhang III FZA)
Zentraler Inhalt der Aufdatierung im Anhang III FZA ist die Einführung des Binnen-
markt-Informationssystems IMI durch eine Übernahme der IMI-Verordnung durch
die Schweiz als Drittstaat. IMI ist ein verschlüsseltes Online-Tool, auf das die zustän-
digen Behörden der EU-Mitgliedstaaten mit einem Passwort zugreifen. Das System
erleichtert den behördlichen Informationsaustausch im Rahmen der praktischen Um-
setzung des EU-Rechts. Mit der Aufdatierung von Anhang III FZA kann die Schweiz
neu an der Verwaltungszusammenarbeit über IMI teilnehmen. Zudem kann die
Schweiz durch die IMI-Teilnahme künftig für den Nachweis von erforderlichen
Berufsqualifikationen vom Europäischen Berufsausweis Gebrauch machen und den
Vorwarnmechanismus bei einem Verbot oder bei einer Beschränkung der Ausübung
eines reglementierten Berufs nutzen (s. Ziff. 2.3.9.2.1, was die Auswirkungen auf die
Kantone betrifft). Gemäss Artikel 1 des Anhangs zum IP-FZA betreffend die Anwen-
dung von Artikel 13 dieses Protokolls verpflichtet sich die Schweiz zu einem finanzi-
ellen Beitrag für die Teilnahme am IMI (s. Ziff. 2.3.9.1.1).
2.3.6
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der Protokolle
2.3.6.1
Institutionelles Protokoll
Dynamische Rechtsübernahme
Entsprechend dem Grundsatz der dynamischen Rechtsübernahme (s. Ziff. 2.1.5.2)
sind die Vertragsparteien im Rahmen des aufdatierten FZA zur Integration derjenigen
EU-Rechtsakte in das Abkommen verpflichtet, welche in den durch das Abkommen
klar begrenzten Geltungsbereich fallen. Die EU und die Schweiz integrieren die be-
troffenen Rechtsakte dabei so rasch als möglich in das Abkommen (Art. 5 Abs. 1 IP-
FZA). Hierfür gilt neu die Integrationsmethode, das heisst, sobald die Rechtsakte der
EU in das Abkommen integriert wurden, sind sie – gegebenenfalls mit Anpassungen,
die bei ihrer Integration beschlossen wurden – allein durch ihre Integration in das Ab-
kommen Teil der Schweizer Rechtsordnung geworden (Art. 5 Abs. 2). Bisher war die
Schweiz im Rahmen des FZA lediglich verpflichtet, gleichwertige Rechte und Pflich-
ten zu schaffen, wie sie in den in das Abkommen aufgeführten EU-Rechtsakten ent-
halten sind (Art. 16 FZA). Allerdings kam für die Anhänge II und III bereits in der
233 / 931
Vergangenheit
de facto
die Integrationsmethode zur Anwendung. Anhang I wurde
bisher noch nie angepasst. (s. Ziff. 2.1.5.2.2).
Von der dynamischen Rechtsübernahme ausgenommen sind EU-Rechtsakte, die in
den Anwendungsbereich der unter Artikel 5 Absatz 7 des IP-FZA aufgelisteten Aus-
nahmen beziehungsweise unter die Non-Regression-Klausel fallen (Art. 5g, 5h, 5i, 5j,
7b, 7e, 7f, 7g, 7h, Anhang II Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit,
Teil II, Sektorielle Anpassungen, Punkt 1.a – f des Änderungsprotokolls; zu den ein-
zelnen Ausnahmen s. Ziff. 2.3.5.2).
Teil der Verhandlungen war zudem auch die Aufdatierung des FZA um den seit 1999
aufgelaufenen FZA-relevanten EU-
Acquis
. Dies betraf insbesondere den Anhang I,
der seit 1999 mit Ausnahme der Bestimmungen zur Ausweitung des FZA auf neue
EU-Mitgliedstaaten, nie an das neue EU-Recht in diesem Bereich angepasst wurde.
Von Relevanz sind hier vor allem die Richtlinie 2004/38/EG- und das Entsenderecht.
Im Dienstleistungsbereich verlangte die EU zudem die Aufnahme der Richtlinie
2006/123/EG betreffend Dienstleistungen. Die Schweiz konnte indessen erreichen,
dass dieser Rechtsakt der EU, der ihrer Ansicht nach nicht in den Geltungsbereich des
FZA fällt, nicht in das Abkommen integriert wird. Die anderen Anhänge des FZA
(Anhang II: Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit; Anhang III: Gegen-
seitige Anerkennung von Berufsqualifikationen) wurden bereits unter dem geltenden
FZA regelmässig aufdatiert, auch wenn diesbezüglich keine Verpflichtung bestand.
Bei diesen beiden Anhängen enthält die Liste der zu übernehmenden Rechtsakte somit
jene Rechtsakte, die Weiterentwicklungen betreffend den Geltungsbereich dieser An-
hänge entsprechen, welche aber noch nicht integriert wurden. In Fällen, in denen
Rechtsakte der EU den Geltungsbereich des FZA nur teilweise betreffen oder in denen
der Schweiz zu gewissen Bestimmungen eine Ausnahme von der dynamischen Über-
nahme gewährt wurde (s. Liste der Ausnahmen unter Art. 5 Abs. 7 des IP-FZA), neh-
men die Schweiz und die EU eine Teilübernahme des betreffenden Rechtsakts vor.
Nach Artikel 5 Absatz 10 IP-FZA verpflichten sich die Vertragsparteien, das Prinzip
«gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» und das duale Vollzugssystem der
Schweiz im Rahmen der dynamischen Rechtsübernahme zu berücksichtigen
(s. Ziff. 2.3.5.2.1). Sie anerkennen damit ihre spezifische Rechtsverbindlichkeit, die
aber nicht gleichwertig ist wie jene der Ausnahmen. Die Schweiz kann diese Elemente
jedoch während der Diskussionsphase vor der Integration eines EU-Rechtsakts gel-
tend machen und gegebenenfalls Anpassungen dieses Rechtsakts verlangen, damit sie
berücksichtigt werden (s. Ziff. 2.1.5.2.2). Diese Berücksichtigungspflicht kann na-
mentlich auch im Falle eines Streits über die dynamische Rechtsübernahme relevant
sein, etwa im Zusammenhang mit der Beurteilung der Verhältnismässigkeit möglicher
Ausgleichsmassnahmen infolge eines Streitfalls. Das Bestehen und die Rechtsver-
bindlichkeit des Prinzips «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» und des
dualen Vollzugssystems der Schweiz werden zur Folge haben, dass die von der EU
beschlossenen Ausgleichsmassnahmen weniger einschneidend sein dürften als Mass-
nahmen, die bei deren Nichtbestehen ergriffen würden, und dass die Beurteilung der
Verhältnismässigkeit solcher Massnahmen gegebenenfalls strenger ausfallen dürfte,
wenn die Schweiz einen Rechtsakt der EU nicht übernimmt, weil er ihres Erachtens
gegen das erwähnte Prinzip und das Vollzugssystem verstösst.
234 / 931
Streitbeilegung
Nach den allgemeinen institutionellen Regeln verpflichten sich die Schweiz und die
EU, alle Streitigkeiten, die sich aus der Auslegung und Anwendung des FZA und der
im Abkommen genannten Rechtsakte ergeben, nach dem vorgesehenen Streitbeile-
gungsmechanismus beizulegen (s. Ziff. 2.1.5.4).
Insofern als das FZA ein bilaterales Abkommen in einem Bereich betreffend den Bin-
nenmarkt ist, an dem die Schweiz teilnimmt (Art. 3 Abs. 2 IP-FZA), können die ver-
hältnismässigen Ausgleichsmassnahmen, die eine Vertragspartei ergreifen kann, um
ein mögliches Ungleichgewicht zu beheben, im Rahmen des FZA selbst oder aber
auch im Rahmen eines anderen Abkommens in den Bereichen betreffend den Binnen-
markt, an denen die Schweiz teilnimmt, ergriffen werden (Art. 11 Abs. 1 IP-FZA).
Ferner sieht die Bestimmung zur konkretisierten Schutzklausel (s. Erläuterungen zu
Art. 14
a
Schutzklausel in Ziff. 2.3.6.2.2,) spezifische Regelungen betreffend das
Streitbeilegungsverfahren vor. Diese werden durch einzelne Bestimmungen in der
Anlage zum Schiedsgericht ergänzt.
Das IP-FZA enthält in Artikel 10 Absatz 6 zudem eine spezifische Bestimmung zum
rechtlichen Gehalt der zwei ausgehandelten Absicherungen, die in den Gemeinsamen
Erklärungen über die Verweigerung der Sozialhilfe und die Aufenthaltsbeendigung
vor Erwerb des Daueraufenthalts und über die Meldung betreffend Stellenantritte (s.
Ziff. 2.3.6.2.6) enthalten sind. Die Absicherungen müssen im Rahmen der Beilegung
der dem GA unterbreiteten Streitigkeiten nach Treu und Glauben berücksichtigt wer-
den. Die Berücksichtigung der Absicherungen gilt für alle Streitigkeiten in Zusam-
menhang mit der Auslegung oder der Anwendung des Abkommens oder eines darin
integrierten Rechtsakts der EU, da das Streitbeilegungsverfahren immer über einen
Meinungsaustausch im GA führt. Die Absicherungen müssen daher sowohl von den
Vertragsparteien im Rahmen ihrer Diskussionen im GA als auch vom Schiedsgericht,
sofern es angerufen wird, berücksichtigt werden. Die Absicherungen gelten solange
und soweit sie mit den EU-Rechtsakten, wie sie ins Abkommen integriert wurden,
vereinbar sind.
Der letzte Satz von Artikel 10 Absatz 6 IP-[FZA] hält fest, dass die Absicherungen
der Integrationspflicht von Artikel 5 Absatz 1 IP-[FZA] nicht entgegenstehen, da sie
nicht dieselbe Rechtsverbindlichkeit haben wie die Ausnahmen. Dennoch müssen die
Parteien und das Schiedsgericht die Absicherungen im Falle von Streitigkeiten dar-
über, ob ein EU-Rechtsakt, der gegen die Absicherungen verstösst, in das Abkommen
aufgenommen werden soll, berücksichtigen. Die Berücksichtigung kann zum Beispiel
in Form einer Anpassung des EU-Rechtsakts im Rahmen seiner Integration in das
Abkommen, einer spezifischen Übergangsregelung oder einer strengeren Bewertung
der Verhältnismässigkeit möglicher Ausgleichsmassnahmen im Falle, dass die
Schweiz die Übernahme des betreffenden Rechtsakts verweigert, obwohl sie gemäss
einem Entscheid des Schiedsgerichts dazu gehalten wäre, erfolgen. Wenn die Schweiz
einen Rechtsakt der EU, der gegen eine Absicherung verstösst, nicht integriert, sollten
das Bestehen dieser Absicherung und deren Rechtsverbindlichkeit zur Folge haben,
dass die von der EU beschlossenen Ausgleichsmassnahmen weniger einschneidend
sein dürften als Massnahmen, die bei deren Nichtbestehen ergriffen würden, und die
Beurteilung der Verhältnismässigkeit solcher Massnahmen strenger ausfallen dürfte.
235 / 931
Finanzielle Beiträge
Die Verpflichtungen bezüglich des finanziellen Beitrags der Schweiz zu FZA-
relevanten Informationssystemen (EURES, MISSOC, ESSI und IMI) sind in Arti-
kel 13 des IP-FZA in Verbindung mit Artikel 1 und Artikel 4 des Anhangs betreffend
die Anwendung von Artikel 13 des Protokolls geregelt.
2.3.6.2
Änderungsprotokoll
2.3.6.2.1
Allgemeine Ausführungen
Das Änderungsprotokoll zum FZA enthält nur diejenigen Bestimmungen, welche ge-
ändert werden sollen. Nicht erwähnte Artikel aus dem FZA gelten unverändert weiter.
Die Ziele gemäss Artikel 1 des FZA, nämlich die Einräumung des Rechts auf Einreise,
Aufenthalt, Zugang zu Erwerbstätigkeit, Niederlassung als Selbstständige, Aufenthalt
als Nichterwerbstätige, das Recht auf Verbleib, die Erleichterung der Erbringung von
Dienstleistungen sowie die Einräumung der gleichen Lebens-, Beschäftigungs- und
Arbeitsbedingungen wie für Inländerinnen und Inländer bleiben unverändert beste-
hen.
Artikel 2 FZA, der den Grundsatz der Nicht-Diskriminierung umfasst, bleibt unver-
ändert. Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, welche sich rechtmässig in der
Schweiz aufhalten, dürfen bei der Anwendung dieses Abkommens nicht aufgrund ih-
rer Staatsangehörigkeit diskriminiert werden. Gemäss der ständigen Rechtsprechung
des EuGH, die das Bundesgericht übernommen hat
249
, gilt Artikel 2 FZA ebenso für
direkte Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit
250
wie auch für indirekte
Diskriminierungen, die «durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale
tatsächlich zum gleichen Ergebnis führen
251
» Das Bundesgericht weicht praxisgemäss
von der Auslegung abkommensrelevanter unionsrechtlicher Bestimmungen – was mit
dem
Grundsatz der Nicht-Diskriminierung der Fall ist - durch den EuGH nach dem
Unterzeichnungsdatum nicht leichthin, sondern nur beim Vorliegen «triftiger»
Gründe ab».
Auch die Artikel 3, 6-9, 11-13, 15, 20, 22-23 und 25 des FZA bleiben unverändert
bestehen.
Der materielle Gehalt gewisser Bestimmungen von Anhang I wurde mit oder ohne
Anpassungen in die Grundbestimmungen des Abkommens übernommen (Art. 5
Abs. 1, 12–13, 15–23, 25). Diese Bestimmungen können ausschliesslich über eine
Revision des Abkommens geändert werden. Sie sind daher für die Definition des Gel-
tungsbereichs des Abkommens relevant.
Sämtliche Anhänge enthalten nunmehr ausschliesslich Verweise auf die relevanten zu
übernehmenden Rechtsakte und die damit verbundenen technischen Anpassungen.
Vorbehältlich der Ausnahmen und allfälliger Anpassungen, die spezifisch für die
249
S. BGE
133
V 367
250
S. BGE
136
II 141
251
EuGH, Urteil vom 23. Mai 1996, O’Flynn / Adjudication Officer, C-237/94,
EU:C:1996:206; BGE
131
V 209.
236 / 931
Schweiz gelten, wird jeder neue Rechtsakt, der in den Bereich der Personenfreizügig-
keit fällt, in den entsprechenden Anhang aufgenommen.
2.3.6.2.2
Hauptteil
Artikel 1 Ziffer 1 des Änderungsprotokolls betreffend die Präambel des FZA
Das Abkommen wird in seiner Präambel durch fünf Erwägungsgründe ergänzt. Diese
heben die Freizügigkeit als wichtigen Aspekt des Binnenmarktes hervor, weisen auf
den Grundsatz der einheitlichen Auslegung des Abkommens gemäss Artikel 7 IP-
FZA und auf durch die EuGH-Rechtsprechung entwickelte Prinzipien hin und beto-
nen das Ziel, die umfassende Partnerschaft der Schweiz und der EU zu festigen (s.
Ziff. 2.1.5.1.1).
Artikel 1 Ziffer 2 und Ziffer 3 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 4, 4a und
4b des FZA
Das Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit gemäss Artikel 4
bleibt unverändert. In Bezug auf das Recht sich niederzulassen gilt Artikel 4
a
, wie
dies bereits mit dem FZA von 1999 der Fall war, nur für natürliche Personen, nicht
aber für juristische Personen. Ein Unternehmen erhält also nicht das Recht, sich ohne
Weiteres im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei niederzulassen. Artikel 4
a
hält zudem fest, dass Beschränkungen der Gründung von Zweigniederlassungen oder
-stellen durch Staatsangehörige einer Vertragspartei, die im Hoheitsgebiet einer ande-
ren Vertragspartei niedergelassen sind, verboten sind. Das Niederlassungsrecht wird
im Änderungsprotokoll zum FZA damit insgesamt klarer geregelt, ohne jedoch über
bereits bestehende Verpflichtungen hinauszugehen. Insbesondere werden das Be-
schränkungsverbot und das Recht auf Gründung eines Unternehmens explizit er-
wähnt, die bisher lediglich gestützt auf die vor 1999 entwickelte Rechtsprechung des
EuGH galten.
Betreffend die Gleichbehandlung von Selbstständigen weist Artikel 4
b
, welcher den
Grundsatz der Nichtdiskriminierung gemäss Artikel 2 FZA konkretisiert, darauf hin,
dass die Artikel 7–10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011
252
auch auf diese Personen-
kategorie anwendbar sind. Selbstständige und ihre Familienangehörigen geniessen die
gleichen steuerlichen und sozialen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitneh-
menden, beispielsweise in Bezug auf den Zugang der Kinder zu Schulbildung und
Studium. Diese Gleichbehandlung war im FZA bereits vorgesehen (s. Art. 2 FZA
i. V. m. Art. 15 Abs. 2 und Art. 9 Anhang I FZA von 1999).
252
Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April
2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union, ABl. L 141 vom
27.5.2011, S. 1, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2019/1149, ABl. L 186 vom
11.7.2019, S. 21.
237 / 931
Artikel 1 Ziffer 5 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 5a-5f des FZA
(Dienstleistungen)
Artikel 5
a
übernimmt die im FZA vorgesehenen Beschränkungsverbote hinsichtlich
der Erbringung von Dienstleistungen (Art. 17 Anhang I). Die Bestimmung enthält ins-
besondere die geltenden Vorgaben für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaats-
angehörigen, die zur Erbringung einer Dienstleistung in die Schweiz entsandt werden;
darunter namentlich die Vorgabe, dass sie im regulären Arbeitsmarkt des Mitglied-
staats, in dem sie ihren Wohnsitz haben, integriert sein müssen, bevor sie in der
Schweiz eine Dienstleistung erbringen können. Gemäss aktueller Schweizer Praxis
müssen entsandte Dienstleistungserbringende seit mindestens zwölf Monaten über
eine Aufenthaltskarte im Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, verfügen,
damit diese Voraussetzung erfüllt ist. Für Dienstleistungserbringende gelten weiterhin
die Regelungen betreffend Einreise in den Schengen-Raum in Bezug auf Reisedoku-
mente, Visa und die zulässige maximale Aufenthaltsdauer (90 Tage innerhalb von
180 Tagen).
Die Artikel 5
b
–5
f
übernehmen die bestehenden Bestimmungen aus Anhang I FZA,
unbeschadet der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH, die von der Schweiz über-
nommen wird (Art. 18–22 Anhang I).
Der Verweis auf das relevante Entsenderecht, welcher bisher in Artikel 22 Anhang 1
des FZA verankert war, wird durch das Änderungsprotokoll in Artikel 5
f
Absatz 2 des
Hauptteils des FZA verschoben.
Auch weiterhin können gestützt auf Artikel 5
f
Absatz 3 Buchstabe i nationale Rege-
lungen, die bei Inkrafttreten des FZA am 1. Juni 2002 im Bereich des Personalverleihs
und der Personalvermittlung sowie der Finanzdienstleistungen in Kraft waren, zur
Anwendung gebracht werden. Grenzüberschreitender Personalverleih und grenzüber-
schreitende Arbeitsvermittlung in die Schweiz werden gestützt auf das Arbeitsver-
mittlungsgesetz vom 6. Oktober 1989
253
(AVG)
auch weiterhin nicht zulässig sein.
Die Regelungen zum grenzüberschreitenden Personalverleih des EU-Entsenderechts
gelangen deshalb gestützt auf die technischen Anpassungen gemäss Buchstaben b und
c zur Richtlinie 96/71/EG
254
für die Schweiz nicht zur Anwendung. Artikel 5
f
Ab-
satz 3 Buchstabe i präzisiert zudem, dass die dynamische Rechtsübernahme durch die
Schweiz im Bereich der Verordnung (EU) 2016/589 über ein Europäisches Netz der
Arbeitsvermittlungen (EURES) nicht dazu führen darf, dass die Schweiz ihre natio-
nalen Regelungen zum Personalverleih und zur Arbeitsvermittlung nicht mehr zur
Anwendung bringen darf.
Die Bestimmungen von Absatz 3 Ziffern i und ii unterliegen nicht dem Grundsatz der
dynamischen Übernahme, da sie nicht in den Geltungsbereich des Abkommens fallen.
253
SR
823.11
254
Richtlinie 96/71/EG, in der Fassung gemäss Anhang I Abschnitt 2 des Änderungsproto-
kolls zum FZA.
238 / 931
Artikel 1 Ziffer 5 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 5g, 5h, 5i und 5j des
FZA (Ausnahmen von der dynamischen Rechtsübernahme)
Die Ausnahmen von der dynamischen Rechtsübernahme werden in Artikel 5 Absatz 7
des IP-FZA aufgelistet. Es handelt sich um die Artikel 5
g (Voranmeldefrist und Kon-
trollen)
, 5
h
(Kautionen und Sanktionen),
5
i (Nachweis der Selbstständigkeit)
und
5j
(Non-Regression),
welche durch das Änderungsprotokoll in den Hauptteil des FZA
aufgenommen werden.
Die Regelung in Artikel 5g (
Voranmeldefrist und Kontrollen)
sieht vor, dass die
Schweiz eine Voranmeldefrist von maximal vier Arbeitstagen für selbstständige
Dienstleistungserbringende sowie für Arbeitgeber aus der EU, die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in die Schweiz entsenden, in spezifischen Branchen zur Anwen-
dung bringen kann, damit Kontrollen vor Ort durchgeführt werden können. Diese spe-
zifischen Branchen werden von der Schweiz auf der Basis einer objektiven Risiko-
analyse eigenständig bestimmt. Dies gilt auch für die in allen Branchen
durchzuführenden Anzahl Kontrollen und die Kontrolldichte. Dabei ist dem Umstand
Rechnung zu tragen, dass die Dienstleistungserbringung zwischen der Schweiz und
der EU auf 90 Arbeitstage pro Kalenderjahr beschränkt ist und damit ein grosser Teil
der Dienstleistungen nur von kurzer Dauer ist. Die Festlegung der von der viertägigen
Voranmeldefrist erfassten Branchen ist regelmässig zu überprüfen und, wenn ange-
zeigt, zu aktualisieren. Ausserhalb der Risikobranchen kann gestützt auf Artikel 9 Ab-
satz 1 Buchstabe a der Richtlinie 2014/67/EU eine Meldepflicht spätestens vor Ar-
beitsbeginn zur Anwendung gebracht werden.
Gestützt auf Artikel 5h (
Kautionen und Sanktionen
) können die paritätischen Kom-
missionen (PK) gegenüber Arbeitgebern, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in die Schweiz entsenden, eine Kautionspflicht zur Anwendung bringen. Die Kauti-
onspflicht kann vorgesehen werden für Branchen, die von der Schweiz aufgrund einer
Risikoanalyse autonom festgelegt werden. Sie ist im Wiederholungsfall zu leisten,
d.h., wenn ein Entsendebetrieb bei früheren Einsätzen in der Schweiz seine finanziel-
len Verpflichtungen gegenüber den PK nicht erfüllt hat. Bei Nichtleistung der Kaution
kann die Schweiz Sanktionen verhängen: Eine Verwaltungsbusse bis hin zu einer
Dienstleistungssperre.
Gemäss Artikel 5i (
Nachweis der selbstständigen Erwerbstätigkeit
) kann die Schweiz
gegenüber selbstständigen grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringenden aus
den EU-Mitgliedstaaten eine Dokumentationspflicht zur Anwendung bringen, um die
Scheinselbstständigkeit zu bekämpfen. Selbstständige Dienstleistungserbringende aus
EU-Mitgliedstaaten müssen bei einer Kontrolle vor Ort ihre Selbstständigkeit anhand
von drei Dokumenten nachweisen können: Meldebestätigung (sofern vorhanden),
Nachweis der Registrierung als selbstständig erwerbende Person bei den Sozialversi-
cherungsbehörden im Herkunftsstaat sowie Nachweis eines Vertragsverhältnisses.
Die Schweiz verpflichtet sich, relevantes EU-Entsenderecht in das FZA zu integrie-
ren. Würden künftige Anpassungen der EU-Entsenderichtlinien oder neues EU-
Entsenderecht das bei Inkrafttreten des Änderungsprotokolls zwischen der Schweiz
und der EU vereinbarte Schutzniveau der in die Schweiz entsandten Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer, bestehend aus dem gestützt auf das Änderungsprotokoll zu
239 / 931
übernehmende EU-Entsenderecht sowie den vereinbarten Ausnahmen und Prinzipien,
in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen bedeutend verschlechtern,
besteht für die Schweiz gestützt auf Artikel 5j (Non-Regression-Klausel) keine Ver-
pflichtung, diese in das Abkommen zu integrieren. Die Klausel ist eine Absicherung
des Schweizer Schutzniveaus und stellt eine Ausnahme vom Prinzip der dynamischen
Rechtsübernahme nach Artikel 5 des IP-FZA dar. Eine Verschlechterung des Schutz-
niveaus in der Schweiz ist nach Inkrafttreten des Änderungsprotokolls zum FZA dem-
nach nicht mehr möglich.
Artikel 1 Ziffer 5 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 5k des FZA
(Dienstleistungsempfänger)
Dienstleistungsempfängerinnen und Dienstleistungsempfänger sind Nichterwerbstä-
tigen gleichgesetzt, was bedeutet, dass sie nur einen Aufenthalt von mehr als drei Mo-
naten begründen können, wenn sie über ausreichende Existenzmittel verfügen, sodass
sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen müs-
sen, und über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen (Art. 7
Abs. 1, Bst. b der Richtlinie 2004/38/EG). Diese Voraussetzungen entsprechen jenen
des FZA für Personen, die keine Erwerbstätigkeit ausüben (Art. 24 Abs. 1 Anhang I).
Wer beispielsweise für den Zweck einer medizinischen Behandlung in die Schweiz
kommen will, muss die genannten Bedingungen erfüllen und sich für einen Aufenthalt
von mehr als drei Monaten bei den zuständigen kantonalen Behörden registrieren.
Artikel 1 Ziffer 6 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 7a des FZA
(Grenzgänger)
Für Grenzgängerinnen und Grenzgänger, die eine Kategorie von selbstständig oder
unselbstständig Erwerbstätigen bilden, gelten im FZA von 1999 spezifische Bestim-
mungen (s. Art. 7 und 13 Anhang I). Diese Bestimmungen sind im FZA in der Fas-
sung gemäss Änderungsprotokoll zum FZA nicht mehr enthalten. Da Grenzgängerin-
nen und Grenzgänger keinen Aufenthalt in der Schweiz haben, gilt für sie
beispielsweise Artikel 7 und 8 der Richtlinie 2004/38/EG nicht. Aus diesem Grund
wurde auf Ersuchen der Schweiz Artikel 7
a
eingeführt. Der Wortlaut der Definition
von Grenzgängerinnen und Grenzgängern entspricht der bestehenden aus dem FZA
von 1999, und es wird sich auch weiterhin um eine Kategorie von selbstständig oder
unselbstständig Erwerbstätigen handeln. Grenzgängerinnen und Grenzgänger sind ge-
mäss diesem Artikel Staatsangehörige einer Vertragspartei, die im Hoheitsgebiet einer
Vertragspartei eine selbstständige oder unselbstständige Erwerbstätigkeit ausüben
und ihren Wohnsitz in der anderen Vertragspartei haben, an den sie in der Regel täg-
lich, mindestens jedoch einmal in der Woche zurückkehren.
Diese Bestimmung ermöglicht es der Schweiz Grenzgängerinnen und Grenzgänger,
welche einer Erwerbstätigkeit von mehr als drei Monaten pro Kalenderjahr in der
Schweiz nachgehen, zu registrieren und ihnen eine deklaratorische Registrierungsbe-
scheinigung auszustellen, die entweder kostenlos sein muss oder gegen Entrichtung
eines Betrags erfolgt, der die Ausstellungsgebühr für ähnliche Dokumente an Inlän-
derinnen und Inländer nicht übersteigt. Da ein solches Verfahren im Rahmen der
240 / 931
Richtlinie 2004/38/EG Personen vorbehalten ist, die sich in einem anderen Mitglied-
staat aufhalten, war eine spezifische Bestimmung im FZA erforderlich. Bei Erwerbs-
tätigkeiten als Grenzgängerin oder Grenzgänger von bis zu drei Monaten kommt das
Meldeverfahren zur Anwendung. Die Umsetzung der Registrierungs- und Melde-
pflicht für Grenzgängerinnen und Grenzgänger erfolgt in Artikel 13
a
Absatz 3 VE-
AIG und Artikel 6a VE-EntsG (s. Ziff. 2.3.8.1.1 und Ziff. 2.3.8.4.1).
Grenzgängerinnen und Grenzgänger haben keinen Aufenthalt in der Schweiz und
können daher beispielweise kein Daueraufenthaltsrecht in der Schweiz geltend ma-
chen und haben keinen Anspruch auf Sozialhilfe.
In der Gemeinsamen Erklärung stellt die Schweiz in Aussicht, dass sie die Umsetzung
der Registrierungs- und Meldepflicht in den entsprechenden bilateralen Foren mit den
benachbarten EU-Mitgliedstaaten erörtert. Diese Gespräche sollen nicht zu einer un-
terschiedlichen Behandlung von Grenzgängerinnen und Grenzgängern im Rahmen
des Abkommens führen und lassen deren Rechte und Pflichten gemäss Abkommen
unberührt. Ziel dieser Gemeinsamen Erklärung ist es, dass die Schweiz die benach-
barten Staaten über die Modalitäten und Pflichten der Registrierungs- und Melde-
pflicht für Grenzgängerinnen und Grenzgänger in der Schweiz informiert.
Artikel 1 Ziffer 6 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 7b des FZA
(Studierende)
a)
Allgemein
Auch Studierende, die sich länger als drei Monate in der Schweiz aufhalten, müssen
ihre Anwesenheit bei den zuständigen kantonalen Behörden anzeigen. Es ist vorgese-
hen, dass der Aufnahmestaat von Studierenden, die nicht aufgrund einer anderen Be-
stimmung des Abkommens über ein Aufenthaltsrecht verfügen, verlangen kann, sich
anzumelden (Art. 8 Abs. 1 Richtlinie 2004/38/EG). Die Bestimmung wiederholt zu-
dem wie im FZA von 1999 (vgl. Art. 24 Abs. 4 Anhang I FZA), dass für Studierende,
die ausschliesslich zu Studienzwecken in die Schweiz einreisen, der allgemeine Nicht-
diskriminierungsgrundsatz (Art. 2) weder für den Hochschulzugang noch für die Un-
terhaltsbeihilfen (Stipendien) gilt. Somit werden das Zulassungssystem und aktuelle
Quoten der Schweizer Hochschulen nicht tangiert (siehe dazu ergänzend «Anteil EU-
Studierende», Kap. c).
b)
Nichtdiskriminierung bei den Studiengebühren
Neu müssen die mehrheitlich öffentlich finanzierten universitären Hochschulen und
Fachhochschulen den allgemeinen Nichtdiskriminierungsgrundsatz (Art. 2 FZA) in
Bezug auf Studiengebühren einhalten. Schweizer Studierende profitieren umgekehrt
an den Hochschulen der EU-Staaten von einer Gleichbehandlung betreffend Studien-
gebühren. Dazu gehören alle Arten von Gebühren (Einschreibegebühren, Semester-
gebühren, Benutzungsgebühren, usw.). Der Grundsatz gilt auch für öffentliche Unter-
stützungsmechanismen für die Studiengebühren (z.B. in Form von Erlassen,
Rückzahlungen, Ermässigungen, Stundungen oder Ratenzahlungen). Private Unter-
stützungsmechanismen für Studiengebühren ohne öffentlichen Auftrag (z.B. Fonds,
Stiftungen) sind davon ausgenommen. Während gemäss Artikel 7
b
Unterhaltsbeihil-
241 / 931
fen (Stipendien) weiterhin vollständig vom allgemeinen Nichtdiskriminierungsgrund-
satz ausgenommen sind, fallen - wie bereits heute – andere öffentliche Vergünstigun-
gen für Studierende, wie z.B. die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder der Zu-
gang zu kulturellen Einrichtungen ebenfalls darunter (Art. 2 FZA), wobei aber
Einschränkungen aus sachlichen Gründen gerechtfertigt werden können. Eine direkte
Diskriminierung, d. h. eine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, kann
aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sein,
während indirekte Diskriminierungen auch aus zwingenden Gründen des Allgemein-
interesses gerechtfertigt sein können. In jedem Fall ist eine Diskriminierung nur dann
gerechtfertigt, wenn die vorgesehene Massnahme verhältnismässig, d. h. geeignet und
erforderlich ist, um das angestrebte Ziel zu erreichen.
Ausgenommen vom allgemeinen Nichtdiskriminierungsgrundsatz bezüglich Studien-
gebühren sind u.a. die Pädagogischen Hochschulen, die Ausbildungsstätten der Be-
rufsbildung (z.B. Höhere Fachschulen) und die mehrheitlich privat finanzierten Hoch-
schulen wie z.B. die École hôtelière de Lausanne (EHL), auch wenn sie einer
mehrheitlich öffentlich finanzierten universitären Hochschule oder Fachhochschule
«angeschlossen» sind (Art. 7b Bst. a Punkt i FZA).
c)
„Anteil EU-Studierende“
In Buchstabe b) der Regelung wird festgehalten, dass der Gesamtanteil («
overall-le-
vel»
) der EU-Studierenden an den universitären Hochschulen, den Fachhochschulen
und den beiden ETH ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Abkommens nicht ab-
nehmen soll (Stand 2023: 18% EU-Studierende an universitären Hochschulen [Ba-
chelor, Master und PhD] und 10% EU-Studierende an Fachhochschulen [Bachelor
und Master]). Diese Bestimmung unterliegt jedoch verschiedenen Vorbehalten. So
sollen Qualität und Besonderheiten des Bildungssystems gewahrt werden. Es wird
explizit darauf hingewiesen, dass keine Verpflichtung entsteht, das Zulassungssystem
zu ändern, den «
overall level
» anzuheben oder eine Mindestzahl von Studienplätzen
für EU-Studierende vorzusehen. Die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Änderungs-
protokolls zum FZA bestehenden Quoten und Beschränkungen der Hochschulen kön-
nen beibehalten werden (z.B. Universität St. Gallen oder EPFL). Neue Massnahmen
und Quoten, welche zu einer Senkung der Anteile an EU-Studierenden an einer be-
stimmten Hochschule unterhalb des Wertes beim Inkrafttreten des Änderungsproto-
kolls zum FZA führen, sind dann unproblematisch, wenn sie keinen Einfluss auf den
gesamtschweizerischen
«overall level»
haben. Unproblematisch sind auch Anteilsre-
duktionen, die nicht auf konkrete Massnahmen zurückzuführen sind, wie z. B. die de-
mographische Entwicklung der Anzahl Schweizer Studierenden oder der Rückgang
der EU-Studierenden, aus wirtschaftlichen Gründen, usw. Problematisch wären wohl
neue flächendeckende Quoten für EU-Studierende, die zu einer spürbaren Reduktion
des
«overall level»
auf gesamtschweizerischer Ebene führen würden und sich z.B.
nicht mit der Sicherstellung von Qualität begründen liessen.
Sollte Uneinigkeit darüber bestehen, ob die Schweiz die Bestimmung einhält, käme
das Schiedsgericht zum Zug. Sollte das Schiedsgericht eine Verletzung feststellen und
242 / 931
die Schweiz sich nicht an sein Urteil halten, könnte die EU verhältnismässige Aus-
gleichsmassnahmen ergreifen (vermutlich analoge Reduktion der Anteile der Schwei-
zer Studierenden in der EU).
Artikel 1 Ziffer 6 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 7c und 7d des FZA
(Ausübung hoheitlicher Befugnisse und Öffentliche Ordnung)
Die Artikel 5, 10 und 16 Anhang I FZA wurden mit dem Änderungsprotokoll aus dem
Anhang I in den Hauptteil des Abkommens verschoben. Die Möglichkeit, das Recht
auf Ausübung einer Erwerbstätigkeit zu verweigern, wenn sie die Ausübung hoheitli-
cher Befugnisse umfasst, wurde bezüglich unselbstständig Erwerbstätige (Art 7c
Abs. 1) und Selbstständige (Art. 7c Abs. 2) in eine Bestimmung zusammengeführt.
Inhaltlich bleiben die Bestimmungen unverändert.
Artikel 1 Ziffer 6 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 7e des FZA
(Daueraufenthalt inkl. Vorruhestandsregelung)
Ein Recht auf Daueraufenthalt, wie es in Artikel 16 der Richtlinie 2004/38/EG vorge-
sehen ist, gibt es im FZA nicht. Das FZA sieht lediglich ein Recht auf Verbleib im
Hoheitsgebiet einer Vertragspartei nach Beendigung einer Erwerbstätigkeit vor (s. un-
ten). Artikel 7
e
sieht vor, dass in der Schweiz lebende Staatsangehörige der EU-
Mitgliedstaaten ein Recht auf Daueraufenthalt erwerben können, wenn sie die in die-
sem Artikel vorgesehenen Voraussetzungen erfüllen. Dabei ist anzumerken, dass in
Artikel 7 Absatz 3 der Richtlinie 2004/38/EG die Situationen nichtabschliessend auf-
gelistet sind, in denen die Erwerbstätigeneigenschaft aufrechterhalten wird. Beginnt
eine Person eine Berufsausbildung und gibt sie ihre Erwerbstätigkeit freiwillig auf, so
behält sie ihre Erwerbstätigeneigenschaft, wenn die Ausbildung mit der früheren be-
ruflichen Tätigkeit im Zusammenhang steht. Das Recht auf Daueraufenthalt erstreckt
sich zudem auf aus Drittstaaten stammende Familienangehörige, die sich ebenfalls
während fünf Jahren ununterbrochen mit der oder dem Staatsangehörigen eines EU-
Mitgliedstaats rechtmässig in der Schweiz aufgehalten haben.
In Bezug auf das Daueraufenthaltsrecht konnte die Schweiz eine gewichtige Aus-
nahme erzielen. Währenddem das Daueraufenthaltsrecht innerhalb der EU (Art. 16
Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG) allen Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten
sowie ihren Familienangehörigen ungeachtet ihrer Erwerbssituation nach fünfjähri-
gem Aufenthalt zusteht, steht es in den Beziehungen zwischen der Schweiz und der
EU nur Erwerbstätigen sowie ihren Familienangehörigen offen. Zudem werden Peri-
oden vollständiger Sozialhilfeabhängigkeit von sechs Monaten oder mehr nicht für
die Berechnung der Fünfjahresfrist gezählt.
Nach dem neuen Artikel 7
e
FZA erfüllt eine als nicht erwerbstätig geltende Person
die Voraussetzungen für dieses Recht nicht. Dies betrifft beispielsweise Staatsange-
hörige der EU-Mitgliedstaaten, die sich in der Schweiz niederlassen, um zu studieren
oder ihren Ruhestand zu verbringen.
Bei einer vollständigen Sozialhilfeabhängigkeit von sechs Monaten oder mehr kann
die Anrechnung an den für den Daueraufenthalt erforderlichen Zeitraum ausgesetzt
243 / 931
werden (s. Art. 41c Abs. 3 VE-AIG; s. Ziff. 2.3.8.1.1). Dies betrifft beispielsweise
Personen, die während drei Jahren als Arbeitnehmende gelten und dann während ei-
nem Jahr vollständig auf Sozialhilfe angewiesen sind. Um die Voraussetzungen für
den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt zu erfüllen, müssten diese Personen noch
zwei weitere Jahre als Arbeitnehmende vorweisen können.
Während sechs Monate oder länger dauernde Zeiträume der vollständigen Sozialhil-
feabhängigkeit oder ohne Status als Erwerbstätige die Berechnung der Dauer des
rechtmässigen Aufenthalts in der Schweiz von fünf Jahren unterbrechen, ist bei einer
definitiven Ausreise oder bei einer vorübergehenden Abwesenheit für einen längeren
Auslandaufenthalt im Sinne von Artikel 16 Absatz 3 der Richtlinie 2004/38/EG der
Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt ausgeschlossen.
Der Verlust des Rechts auf Daueraufenthalt wird im Übrigen nach anderen Bestim-
mungen der Richtlinie 2004/38/EG geregelt. Diese sehen einen Verlust dieses Rechts
im Falle einer Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat, die zwei aufeinanderfol-
gende Jahre überschreitet (Art. 16 Abs. 4), oder aus Gründen der öffentlichen Ord-
nung oder Sicherheit (Art. 27 Abs. 1 i. V. m. Art. 29 Abs. 2 der Richtli-
nie 2004/38/EG) vor.
Im FZA von 1999 (Art. 4 Anhang I) konnte unter anderem ein Verbleiberecht geltend
gemacht werden, wenn Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten im Zeitpunkt der
Aufgabe ihrer Erwerbstätigkeit das von der schweizerischen Gesetzgebung vorgese-
hene Alter für die Geltendmachung einer Rente erreicht haben, sich während der vo-
rangegangenen drei Jahre ständig in der Schweiz aufgehalten haben, und dort zuletzt
während mindestens zwölf Monaten erwerbstätig waren. Unter der Richtlinie
2004/38/EG heisst das Verbleiberecht nun Daueraufenthaltsrecht (Art. 17). Gemäss
Artikel 17 Absatz 1 lit. a der Richtlinie 2004/38/EG steht Arbeitnehmenden nicht nur
beim Erreichen der für die Geltendmachung einer Altersrente gesetzlich vorgesehenen
Alters ein Daueraufenthaltsrecht zu, sondern auch, wenn sie ihre abhängige Erwerbs-
tätigkeit im Rahmen einer Vorruhestandsregelung beendet haben. Es ist derzeit davon
auszugehen, dass die Vorruhestandsregelung gemäss Richtlinie 2004/38/EG insofern
Auswirkungen haben wird, als dass auch der Vorbezug der Altersrente gemäss Arti-
kel 40 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1946
255
über die Alters- und Hinterlas-
senenversicherung (AHVG) und damit ab dem 63. Altersjahr als Zeitpunkt für die
Geltendmachung eines Daueraufenthaltsrechts herangezogen werden kann.
Artikel 1 Ziffer 6 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 7f des FZA
(Immobilienerwerb)
Seit den frühen 1960er Jahren bedürfen «Personen im Ausland»
256
für den Erwerb
von Grundstücken in der Schweiz grundsätzlich einer Bewilligung, welche strengen
Voraussetzungen unterliegt. Um diese nationale Gesetzgebung beizubehalten, die
255
SR
831.10
256
Siehe Definition in Artikel 5 des Bundesgesetzes über den Erwerb von Grundstücken
durch Personen im Ausland vom 16. Dezember 1983, BewG; SR
211.412.41
.
244 / 931
nicht mit dem EU-Recht und dabei insbesondere dem Grundsatz der Nichtdiskrimi-
nierung vereinbar war, hat die Schweiz an den Verhandlungen zum heute geltenden
FZA eine Ausnahme für den Immobilienerwerb ausgehandelt. Im Sinne eines Kom-
promisses erleichterte die Schweiz damals den Erwerb von Grundstücken durch
Staatsangehörige der EU-Mitgliedsstaaten durch Anpassung des Bundesgesetzes vom
16. Dezember 1983
257
über den Erwerb von Grundstücken durch Personen im Aus-
land (BewG, sogenannte «Lex Koller»), indem Staatsangehörige der EU-
Mitgliedsstaaten, die ein Aufenthaltsrecht und ihren Hauptwohnsitz in der Schweiz
haben, vom Anwendungsbereich des BewG und damit der Bewilligungspflicht aus-
genommen wurden. Im Gegenzug blieb der Kern des BewG durch die Ausnahme ge-
wahrt. Das bedeutet, dass Staatsangehörige der Vertragsparteien beim Immobiliener-
werb nach wie vor nicht generell wie Inländerinnen und Inländer behandelt werden,
sofern sie ihren Hauptwohnsitz nicht im Aufnahmestaat haben. So unterliegt der Er-
werb von Ferien- und Zweitwohnungen nach Artikel 9 BewG durch alle Ausländerin-
nen und Ausländer, so auch durch Staatsangehörige der EU-Mitgliedsstaaten, ohne
Wohnsitz in der Schweiz nach wie vor der Bewilligungspflicht des BewG. Eine Aus-
nahme gilt nur beim Erwerb einer Zweitwohnung durch Grenzgängerinnen und
Grenzgänger für Staatsangehörige von EU/EFTA-Mitgliedsstaaten (Art. 7 Bst. j
BewG). Auch der Immobilienerwerb bzw. -handel durch Personen im Ausland zu rei-
nen Spekulations- oder kurzfristigen Anlagezwecken ist nach wie vor unzulässig
258
.
Hauptgrund für diese Ausnahme bildeten die damaligen Bedenken der Schweiz be-
züglich der Knappheit an eigenem produktivem Land, der sehr hohen ausländischen
Nachfrage nach Immobilien und einem
−
im Vergleich zu verschiedenen EU-
Mitgliedsstaaten
−
viel geringeren Anteil an Wohnbevölkerung mit eigenem Wohn-
eigentum. Diese Bedenken bestehen heute nach wie vor und haben sich aufgrund der
sich zuspitzenden Wohnungsknappheit noch verschärft. Das Änderungsprotokoll zum
FZA übernimmt die bisher geltende Ausnahmeregelung für den Immobilienerwerb
daher inhaltlich unverändert in Artikel 1 Ziffer 6 betreffend Artikel 7
f
des FZA.
Dadurch ist die Schweiz im Bereich des Immobilienerwerbs nicht zur dynamischen
Rechtsübernahme künftiger Rechtsakte der EU verpflichtet und ist die Schweiz in
diesem Bereich ausserdem auch nicht an die Rechtsprechung des EuGH gebunden
259
.
Rein redaktionell bereinigt wird einzig Absatz 3 der Bestimmung, indem entspre-
chend der bereits heute geltenden Rechtslage (Art. 7 und 13 Anhang I FZA von 1999)
und analog zu den Absätzen 1 und 2 klärend ergänzt wird, dass auch Grenzgängerin-
nen und Grenzgänger Staatsangehörige einer Vertragspartei sein müssen.
Gemäss dem heute geltenden Artikel 9 Absatz 6 Anhang I FZA geniessen Arbeitneh-
mende, welche die Staatsangehörigkeit einer Vertragspartei besitzen und im Hoheits-
gebiet der anderen Vertragspartei beschäftigt sind, hinsichtlich einer Wohnung, ein-
schliesslich der Erlangung des Eigentums an der von ihnen benötigten Wohnung,
257
SR
211.412.41
258
Botschaft zur Genehmigung der sektoriellen Abkommen zwischen der Schweiz und der
EG vom 23. Juni 1999, BBl
1999
6128, 6367 ff.
259
Vgl. Artikel 5 Absatz 7 des Institutionellen Protokoll zum Abkommen zwischen der
Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ih-
ren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit.
245 / 931
dieselben Rechte wie die Inländerinnen und Inländer. Dies unter Vorbehalt der Aus-
nahmeregelung über den Immobilienerwerb (Art. 25 Anhang I FZA
260
). Dasselbe gilt
auch für selbstständig Erwerbstätige gemäss Artikel 15 Absatz 2 Anhang I FZA, wo-
nach die Bestimmungen von Artikel 9 Anhang I FZA
mutatis mutandis
auch für
Selbstständige gelten. Nun entspricht Artikel 9 Absatz 6 Anhang I FZA inhaltlich Ar-
tikel 9 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 und wird im Änderungsprotokoll zum FZA
nicht übernommen. Die Ausnahmeregelung zum Immobilienerwerb gilt zwar ohnehin
für alle Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten, die das Recht auf Freizügigkeit in
Anspruch nehmen – unabhängig ob und in welcher Stellung (selbstständig/unselbst-
ständig) sie in der Schweiz erwerbstätig sind. Gleichwohl wird der bisherige Vorbe-
halt zugunsten der Ausnahmeregelung über den Immobilienerwerb künftig in Form
einer «technischen Anpassung» zu Artikel 9 Absatz 1 der Verordnung (EU) Nr.
492/2011 zum Ausdruck gebracht. Für die Gleichbehandlung der Selbstständigen
wird im Änderungsprotokoll zum FZA
mutatis mutandis
auf die Artikel 7-10 der Ver-
ordnung (EU) Nr. 492/2011 verwiesen (Art. 4
b
Abs. 2 Änderungsprotokoll zum
FZA).
Artikel 1 Ziffer 6 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 7g des FZA
(Biometrische Identitätskarten)
Heute stellt die Schweiz Identitätskarten aus, welche über keinen Chip verfügen. Dies
im Gegensatz zu den Schweizer Pässen und biometrischen Ausländerausweisen, wel-
che seit vielen Jahren diese zusätzliche Sicherheit gegen Identitätsmissbrauch bieten.
Mit dem Projekt zur Erneuerung der Identitätskarte 2023 wurde vom EJPD deshalb
vorgesehen, in den kommenden Jahren zusätzlich und wahlweise ein biometrisches
Modell anzubieten.
Die Verordnung (EU) 2019/1157 schreibt vor, dass alle ab 2021 ausgestellten EU-
Personalausweise (Identitätskarten) über einen Chip mit einem digitalen Gesichtsbild
und zwei gespeicherten Fingerabdrücken verfügen müssen und dass Personalaus-
weise, welche diese Sicherheitsanforderung nicht erfüllen, 2031 ungültig werden.
Diese Vorgabe soll mit dem Änderungsprotokoll zum FZA auch für Schweizer Iden-
titätskarten für die Ausübung der Personenfreizügigkeit Pflicht werden.
Mit Artikel 7
g
werden die in der Verordnung (EU) 2019/1157 genannten Fristen für
die Einführung biometrischer Identitätskarten im Sinne einer Ausnahme derogiert. So
erhält die Schweiz nach Inkrafttreten des Änderungsprotokolls zum FZA ein Jahr Zeit,
um biometrische Identitätskarten einzuführen. Zudem bleiben alle bis zu diesem Zeit-
punkt ausgestellten Schweizer Identitätskarten ohne Chip in der EU weiterhin bis zu
ihrem Ablaufdatum gültig (längstens zehn Jahre).
260
Im geltenden Artikel 9 Absatz 6 Anhang I FZA wird irrtümlich auf Artikel 26 anstatt auf
Artikel 25 Anhang I FZA verwiesen. Vgl. Felix Schöbi (2001): Das Abkommen über die
Freizügigkeit der Personen und der Erwerb von Grundstücken in der Schweiz. In: Daniel
Felder / Christine Kaddous (Hrsg.): Accords bilatéraux Suisse – UE (Commentaires) / Bi-
laterale Abkommen Schweiz – EU (Erste Analysen), Collection Dossiers de droit euro-
péen, Dossier de droit européen n° 8. Basel - Bruxelles: Helbing & Lichtenhahn - Bruy-
lant, S. 418.
246 / 931
Artikel 1 Ziffer 6 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 7h des FZA
(Landesverweisung)
a.)
Ausgangslage
Artikel 7
h
(«Expulsion») und die Richtlinie 2004/38/EG (Kapitel VI, Art. 27–33) re-
geln den Schutz von Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten vor Massnahmen der
öffentlichen Ordnung und Sicherheit, einschliesslich der strafrechtlichen Landesver-
weisung. Artikel 7
h
legt auch die Ausnahmen von der Anwendung einiger Bestim-
mungen dieses Kapitels der Richtlinie 2004/38/EG fest.
Im Rahmen der Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU betreffend die
Übernahme der Richtlinie 2004/38/EG, stellte sich unter anderem die Frage zur Ver-
einbarkeit der Artikel 27–33 mit den verfassungsrechtlichen Bestimmungen betref-
fend die Ausschaffung krimineller Ausländerinnen und Ausländer (Art. 121 Abs. 3–
6 BV, s. Ziff. 2.3.10.1.2). Die vertiefte Prüfung der Frage hat gezeigt, dass gewisse
Bestimmungen der Artikel 27–33 der Richtlinie 2004/38/EG in einem Spannungsver-
hältnis zu Artikel 121 Absätze 3–6 BV stehen. Es ist jedoch zu unterschieden zwi-
schen den Spannungen, welche die Übernahme der Richtlinie 2004/38/EG auslösen
würde, weil sie neue, über das FZA hinausgehende Verpflichtungen einführte (Art. 28
Abs. 2 und 3 sowie Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG), und den Spannungen,
an denen auch die Übernahme der Richtlinie 2004/38/EG nichts ändern würde; dies
weil sie Verpflichtungen einführte, die sich bereits aus dem geltenden FZA von 1999
ergeben (Art. 27 und Art. 32 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG).
Der erste Satz von Artikel 7
h
bekräftigt, dass die Parteien übereingekommen sind, die
Verpflichtungen aus dem FZA von 1999 in Bezug auf Beschränkungen der öffentli-
chen Ordnung und Sicherheit aufrechtzuerhalten. Daraus geht hervor, dass das Ände-
rungsprotokoll zum FZA für die Parteien keine neuen Verpflichtungen in Bezug auf
die strafrechtliche Landesverweisung einführt. Dies wird durch Artikel 5 (Ziffer 1 in
Verbindung mit Ziffer 7) des IP-FZA bestätigt, wonach die in Absatz 1 genannte Ver-
pflichtung zur Übernahme nicht für Bestimmungen oder Rechtsakte der EU gelten für
die – wie im Falle der Landesverweisung (Artikel 7
h
) – Ausnahmen bestehen.
b.)
Nicht anwendbare Bestimmungen der Richtlinie 2004/38/EG (Art. 7h zwei-
ter und dritter Satz)
Gemäss dem zweiten Satz von Artikel 7
h
soll Artikel 28 Absätze 2 und 3 der Richtli-
nie 2004/38/EG für die Schweiz nicht gelten. Diese Ausnahme gilt auch für die damit
zusammenhängende Rechtsprechung des EuGH sowie für zukünftige Bestimmungen
in diesem Bereich, d. h. es findet keine dynamische Rechtsübernahme statt.
Artikel 7
h
3. Satz bietet den Vertragsparteien die Möglichkeit, anstelle von Artikel 33
Absatz 2 der Richtlinie 2004/38/EG das EU-Recht, wie es sich aus dem FZA von 1999
ergibt, anzuwenden. Mit dem Verzicht auf die Umsetzung von Artikel 33 Absatz 2
der Richtlinie 2004/38/EG macht die Schweiz von dieser Möglichkeit Gebrauch und
wird die sich aus dem geltenden FZA 1999 ergebenden Verpflichtungen beibehalten.
Denn auch diese Bestimmung der Richtlinie 2004/38/EG verstärkt den Schutz vor
Ausweisungen und schafft eine über das geltende FZA hinausgehende Verpflichtung.
247 / 931
Dies, weil Artikel 33 Absatz 2 der Richtlinie 2004/38/EG verlangt, dass bei einer Aus-
weisungsverfügung, die mehr als zwei Jahre nach ihrem Erlass vollstreckt werden
soll, von Amtes wegen zu überprüfen ist, ob von der Ausweisung betroffene Person
eine gegenwärtige und tatsächliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicher-
heit ausgeht. Zudem ist zu beurteilen, ob seit der Anordnung der Landesverweisung
eine materielle Änderung der Umstände eingetreten ist.
Demgegenüber verpflichtet sich die Schweiz – wie bereits erwähnt – dazu, die sich
aus dem geltenden FZA von 1999 ergebenden Verpflichtungen beizubehalten. Darun-
ter fällt auch das Recht der betroffenen Person, eine Überprüfung des Ausweisungs-
entscheides zu verlangen. Konkret muss die Schweiz – anstelle von Artikel 33 Ab-
satz 2 der Richtlinie 2004/38/EG – weiterhin Artikel 3 der Richtlinie 64/221/EWG
des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25. Februar 1964
261
zur
Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Aus-
ländern, auf die Artikel 5 Anhang I FZA verweist, und die einschlägige Rechtspre-
chung des EuGH (Art. 16 Abs. 2 des FZA von 1999) berücksichtigen, die bis zum
20. Juni 1999 ergangen ist. Obwohl der EuGH kein Urteil erlassen hat, das sich spe-
ziell auf die Überprüfung eines Ausweisungsentscheides vor seiner Vollstreckung be-
zieht, so räumt seine Rechtsprechung vor 1999 der betroffenen Person das Recht auf
Überprüfung ein, wenn innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach dem Auswei-
sungsentscheid eine Änderung der materiellen Umstände geltend gemacht wird
262
.
c.)
Anwendbare Bestimmungen der Richtlinie 2004/38/EG
Abgesehen von diesen Ausnahmen sollen die übrigen Bestimmungen des Kapitels VI
(Art. 27–33) der Richtlinie 2004/38/EG Anwendung finden; dies gilt aus den folgen-
den Gründen auch für die Artikel 27 und 32 Absatz 1 der Richtlinie 2004/38/EG:
Artikel 27 der Richtlinie 2004/38/EG regelt unter anderem die Voraussetzungen, un-
ter denen die Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit von Staatsangehörigen der EU-
Mitgliedstaaten aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit eingeschränkt
werden kann; dies gilt somit auch für Massnahmen zur Ausweisung aus dem Hoheits-
gebiet. Diese Voraussetzungen entsprechen den Vorgaben des geltenden Artikel 5
Anhang I FZA und der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH (Art. 16, Abs. 2 des
FZA von 1999). Artikel 27 der Richtlinie 2004/38/EG schafft demzufolge keine
neuen Verpflichtungen für die Schweiz.
Diese Voraussetzungen stehen jedoch in einem bereits bestehenden Spannungsver-
hältnis zum Wortlaut von Artikel 121 Absätze 3–6 BV, der einen Automatismus bei
der Anordnung einer strafrechtlichen Landesverweisung und eine Mindestdauer von
fünf Jahren (im Wiederholungsfall 20 Jahre) für das im konkreten Fall anzuordnende
261
Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sonder-
vorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen
der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, Abl. 56 vom
04.04.1964, S. 850.
262
EuGH, Urteil vom 18. Mai 1982, Adoui und Cornuaille / Belgischer Staat, 115/81 und
116/81, EU:C:1982:183 und Urteil vom17. Juni 1997, The Queen / Secretary of State for
the Home Department, ex parte Shingara und Radiom, C111/95 und C-111/95,
EU:C:1997:300.
248 / 931
Einreiseverbot vorsieht. Andererseits stehen die Voraussetzungen – zum grossen Teil
– auch in einem Spannungsverhältnis zur Umsetzungsgesetzgebung, welche die im
FZA von 1999 vorgesehene Bedrohungsanalyse, d. h. das Vorliegen einer tatsächli-
chen, gegenwärtigen und erheblichen Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft
berührt, nicht ausreichend berücksichtigt (s. Art. 66
a
ff StGB und Art. 49
a
ff. MStG).
Diese Problematik war bei der Umsetzung der Volksinitiative für die Ausschaffung
krimineller Ausländer (Ausschaffungsinitiative
263
) allerdings bekannt; es wurde be-
wusst in Kauf genommen, und auch transparent kommuniziert, dass die Bestimmun-
gen zur strafrechtlichen Landesverweisung nicht in jeder Hinsicht konform mit dem
geltenden FZA sein könnten
264
. Die Spannungen mit dem bestehenden Recht betref-
fen jedoch hauptsächlich die normative Ebene; das Bundesgericht hat in seiner Recht-
sprechung bislang zwar für den Verzicht auf eine Landesverweisung aufgrund des
FZA (entsprechend dem gesetzgeberischen Willen) eine relativ restriktive Praxis ent-
wickelt, hat aber die völkervertraglich vereinbarten Bestimmungen des FZA bisher
immer beachtet.
Artikel 32 Absatz 1 der Richtlinie 2004/38/EG räumt der von einer Ausweisung be-
troffenen Person das Recht ein, nach einer angemessenen Frist, spätestens jedoch drei
Jahre nach Vollstreckung der Landesverweisung, einen Antrag auf Überprüfung und
Aufhebung des Einreiseverbots zu stellen. Falls sich die Umstände, die zur Landes-
verweisung führten, geändert haben, soll das Einreiseverbot überprüft und gegebe-
nenfalls aufgehoben werden. Darüber hinaus wird den Behörden eine Frist von sechs
Monaten gesetzt, innert der sie über den Antrag entscheiden müssen. Die Pflicht zur
Überprüfung eines Ausweisungsentscheids für den Fall, dass eine materielle Ände-
rung der Umstände seit dem ersten Entscheid eingetreten ist, ist jedoch nicht neu. Sie
ergibt sich bereits aus der Rechtsprechung des EuGH
265
im Sinne von Artikel 16 Ab-
satz 2 des FZA von 1999, die für die Schweiz bereits gilt. Der einzige Unterschied
zum geltenden FZA von 1999 ist, dass Artikel 32 Absatz 1 der Richtlinie 2004/38/EG
die Fristen für die gesuchstellende Person und die Behörden nun klar definiert. Was
die Kriterien zur Überprüfung der Gültigkeit des Einreiseverbots anbelangt, so dürften
sich diese nach Artikel 27 der Richtlinie 2004/38/EG richten (zum bestehenden Span-
nungsverhältnis auf normativer Ebene und der Rechtsprechung der Gerichte s. oben).
Bislang besteht in den Gesetzesbestimmungen betreffend die strafrechtliche Landes-
verweisung keine gesetzliche Grundlage bezüglich einer solchen Überprüfungs- und
Aufhebungsmöglichkeit (s. Art. 66
a
ff. StGB, Art. 49
a
ff. MStG). Da Artikel 32 Ab-
satz 1 der Richtlinie 2004/38/EG – so wie die übrigen Bestimmungen, für die keine
Ausnahme besteht – jedoch direkt anwendbar sein wird, soll, wie bereits im Rahmen
der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative, darauf verzichtet werden, eine explizite
263
Volksinitiative vom 15. Februar 2008 ‘Für die Ausschaffung krimineller Ausländer (Aus-
schaffungsinitiative)’, AS
2011
1199.
264
S. Botschaft des Bundesrates vom 26. Juni 2013 zur Änderung des Strafgesetzbuches und
Militärstrafgesetzes, Umsetzung von Art. 121 Abs. 3–6 BV über die Ausschaffung krimi-
neller Ausländerinnen und Ausländer), BBl
2013
5975 ff., 6056 f. und 6059.
265
EuGH, Urteil vom 18. Mai 1982, Adoui und Cornuaille / Belgischer Staat, 115 und
116/81, EU:C:1982:183 und Urteil vom17. Juni 1997, The Queen / Secretary of State for
the Home Department, ex parte Shingara und Radiom, C111/95 und C-111/95,
EU:C:1997:300.
249 / 931
Überprüfungs- und Aufhebungsmöglichkeit im Gesetz zu verankern; diese Möglich-
keit soll – wie bis anhin – der Rechtsprechung durch die Gerichte überlassen werden.
d.)
Konsequenzen der Rechtsprechung des EuGH nach dem 20. Juni 1999 im
Zusammenhang mit dem „illegalen Aufenthalt“ von Staatsangehörigen der
EU-Mitgliedstaaten
Gemäss Artikel 7 Absatz 2 des IP-FZA verpflichtet sich die Schweiz, vorbehaltlich
ausdrücklich vorgesehener Ausnahmen, die Rechtsprechung des EuGH vor und nach
dem Änderungsprotokoll zum FZA zu beachten. Nach dieser Rechtsprechung kom-
men sämtliche Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten in den Genuss von Kapi-
tel VI der Richtlinie 2004/38/EG allein aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit selbst
dann, wenn sie sich «nicht rechtmässig» im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaa-
tes aufhalten
266
. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts
267
, geniessen Staats-
angehörige der EU-Mitgliedstaaten, die sich nicht auf ein spezifisches, im FZA vor-
gesehenes Aufenthaltsrecht berufen können, allerdings derzeit jedoch nicht den
Schutz von Artikel 5 Anhang I FZA von 1999. Auf Staatsangehörige der EU-
Mitgliedstaaten ohne ein solches Aufenthaltsrecht wird Artikel 66
a
ff. StGB demzu-
folge angewendet, als wären sie Drittstaatenangehörige (ausserhalb des FZA). Die
Bestimmungen von Kapitel VI der Richtlinie 2004/38/EG, die in das FZA übernom-
men wurden, erfordern grundsätzlich eine Änderung dieser Praxis.
Artikel 1 Ziffer 6 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 7i des FZA (Einreise
von Drittstaatsangehörigen)
Dieser Artikel verschiebt die bisherige Regelung des Artikel 1 Absatz 1 Anhang I
FZA, gemäss der von entsandten Arbeitnehmern im Sinne des bisherigen Artikel 17
Anhang I FZA ein Einreisevisum oder ein gleichwertiger Nachweis verlangt werden
darf, wenn sie nicht die Staatsangehörigkeit einer Vertragspartei besitzen, in den
Hauptteil des Abkommens. Dies gilt nicht für entsandte Arbeitnehmende, die bereits
aufgrund von in Anhang I aufgenommenen Rechtsakten oder anderen zwischen den
Vertragsparteien geltenden Instrumenten über ein Einreiserecht verfügen.
Artikel 1 Ziffer 7 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 10 des FZA
(Änderungen bezüglich Mitgliedschaft in der EU)
Dieser Artikel regelt das Verfahren zur Ausdehnung des FZA auf neue EU-
Mitgliedstaaten. Es wird festgehalten, dass jeweils ein Übergangsregime ausgehandelt
werden soll, welches die schrittweise Öffnung des Arbeitsmarkts ermöglicht, wobei
u.a. die Bevölkerungsgrösse und das wirtschaftliche Gefälle berücksichtigt werden
sollen. Die Bestimmungen zu den bisherigen Übergangsregimes mit Kontingenten,
Inländervorrang, vorgängiger Kontrolle der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie der
sogenannten Ventilklausel, welche es der Schweiz erlaubte, bei überdurchschnittlich
266
EuGH, Urteil vom 7. Juni 2007, Kommission / Niederlande, C-50/06, EU:C:2007:325, Rn
14 ff. Es sei darauf hingewiesen, dass dieses Urteil die Richtlinie 64/221/EWG (auf die in
Art. 5 Anhang I FZA von 1999 Bezug genommen wird) betraf, deren Bestimmungen in
Kapitel VI der Richtlinie 2004/38/EG übernommen worden sind.
267
Vgl. insb. BGE
145
IV 55, 145 IV 364 sowie Urteil des Bundesgerichts vom 28. Novem-
ber 2018, 6B_1152/2017.
250 / 931
hoher Zuwanderung aus dem betroffenen neuen EU-Mitgliedstaat für eine befristete
Zeit erneut Kontingente einzuführen, sind mittlerweile ausgelaufen und werden des-
halb aufgehoben. Die Eckwerte dieser Übergangsregimes bleiben jedoch eine Refe-
renz für künftige Übergangsregimes.
Artikel 1 Ziffer 8 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 14 des FZA
(Gemischter Ausschuss)
Im Rahmen des Pakets Schweiz-EU erfolgt, soweit als sinnvoll, eine Vereinheitli-
chung der GA-Bestimmungen in allen betroffenen Abkommen (s. Ziff. 2.1.5.7). Auf-
gabe des Gemischten Ausschusses ist es weiterhin, die ordnungsgemässe Durchfüh-
rung sowie den Informationsfluss unter den Vertragsparteien sicherzustellen. Der GA
des FZA kann zudem weiterhin Empfehlungen aussprechen sowie in den vom Ab-
kommen vorgesehenen Fällen Beschlüsse fassen. Neu sind solche Beschlüsse auch
für die Übernahme neuer Rechtsakte in den Anhang I und nicht nur wie bisher in die
Anhänge II und III (vgl. Art. 18) sowie im Zusammenhang mit der Schutzklausel (vgl.
Art. 14
a
) vorgesehen. Ebenfalls neu ist die Schutzklausel nicht mehr in Artikel 14
Absatz 2 FZA, sondern in einem ausführlichen eigenständigen Artikel 14a FZA gere-
gelt.
Artikel 1 Ziffer 9 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 14a des FZA
(Schutzklausel)
Die bisher in Artikel 14 Absatz 2 FZA verankerte allgemeine Schutzklausel wurde
entsprechend dem Verhandlungsmandat konkretisiert. Neu ist die Schutzklausel in ei-
nem neuen eigenständigen Artikel 14a FZA geregelt. Ausgangssituation ist weiterhin
das Vorliegen von schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen. Neu
wird präzisiert, dass diese Probleme durch die Anwendung des FZA verursacht wer-
den müssen. Die Schutzklausel bezieht sich damit auf das gesamte FZA und alle darin
geregelten Themenbereiche. Liegen schwerwiegende wirtschaftliche oder soziale
Probleme vor, kann der GA des FZA auf Antrag einer Vertragspartei geeignete Mas-
snahmen ergreifen. Findet sich keine Einigung im GA, sieht Artikel 14a FZA neu die
Möglichkeit der Einleitung eines Verfahrens vor dem Schiedsgericht vor, welches
jede Vertragspartei eigenständig initiieren kann. Dabei wird zwischen einem ordentli-
chen und einem dringlichen Verfahren unterschieden.
Im
ordentlichen Verfahren
kann eine Vertragspartei nach 60 Tagen ergebnisloser Dis-
kussion im GA das Schiedsgerichtsverfahren initiieren, falls «schwerwiegende wirt-
schaftliche Probleme» vorliegen. Das Schiedsgericht muss innerhalb von sechs Mo-
naten ab seiner Konstituierung und der Bezeichnung der Schiedsrichter entscheiden
(neuer Art. 14a Abs. 1 bis 3 FZA; s. Ziff. 2.1).
Bei einer «dringlichen Ausnahmesituation mit einem Risiko von sehr schwerem wirt-
schaftlichem Schaden» kann das
dringliche Verfahren
gewählt werden. In diesem Fall
kann eine Vertragspartei das Schiedsgericht bereits nach 30 Tagen ergebnisloser Dis-
kussion im GA anrufen (neuer Art. 14
a
Abs. 4 FZA). Zudem kann für die Dauer des
Schiedsgerichtsverfahrens die vorläufige Anwendung von Schutzmassnahmen beim
Schiedsgericht beantragt werden. Dieses entscheidet nach einer summarischen Prü-
251 / 931
fung (
prima facie
) innert 30 Tagen, ob die Bedingungen für solche Massnahmen er-
füllt sind. Dabei wird Artikel III.10 des Anhangs zum Schiedsgericht
mutatis mutan-
dis
angewendet (s. Ziff. 2.1). Sind die Bedingungen gemäss Schiedsgericht erfüllt,
können vorläufige Schutzmassnahmen angewendet werden (neuer Art. 14a Abs. 5
FZA). Die andere Vertragspartei könnte diesfalls provisorische Ausgleichsmassnah-
men innerhalb des FZA ergreifen, um ein mögliches Ungleichgewicht im Abkommen
zu beheben. Das Schiedsgericht muss den definitiven Entscheid innerhalb von sechs
Monaten ab seiner Konstituierung und der Designation der Schiedsrichter (s. Ziff. 2.1)
treffen.
Kommt das Schiedsgericht zum Schluss, dass die vorgebrachten Probleme tatsächlich
vorliegen und durch die Anwendung des FZA verursacht wurden (
positiver Ent-
scheid
), kann die ersuchende Vertragspartei geeignete Schutzmassnahmen ergreifen.
Falls dadurch ein Ungleichgewicht im Abkommen entstehen würde, könnte die andere
Vertragspartei zum Ausgleich eines allfälligen Ungleichgewichts ihrerseits
Aus-
gleichsmassnahmen
im Rahmen des FZA ergreifen (neuer Art. 14a Abs. 3 FZA).
Die Auslösefaktoren für das Schiedsgerichtsverfahren («
schwerwiegende wirtschaft-
liche Probleme
») unterscheiden sich von der Ausgangssituation für die Diskussion im
GA («schwerwiegende wirtschaftliche oder soziale Probleme», neuer Art. 14a Abs. 1
FZA). Die Begriffswahl trägt dem Umstand Rechnung, dass soziale Probleme grund-
sätzlich mit wirtschaftlichen Indikatoren verbunden sind und daher unter den Begriff
«wirtschaftliche Probleme» subsumiert werden können. Dies ermöglicht auch den
konkreten Nachweis von sozialen Problemen im Schiedsgerichtsverfahren. Für die
Beurteilung von «
schwerwiegenden wirtschaftlichen Problemen
» sind sowohl makro-
als auch mikroökonomische Indikatoren relevant. Dies gilt ebenfalls für den Umstand
des «
Risikos von
sehr schwerem wirtschaftlichem Schaden
», welcher für die vorläu-
fige Anwendung von Schutzmassnahmen im dringlichen Verfahren vorliegen muss.
Droht zum Beispiel einem für eine Region wirtschaftlich bedeutsamen Unternehmen
der Konkurs wegen Lohnunterbietungen von Entsendebetrieben, könnte das Krite-
rium erfüllt sein.
Der
Entscheid des Schiedsgerichts
betrifft einzig das Vorliegen der vorgebrachten
schwerwiegenden Probleme und den Zusammenhang mit der Anwendung des FZA.
Bei einem positiven Entscheid des Schiedsgerichtskann die ersuchende Vertragspartei
eigenständig über die
Art der Massnahmen
entscheiden. Die Schutzmassnahmen und
Ausgleichsmassnahmen müssen sich auf das FZA beschränken und verhältnismässig
sein (neuer Art. 14a Abs. 3 und 5 FZA). Zudem müssen diejenigen Massnahmen be-
vorzugt werden, welche das allgemeine Funktionieren des FZA am wenigsten beein-
trächtigen (vgl. neuer Art. 14a Abs. 6 FZA).
268
Schutzmassnahmen und/oder Aus-
gleichsmassnahmen werden alle drei Monate im GA besprochen (neuer Art. 14a
Abs. 7 FZA). Würde die betroffene Vertragspartei die Schutzmassnahmen oder die
Ausgleichsmassnahmen als unverhältnismässig beurteilen, müsste sie ein ordentliches
Streitbeilegungsverfahren initiieren (s. Ziff. 2.1).
268
Im Gegensatz zu Massnahmen im Streitbeilegungsverfahren, welche in allen Binnenmarkt-
abkommen ergriffen werden können (Ausnahme des Agrarteils der Landwirtschaft, s.
Ziff. 3.1).
252 / 931
Im Rahmen eines Schutzklauselverfahrens kann auch der
EuGH
beigezogen werden.
Der Entscheid, den EuGH zu konsultieren oder nicht, obliegt jedoch in jedem Fall
dem Schiedsgericht. Allgemein kann das Schiedsgericht nur dann den EuGH anrufen,
wenn sich eine Frage in Zusammenhang mit der Interpretation oder Anwendung von
EU-Recht stellt. Der EuGH kann nicht von sich aus in einem Schutzklauselverfahren
intervenieren. Gemäss dem gemeinsamen Verständnis der Verandlungsdelegationen
sind die Auslösesituationen im Schutzklauselverfahren keine Begriffe des EU-Rechts.
In einem dringlichen Schutzklauselverfahren muss das Schiedsgericht zudem in je-
dem Fall innert 30 Tagen einen Entscheid betreffend die allfällige vorläufige Anwen-
dung von Schutzmassnahmen treffen. Diese Frist schliesst eine Beizug des EuGH
de
facto
aus (Art. III.10 des Anhangs zum Schiedsgericht, s. Ziff. 2.1).
Die Bestimmungen in Artikel 14a FZA belassen einen Spielraum für die innerstaatli-
che Umsetzung. In der innerstaatlichen Umsetzung im AIG werden die Voraussetzun-
gen und Kompetenzen für die Auslösung der Schutzklausel sowie für das Ergreifen
allfälliger Schutzmassnahmen weiter konkretisiert und festgelegt (Art. 21
b
VE-AIG;
s. Ziff. 2.3.8.1.1).
Trifft das Schiedsgericht einen
negativen Entscheid,
endet das Schutzklauselverfah-
ren nach dem neuen Artikel 14a FZA. Der ersuchenden Vertragspartei steht es offen,
trotzdem Schutzmassnahmen zu ergreifen, im Falle der Schweiz entsprechend der er-
gänzenden innerstaatlichen Umsetzung im AIG. Im AIG ist auf Stufe Bundesgesetz
verankert, dass Schutzmassnahmen auch dann möglich sind, wenn ein Schiedsspruch
vorliegt, der festhält, dass die Voraussetzungen für Schutzmassnahmen nicht erfüllt
sind (s. Ziff. 2.3.8.1.1). Der Gesetzgeber schafft dort bewusst die Möglichkeit, unter
Inkaufnahme der staatsvertraglichen Konsequenzen (allfällige Ausgleichsmassnah-
men der EU im Rahmen der Streitbeilegung) vom FZA abzuweichen. Wäre die EU
nämlich der Ansicht, dass diese Schutzmassnahmen der Schweiz, die sie entgegen
dem Schiedsgerichtsurteil fällt, das FZA verletzen, müsste sie ein ordentliches Streit-
beilegungsverfahren wegen einer Vertragsverletzung initiieren (s. Ziff. 2.1).
Artikel 1 Ziffer 10 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 18 des FZA (Revision)
Artikel 18 des FZA wurde durch einen neuen Artikel 18 ersetzt. Die Revisionsverfah-
ren für alle Binnenmarktabkommen wurden vereinheitlicht.
Artikel 1 Ziffer 11 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 21 des FZA
(Beziehung zu Steuerabkommen)
Die rein formalen Änderungen der Bestimmung dienen lediglich dazu, diese an den
aktuellen internationalen Steuerkontext anzupassen. Diese Änderungen, insbesondere
jene im Artikel 21 Absatz 2 des FZA, haben keine Auswirkungen auf den materiellen
Geltungsbereich der Bestimmung.
Artikel 1 Ziffer 12 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 23a des FZA
(Gültigkeit von Aufenthaltserlaubnissen und anderen Sonderbescheinigungen)
Die gestützt auf das FZA von 1999 ausgestellten Aufenthaltsbewilligungen B, Kurz-
aufenthaltsbewilligungen L sowie Grenzgängerbewilligungen G behalten auch nach
253 / 931
Inkrafttreten des Änderungsprotokolls zum FZA ihre Gültigkeiten. Erst nach Ablauf
des auf der jeweiligen Bewilligung eingetragenen Gültigkeitsdatums werden die Be-
willigungen umbenannt und mit einem neuen Aufenthaltstitel beziehungsweise Son-
derbescheinigung für Grenzgängerinnen und Grenzgänger ersetzt, sofern die Bedin-
gungen für einen legalen Status beispielsweise als erwerbstätige oder nicht-
erwerbstätige Person oder als Grenzgängerin oder Grenzgänger weiterhin erfüllt sind.
Artikel 1 Ziffer 12 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 23b des FZA
(Übergangsregelungen)
Die Richtlinie 2004/38/EG wird erst nach einer Übergangsfrist von zwei Jahren nach
Inkrafttreten des Änderungsprotokolls zum FZA zur Anwendung kommen. Damit hat
sich die Schweiz dieselbe Umsetzungsfrist ausbedungen, wie dannzumal die EU-
Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG hatten. Kohärenterweise
kommen auch diejenigen Artikel des Abkommens, welche Bestimmungen der Richt-
linie 2004/38/EG präzisieren oder Ausnahmen von derselben vorsehen, erst nach Ab-
lauf dieser Umsetzungsfrist zur Anwendung. Auch die Richtlinie 2014/54/EU über
Massnahmen zur Erleichterung der Ausübung der Rechte, die Arbeitnehmenden im
Rahmen der Freizügigkeit zustehen
269
, kommt erst nach einer Übergangsfrist von
zwei Jahren zur Anwendung. Die übrigen Bestimmungen des aufdatierten FZA ent-
falten ihre Wirkung ab Inkrafttreten des Änderungsprotokolls, darunter auch die im
neuen Anhang I referenzierten EU-Rechtsakte.
Sowohl für die Umsetzung der Richtlinien 96/71/EG, in der durch die Richtlinie (EU)
2018/957 geänderten Fassung und die Richtlinie 2014/67/EU, die Anwendung der
Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 sowie das Inkrafttreten der Ausnahmen von der dy-
namischen Rechtsübernahme nach den Artikeln 5
g
, 5
h
, und 5
i
haben die Schweiz und
die EU durch das Änderungsprotokoll zum FZA in Artikel 23
b
Absatz 2 eine Über-
gangsfrist von 36 Monaten nach Inkrafttreten des Änderungsprotokolls vereinbart.
Die Übergangsfrist gilt auch für Artikel 5f Absatz 2. Während den Übergangsfristen
gelten weiterhin die Bestimmungen Artikel 5 Absatz 4, Artikel 16, sowie Artikel 22
Absatz 2 von Anhang I des Abkommens in seiner Fassung vor Inkrafttreten des Än-
derungsprotokolls. Für die Non-Regression Klausel gelangt keine Übergangsfrist zur
Anwendung.
Artikel 1 Ziffer 13 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 24 des FZA
(Räumlicher Geltungsbereich)
Artikel 24 im FZA wurde durch einen neuen Artikel 24 ersetzt, welcher die Bezeich-
nung «Europäische Gemeinschaft» durch «Europäische Union» ersetzt. Inhaltlich
bleibt die Bestimmung unverändert.
269
Richtlinie 2014/54/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014
über Massnahmen zur Erleichterung der Ausübung der Rechte, die Arbeitnehmern im Rah-
men der Freizügigkeit zustehen, ABl. L 128 vom 30.4.2014, S. 8–14.
254 / 931
2.3.6.2.3
Anhang I des Änderungsprotokolls betreffend Anhang I des
FZA (Zuwanderung und Lohnschutz)
Im neuen Anhang I sind der zu übernehmende einschlägige
Acquis
sowie die techni-
schen Anpassungen aufgeführt, die für einen jeweiligen Rechtsakt präzisieren, wie
gewisse Bestimmungen auf die Schweiz anzuwenden sind. Aus Gründen der Klarheit
haben die Schweiz und die EU für fast alle Ausnahmen und Absicherungen technische
Anpassungen vorgenommen. Schliesslich haben die Schweiz und die EU in Anhang I
technische Anpassungen für die ausgehandelten Übergangszeiträume vorgenommen.
Die Bestimmungen von Abschnitt 1 Anhang I gelten für alle drei Anhänge. Im ersten
Absatz wird darauf hingewiesen, dass die Pflicht zur dynamischen Rechtsübernahme
gemäss den Bestimmungen des IP-FZA auch für die Anhänge gilt (s. Ziff. 2.1.5.2.2).
Sofern in technischen Anpassungen nichts anderes bestimmt ist, gelten gemäss Ab-
satz 2 die Rechte und Pflichten der EU-Mitgliedstaaten, die in den in den Anhängen
aufgeführten EU-Rechtsakten vorgesehen sind, auch für die Schweiz, unter Einhal-
tung des Institutionellen Protokolls (s. Ziff. 2.1.5.7). Damit wird sichergestellt, dass
die Schweiz die gleichen Rechte wie die EU-Mitgliedstaaten hat und nicht als «Dritt-
staat» schlechter gestellt werden kann. Der dritte Absatz regelt die Auskunfts- und
Informationspflichten gegenüber den in den Rechtsakten aufgeführten europäischen
Institutionen. Geht es dabei um Informationen zur Überwachung oder Anwendung
dieser Rechtsakte, sind diese Verpflichtungen nicht als solche auf die Schweiz an-
wendbar. Informationen, die sich nicht auf die Überwachung oder Anwendung bezie-
hen, beispielsweise Statistiken oder technische Informationen zum Austausch zwi-
schen den zuständigen Behörden, werden von der Schweiz direkt an die Europäische
Kommission übermittelt.
Die Teilnahme am EURES ergibt sich aus der Übernahme der Verordnung (EU)
2016/589. Die Schweiz verpflichtet sich nach Artikel 1 des Anhangs zum IP-FZA be-
treffend die Anwendung von Artikel 13 dieses Protokolls zu einem finanziellen Bei-
trag am EURES. Der Mechanismus, welcher in Artikel 13 des IP-FZA festgelegt wird,
ist in Ziffer 2.3.9.1.1 genauer beschrieben.
Im Entsendebereich werden die Richtlinien 96/71/EG, und 2014/67/EU mit techni-
schen Anpassungen und einer Übergangsfrist von drei Jahren übernommen.
Die Teilnahme als Drittstaat am IMI im Bereich Entsendungen wird durch das Ände-
rungsprotokoll in Anhang I des FZA geregelt, indem für die Schweiz die Verordnung
(EU) Nr. 1024/2012 (IMI-Verordnung) zur Anwendung gelangt. Die Schweiz ver-
pflichtet sich nach Artikel 1 des Anhangs zum IP-FZA betreffend die Anwendung von
Artikel 13 dieses Protokolls zu einem finanziellen Beitrag am IMI. Der Mechanismus,
welcher in Artikel 13 des IP-FZA festgelegt wird, ist in Ziffer 2.3.9.1.1 genauer be-
schrieben. Der Geltungsbereich ist aus einer technischen Anpassung zur Verordnung
(EU) Nr. 1024/2012 ersichtlich. Die Teilnahme am IMI im Bereich Entsendungen
ermöglicht es, Informationen zu Entsendebetrieben mit den zuständigen Behörden der
EU-Mitgliedstaaten auszutauschen und Verwaltungssanktionen grenzüberschreitend
zu vollstrecken. Nebst Bund und Kantonen erhalten auch die Paritätischen Kommis-
sionen von allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträgen Zugang zum Be-
reich Entsendungen des IMI. Sie werden Informationen mit den zuständigen Behör-
den der EU-Mitgliedstaaten austauschen können. Da die Möglichkeiten von IMI zur
255 / 931
grenzüberschreitenden Vollstreckung auf Verwaltungssanktionen beschränkt sind,
werden die Paritätischen Kommissionen IMI nicht für die grenzüberschreitende Voll-
streckung ihrer zivilrechtlichen Sanktionen nutzen. Zudem ist für die Teilnahme am
IMI im Bereich Entsendungen eine Übergangsfrist von drei Jahren ab Inkrafttreten
des Pakets (Schweiz–EU) vorgesehen. Diese Übergangsfrist ist ebenfalls über eine
technische Anpassung geregelt und abgestimmt auf die Übergangsfrist zur Umsetzung
der Richtlinien 96/71/EG und 2014/67/EU.
2.3.6.2.4
Anhang II des Änderungsprotokolls betreffend Anhang II
des FZA (Koordinierung der Systeme der sozialen
Sicherheit)
Anhang II, II. Sektorielle Anpassungen, Ziffer 1: Ausnahmen von der dynamischen
Rechtsübernahme
Von den bestehenden speziellen Regelungen und Vorbehalten der Schweiz in An-
hang II FZA von 1999 konnten die wichtigsten von der dynamischen Rechtsüber-
nahme ausgeschlossen werden. Diese Ausnahmen sind somit dauerhaft als solche ab-
gesichert. Sie sind auch in Artikel 5 Absatz 7 des IP-FZA explizit erwähnt.
Die einzelnen Punkte betreffen abweichende Regelungen der Schweiz, die gemäss
den Koordinierungsverordnungen der EU vorgesehen und erlaubt sind, sowie eine ei-
genständige Ausnahme für die Hilflosenentschädigungen.
Die Schweiz ist somit nicht verpflichtet, künftig neue Regelungen der EU in An-
hang II FZA zu übernehmen, wenn sie folgende Bereiche betreffen:
a)
Ausschluss der kantonalen Rechtsvorschriften betreffend die Unterhaltsvor-
schüsse (Alimentenbevorschussung) von der Koordinierung der sozialen Sicherheit:
Diese Leistungen müssen nicht mit analogen Leistungen aus anderen Ländern koor-
diniert und nicht exportiert werden.
b)
Ausschluss der Ergänzungsleistungen und vergleichbarer kantonaler Leis-
tungen vom Export: Die Schweiz konnte diese Leistungen seit Inkrafttreten des FZA
von 1999 als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen vom Export ausnehmen.
c)
Ausschluss der kantonalen beitragsunabhängigen Mischleistungen bei Ar-
beitslosigkeit vom Export: Diese Leistungen sind ebenfalls seit Inkrafttreten des FZA
als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen vom Export ausgenommen.
d)
Der Beitritt zur freiwilligen AHV für Personen, die ausserhalb der Schweiz
und der EU wohnen, ist erst nach einer ununterbrochenen Versicherungszeit in der
AHV/IV von fünf Jahren möglich. Ausländische Versicherungszeiten müssen für die
Erfüllung dieser Vorversicherungszeit nicht angerechnet werden.
e)
Die Weiterversicherung in der obligatorischen AHV/IV von Personen, die
ausserhalb der Schweiz und der EU für einen Arbeitgeber in der Schweiz arbeiten, ist
erst nach einer ununterbrochenen Versicherungszeit in der AHV/IV von fünf Jahren
möglich. Ausländische Versicherungszeiten müssen für die Erfüllung dieser Vorver-
sicherungszeit nicht angerechnet werden.
f)
Ausschluss der Hilflosenentschädigung der AHV und der IV vom Export:
Bei Inkrafttreten des FZA von 1999 konnte die Schweiz Hilflosenentschädigungen als
256 / 931
besondere beitragsunabhängige Geldleistungen vom Export ausnehmen. Die Recht-
sprechung hat in der Zwischenzeit solche Leistungen auf europäischer Ebene als ex-
portierbar qualifiziert. Trotzdem konnte die Schweiz ihre Ausnahme als politische
Ausnahme aufrechterhalten.
Anhang II, II. Sektorielle Anpassungen, Abschnitt B Wahrung von
Zusatzrentenansprüchen - Rechtsakte, auf die Bezug genommen wird, Ziffer 2
Teil des zu übernehmenden EU-
Acquis
ist die Richtlinie 2014/50/EU. Diese Richtli-
nie gilt für Zusatzrentensysteme mit Ausnahme der unter die Verordnung (EG)
Nr. 883/2004 fallenden Systeme. Ihre Anwendung auf die Schweiz hätte faktisch ein
Verbot der Barauszahlung der Austrittsleistung der weitergehenden Beruflichen Vor-
sorge (Überobligatorium) nach Ausreise in einen EU-Mitgliedstaat zur Folge (siehe
Ziff. 2.3.5.2.2).
Die Schweiz konnte erreichen, dass die weitergehende berufliche Vorsorge als Teil
des gesetzlichen Rentenversicherungssystems den Koordinierungsregeln der Verord-
nung (EG) Nr. 883/2004 unterstellt wird und damit die gleichen Regeln gelten wie für
die Minimalvorsorge gemäss dem Bundesgesetz vom 25. Juni 1982
270
über die beruf-
liche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG). So gilt für die weiterge-
hende Vorsorge ebenfalls kein Verbot, sondern nur eine Einschränkung der Baraus-
zahlung der Austrittsleistung, d.h. die Barauszahlung bei Verlassen der Schweiz ist
wie bei
der Minimalvorsorge nicht mehr möglich, solange eine Person in einem EU-
Mitgliedstaat der obligatorischen Rentenversicherung unterliegt.
Für die Umsetzung der Richtlinie 2014/50/EU und die Anwendung der Verordnung
(EG) Nr. 883/2004 auf die weitergehende berufliche Vorsorge ist eine Übergangsfrist
von vier Jahren vorgesehen, wie sie bei Inkrafttreten der Richtlinie auch den EU-
Mitgliedstaaten für deren Umsetzung zustand. Bezüglich Umsetzung der Richtlinie
2014/50/EU hat die EU akzeptiert, dass die schweizerische Regelung zur weiterge-
henden Vorsorge der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 unterstellt und damit vom Gel-
tungsbereich der Richtlinie 2014/50/EU ausgenommen wird.
Weitere in den Anhang II FZA integrierte Rechtsakte sind von geringer Tragweite. Es
handelt sich um Kommissionsverordnungen betreffend technische Änderungen, die
vorab Aktualisierungen der Anhänge zu den Koordinierungsverordnungen beinhalten.
Die neu aufgenommenen Beschlüsse und Empfehlungen haben auslegenden Charak-
ter. Sie bezwecken die Präzisierung der Anwendung der Koordinierungsregeln.
Protokoll I und II zu Anhang II FZA
Die bisherige Übergangsbestimmung betreffend die berufliche Vorsorge in Ziffer III
von Protokoll I wurde gestrichen. Die fünfjährige Übergangsfrist galt beim Inkrafttre-
ten des FZA und hat infolge Zeitablaufs ihre Bedeutung verloren.
In der neuen Ziffer III von Protokoll I wird die vierjährige Übergangsfrist für die Un-
terstellung der weitergehenden beruflichen Vorsorge unter die Verordnung (EG)
Nr. 883/2004 geregelt.
270
SR
831.40
257 / 931
Das Protokoll II zu Anhang II FZA wird unverändert übernommen.
Finanzielle Beiträge
Die Schweiz beteiligte sich bereits bisher an dem von der EU eingerichteten System
zum elektronischen Austausch von Sozialversicherungsdaten (EESSI - Electronic
Exchange of Social Security Information). Neu verpflichtet sich die Schweiz nach
Artikel 1 des Anhangs zum IP-FZA betreffend die Anwendung von Artikel 13 dieses
Protokolls dazu, einen finanziellen Beitrag an dieses System zu leisten. Der Mecha-
nismus, welcher in Artikel 13 des IP-FZA festgelegt wird, ist in Ziffer 2.3.9.1.1 ge-
nauer beschrieben.
Die Schweiz nimmt ebenfalls bereits am gegenseitigen Informationssystem für sozi-
ale Sicherheit (MISSOC - Mutual Information System on Social Protection) teil. Der
finanzielle Beitrag beruht auf einer separaten Vereinbarung mit dem MISSOC-
Sekretariat. Artikel 13 des IP-FZA ist auf diesen Beitrag nicht anwendbar (vgl. Art. 4
des Anhangs zum IP-FZA betreffend die Anwendung von Art. 13 dieses Protokolls).
2.3.6.2.5
Anhang III des Änderungsprotokolls betreffend Anhang III
des FZA (Anerkennung von Berufsqualifikationen)
Der Anhang III FZA verweist auf eine Reihe von Rechtsakten des EU-Rechts, von
denen die meisten zwischen der Schweiz und der EU bereits in Kraft sind. Dies betrifft
in erster Linie die Richtlinie 2005/36/EG, welche die Schweiz seit 2011 anwendet.
Der
Acquis
, den das Änderungsprotokoll zum FZA übernimmt, betrifft Rechtsakte,
die neu im Anhang III FZA integriert werden. Diese werden im Folgenden aufgeführt.
Die Richtlinie 2013/55/EU
271
ändert und modernisiert die Richtlinie 2005/36/EG. Sie
führt wesentliche materielle Anpassungen ein, wie die Zusammenarbeit im IMI, den
Europäischen Berufsausweis, den Vorwarnmechanismus und die gemeinsamen Aus-
bildungsgrundsätze. Sie vereinfacht, verbessert und reduziert die notwendigen Ver-
fahrensschritte bei der Anerkennung von Berufsqualifikationen.
Die Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 regelt die Teilnahme der Schweiz am IMI als
Drittstaat und die Modalitäten der Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe von IMI,
insbesondere die Bearbeitung besonders schützenswerter Daten. In diesem Bereich
hat die Schweiz mehrere technische Anpassungen vorgenommen. Insbesondere soll
das Schweizer Recht an persönlichen Daten angewendet werden. Gemäss Artikel 1
des Anhangs des IP-FZA verpflichtet sich die Schweiz zu einem finanziellen Beitrag.
Der Mechanismus, welcher in Artikel 13 des IP-FZA festgelegt wird, wird in Ziffer
2.3.9.1.1 genauer beschrieben.
Der
Europäische Berufsausweis
«
European Professional Card
» (EPC) ist eine Be-
scheinigung in Form eines elektronischen Zertifikats. Ein EPC-Zertifikat belegt, dass
271
Richtlinie 2013/55/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. November
2013 zur Änderung der Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifika-
tionen und der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit
Hilfe des Binnenmarkt-Informationssystems („IMI-Verordnung“), in der Fassung gemäss
Anhang III, 2. Abschnitt des Änderungsprotokolls zum FZA.
258 / 931
für die berufstätige Person im Herkunfts- und Aufnahmestaat keinerlei Einschränkun-
gen bestehen. Es gilt als Nachweis, dass Berufsleute sämtliche notwendigen Voraus-
setzungen hinsichtlich der Berufsqualifikationen – zum Zwecke einer vorübergehen-
den Dienstleistungserbringung oder der Niederlassung in einem Aufnahmestaat –
erfüllt haben. Das elektronische EPC-Verfahren ist aktuell für insgesamt 5 Berufe
(Pflegefachpersonen für allgemeine Pflege, Bergführerinnen und Bergführer, Immo-
bilienmaklerinnen und -makler, Physiotherapeutinnen und -therapeuten sowie Dip-
lome als Apothekerinnen und Apotheker) möglich.
Die Berufsangehörigen können wählen, ob sie einen Antrag über das EPC-Verfahren
einreichen oder das herkömmliche Anerkennungsverfahren nutzen wollen. Es bietet
den Berufsangehörigen eine zusätzliche Möglichkeit und wird folglich auch Schwei-
zer Staatsangehörigen erlauben, die Anerkennung ihrer Abschlüsse elektronisch zu
beantragen. Die Bestimmungen über die Modalitäten der Berufsausübung und insbe-
sondere zu dem Erfordernis von Sprachkenntnissen sind in der geänderten Richtlinie
2005/36/EG präzisiert. Es ist explizit vorgesehen, dass für gewisse berufliche Tätig-
keiten Sprachkenntnisse in einer Amtssprache verlangt werden können. Dies gilt für
Berufe mit Auswirkungen auf die Patientensicherheit oder, wenn erhebliche und kon-
krete Zweifel daran bestehen, dass die betroffene Person für die berufliche Tätigkeit,
die sie auszuüben beabsichtigt, über ausreichende Sprachkenntnisse verfügt. Es han-
delt sich um eine Anpassung, die bereits weitgehend der bestehenden Praxis der Be-
hörden entspricht. Der Grundsatz, Sprachkenntnisse überprüfen zu dürfen, wird bei-
behalten, sodass die Patientensicherheit auch in Zukunft gewährleistet ist.
Der Vorwarnmechanismus ermöglicht die elektronische Übermittlung via IMI in
Echtzeit, wenn es betreffend die Ausübung eines reglementierten Berufs bei einer Per-
son zu einem Verbot oder einer Beschränkung kommt. Konkret werden Informationen
über die Identität von Berufsangehörigen, denen von Behörden oder Gerichten im Ge-
sundheitswesen oder im Bereich der Erziehung Minderjähriger, einschliesslich Kin-
derbetreuung in Einrichtungen und frühkindliche Erziehung, die Ausübung berufli-
cher Tätigkeiten ganz oder teilweise – auch vorübergehend – verboten worden ist oder
diesbezügliche Beschränkungen auferlegt worden sind, ausgetauscht. Durch die War-
nung soll verhindert werden, dass Berufsangehörige, gegen die eine Sanktion (z. B.
wegen medizinischer Fehler, pädophiler Handlungen oder anderer sexueller Über-
griffe) vorliegt, die Einschränkung oder das Verbot der Berufsausübung im Her-
kunftsstaat umgehen, indem sie die Anerkennung in einem anderen Staat beantragen.
Betroffen sind die Berufsgruppen, die in Artikel 56
a
Absatz 1 der geänderten Richt-
linie 2005/36/EG aufgelistet sind: Das sind insbesondere die sektoralen Berufe (Ärz-
tinnen und Ärzte, Zahnärztinnen und Zahnärzte, Tierärztinnen und Tierärzte, Apothe-
kerinnen und Apotheker, Pflegefachpersonen für allgemeine Pflege und Hebammen)
sowie weitere Berufsangehörige, deren Berufsausübung Auswirkungen auf die Pati-
entensicherheit hat. Der Vorwarnmechanismus gilt auch für die übrigen vom Gel-
tungsbereich des Gesundheitsberufegesetzes vom 30. September 2016
272
(GesBG) er-
fassten
Berufe,
die
Chiropraktorinnen
und
Chiropraktoren
nach
272
SR
811.21
259 / 931
Medizinalberufegesetz vom 23. Juni 2006
273
(MedBG) sowie die Angehörigen der
Psychologieberufe nach dem Psychologieberufegesetz vom 18. März 2011
274
(Psy-
chologinnen und Psychologen sowie Psychotherapeutinnen und -therapeuten). Dar-
über hinaus zählen auch die Berufsangehörigen dazu, die reglementierte Berufe aus-
üben,
die
Auswirkungen
auf
die
Patientensicherheit
haben
(z. B.
Dentalhygienikerinnen und Dentalhygieniker, med. Masseurinnen und Masseure,
Fachfrau/Fachmann Gesundheit, Podologinnen und Podologen). Ebenso gilt der Vor-
warnmechanismus für die Berufsangehörigen, die Tätigkeiten im Bereich der Erzie-
hung Minderjähriger, einschliesslich in der Kinderbetreuung in Einrichtungen und in
der frühkindlichen Erziehung, ausüben. Es handelt sich namentlich um die Berufe
Fachfrau/Fachmann Betreuung (Kinderbetreuung), Sozialpädagoginnen und -pädago-
gen, Sozialarbeiterinnen und -arbeiter, Kinder- und Jugendpsychologinnen und -
psychologen sowie Kinder- und Jugendpsychotherapeutinnen und -therapeuten. Im
schulischen Bereich betrifft es insbesondere die Lehrpersonen (Kindergarten, Primar-
stufe, Sekundarstufe I, Maturitätsschulen), die Schulleiterinnen und -leiter sowie die
sonderpädagogischen Fachpersonen (heilpädagogische Früherziehung, schulische
Heilpädagogik, Logopädie und Psychomotoriktherapie).
Bei Fälschungen von Berufsqualifikationsnachweisen erfolgt via IMI eine Warnung,
indem Informationen über die Identität von Berufsangehörigen ausgetauscht werden.
Es handelt sich dabei um Personen, welche die Anerkennung von Berufsqualifikatio-
nen beantragt haben und bei denen später gerichtlich (im Rahmen eines Strafverfah-
rens) festgestellt wurde, dass sie dabei gefälschte Berufsqualifikationen verwendet
haben. Gemäss Artikel 56
a
Absatz 3 der geänderten Richtlinie 2005/36/EG muss die
Warnung im IMI spätestens drei Tage nach Annahme der Gerichtsentscheidung, d. h.
nach Zustellung des Strafurteils, erfolgen.
Gemeinsame Ausbildungsgrundsätze sollen bei der Anerkennung von Berufsqualifi-
kationen für einen stärkeren Automatismus sorgen. Dafür bestehen zwei Instrumente:
der gemeinsame Ausbildungsrahmen und die gemeinsamen Ausbildungsprüfungen.
Sie verfolgen den Zweck, das System der automatischen Anerkennung auf weitere
Berufe auszudehnen. Dies soll gestützt auf EU-weite harmonisierte Mindestanforde-
rungen an die Ausbildungsgänge erfolgen. Derzeit gibt es nur eine gemeinsame Aus-
bildungsprüfung für Skilehrerinnen und Skilehrer. Die Schweiz kann frei entscheiden,
ob sie an dieser Prüfung teilnehmen oder das derzeitige Anerkennungssystem beibe-
halten möchte, das auf einem Vergleich der Ausbildungen und Ausgleichsmassnah-
men beruht.
Die Durchführung von Verhältnismässigkeitsprüfungen ist im Abkommen vor der
Annahme neuer Berufsreglementierungen oder der Änderung bestehender Berufsreg-
lementierungen vorgesehen. Sie soll ungerechtfertigte Beschränkungen des Zugangs
zu beruflichen Tätigkeiten oder ihrer Ausübung verbieten und die Transparenz und
das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes gewährleisten. Die Gründe für die
Verhältnismässigkeit müssen im IMI festgehalten und der Öffentlichkeit zugänglich
gemacht werden. Der Bund und vor allem die Kantone sind von der Umsetzung dieser
273
SR
811.11
274
SR
935.81
260 / 931
Richtlinie betroffen, da sie in der Regel für die Reglementierung von Berufen zustän-
dig sind.
Ausserdem enthält die Richtlinie 2013/55/EU zahlreiche Änderungen, die grössten-
teils technischer oder terminologischer Art sind:
–
Die Gewährung des partiellen Zugangs: Grundsatz, der gemäss Rechtspre-
chung des EuGH bereits gilt und von der Schweiz seit Jahren angewendet
wird (z. B. Anerkennung von Lehrpersonen, die nur ein Fach unterrichten,
d. h. Monofachlehrkräfte).
–
Die Möglichkeit, die Ausbildungsdauer nicht nur wie bisher in Jahren, son-
dern neu auch in ECTS-Punkten auszudrücken.
–
Die Aufhebung der Möglichkeit, nicht auf ein Gesuch einzugehen, wenn
sich der ausländische Abschluss gemäss Zuordnung in Artikel 11 der Richt-
linie 2005/36/EG um mehr als ein Ausbildungsniveau unterscheidet (vgl.
neuer Art. 13 Abs. 1 der geänderten Richtlinie 2005/36/EG).
–
Die Anpassung von Titel II der Richtlinie 2005/36/EG (Dienstleistungsfrei-
heit): Die Richtlinie 2013/55 sieht vor, dass der EU anzugeben ist, für wel-
che Berufe eine Nachprüfung der Berufsqualifikationen vorgesehen ist
(Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie). Der Umfang der Nachweise, die von Berufs-
angehörigen verlangt werden können, wurde erweitert, namentlich in Bezug
auf die Sprachkenntnisse bei Berufen, welche die Patientensicherheit tan-
gieren. Die Dienstleistung soll neu ab Einreichung der Meldung der Dienst-
leistungserbringenden und nicht mehr ab einer behördlichen Mitteilung
stattfinden.
–
Das generelle System (Vergleich der Ausbildungen mit Ausgleichsmass-
nahmen) wird breiter und systematischer angewendet. Es soll subsidiär zur
Anwendung kommen, wenn kein günstigeres Anerkennungssystem (z. B.
eine automatische Anerkennung) möglich ist. Das betrifft vor allem medi-
zinische Weiterbildungen, die nicht im Anhang V der Richtlinie
2005/36/EG aufgeführt sind.
Die Durchführungsverordnung (EU) 2015/983
275
regelt das Verfahren zur Ausstel-
lung des Europäischen Berufsausweises und die Anwendung des Vorwarnmechanis-
mus.
275
Durchführungsverordnung (EU) 2015/983 der Kommission vom 24. Juni 2015 betreffend
das Verfahren zur Ausstellung des Europäischen Berufsausweises und die Anwendung des
Vorwarnmechanismus gemäss der Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments
und des Rates, in der Fassung gemäss Anhang III, 2. Abschnitt des Änderungsprotokolls
zum FZA.
261 / 931
Die Richtlinie (EU) 2018/958
276
regelt die Modalitäten der Verhältnismässigkeitsprü-
fung vor Erlass neuer Berufsreglementierungen für sämtliche Behörden, die eine Tä-
tigkeit reglementieren, sei es auf Bundes-, Kantons- oder Gemeindeebene. Diese
Richtlinie ist unmittelbar anwendbar und muss bei jeder neuen Reglementierung oder
Anpassung existierender Reglementierungen angewendet werden.
Die delegierte Verordnung (EU) 2019/907
277
legt eine gemeinsame Ausbildungsprü-
fung für Skilehrerinnen und Skilehrer gemäss Artikel 49b der Richtlinie 2005/36/EG
fest. Die Übernahme dieser Verordnung verpflichtet nicht zur Teilnahme an dieser
Prüfung; die Schweiz ist frei, an der Prüfung teilzunehmen oder nicht. Hat sie ein
Interesse daran, wird ein Entscheid des GA nötig sein.
Der Durchführungsbeschluss (EU) 2023/423
278
unterstützt ein Pilotprojekt zur Um-
setzung der Bestimmungen über die Verwaltungszusammenarbeit in Bezug auf regle-
mentierte Berufe gemäss den Richtlinien 2005/36/EG und 2018/958 mithilfe von IMI
und zur Integration der Datenbank reglementierter Berufe in dieses System.
Die delegierte Richtlinie (EU) 2024/782
279
ändert die Mindestanforderungen an die
Ausbildung der Berufe der Pflegefachpersonen für allgemeine Pflege, der Zahnmedi-
zin und der Apothekerin und des Apothekers.
In mehreren EU-Rechtsakten wird zudem die Liste der automatisch anerkannten Be-
zeichnungen für Ärztinnen und Ärzte, Zahnärztinnen und Zahnärzte, Apothekerinnen
und Apotheker, Tierärztinnen und Tierärzte, Pflegefachpersonen, Hebammen und Ar-
chitektinnen und Architekten aktualisiert. Die Schweiz bringt auch ihre Anpassungen
ein, namentlich bei einer Aufdatierung von Weiterbildungen von Ärztinnen und Ärz-
ten, die künftig in der EU automatisch anerkannt werden.
276
Richtlinie (EU) 2018/958 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Juni 2018
über eine Verhältnismässigkeitsprüfung vor Erlass neuer Berufsreglementierungen, in der
Fassung gemäss Anhang III, 2. Abschnitt des Änderungsprotokolls zum FZA.
277
Delegierte Verordnung (EU) 2019/907 der Kommission vom 14. März 2019 zur Festle-
gung einer gemeinsamen Ausbildungsprüfung für Skilehrer gemäss Artikel 49b der Richt-
linie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005
über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (Text von Bedeutung für den EWR.)
C/2019/1935, in der Fassung gemäss Anhang III, 2. Abschnitt des Änderungsprotokolls
zum FZA.
278
Durchführungsbeschluss (EU) 2023/423 der Kommission vom 24. Februar 2023 über ein
Pilotprojekt zur Umsetzung der Bestimmungen über die Verwaltungszusammenarbeit in
Bezug auf reglementierte Berufe gemäss den Richtlinien 2005/36/EG und (EU) 2018/958
des Europäischen Parlaments und des Rates mithilfe des Binnenmarkt-Informationssys-
tems und zur Integration der Datenbank reglementierter Berufe in dieses System,
C/2023/1202, in der Fassung gemäss Anhang III, 2. Abschnitt des Änderungsprotokolls
zum FZA.
279
Delegierte Richtlinie (EU) 2024/782 der Kommission vom 4. März 2024 zur Änderung der
Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der Min-
destanforderungen an die Ausbildung der Berufe der Krankenpflegerin und des Kranken-
pflegers für allgemeine Pflege, des Zahnarztes und des Apothekers, in der Fassung gemäss
Anhang III, 2. Abschnitt des Änderungsprotokolls zum FZA.
262 / 931
2.3.6.2.6
Gemeinsame Erklärungen
Gemeinsame Erklärung zur Unionsbürgerschaft
Als weitere Absicherung hat die Schweiz mit der EU eine Gemeinsame Erklärung zur
Unionsbürgerschaft ausgehandelt, welche derjenigen der EWR-Staaten nachempfun-
den ist. Sie besagt, dass das Konzept der Unionsbürgerschaft nicht im FZA enthalten
ist und damit zu unterscheiden ist von den Freizügigkeitsregeln, wie sie die Vertrags-
parteien vereinbart haben. Insbesondere wird festgehalten, dass das FZA keine
Rechtsgrundlage bildet für politische Rechte von Angehörigen der Vertragsparteien.
Gemeinsame Erklärung über die Verhinderung von Rechtsmissbrauch der durch die
Richtlinie 2004/38/EG verliehenen Rechte
In dieser Gemeinsamen Erklärung teilen die Schweiz und die EU das gemeinsame
Ziel, den Missbrauch der durch die Richtlinie 2004/38/EG gewährten Rechte im Ein-
klang mit Artikel 35 der Richtlinie zu verhindern und dagegen vorzugehen, insbeson-
dere in Bezug auf den Zugang zur Sozialhilfe. Für die Auslegung des Begriffs des
Rechtsmissbrauchs ist die Rechtsprechung des EuGH zu berücksichtigen. So müssen
auf der Grundlage von Artikel 35 der Richtlinie 2004/38/EG ergriffene Massnahmen
auf eine individuelle Prüfung des Einzelfalls gestützt sein und dürfen keinen general-
präventiven Zweck verfolgen.
Gemeinsame Erklärung über die Verweigerung der Sozialhilfe und die
Aufenthaltsbeendigung vor Erwerb des Daueraufenthalts
Mit dieser Gemeinsamen Erklärung hat die Schweiz eine weitere wichtige Absiche-
rung ausgehandelt. Durch sie soll klar aufgezeigt werden, welche Praktiken aus dem
EU-Recht, insbesondere der Richtlinie 2004/38/EG, sowie der Rechtsprechung des
EuGH derzeit massgebend sind, wenn es um die Verweigerung der Sozialhilfe oder
den Entzug des Aufenthaltsrechts vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt geht.
Diese Regeln sollen eine dem EU-Recht entsprechende Auslegung sicherstellen, wo-
bei die Schweiz bei der Umsetzung, unter Beachtung der Grundsätze der Nichtdiskri-
minierung und der Verhältnismässigkeit, ihren Handlungsspielraum nutzen kann. Bei-
spielsweise endet das Aufenthaltsrecht von stellensuchenden Personen, wenn die
Schweizer Behörden feststellen, dass diese sich nicht um ihre Eingliederung in den
Arbeitsmarkt bemühen und auch nicht mit der öffentlichen Arbeitsvermittlung (öAV)
zusammenarbeiten, um eine Stelle zu finden (s. Ziff. 2.3.8.1.1, Art. 61
a
VE-AIG).
Gemeinsame Erklärung über die Meldung betreffend Stellenantritte und Einseitige
Erklärung der Schweiz über die bei Selbstständigen zu ergreifenden Massnahmen im
Rahmen des Meldeverfahrens für kurzfristige Erwerbstätigkeit
Dank der Aushandlung dieser Absicherung mit der EU kann die Schweiz das Online-
Meldeverfahren für kurzfristige Erwerbstätigkeit von Arbeitnehmenden und Selbst-
ständigen weiterführen beziehungsweise neu einführen. Mit diesem Meldeverfahren
für eine Erwerbstätigkeit von maximal drei Monaten pro Kalenderjahr verfügen die
kantonalen Behörden weiterhin über ein administratives Instrument zur Kontrolle der
263 / 931
Lohn- und Arbeitsbedingungen. Diese Erklärung spricht in diesem Zusammenhang
nicht vom Meldeverfahren im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (s. Ge-
meinsame Erklärung über die gemeinsamen Ziele betreffend die Dienstleistungsfrei-
heit von bis zu 90 Arbeitstagen und die Gewährleistung der Rechte von entsandten
Arbeitnehmenden). Solche Verwaltungsvorschriften sollen das Aufenthaltsrecht der
Person nicht beeinträchtigen, auch nicht für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf
Daueraufenthalt.
280
Die Einseitige Erklärung der Schweiz verfolgt das Ziel des Bundesrates, Lohndum-
ping zu bekämpfen. In dieser Erklärung hält die Schweiz daher zusätzlich fest, dass
sie in Anbetracht der in Anhang I und in der Gemeinsamen Erklärung des Änderungs-
protokolls beschriebenen Lösungen für die Entsendung von Arbeitnehmenden, wenn
nötig Massnahmen ergreifen wird, um sicherzustellen, dass Selbstständige diese Mel-
devorschriften nicht umgehen. Die einseitige Erklärung stellt eine Grundlage dar, um
die Meldepflicht auf im Ausland wohnhafte selbstständig Erwerbstätige ohne Nieder-
lassung im Ausland zu erweitern, welche ihre Erwerbstätigkeit nur für bis zu drei Mo-
nate pro Kalenderjahr in der Schweiz ausüben möchten (s. Ziff. 2.3.8.4.1). Eine Aus-
weitung der Meldepflicht auf diese selbstständigen Erwerbstätigkeiten ist notwendig,
weil die Schweiz das bedingungslose Recht auf Aufenthalt bis zu drei Monaten ge-
mäss Artikel 6 der Richtlinie 2004/38/EG übernimmt. Dieses verschafft Staatsange-
hörigen der EU-Mitgliedstaaten ein Aufenthaltsrecht für Aufenthalte bis zu drei Mo-
naten, ohne, dass sie in dieser Zeit eine Meldebestätigung oder Bewilligung ihres
Aufenthalts benötigen. Das Recht auf Aufenthalt bis zu drei Monaten gilt auch für
Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die in dieser Zeit einer Erwerbstätigkeit
nachgehen. Mit der Ausweitung der Meldepflicht auf selbstständig Erwerbstätige
wird verhindert, dass die auf 90 Tage beschränkte Dienstleistungsfreiheit umgangen
werden kann, indem sich grenzüberschreitende Dienstleistungserbringende als Selbst-
ständige ausgeben und damit aufgrund des bedingungslosen Rechts auf Aufenthalt bis
zu drei Monaten keiner Meldung unterliegen würden.
Gemeinsame Erklärung zum Übereinkommen über die Anerkennung von
Qualifikationen
Mit dieser gemeinsamen Erklärung nehmen die Vertragsparteien zur Kenntnis, dass
die Schweiz und alle Mitgliedstaaten Vertragsparteien des Übereinkommens über die
Anerkennung von Qualifikationen im Hochschulbereich in der europäischen Region
sind, und bestätigen, dass sie bei der Umsetzung des Abkommens die Bestimmungen
dieses Übereinkommens in der zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Änderungs-
protokolls geltenden Fassung einhalten.
Gemeinsame Erklärung zu Stellenangeboten
Die gemeinsame Erklärung hält die Absicherung der nationalen Gesetzgebung zur
Umsetzung von Artikel 121
a
BV trotz der dynamischen Anpassung an den EURES-
Besitzstand fest. Die Umsetzung von Artikel 121
a
BV beinhaltet die Einführung einer
280
Änderungsprotokoll zum FZA, Gemeinsame Erklärung über die Meldung betreffend Stel-
lenantritte.
264 / 931
Stellenmeldepflicht im Artikel 21
a
AIG. Dabei müssen offene Stellen in Berufsarten
mit einer Arbeitslosenquote von 5 Prozent oder darüber bei den RAV gemeldet wer-
den und unterliegen einer Sperrfrist, bevor sie öffentlich ausgeschrieben werden dür-
fen.
Gemeinsame Erklärung über die gemeinsamen Ziele betreffend die
Dienstleistungsfreiheit von bis zu 90 tatsächlichen Arbeitstagen und die
Gewährleistung der Rechte von entsandten Arbeitnehmenden
Diese Erklärung hat zum Ziel festzuhalten, dass sowohl die Schweiz und die EU ihren
Staatsangehörigen sowie ihren Wirtschaftsakteuren faire Bedingungen für den freien
Dienstleistungsverkehr während bis zu 90 Arbeitstagen pro Kalenderjahr (einschliess-
lich der Entsendung von Arbeitnehmenden) einräumen und dabei die Rechte der Ar-
beitnehmenden in vollem Umfang gewährleisten. Ebenfalls wird darin bekräftigt, dass
nichtdiskriminierende und verhältnismässige Kontrollen notwendig sind, um den
freien Dienstleistungsverkehr, sowie die korrekte und wirksame Anwendung der Vor-
schriften zum Schutz der Arbeitnehmenden zu gewährleisten, indem Missbrauch und
Umgehung verhindert werden.
Gemeinsame Erklärung betreffend wirksame Kontrollsysteme einschliesslich des
dualen Vollzugssystems der Schweiz
Mit dieser gemeinsamen Erklärung bekennen sich die Vertragsparteien zum dualen
Vollzugssystem, indem darauf verwiesen wird, dass die nach nationalem Recht zu-
ständigen Vollzugsorgane – in der Schweiz können dies die Sozialpartner sein – in
ihrem Hoheitsgebiet wirksame Kontrollen durchführen sollen, um die Einhaltung der
geltenden Vorschriften und Regelungen zu gewährleisten. Dies stellt sicher, dass die
Kontroll- und Sanktionsbefugnisse dieser Einrichtungen gewahrt und respektiert wer-
den. Zudem bekräftigen die Parteien, dass die Kontrollen und Kontrollsysteme wirk-
sam und nichtdiskriminierend sein sollten.
Gemeinsame Erklärung zum Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen
Ort» und zu einem angemessenen und ausreichenden Schutzniveau für entsandte
Arbeitnehmende
In dieser gemeinsamen Erklärung wird das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit
am gleichen Ort» abgesichert. Dies bedeutet, dass am gleichen Ort und für die gleiche
Arbeit der gleiche Lohn gezahlt werden soll. Es wird festgehalten, dass die Schweiz
dieses Prinzip bereits seit dem Inkrafttreten des FZA anwendet, in den letzten Jahren
verstärkt hat und die EU und die Schweiz beide ein angemessenes und ausreichendes
Schutzniveau garantieren können.
Gemeinsame Erklärung über die Beteiligung der Schweiz an den Tätigkeiten der
Europäischen Arbeitsbehörde
Mit der Gemeinsamen Erklärung über die Beteiligung der Schweiz an den Tätigkeiten
der europäischen Arbeitsbehörde wird bekräftigt, dass die Schweiz weiterhin als Be-
obachterin an den Sitzungen und Beratungen des Verwaltungsrats der Europäischen
265 / 931
Arbeitsbehörde (ELA) teilnehmen kann. Zudem wird festgehalten, dass die Schweiz
Arbeitsvereinbarungen mit der ELA treffen kann.
Gemeinsame Erklärung zum deklaratorischen Registrierungssystem für
Grenzgängerinnen und Grenzgänger
Mit dieser Gemeinsamen Erklärung wurde vereinbart, dass die Schweiz mit den be-
nachbarten Mitgliedstaaten die Registrierungspflicht für Grenzgängerinnen und
Grenzgänger in den entsprechenden Foren erörtert, falls sie eine solche Pflicht gemäss
Artikel 7a FZA einführen wird. Diese sollen nicht zu einer unterschiedlichen Behand-
lung von Grenzgängerinnen und Grenzgängern im Rahmen des Abkommens führen
und lassen deren Rechte und Pflichten unberührt.
Gemeinsame Erklärung über die Aufnahme von zwei Rechtsakten der Union in
Anhang I zum FZA
In der Schlussphase der Verhandlungen wurden EU-seitig zwei neue Rechtsakte ver-
abschiedet, die zumindest teilweise in den Geltungsbereich des Abkommens fallen.
Es handelt sich einerseits um die Verordnung (EU) 2024/2747 vom 9. Oktober
2024
281
über Binnenmarkt-Notfälle und die Resilienz des Binnenmarkts, und ande-
rerseits um die Richtlinie (EU) 2024/2841 vom 23. Oktober 2024
282
zur Einführung
des Europäischen Behindertenausweises und des Europäischen Parkausweises für
Menschen mit Behinderungen. Gestützt auf die Gemeinsame Erklärung soll der GA
des FZA die nötigen Massnahmen ergreifen, so dass die beiden Rechtsakte unverzüg-
lich nach Inkrafttreten des Änderungsprotokolls ins FZA übernommen werden kön-
nen.
2.3.6.3
Protokoll betreffend den Erwerb von Immobilien in Malta
und Protokoll über Zweitwohnungen in Dänemark
Die bereits heute geltende Ausnahmeregelung zum Erwerb von Grundbesitz auf den
maltesischen Inseln durch Schweizer Staatsangehörige wird beibehalten. Eine solche
Ausnahme ist auch im EU-Recht vorgesehen. Obschon diese Ausnahme für Malta nie
als Übergangsmassnahme gedacht war, wurde sie in Ziffer 7 des Abschnitts «Über-
gangsmassnahmen für den Erwerb von Grundstücken und Zweitwohnungen» im An-
schluss an Artikel 34 Anhang I des FZA von 1999 festgelegt. Da alle übrigen Über-
gangsmassnahmen dieses Abschnitts infolge Ablaufs der Übergangsfristen
mittlerweile obsolet geworden sind, wird die
Ausnahmeregelung für den Immobilien-
erwerb in Malta
neu in einem separaten Protokoll zum FZA – analog zu den bisher
im FZA von 1999 geltenden Protokollen über Zweitwohnungen in Dänemark oder
über die Ålandinseln – geregelt. Die letztgenannten Ausnahmen, die nach wie vor
281
Verordnung (EU) 2024/2747 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober
2024 zur Schaffung eines Rahmens von Massnahmen für einen Binnenmarkt-Notfall und
die Resilienz des Binnenmarkts und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2679/98 des
Rates (Verordnung über Binnenmarkt-Notfälle und die Resilienz des Binnenmarkts),
ABl. L, 2024/2747, 8.11.2024.
282
Richtlinie (EU) 2024/2841 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober
2024 zur Einführung des Europäischen Behindertenausweises und des Europäischen Park-
ausweises für Menschen mit Behinderungen, ABl. L, 2024/2841, 14.11.2024.
266 / 931
auch im EU-Recht vorgesehen sind, bleiben auch im Rahmen des revidierten FZA
weiterhin gültig.
2.3.6.4
Zusatzprotokoll zu Bewilligungen für Langzeitaufenthalte
(Niederlassungsbewilligungen)
Das Verhandlungsmandat des Bundesrats sah vor, dass die Schweiz bereit ist, allen
Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten unter Gleichbehandlung und nach einer
Mindestdauer eines vorgängigen Aufenthalts von fünf Jahren eine Niederlassungsbe-
willigung zu erteilen, wobei die Integrationskriterien nach AIG eingehalten werden
sollen. Diese Verpflichtung wurde reziprok in einem Protokoll zum FZA festgehalten,
das ausdrücklich vorbehält, dass Bewilligungen für Langzeitaufenthalte (Niederlas-
sungsbewilligungen) ausserhalb des Geltungsbereichs des FZA liegen (s.
Ziff. 2.3.5.2.1 «Zusatzprotokoll zu Bewilligungen für Langzeitaufenthalte (Niederlas-
sungsbewilligungen»)).
Die EU und die Schweiz verpflichten sich im Protokoll gegenseitig, eine Bewilligung
für Langzeitaufenthalt (Niederlassungsbewilligung) nach fünf Jahren zu erteilen. Das
Protokoll verweist auf das Recht der Schweiz respektive das Unionsrecht und gilt für
die Schweiz sowie alle Mitgliedstaaten der EU mit Ausnahme von Irland und Däne-
mark, wobei für diese beiden Staaten gestützt auf langjährige gegenseitige Verwal-
tungspraxis (Irland) beziehungsweise eine Niederlassungsvereinbarung (Dänemark)
weiterhin ebenfalls nach fünf Jahren eine Niederlassungsbewilligung erteilt wird. Die
übrigen nationalen Integrationskriterien (Landessprache, wirtschaftliche Teilhabe,
keine Sozialhilfeabhängigkeit) bleiben bestehen und sind zu erfüllen, wobei sie ver-
gleichbar bleiben sollen. Bilaterale Niederlassungsverträge mit günstigeren Voraus-
setzungen bleiben vorbehalten. Da das Zusatzprotokoll sich ausserhalb des Geltungs-
bereichs des FZA befindet, wird der Streitbeilegungsmechanismus nur
mutatis
mutandis
angewendet unter Ausschluss des EuGH. Die Kompetenz, Niederlassungs-
verträge abzuschliessen, obliegt dem Bundesrat (Art. 34 AIG).
2.3.7
Grundzüge des Umsetzungserlasses
Zuwanderung
Das in den Anhängen zum FZA aufgelistete EU-Recht kann in der Schweiz grund-
sätzlich direkt angewendet werden, sofern die Bestimmungen hinreichend konkret
sind. Ist dies nicht der Fall, braucht es zusätzliche Regelungen im Schweizer Recht.
Dies ist insbesondere bei Richtlinien der Fall, da diese im Unterschied zu Verordnun-
gen in erster Linie Ziele und Mindestnormen definieren. Hier verfügt die Schweiz
entsprechend über mehr Spielraum.
Die Schweiz verfügt so auch über einen gewissen Handlungsspielraum, um einzelne
Bestimmungen aus der Richtlinie 2004/38/EG umzusetzen; darunter die Möglichkeit,
von Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten zu verlangen, dass sie ihre Anwesen-
heit im Hoheitsgebiet innerhalb eines angemessenen Zeitraums melden (Art. 5 Abs. 5)
und sich bei Aufenthalten von über drei Monaten in der Schweiz bei den Behörden
anmelden (Art. 8 Abs. 1), die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft als
Arbeitnehmende oder Selbstständige während mindestens sechs Monaten bei unfrei-
williger Arbeitslosigkeit im Laufe der ersten zwölf Monate (Art. 7 Abs. 3) sowie die
267 / 931
Möglichkeit, bestimmten Personenkategorien den Anspruch auf Sozialhilfe nicht zu
gewähren (Art. 24 Abs. 2).
Der vorliegende Vorentwurf zur Änderung des AIG (VE-AIG) setzt die unter anderem
auf der Grundlage der (teilweise) übernommenen Richtlinie 2004/38/EG erfolgten
Anpassungen des Hauptteils und von Anhang I des FZA um. Mit den neuen Bestim-
mungen sollen der Handlungsspielraum aus dem angepassten FZA genutzt (Art. 13
a
VE-AIG) oder die Rechtsstellung der Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten ge-
klärt (Art. 61
a
und 61
c
VE-AIG) sowie andere Anpassungen im Sinne einer Harmo-
nisierung der Bestimmungen (Art. 41
c
VE-AIG) vorgenommen werden.
Das Meldeverfahren für entsandte Arbeitnehmende gemäss Artikel 6 EntsG soll auch
für vorübergehende selbstständige Erwerbstätigkeiten ohne Absicht, sich in der
Schweiz niederzulassen, gelten und für diese als auch für Stellenantritte bis drei Mo-
nate und grenzüberschreitende selbstständige Dienstleistungserbringungen neu im
Entsendegesetz geregelt werden (vgl. Art. 6a, 6b und 6e VE-EntsG).
Lohnschutz
Die vorliegenden Entwürfe zur Anpassung des EntsG, des BöB, des AVEG und des
OR beinhalten zum einen Massnahmen im Zusammenhang mit den Arbeits- und
Lohnbedingungen, die den in die Schweiz entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmern garantiert werden müssen. Mit zusätzlichen gezielten Massnahmen soll zu-
dem der Lohnschutz im inländischen Kontext gesichert werden. Das gesamte Mass-
nahmenpaket zur Sicherung des Lohnschutzes lässt sich in vier Kategorien einteilen.
Die erste Kategorie beinhaltet kompensatorische Massnahmen als Reaktion auf die
Zugeständnisse, die die Schweiz gegenüber der EU gewähren musste (s. Ziff. 2.3.4).
Sie bezwecken die Effizienzsteigerung des Meldeverfahrens für ausländische Dienst-
leistungserbringerinnen und Dienstleistungserbringer mittels Verstärkung der Kom-
petenzen des Bundes und mittels weiterer Optimierungen als Folge der auf vier Tage
verkürzten Voranmeldefrist und deren Beschränkung auf Risikobranchen. Des Wei-
teren beinhalten sie die Einführung von Verwaltungssanktionen bis hin zu einer
Dienstleistungssperre für Entsendebetriebe, wenn die Pflicht zur Hinterlegung einer
Kaution bei den paritätischen Organen verletzt wurde. Zudem werden die Mitwir-
kungspflichten der Entsendebetriebe bei den Kontrollen im Vollzug des EntsG ver-
stärkt, indem Dokumente vor Ort hinterlegt bzw. verfügbar gemacht und eine An-
sprechpartnerin oder ein Ansprechpartner in der Schweiz benannt werden muss. Zur
Stärkung der Prävention zur Einhaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen werden
höhere Anforderungen an die Vergabebedingungen im öffentlichen Vergabeverfahren
gestellt, indem der Anbieter den Nachweis seiner Konformität mit den Arbeits- und
Lohnbedingungen auf Basis von Kontrollergebnissen von paritätischen Organen er-
bringen muss. Zusätzlich werden die Kontrollmöglichkeiten auf öffentlichen Baustel-
len durch Verwendung von paritätischen Baustellenausweisen verbessert. Weiter wird
für das Bauhaut- und das Baunebengewerbe die Haftung des Erstunternehmers auf die
Forderungen der paritätischen Organe gegenüber den Subunternehmern wie Konven-
tionalstrafen und Kontrollkosten erweitert.
Die zweite Kategorie von Massnahmen wirkt gewissen Bedenken entgegen, dass die
Dienstleistungssperre im Vollzug des EntsG seitens der EU unter Druck geraten
268 / 931
könnte. Diese Kategorie umfasst die grenzüberschreitende Vollstreckung von Ver-
waltungssanktionen, zum einen durch die Amtshilfe von ausländischen Behörden,
zum anderen durch die Beibehaltung der Dienstleistungssperre im EntsG als Sanktion
von nicht vollstreckbaren Verwaltungssanktionen und weiteren Pflichtverletzungen.
Die dritte Kategorie betrifft die maximale Nutzung des innenpolitischen Spielraums
bei der Umsetzung der EU-Spesenregelung im EntsG, weil in den Verhandlungen mit
der EU zwar das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» verein-
bart werden konnte, aber keine Ausnahme in Bezug auf die Übernahme der EU-
Spesenregelung bei Arbeitnehmerentsendungen.
Schliesslich beinhaltet die vierte Kategorie Massnahmen, die die sozialpartnerschaft-
lichen Strukturen beim Lohnschutz sichern. Dies sind einerseits Massnahmen zum
Erhalt der bestehenden allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträge (ave
GAV). Minimale Arbeits- und Lohnbedingungen in allgemeinverbindlich erklärten
GAV erfüllen seit der Einführung der Personenfreizügigkeit eine zunehmend wichtige
Funktion, weil sie die Lohn- und Arbeitsbedingungen sowohl für schweizerische Un-
ternehmen als auch für grenzüberschreitende Dienstleistungserbringerinnen und
Dienstleistungserbringer aus dem EU-Raum verbindlich regeln, wobei deren Nicht-
einhaltung sanktioniert werden kann. Zudem schaffen sie gleiche Wettbewerbsbedin-
gungen in einer Branche. Weitere Massnahmen sorgen zudem für einen besseren
Rechtsschutz für inländische Betriebe, die einem ave GAV unterstellt werden sollen.
Zudem wird der Kündigungsschutz für gewählte Arbeitnehmervertreterinnen und -
vertreter, für Mitglieder eines Organs einer paritätischen Personalvorsorgeeinrichtung
sowie für Mitglieder nationaler Branchenvorstände, die im Rahmen eines ave GAV
tätig sind, gestärkt.
Die Massnahmen zur Sicherung des Lohnschutzes fussen auf unterschiedlichen
Grundlagen. Zum einen erfolgen sie in Umsetzung der Anpassungen, die aufgrund
der Übernahme der EU-Entsenderichtlinien ins FZA (Anhang I) notwendig sind. Zum
anderen gründen sie auf den mit der EU verhandelten Ausnahmen von der dynami-
schen Rechtsübernahme, oder sie basieren auf inländischen Gesetzesgrundlagen wie
zur Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen oder zum öffentli-
chen Beschaffungswesen. Gesamthaft betrachtet stärken diese Massnahmen den
Schutz der Lohn- und Arbeitsbedingungen und beugen Missbrauch vor.
Die Schweiz nutzt damit ihren Handlungsspielraum, den sie aufgrund des revidierten
Abkommens zur Verfügung hat, umfassend aus. Die Massnahmen gegenüber Dienst-
leistungserbringerinnen und Dienstleistungserbringern aus der EU, die Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer in die Schweiz entsenden, müssen jedoch dem Verhältnis-
mässigkeitsgrundsatz genügen und dürfen nichtdiskriminierend sein.
Sozialversicherungskoordinierung/Anhang II FZA
Als Folge der Übernahme der Richtlinie 2014/50/EU wird die weitergehende berufli-
che Vorsorge als Teil des gesetzlichen Rentenversicherungssystems den Koordinie-
rungsregeln der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 unterstellt. Durch diese Unterstellung
gelten inskünftig die gleichen Regeln wie für die BVG-Minimalvorsorge. Die Baraus-
zahlung der Austrittsleistung bei Verlassen der Schweiz ist wie bei der Minimalvor-
sorge nicht mehr möglich, solange eine Person in einem EU-Mitgliedstaat der obliga-
torischen Rentenversicherung unterliegt. Deshalb müssen das Freizügigkeitsgesetz
269 / 931
vom 17. Dezember 1993
283
(FZG), das BVG und das Zivilgesetzbuch
284
(ZGB) an-
gepasst werden. Es ist auch vorgesehen, die Verordnung vom 13. November 1985
285
über die steuerliche Abzugsberechtigung für Beiträge an anerkannte Vorsorgeformen
(BVV 3) anzupassen, um die Regelung für vorzeitige Ausrichtung der Altersleistun-
gen zu präzisieren.
2.3.7.1
Umsetzungsgesetzgebung
2.3.7.1.1
Zuwanderung
Das AIG gilt für Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten und ihre Familienangehö-
rigen sowie für aus der EU in die Schweiz entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer, die in den Geltungsbereich das FZA fallen, soweit das FZA keine abweichen-
den Bestimmungen enthält oder dieses Gesetz günstigere Bestimmungen vorsieht.
Um den Geltungsbereich dieses Gesetzes zu präzisieren, wird hinzugefügt, dass das
AIG auch dann gilt, wenn es dies ausdrücklich vorsieht (Art. 2 Abs. 2 VE-AIG).
Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen aus Drittstaa-
ten, die beabsichtigen, sich länger als drei Monate in der Schweiz aufzuhalten, müssen
sich unmittelbar nach der Einreise in die Schweiz melden und sich nach den ersten
drei Monaten des Aufenthalts anmelden beziehungsweise eine Aufenthaltsbewilli-
gung beantragen. Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die während mehr als drei
Monaten in der Schweiz eine selbstständige oder unselbstständige Erwerbstätigkeit
als Grenzgängerin oder Grenzgänger ausüben, müssen sich ebenfalls registrieren las-
sen (Art. 13
a
VE-AIG).
Mit der Umsetzungsbestimmung zur Schutzklausel werden die Kompetenzen des
Bundesrates bei der Prüfung von schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen
Problemen anhand von Indikatoren und Schwellenwerten und bei der Auslösung der
Schutzklausel festgelegt. Zudem werden die Schutzmassnahmen und Ausgleichsmas-
snahmen aufgeführt, die der Bundesrat selbstständig anordnen kann. Vor einem Ent-
scheid sind die parlamentarischen Kommissionen, die Kantone und die Sozialpartner
zu konsultieren. Ein Kanton kann die Prüfung der Auslösung der Schutzklausel bean-
tragen, wenn im Kanton schwerwiegende wirtschaftliche oder soziale Probleme vor-
liegen. Ist ein nationaler Schwellenwert überschritten, muss der Bundesrat das Ver-
fahren zur Aktivierung der Schutzklausel prüfen. Ein Kanton kann zudem regionale,
respektive kantonale Schutzmassnahmen vorschlagen (Art. 21
b
VE-AIG). Der Bun-
desrat kann trotz einem negativen Entscheid des Schiedsgerichts selbst vorüberge-
hende geeignete Schutzmassnahmen ergreifen, wenn er zum Schluss kommt, dass die
Probleme derart gross sind, dass Massnahmen erforderlich erscheinen. Sollen diese
Massnahmen länger als 12 Monate dauern, muss der Bundesrat innerhalb dieser Frist
der Bundesversammlung eine entsprechende Vorlage unterbreiten. Die Massnahmen
des Bundesrates gelten jedoch über diese Frist hinaus bis zum Entscheid des Parla-
ments über die Vorlage.
Wenn der Bundesrat beziehungsweise die Bundesversammlung solche Massnahmen
ergreift, könnte die EU ihrerseits ein Streitbeilegungsverfahren anstreben, wenn sie
283
SR
831.42
284
SR
210
285
SR
831.461.3
270 / 931
der Ansicht ist, dass diese Massnahmen – da ausserhalb der Schutzklausel – das FZA
verletzen. Diesfalls könnte es gegebenenfalls zu Ausgleichsmassnahmen in den Bin-
nenmarktabkommen (ausgenommen dem Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens)
kommen.
Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die sich als Nichterwerbstätige oder zur
Ausbildung in der Schweiz aufhalten, haben grundsätzlich keinen Anspruch auf So-
zialhilfe. Dies gilt auch für kurze Aufenthalte bis zu drei Monate ohne Erwerbstätig-
keit und für Aufenthalte zur Stellensuche (Art. 41
c
VE-AIG).
Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten verlieren die Erwerbstätigeneigenschaft und
das damit verbundene Aufenthaltsrecht sechs Monate nach der unfreiwilligen Been-
digung der Erwerbstätigkeit, wenn die unfreiwillige Arbeitslosigkeit während den ers-
ten zwölf Monate der Erwerbstätigkeit eingetreten ist. Dauert diese Erwerbstätigkeit
mehr als zwölf Monate, erfolgt der Verlust der Erwerbstätigeneigenschaft und des
damit verbundenen Aufenthaltsrechts, wenn sie sich nicht beim zuständigen Arbeits-
amt anmelden oder wenn sie die Teilnahme an einer Wiedereingliederungsstrategie
verweigern. Dies gilt auch, wenn sie nicht innerhalb von sechs Monaten nach dem
Ende der Arbeitslosenentschädigung eine andere Arbeit gefunden haben, es sei denn,
sie machen glaubhaft, dass Aussicht darauf besteht, in absehbarer Zeit eine neue Stelle
zu finden (Art. 61
a
VE-AIG). Gestützt auf die Gemeinsame Erklärung wird das Mel-
deverfahren für kurzfristige Stellenantritte weiterhin Anwendung finden. Gleichzeitig
wird das Meldeverfahren gestützt auf die Einseitige Erklärung auch auf vorüberge-
hende selbstständige Erwerbstätigkeiten ohne Absicht sich in der Schweiz niederzu-
lassen ausgeweitet. Sowohl diese beiden Meldepflichten als auch die Meldepflicht bei
selbstständigen grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringenden wird im EntsG
verankert (vgl. Art. 6
a
, 6
b
und 6
e
VE-EntsG). Da die Meldepflicht bei Entsendungen
bis anhin bereits im EntsG zu finden ist, sind neu alle Meldepflichten für Erwerbstä-
tigkeiten bis drei Monaten im EntsG geregelt.
2.3.7.1.2
Lohnschutz
Der Entwurf zur Revision des EntsG beinhaltet im Wesentlichen die Anpassungen,
die aufgrund der Übernahme der EU-Entsenderichtlinien ins FZA (Anhang I) erfor-
derlich sind. Bislang war der Verweis auf das relevante Entsenderecht in Artikel 22
Absatz 2 Anhang I des FZA von 1999 verankert. Artikel 22 Absatz 2 sieht vor, dass
die Schweiz auf die entsandten Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen die in der
Schweiz geltenden Vorschriften über die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen
anwendet. Diese sind im EntsG enthalten und entsprechen der Richtlinie 96/71/EG
gemäss der zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des FZA von 1999 geltenden Fassung.
Gemäss Änderungsprotokoll wird diese Bestimmung nun in den Hauptteil des FZA
verschoben (neuer Art. 5
f
Abs. 2).
Das neue Entsenderecht umfasst nicht nur die bereits beim Abschluss des FZA vom
21. Juni 1999 bestehenden Richtlinie 96/71/EG, sondern auch zwei zusätzliche EU-
Richtlinien zur Entsendung, die in den letzten Jahren verabschiedet wurden. Die
Richtlinie (EU) 2018/957 revidiert die Entsende-Richtlinie 96/71/EG und etabliert
insbesondere das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort». Die
Durchsetzungsrichtlinie von 2014 (Richtlinie 2014/67/EU) sorgt dafür, dass der Voll-
zug und die Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG sichergestellt ist. Diese Richtlinie
271 / 931
bezweckt die Durchsetzung der Ansprüche von entsandten Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern, wie sie in der durch Richtlinie (EU) 2018/957 revidierten Entsende-
richtlinie verankert sind. Dafür sieht sie Massnahmen des Aufnahmestaates vor; diese
umfassen insbesondere eine Meldepflicht vor Beginn der Entsendung, zwingende An-
gaben über das Arbeitsverhältnis bei der Anmeldung, Bereithaltung von Dokumenten
vor Ort, Benennung einer Ansprechpartnerin oder eines Ansprechpartners, die Durch-
führung von Kontrollen sowie die Gewährung von Amtshilfe wie Auskunftserteilung,
Zustellung von Dokumenten und Vollstreckung von Verwaltungssanktionen.
Anpassungen im EntsG aufgrund der Übernahme des EU-Entsenderechts
Die Übernahme des EU-Entsenderechts ins FZA sowie die diesbezüglich ausgehan-
delten Ausnahmen erfordern im EntsG die Anpassung gewisser Bestimmungen. Neu
wird die Voranmeldefrist auf Risikobranchen beschränkt, die von der Schweiz auto-
nom definiert werden, und gleichzeitig von acht Kalendertagen auf vier Arbeitstage
verkürzt (neuer Art. 5
g
FZA). Zu den Arbeitstagen zählen die Werktage ohne Sams-
tage. Die Anwendung der Kautionspflicht in den ave GAV wird für Entsendebetriebe
auf Wiederholungsfälle beschränkt, inklusive die Möglichkeit zur Sanktionierung bis
zu einer Dienstleistungssperre bei Nichtleisten der Kaution (neuer Art. 5
h
FZA). Die
im neuen Artikel 5
i
FZA vereinbarte Ausnahme über die Dokumentationspflicht von
selbstständigen Dienstleistungserbringerinnen und Dienstleistungserbringern wird in
Artikel 6
c
VE-EntsG geregelt
.
Es wird darauf hingewiesen, dass der Artikel 1
a
des
EntsG in den Artikel 6
c
VE-EntsG verschoben wird.
Die Richtlinie 2014/67/EU sieht diverse Kontroll- und Durchsetzungsmassnahmen
vor. Mit der Gewährung von grenzüberschreitender gegenseitiger Amtshilfe zur Aus-
kunftserteilung und zur Vollstreckung von rechtskräftigen Verwaltungssanktionen
wird sichergestellt, dass die Verpflichtungen der Arbeitgeber im Aufnahmestaat auch
im Herkunftsstaat vollzogen werden können. Zu diesem Zweck werden im EntsG
Grundlagen für die Gewährung und die Inanspruchnahme von Amtshilfe zur Aus-
kunftserteilung, zur Zustellung von Dokumenten und betreffend Verwaltungssankti-
onen sowie zur Vollstreckung dieser Sanktionen eingeführt. Die Zusammenarbeit un-
ter den Behörden erfolgt via das EU-Binnenmarktinformationssystem (IMI), an das
die Schweiz angeschlossen wird. Die Beteiligung der Schweiz am IMI erfordert, dass
die Zuständigkeiten zur Verwaltung und die Berechtigungen zur Nutzung des Systems
auf Ebene Bund und Kantone sowie bei den paritätischen Vollzugsorganen festgelegt
werden (s. Ziff. 2.3.6.2.3).
Zusätzlich wird im EntsG eine Pflicht des Arbeitgebenden eingeführt, eine Ansprech-
partnerin oder einen Ansprechpartner in der Schweiz zu benennen, welche oder wel-
cher in Vertretung des Arbeitgebenden Dokumente und Mitteilungen der Kontrollor-
gane entgegennimmt sowie Dokumente zum Nachweis der Einhaltung der Lohn- und
Arbeitsbedingungen verschickt. Der Gesetzes-Entwurf sieht auch eine Pflicht zur Be-
reithaltung von Dokumenten vor Ort vor.
Spesen
Die Pflicht zur dynamischen Rechtsübernahme beinhaltet auch die EU-
Spesenregelung gemäss Artikel 3 Absatz 7 Unterabsatz 2 der Richtlinie 96/71/EG,
wie durch Richtlinie (EU) 2018/957 geändert. Mit der Änderung der Richtlinie
272 / 931
96/71/EG sollte in der EU der Grundsatz «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am glei-
chen Ort» verwirklicht werden. Die Tragweite der Regelung zur Auslagenentschädi-
gung in Artikel 3 Absatz 7 Unterabsatz 2 der revidierten Richtlinie 96/71/EG ist noch
nicht abschliessend geklärt. Gemäss dem Wortlaut der Bestimmung ist der Arbeitge-
ber verpflichtet, die Kosten im Zusammenhang mit der Entsendung im Einklang mit
den auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften und/oder
Gepflogenheiten zu erstatten.
Am 30. April 2024 publizierte die Europäische Kom-
mission ihren Bericht
286
zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2018/957 in den EU-
Mitgliedstaaten und hielt darin fest, dass zahlreiche EU-Mitgliedstaaten
in ihrer Um-
setzungsgesetzgebung nicht festlegen oder nicht eindeutig festlegen, dass sich die Ent-
schädigung der Auslagen nach dem auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Recht
richtet. Es ist jedoch unklar, ob die Europäische Kommission gegen diese EU-
Mitgliedstaaten oder einen Teil von ihnen Vertragsverletzungsverfahren wegen nicht
konformer Umsetzung der EU-Spesenregelung eröffnen wird oder nicht.
In der Schweiz gilt seit 1. April 2020 Artikel 2 Absatz 3 EntsG, der den Arbeitgeber
verpflichtet, den entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Auslagen im
Zusammenhang mit der Entsendung zu entschädigen. Diese Entschädigungen gelten
nicht als Lohnbestandteil.
Diese Bestimmung wird nun dahingehend an die revidierte Richtlinie 96/71/EG an-
gepasst, dass sich die notwendigen Auslagenentschädigungen grundsätzlich nach den
auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften oder nationalen
Gepflogenheiten richten. Es gilt zudem wie bisher der Grundsatz, dass Entschädigun-
gen für Auslagen wie Reise, Unterkunft und Verpflegung nicht als Lohnbestandteil
gelten.
Deckt die Entschädigung nach Artikel 2
a
Absatz 1 VE-EntsG hingegen die notwendig
entstehenden Auslagen nicht, so ist der Differenzbetrag zu den notwendig entstehen-
den Auslagen auszuzahlen (Abs. 2). Der Begriff der notwendig entstehenden Ausla-
gen richtet sich nach Artikel 327
a
OR und somit nach Schweizer Recht. Dies bedeu-
tet, dass die Auslagen nach Schweizer Ansätzen zu entschädigen sind, sofern die
Entschädigung nach Absatz 1 diese nicht bereits deckt.
Vereinbarungen von festen Vergütungen für die Dauer der Entsendung sind möglich,
wie namentlich eine ortsübliche Pauschale oder eine ortsübliche pauschale Tages-
oder Monatsvergütung (Abs. 3).
Aus Sicht des Bundesrates wird dadurch der Grundsatz «gleicher Lohn für gleiche
Arbeit am gleichen Ort» verwirklicht, den die Schweiz und die EU als gemeinsames
Ziel und Prinzip im Bereich des Lohnschutzes definiert haben (vgl. die Gemeinsame
Erklärung zum Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» und zu
einem angemessenen und ausreichenden Schutzniveau für entsandte Arbeitneh-
mende). Bietet das auf das Arbeitsverhältnis der entsandten Arbeitnehmerinnen oder
286
https://op.europa.eu/de > Amt für Veröffentlichungen > BERICHT DER KOMMISSION
AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT DEN RAT UND DEN EUROPÄISCHEN
WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS über die Anwendung und Umsetzung der
Richtlinie (EU) 2018/957 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Juni 2018
zur Änderung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rah-
men der Erbringung von Dienstleistungen.
273 / 931
des entsandten Arbeitnehmers anwendbare nationale Recht oder die nationalen Ge-
pflogenheiten keine ausreichende Kostenerstattung und gehen die Auslagen für Reise,
Unterkunft und Verpflegung ganz oder teilweise zulasten der entsandten Arbeitneh-
merin oder des entsandten Arbeitnehmers, wäre das Prinzip «Gleicher Lohn für glei-
che Arbeit am gleichen Ort» nicht gewährleistet.
Artikel 3 Absatz 10 der revidierten Entsenderichtlinie erlaubt es zudem, unter Einhal-
tung des Abkommens, für Unternehmen aus den EU-Mitgliedstaaten in gleicher
Weise wie für inländische Unternehmen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für
andere als die in Artikel 3 Absatz 1 Unterabsatz 1 der revidierten Entsenderichtlinie
aufgeführten Aspekte vorzuschreiben, soweit es sich um Vorschriften im Bereich der
öffentlichen Ordnung handelt.
Es ist folglich möglich, zusätzlich zum abschliessenden Katalog der Arbeits- und Be-
schäftigungsbedingungen in Artikel 3 Absatz 1 Unterabsatz 1 der revidierten EU-
Entsenderichtlinie, weitere Vorschriften zum Arbeitnehmerschutz zu definieren.
Diese müssen nichtdiskriminierend und verhältnismässig sein sowie zum Bereich der
öffentlichen Ordnung gehören.
Für inländische Arbeitsverhältnisse ist die Spesenregelung von Artikel 327
a
OR an-
wendbar, die den Arbeitgeber verpflichtet, alle durch die Ausführung der Arbeit not-
wendig entstehenden Auslagen zu ersetzen, bei Arbeit an auswärtigen Arbeitsorten
auch die für den Unterhalt erforderlichen Aufwendungen (Abs. 1). Durch schriftliche
Abrede, Normalarbeitsvertrag oder Gesamtarbeitsvertrag kann als Auslagenersatz
eine feste Entschädigung, wie namentlich ein Taggeld oder eine pauschale Wochen-
oder Monatsvergütung festgesetzt werden, durch die jedoch alle notwendig entstehen-
den Auslagen gedeckt werden müssen (Abs. 2). Artikel 2
a
VE-EntsG lehnt sich an
die Auslagenregelung von Artikel 327
a
OR an und verpflichtet ausländische Entsen-
debetriebe in gleicher Weise wie inländische Arbeitgeber zum Ersatz der notwendigen
Auslagen. Damit ist die Gleichbehandlung zwischen in- und ausländischen Betrieben
sichergestellt. Es ist dem ausländischen Arbeitgeber unbenommen, eine für Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer günstigere Spesenregelung als jene in Artikel 327
a
OR vorzusehen, dies hat auf inländische Arbeitgeber und auf Artikel 327
a
OR keine
Auswirkungen.
Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit ist gewahrt, indem primär das auf das Ar-
beitsverhältnis der entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anwendbare na-
tionale Recht oder die nationalen Gepflogenheiten anwendbar sind. Nur wenn die not-
wendig entstandenen Auslagen in der Schweiz damit nicht gedeckt sind, kommt die
Erstattungspflicht nach Artikel 2 Absatz 3
bis
VE-EntsG zum Zuge. Anstelle der Er-
stattung der notwendig entstandenen Auslagen sind zudem Pauschalen möglich, die
am Entsendeort in der Schweiz ortsüblich sind.
Vor dem Hintergrund, dass die Schweiz im Vergleich zu den EU-Mitgliedstaaten ein
deutlich höheres Preisniveau und damit deutlich höhere Lebenshaltungskosten auf-
weist, ist eine Massnahme wie in Artikel 2
a
VE-EntsG vorgesehen für den Erhalt des
sozialen Standards und des sozialen Friedens und für die Garantie von fairen Wettbe-
werbsbedingungen zwischen in- und ausländischen Unternehmen unabdingbar. Sie ist
somit als Vorschrift zum Erhalt der öffentlichen Ordnung zu qualifizieren. Ohne diese
274 / 931
Massnahme würden die Gewährung der Arbeits- und Lohnbedingungen von entsand-
ten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Schweiz untergraben und ausländi-
sche Entsendefirmen würden im Wettbewerb mit dem inländischen Gewerbe deutli-
che Preisvorteile erhalten. Für den Erhalt des sozialen Friedens und von fairen
Wettbewerbsbedingungen ist die Spesenregelung in Artikel 2
a
VE-EntsG deshalb ge-
rechtfertigt.
Umsetzungsgesetzgebung des Ergebnisses der Verhandlungen
Die Umsetzung des Verhandlungsresultats bedingt die Aufhebung oder Verkürzung
der achttägigen Voranmeldefrist auf vier Arbeitstage in Risikobranchen, die Einfüh-
rung einer Meldepflicht vor Arbeitsbeginn in den übrigen Branchen und eine Anpas-
sung der Pflicht zur Hinterlegung einer Kaution, die auf den Wiederholungsfall be-
schränkt wurde. Neu wird aufgrund des Verhandlungsergebnisses auch eine Sanktion
bis hin zu einer Dienstleistungssperre bei Nichtleisten der Kaution im Wiederholungs-
fall eingeführt werden.
Aktualisierung der Regelungen zum Datenschutz
Schliesslich sind im Entwurf des EntsG auch Regelungen zum Datenschutz der am
Vollzug des Entsendegesetzes beteiligten Personen vorgesehen. Der bisherige Arti-
kel 8 EntsG enthält nur wenige Ausführungen zum materiellen Datenschutz im Voll-
zug des Entsendegesetzes. Diese Regelungen genügen jedoch dem Legalitätsprinzip
nicht mehr, weshalb in den Artikeln 8
o
– 8
q
VE-EntsG die Datenbearbeitung und Da-
tenbekanntgabe präzisiert und ausführlich geregelt werden. Diese beinhalten die Da-
tenbekanntgabe unter den Vollzugsorganen des EntsG, die Bekanntgabe zwischen den
Vollzugsorganen des EntsG und anderen Behörden der Aufsicht des Arbeitsmarktes
und im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Tätigkeiten.
2.3.7.1.3
Nichtdiskriminierung bei den Studiengebühren
Nach dem Inkrafttreten des Änderungsprotokolls zum FZA sind universitäre Hoch-
schulen und Fachhochschulen verpflichtet, für Studierende, die Staatsangehörige ei-
nes EU-Mitgliedstaates sind, die gleichen Studiengebühren wie für Schweizer Studie-
rende
zu
erheben,
und
zwar
unabhängig
von
ihrem
Wohnsitz.
Der
Nichtdiskriminierungsgrundsatz gilt auch für allfällige Unterstützungsmechanismen
der Hochschulen bezüglich Studiengebühren (z.B. Massnahmen zum Erlass von Stu-
diengebühren). Das ETH-Gesetz vom 4. Oktober 1991
287
muss betreffend Studienge-
bühren angepasst werden (Art. 34d Abs. 2 und 2
bis
).
Der ETH-Rat kann für Studierende aus Drittstaaten höhere Studiengebühren vorse-
hen. Er wird seine Gebührenverordnung entsprechend anpassen.
Mit der vorgeschlagenen Regelung wird die von der Bundesversammlung am 27. Sep-
tember 2024
288
beschlossene Anpassung des ETH-Gesetzes geändert und mit dem
Abkommen in Übereinstimmung gebracht. Der Bundesrat schlägt auch vor, die Kom-
petenz zur Festlegung der Studiengebühren für Studierende aus Drittstaaten wieder
287
SR
414.110
288
BBl
2024
2497
275 / 931
dem ETH-Rat zu übertragen. Er erwartet, dass der ETH-Rat den Beschluss der Bun-
desversammlung für eine höhere Nutzerbeteiligung von ausländischen Studierenden
(siehe oben) in seinen Analysen weiterhin berücksichtigen wird, auch ohne eine kon-
krete Vorgabe im Gesetz.
2.3.7.2
Begleitmassnahmen mit Gesetzesanpassungen
2.3.7.2.1
Zuwanderung
Die Rechte aus dem FZA werden verweigert oder erlöschen, wenn sie in missbräuch-
licher oder betrügerischer Weise geltend gemacht werden. Es soll beispielhaft festge-
halten werden, in welchen Situationen ein solcher Rechtsmissbrauch oder Betrug vor-
liegt (Art.
61c
VE-AIG).
Der Datenaustausch zwischen den Migrationsbehörden, den Arbeitsämtern, den So-
zialhilfebehörden und den für die Ergänzungsleistungen zuständigen Organen soll
verbessert werden. Insbesondere sollen die Arbeitsämter den Migrationsbehörden die
Anmeldung bei der öffentlichen Arbeitsvermittlung (öAV), den Bezug von Arbeits-
losenentschädigung sowie die Verweigerung oder Nichteinhaltung der Wiedereinglie-
derungsstrategie mitteilen (Art. 97 Abs. 3 Bst. d
bis
VE-AIG).
Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten sollen sanktioniert werden, wenn sie gegen
die Pflichten aus Artikel 13
a
VE-AIG verstossen (Art. 120 Abs. 1 Bst. a VE-AIG).
Ausländische Unternehmen oder selbstständige ausländische Dienstleistungserbrin-
gerinnen und Dienstleistungserbringer, die in der Schweiz ein Unternehmen ohne eine
tatsächliche, effektive und dauerhafte Geschäftstätigkeit einzig zu dem Zweck grün-
den, darin Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der EU oder der EFTA zu beschäfti-
gen, um die im FZA oder im EFTA-Übereinkommen vorgesehene Beschränkung von
90 tatsächlichen Arbeitstagen pro Kalenderjahr zu umgehen (Briefkastenfirmen), sol-
len sanktioniert werden können. Gleiches gilt für ausländische Unternehmen oder
selbstständige ausländische Dienstleistungserbringerinnen und Dienstleistungserbrin-
ger, die ohne Erlaubnis und während mehr als 90 tatsächlichen Arbeitstagen pro Ka-
lenderjahr eine Dienstleistung in der Schweiz erbringen (Art. 122
d
VE-AIG).
2.3.7.2.2
Lohnschutz
Ansprechpartnerin oder Ansprechpartner sowie Dokumentationspflicht vor
Ort
Die Verkürzung der Voranmeldefrist von acht Kalendertagen auf vier Arbeitstage und
die Beschränkung der Voranmeldefrist auf Risikobranchen werden, neben der Opti-
mierung und der Weiterentwicklung des zentralen Meldeverfahrens, mit der Pflicht
für Entsendebetriebe zur Benennung einer Ansprechpartnerin oder eines Ansprech-
partners in der Schweiz und der Einführung einer Dokumentationspflicht vor Ort
kompensiert. Letztere Massnahmen sind im Abschnitt über die Umsetzungsgesetzge-
bung ausgeführt (s. Ziff. 2.3.7.1.2).
Optimierung und Weiterentwicklung des zentralen Meldeverfahrens
Um den Anforderungen an die Planung der Kontrollen infolge der Verkürzung der
Voranmeldefrist und deren Beschränkung auf Risikobranchen gerecht zu werden,
wird das Meldeverfahren so weit wie möglich automatisiert und auf Bundesebene
276 / 931
zentralisiert. Neu erfolgt die Weiterleitung der Meldungen nicht mehr durch die vom
Kanton bezeichnete Behörde, sondern durch eine Bundesbehörde. Die Meldung wird
künftig automatisiert und direkt an die zuständigen Kontrollorgane (PK und kantonale
TPK und kantonale Behörde) weitergeleitet. Hierfür ist eine Anpassung des EntsG
notwendig. In Artikel 6 Absatz 6 VE-EntsG wird der Bundesrat ermächtigt, die Bun-
desbehörde zu bestimmen, an welche die Meldung eines Einsatzes in der Schweiz
erfolgen muss und welche für die Übermittlung der Meldung an die Kontrollorgane
zuständig ist. Parallel zu den Anpassungen des Meldeverfahrens im Rahmen der An-
passungen von Artikel 6 Absätze 1, 4 und 6 sind weitere Optimierungen geplant (s.
Ziff. 2.3.7.3.2).
Begleitmassnahmen zur Kautionspflicht
Zur Durchsetzung der künftig auf Wiederholungsfälle beschränkten Kautionspflicht
soll künftig eine Verwaltungssanktion bis hin zu einer Dienstleistungssperre während
der Dauer der Nichtzahlung der Kaution möglich sein (Art. 9 Abs. 2 Bst. b
bis
) Die
übrigen in Artikel 2 Absatz 2
bis
Absatz und 2
quater
EntsG erwähnten kollektivrechtli-
chen Pflichten können wie bis anhin nicht nach Artikel 9 EntsG sanktioniert werden.
Im Übrigen wird die Dienstleistungssperre im Entsendegesetz (Artikel 9 Absatz 2
Buchstaben b bis e EntsG) beibehalten. Die verwaltungsrechtliche Sanktion der
Dienstleistungssperre gilt als unverzichtbares Instrument im Vollzug des Entsendege-
setzes und kommt zur Anwendung, wenn ausländische Entsendebetriebe die Auskunft
bei einer Kontrolle verweigern, Verwaltungsbussen nicht bezahlen oder schwerwie-
gende Verstösse gegen die Arbeits- und Lohnbedingungen begehen.
Zur Kompensation der reduzierten Kautionspflicht wird ausserdem die Haftung des
Erstunternehmers im Bauhaupt- und Baunebengewerbe auf die Forderungen der PK
wie Konventionalstrafen und Kontrollkosten erweitert. Bei Verstössen gegen die mi-
nimalen Arbeits- und Lohnbedingungen durch seine Subunternehmer wird der Erstun-
ternehmer für die aufgrund der Verstösse ausgesprochenen Konventionalstrafen und
Kontrollkosten haftbar gemacht. Damit werden auch die Schwierigkeiten bei der
grenzüberschreitenden Durchsetzung der zivilrechtlichen Konventionalstrafen und
Kontrollkosten behoben. Verwaltungssanktionen nach Artikel 9 können zwar künftig
via die Amtshilfe, die ein Herkunftsstaat dem Aufnahmestaat gewähren muss (s.
Ziff. 2.3.7.1), im Herkunftsstaat eines Entsendebetriebs vollstreckt werden. Die Voll-
streckungshilfe bezieht sich jedoch nur auf Verwaltungssanktionen, nicht aber auf die
zivilrechtlichen Forderungen der PK. Mit der Erweiterung der Haftung des Erstunter-
nehmers wird für die Forderungen der PK in den meisten Fällen ein Gerichtsstand in
der Schweiz gegeben sein. Der Erstunternehmer haftet nur, wenn der Subunternehmer
zuvor erfolglos belangt wurde oder nicht belangt werden kann. Um Ungleichheiten
zwischen inländischen Firmen und Entsendefirmen aus der EU zu vermeiden, wird
die erweiterte Haftung wie die bereits bestehende für die Arbeits- und Lohnbedingun-
gen auch auf inländische Erst- und Subunternehmer angewendet.
Der Lohnschutz soll mit folgenden weiteren Massnahmen im Bereich des öffentlichen
Beschaffungswesens, im OR und im Bereich der Allgemeinverbindlicherklärung von
Gesamtarbeitsverträgen gesichert werden.
277 / 931
GAV-Bescheinigungen im öffentlichen Beschaffungswesen
Bereits heute sind die Anbieterinnen gehalten, im Rahmen einer öffentlichen Beschaf-
fung die Einhaltung der Arbeits- und Lohnbedingungen darzulegen, in der Regel mit-
tels Selbstdeklaration. Damit kann die öffentliche Auftraggeberin jedoch nur be-
schränkt sicherstellen, dass diese Bedingungen auch tatsächlich eingehalten sind.
Wenn es sich um einen öffentlichen Bauauftrag handelt, sollen künftig die GAV-
Bescheinigungen in Branchen mit allgemeinverbindlich erklärten GAV (ave GAV)
zum Standard für den Nachweis der Einhaltung gewisser Teilnahmebedingungen wer-
den: Anbieterinnen, die einem ave GAV für Bauleistungen unterstehen, müssen ge-
mäss vorgeschlagener Anpassung des Bundesgesetzes über das öffentliche Beschaf-
fungswesen (BöB) sowie gemäss vorgesehener Empfehlung der KBOB die GAV-
Bescheinigungen als Nachweis betreffend die Einhaltung der Arbeits- und Lohnbe-
dingungen einreichen. Soweit im Zeitpunkt des Zuschlags bereits Subunternehmerin-
nen gemeldet werden müssen und sofern diese einem ave GAV unterstehen, reicht die
Anbieterin auch für jene Subunternehmerinnen die GAV-Bescheinigung ein. Die
GAV-Bescheinigungen erlauben es den Beschaffungsstellen aller föderalen Ebenen,
die verfügbaren und einsehbaren Ergebnisse von real durchgeführten Kontrollen zu
konsultieren, bevor sie Bauaufträge vergeben. Dadurch kann verhindert werden, dass
Firmen mit offenen Verstössen gegen die Lohn- und Arbeitsbedingungen berücksich-
tigt werden. Die Beschaffungsstellen mehrerer Kantone (z.B. Bern, Genf, Neuenburg,
Waadt und Wallis) haben damit bereits Erfahrungen gesammelt.
Die Aufwertung von GAV-Bescheinigungen gegenüber der Selbstdeklaration der An-
bieterin zielt nur auf das sogenannte Bauhaupt- und das Baunebengewerbe und betrifft
sowohl in- als auch ausländische Anbieterinnen sowie deren Subunternehmerinnen.
Die Massnahme ist damit nichtdiskriminierend. Während inländische Firmen auf-
grund ihres Gepräges einem GAV unterstellt sind, sind ausländische Firmen nur für
ihre jeweilige Tätigkeit in der Schweiz einem bestimmten GAV zugeordnet. Die Aus-
sage der GAV-Bescheinigung bezieht sich bei ausländischen Firmen deshalb immer
auf eine erfolgte Tätigkeit in der Schweiz. Die Massnahme ist zudem verhältnismäs-
sig, weil die Betriebe mit den GAV-Bescheinigungen auf bereits bestehende Instru-
mente zurückgreifen können, die einfach, rasch und gegen ein geringes Entgelt erhält-
lich sind. Mit der vorgesehenen Umsetzung wird sichergestellt, dass Anbieterinnen,
die keinem ave GAV unterstehen, die Einhaltung der Arbeits- und Lohnbedingungen
weiterhin mittels Selbstdeklaration nachweisen können und deswegen nicht von den
Beschaffungsstellen vom Vergabeverfahren ausgeschlossen werden dürfen. Die
GAV-Bescheinigungen sind für ausländische Betriebe, die bereits Leistungen in der
Schweiz erbracht haben, schon heute zu den gleichen Bedingungen erhältlich wie für
Schweizer Betriebe. Um eine diskriminierungsfreie Umsetzung sicherzustellen, wer-
den die paritätischen Kommissionen auch für Firmen, die noch nie in der Schweiz
tätig waren, eine Bescheinigung ausstellen müssen.
Das BöB gilt nicht für kantonale und kommunale Auftraggeberinnen. Die Kantone
verfügen im Bereich des öffentlichen Beschaffungswesens über eigene Gesetzge-
bungskompetenzen. Um sämtliche Auftraggeberinnen (Kantone, Gemeinden, Ein-
278 / 931
richtungen des öffentlichen Rechts usw.) im Hinblick auf die verschärfte Nachweis-
pflicht zu sensibilisieren, wird die Koordinationskonferenz der Bau- und Liegen-
schaftsorgane der öffentlichen Bauherren (KBOB) Empfehlungen verabschieden. In
der KBOB sind alle föderalen Ebenen vertreten.
Diese Massnahme wird insbesondere im Bereich Tiefbau greifen, da mehr als 85 %
der entsprechenden Bauinvestitionen durch öffentliche Bauherren (Bund/Kan-
tone/Gemeinden) getätigt werden; im Hochbau sind es ca. 18 %.
Kündigungsschutz im Obligationenrecht für Arbeitnehmerverterinnen und -
vertreter
Zur Sicherung der sozialpartnerschaftlichen Strukturen beim Lohnschutz soll der
Kündigungsschutz für gewählte Arbeitnehmerverterinnen und -vertreter, Mitglieder
eines Organs einer paritätischen Personalvorsorgeeinrichtung sowie für Mitglieder
nationaler Branchenvorstände, die im Rahmen eines ave GAV tätig sind, neu geregelt
werden. Die neue Regelung soll für Arbeitgebende zur Anwendung gelangen, welche
gemäss der in Artikel 3 des Mitwirkungsgesetzes vom 17. Dezember 1993
289
vorgese-
henen Grenze mindestens fünfzig Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäfti-
gen. Beabsichtigt ein Arbeitgeber die Kündigung einer dieser Personen, hat er dies
dem betreffenden Arbeitnehmer oder der betreffenden Arbeitnehmerin begründet mit-
zuteilen. Die Parteien führen anschliessend auf Verlangen des Arbeitnehmers oder der
Arbeitnehmerin eine Aussprache, die maximal zwei Monate dauert. Die Parteien be-
mühen sich nach Treu und Glauben, aber ohne Ergebnisverpflichtung, um eine Lö-
sung, durch die sich die Kündigung vermeiden lässt. Eine Lösung kann beispielsweise
das Angebot einer vergleichbaren Stelle sein. Nach der Aussprache kann der Arbeit-
geber die Kündigung aussprechen. Im Fall einer missbräuchlichen Kündigung sind
erhöhte Sanktionen bis maximal 10 Monatslöhne vorgesehen. Diese Verbesserung des
Kündigungsschutzes im Obligationenrecht ist auch eine Antwort auf verschiedene
ILO-Empfehlungen an die Schweiz im Rahmen der Klage des SGB gegen die Schweiz
(s. Ziff. 2.3.10.3.5).
Erfordernis der Mehrheit der beteiligten Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer (Arbeitnehmerquorum)
Gemäss Gesetz kann bereits seit Inkrafttreten des AVEG vom Arbeitnehmerquorum
ausnahmsweise abgewichen werden, wenn besondere Verhältnisse vorliegen (Art. 2
Ziff. 3 AVEG). Heute wird diese Ausnahmenregelung bei einer grossen Mehrheit der
Gesuche um Allgemeinverbindlicherklärung auf Bundes- und kantonaler Ebene von
den Arbeitgeber- und den Arbeitnehmerverbänden, die den GAV abgeschlossen ha-
ben, gemeinsam angerufen. Die besonderen Umstände, die die Organisierung der Ar-
beitnehmer erschweren, insbesondere der hohe Anteil an Temporär- und Teilzeitbe-
schäftigten, die hohe Fluktuation oder häufige Wechsel des Arbeitsortes, sind heute
in vielen Branchen Realität. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Allgemein-
verbindlicherklärung grundsätzlich im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
289
SR
822.14
279 / 931
nehmer liegt, da ihnen der GAV in erster Linie Vorteile bringt und ihnen Minimal-
rechte (Lohn, Arbeitszeit, Ferien, usw.) garantiert werden, weshalb von der Mehrheit
der beteiligten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abgewichen werden kann.
Eine neue Regelung, die das Abweichen bei besonderen Umständen nicht mehr nur
ausnahmsweise zulässt, wird die gängige und unter den Sozialpartnern breit abge-
stützte Praxis der zuständigen Behörden auf Bundes- und Kantonsebene im Gesetz
abbilden. Dies soll zu mehr Rechtssicherheit für die gesuchstellenden GAV-Parteien
führen. Jedoch führt die neue Regelung nicht zu einer Erleichterung der Allgemein-
verbindlicherklärung von neuen GAV. Die drei Quoren gemäss Artikel 2 Ziffer 3 sind
nach wie vor einzuhalten und die GAV-Parteien haben auch weiterhin nachzuweisen,
dass besondere Umstände vorliegen, welche die Organisierung der Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer in der Branche erschweren und die Abweichung vom Arbeit-
nehmerquorum rechtfertigen.
Besondere Mehrheit als Voraussetzung zur Verlängerung von bereits
allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträgen
Verschiedene Arbeitgeberverbände, insbesondere in Branchen mit vielen Kleinstbe-
trieben mit wenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und vielen Betriebsneu-
gründungen, bekunden seit einigen Jahren zunehmend Schwierigkeiten, das gefor-
derte Arbeitgeberquorum (Mehrheit der an einem GAV beteiligten Arbeitgeber) zu
erreichen. Zur Sicherung der heute bereits allgemeinverbindlich erklärten GAV ist
deshalb eine Anpassung beim Arbeitgeberquorum notwendig, da gemäss geltendem
Recht bei dessen Nichterfüllung die Allgemeinverbindlicherklärung nicht mehr erteilt
werden kann. Vertragsparteien, deren GAV bereits allgemeinverbindlich erklärt
wurde, sollen daher aufgrund der besonderen Mehrheit die Weiterführung ihrer All-
gemeinverbindlicherklärung auch dann beantragen können, wenn das Arbeitgeber-
quorum nicht mehr erfüllt ist. Liegt das Arbeitgeberquorum unter 50 Prozent, aber bei
mindestens 40 Prozent, wird kompensierend das gemischte Quorum (Anteil der durch
die beteiligten Arbeitgeber beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer) ent-
sprechend höher liegen bzw. stärker gewichtet. Mit dem gemischten Quorum wird der
Anteil der Arbeitsverhältnisse stärker berücksichtigt, auf die der GAV sowieso zur
Anwendung gelangt, und die grösseren Arbeitgeber in einer Branche werden stärker
gewichtet. GAV, die noch nie allgemeinverbindlich erklärt waren, sollen hingegen
nicht von einer solchen im AVEG neu zu schaffenden Regelung profitieren können.
Bei der erstmaligen Allgemeinverbindlicherklärung eines GAV müssen nach wie vor
alle drei Quoren gemäss Artikel 2 Ziffer 3 erfüllt sein.
Verbesserter Rechtsschutz
Mit der Schaffung des neuen Artikels im AVEG wird den am GAV nicht beteiligten
Arbeitgebern (sogenannten Aussenseitern) ermöglicht, nach Einleitung von Unterstel-
lungsabklärungen durch eine paritätische Kommission eines ave GAV mittels Erhe-
bung einer negativen Feststellungsklage eine zivilgerichtliche Klärung der Unterstel-
lungsfrage einleiten zu können. Diese Bestimmung richtet sich nach Artikel 88 ZPO,
der die allgemeinen Voraussetzungen für die Feststellungsklage regelt. Die Änderung
ist notwendig, da Unterstellungsabklärungen lange dauern können und bisher eine ge-
280 / 931
richtliche Klärung der Unterstellung regelmässig erst nach Vorliegen eines Unterstel-
lungsentscheids bzw. einer Betreibung herbeigeführt werden kann. Mit der vorge-
schlagenen Änderung wird deshalb dem Bedürfnis der nicht beteiligten Arbeitgeber
nach einer Verbesserung ihres Rechtsschutzes Rechnung getragen.
Ave GAV gehen gemäss Artikel 4 Absatz 2 AVEG nicht ave GAV vor. Dies kann
dazu führen, dass mehrere GAV auf einen Betrieb zur Anwendung kommen können,
wenn dieser Betrieb verschiedene Tätigkeiten ausübt. Um mehr Rechtssicherheit und
frühzeitige Klarheit betreffend eine allfällige Unterstellung unter einen allgemeinver-
bindlich zu erklärenden GAV zu schaffen, sollen in klar definierten Konstellationen
Verbände, die Vertragspartei eines nicht ave GAV sind, bei der für die Allgemeinver-
bindlicherklärung zuständigen Behörde eine Klarstellung im Geltungsbereich einer
Allgemeinverbindlicherklärung beantragen können, wonach ihre Mitglieder nicht in
den betrieblichen Geltungsbereich eines allgemeinverbindlich zu erklärenden GAV
fallen. Diese Regelung kommt nur zum Zug, wenn die entsprechenden Arbeitgeber
(Betriebe und Betriebsteile) ihre überwiegenden Tätigkeiten im Geltungsbereich des
von ihnen einzuhaltenden nicht ave GAV ausführen.
2.3.7.2.3
Gleichbehandlung bezüglich Studiengebühren
Die Schweiz verpflichtet sich, Studierende, die Staatsangehörige eines EU-
Mitgliedstaates sind, bei den Studiengebühren von überwiegend öffentlich finanzier-
ten universitären Hochschulen und Fachhochschulen gleich zu behandeln wie Schwei-
zer Studierende, und zwar unabhängig von ihrem Wohnsitz.
Heute erheben verschiedene kantonale Hochschulen höhere Studiengebühren für aus-
ländische Studierende. Die Gleichbehandlung der Angehörigen der EU-
Mitgliedstaaten mit den Schweizer Studierenden generiert somit finanzielle Ausfälle.
Gemäss einer Studie von Ecoplan
290
hätte eine solche Gleichbehandlung im Jahr 2024
bei den kantonalen Universitäten und universitären Institute zu Mindereinnahmen in
der Höhe von rund 17,3 Mio. CHF und bei den Fachhochschulen von rund 4,5 Mio.
CHF geführt (insgesamt rund 21,8 Mio. CHF; Zahlenbasis Studierendenzahlen
2023/24, Studiengebühren 2024). Es wird vorgeschlagen, dass die nach Inkrafttreten
des Änderungsprotokolls anfallenden Ausfälle befristet und je hälftig von Bund und
Kantonen getragen werden. Der Bund verteilt seinen Anteil an die kantonalen Uni-
versitäten, universitären Institute und Fachhochschulen zum einen gemäss ihren kon-
kreten Einbussen, zum andern gemäss ihren Anteilen der Studierenden, die zu Stu-
dienzwecken aus der EU in die Schweiz kommen. Damit wird berücksichtigt, dass die
Hochschulen die Kosten für die Studierenden aus der EU – im Gegensatz zu denjeni-
gen für Studierende aus anderen Kantonen – weitgehend selber tragen. Die prozentu-
ale Aufteilung der beiden Kriterien soll sich in den Folgejahren dynamisch entwi-
ckeln. Der Bundesrat schlägt vor, den Bundesbeitrag im ersten Jahr zu 80 Prozent
gemäss den konkreten Einbussen und zu 20 Prozent gemäss ihrem Anteil von Studie-
290
www.sem.admin.ch > Publikation & Service > Service > Forschung und Evaluation > Stu-
die von Ecoplan vom 09.05.2025: «RFA zur Teilübernahme der Unionsbürgerrichtlinie
UBRL. Auswirkungen auf die staatlichen Institutionen».
281 / 931
renden, die Staatsangehörige eines EU-Mitgliedstaats sind, an die beitragsberechtig-
ten Hochschulen auszurichten. In den drei Folgejahren sollen sich diese Anteile zu-
gunsten des Kriteriums «Studierendenanteil» entwickeln.
Für die Ausrichtung des Bundesanteils ist eine Anpassung des Hochschulförderungs-
und -koordinationsgesetzes (HFKG
291
) notwendig.
2.3.7.3
Begleitmassnahmen ohne Gesetzesanpassungen
2.3.7.3.1
Zuwanderung
Monitoringkonzept und innerstaatlicher Entscheidprozess zur Schutzklausel
Das SEM wird in Zusammenarbeit mit dem SECO und dem BFS ein Monitoringkon-
zept für die Schutzklausel auslösenden Indikatoren und Schwellenwerte erarbeiten.
Dieses Konzept soll die genaue Definition der Indikatoren, Empfehlungen zur Höhe
der Schwellenwerte und zur praktischen Umsetzung des Monitorings (welche Berech-
nungen konkret verwendet werden, wie regelmässig eine Kontrolle der Indikatoren
und Schwellenwerte stattfinden soll etc.) umfassen. Das Monitoring erlaubt es in Er-
gänzung zu bestehenden Instrumenten, die Auswirkungen der Anwendung des FZA
auf Zuwanderung, Arbeitsmarkt, soziale Sicherheit sowie weitere Bereiche wie Woh-
nungswesen und Verkehr zu beobachten und bildet eine Grundlage für den Entscheid
über eine Auslösung der Schutzklausel.
Gleichzeitig wird das SEM in Zusammenarbeit mit dem SECO und dem EDA ein
Konzept zum innerstaatlichen Entscheidprozess zur Schutzklausel erarbeiten. Dieses
Konzept wird die Kompetenzen zur Beantragung der Aktivierung der Schutzklausel
innerhalb der Bundesverwaltung beschreiben und festhalten, welche konkreten
Schritte vorgenommen werden müssen, wenn die Aktivierung der Schutzklausel
durch den Bundesrat geprüft wird.
2.3.7.3.2
Lohnschutz
Optimierung und Weiterentwicklung des zentralen Meldeverfahrens
Parallel zu den Anpassungen des Meldeverfahrens im Rahmen von Artikel 6 Ab-
sätze 1, 4 und 6 EntsG (s. Ziff. 2.3.7.2.2) sind weitere Verbesserungsmassnahmen ge-
plant.
Die zentralisierte und automatisierte Triage sowie die Übermittlung der Meldungen
erfolgen neu vom Bund direkt an die zuständigen Kontrollorgane (paritätische Kom-
missionen, kantonale tripartite Kommissionen und die vom Kanton nach Art. 7 Abs. 1
Bst. d VE-EntsG bezeichnete Behörde) und bewirken, dass die eingegangenen Mel-
dungen basierend auf den im System hinterlegten kantonalen Parametrisierungen au-
tomatisiert triagiert und dem zuständigen Kontrollorgan (noch vor der Bearbeitung
der Meldung durch den Kanton) übermittelt werden. Die Kantone zeichnen sich für
die Hinterlegung der Parametrisierung verantwortlich. Diese Parametrisierung muss
die kantonale Vollzugslandschaft abbilden und regelmässig durch die kantonalen
Vollzugsorgane aktualisiert werden.
291
SR
414.20
282 / 931
Gleichzeitig zur Triage wird die Meldung durch die zuständige kantonale Behörde
bearbeitet, wobei auch bei diesem Prozessschritt grösstmögliche Automatisierung und
eine möglichst frühzeitige Notifikation an die Kontrollorgane angestrebt werden. Auf-
grund der Rückmeldung der Kontrollorgane zur Triage (korrekt oder fehlerhaft und
in diesem Fall insbesondere zur richtigen Zuordnung und zur effektiv ausgeübten Tä-
tigkeit) soll das Triage-Instrument mit der Zeit dazulernen.
In einem nächsten Schritt wird gemeinsam mit den involvierten Stellen auf Bundes-
ebene, den Vertreterinnen und Vertretern der Kantone und der Sozialpartner zu klären
sein, wie und in welchen Systemen die obenstehenden Prozessschritte effizient um-
gesetzt werden. Dazu werden verschiedene Ansätze vertieft.
Die Weiterentwicklung des Online-Meldeverfahrens infolge Verkürzung der Voran-
meldefrist ist eingebettet in ein gemeinsames Vorhaben von SEM, SECO und den
FlaM-Vollzugsorganen zur Optimierung des Meldeverfahrens. Phase I dieses Vorha-
bens wurde im März 2025 umgesetzt und fokussierte sich auf Massnahmen zur Ver-
besserung der Datenqualität und der Datenübermittlung. Mit dieser ersten Phase
wurde die Basis für grundlegendere Weiterentwicklungen respektive Digitalisie-
rungsschritte (Phase II) geschaffen. Phase II dient der Weiterentwicklung des Melde-
verfahrens und greift dafür konzeptionell grundsätzlichere Fragen auf.
Paritätische Baustellenausweise auf Baustellen der öffentlichen Hand
Auf Baustellen der öffentlichen Hand soll die Verwendung der von den paritätischen
Vollzugsorganen ausgestellten oder in Zusammenarbeit mit diesen erstellten Identifi-
kationsausweise (Baustellenausweise/«Baucard») für die Arbeitnehmenden der Zu-
schlagsempfängerin und ihrer Subunternehmerinnen zur Pflicht werden. Diese Mass-
nahme ist auf diejenigen Branchen beschränkt, deren Gesamtarbeitsverträge
allgemein verbindlich erklärt sind und die zudem ein – in der Regel von paritätischen
Vollzugsorganen gegen ein kleines Entgelt zur Verfügung gestelltes – System zur ver-
besserten Durchführung von Kontrollen der massgeblichen Arbeitsbedingungen vor-
sehen. Heute ist dies beispielsweise der Fall im Bauhauptgewerbe, zu dem unter an-
derem Arbeiten für die tragenden Elemente eines Bauwerks, wie Hoch- und Tiefbau,
Strassenbau und Aushub-/Abbrucharbeiten zählen.
Die Verwendung eines Baustellenausweises bei der Erbringung von Bauleistungen
(bzw. im Bauhaupt- und Baunebengewerbe gemäss
kantonaler Terminologie, siehe
Art. 8 Abs. 2 Bst. a Interkantonale Vereinbarung über das öffentliche Beschaffungs-
wesen [IVöB]) wird die Kontrollen auf Baustellen der öffentlichen Hand vereinfachen
und verbessert für den Bauherren (bzw. die Auftraggeberin) sowie den Erstunterneh-
mer (i.d.R. die Zuschlagsempfängerin) den Überblick, welche Firmen und Arbeitneh-
menden effektiv auf der Baustelle arbeiten. Diese Massnahme wird beim Bund auf
Stufe der Verordnung vom 12. Februar 2020
292
über das öffentliche Beschaffungswe-
sen (VöB) eingeführt, indem Artikel 12 Absatz 5 Satz 3 BöB in der VöB konkretisiert
wird. Mit Blick auf die Sensibilisierung kantonaler und kommunaler Auftraggeberin-
nen ist wie bei der Pflicht zur Einreichung einer GAV-Bescheinigung eine KBOB-
Empfehlung geplant (s. Ziff. 2.3.7.2.2). Mit einer entsprechenden Umsetzung wird
garantiert, dass diese Baustellenausweise auch für ausländische Anbieterinnen einfach
292
SR
172.056.11
283 / 931
erhältlich sein werden. Sie dürfen keinen Hinderungsgrund für eine Teilnahme an öf-
fentlichen Ausschreibungen darstellen.
Die Pflicht zur Verwendung eines solchen Kontrollsystems wird unter Berücksichti-
gung des konkreten Auftrags gelten. Sie eignet sich insbesondere bei grösseren Bau-
aufträgen, während bei kleineren Bauaufträgen wie etwa kleinere Reparaturarbeiten
darauf verzichtet werden kann. Daher wird der Auftraggeberin ein gewisses Ermessen
eingeräumt. Betroffen sind in- und ausländische Anbieterinnen und deren allfällige
Subunternehmerinnen, die in der Schweiz im Rahmen eines öffentlichen Auftrags
Bauleistungen erbringen. Es handelt sich somit um eine nicht diskriminierende Mas-
snahme, da sie ausländische Anbieterinnen und Subunternehmerinnen nicht an der
Leistungserbringung hindert. Die Massnahme ist zudem verhältnismässig, weil sie auf
Bauleistungen beschränkt ist und weil die Anbieterinnen und Subunternehmerinnen
mit den Baustellenausweisen auf bestehende Instrumente zurückgreifen können, die
rasch ausgestellt werden und mit geringen Kosten verbunden sind.
2.3.7.4
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
Die mit den Änderungen im Rahmen der Personenfreizügigkeit mit der EU verbun-
denen Kosten stehen in einem vernünftigen Verhältnis mit den formulierten Zielen
des Bundesrates, namentlich der Modernisierung der bilateralen Abkommen mit der
EU. Das FZA ist aus einer volkswirtschaftlichen Perspektive das wichtigste Abkom-
men (s. Ziff. 2.3.9.3).
2.3.7.5
Umsetzungsfragen
2.3.7.5.1
Zuwanderung
Staatsangehörige der EFTA-Mitgliedstaaten
Bisher gelten für Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten und für Staatsangehörige
der Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA; Mitgliedstaaten
sind Norwegen, Island, Liechtenstein und die Schweiz) die gleichen Regeln, da im
EFTA-Übereinkommen bis auf wenige Ausnahmen das gleiche Recht wie im FZA
von 1999 übernommen wurde (s. Art. 20 und Anhang K Anlage 1 des EFTA-
Übereinkommens vom 4. Januar 1960
293
).
Der EFTA-Rat ist nicht befugt, die Bestimmungen im Hauptteil von Anhang K
(Art. 53 Abs. 4 des EFTA-Übereinkommens) oder in Anlage 1 zu diesem Anhang
über die Freizügigkeit (Art. 14 Abs. 3 Anhang K) zu ändern. Für eine Anpassung des
Hauptteils sowie von Anhang K Anlage 1 des EFTA-Übereinkommens müsste ein
neues Abkommen mit Norwegen, Island und Liechtenstein ausgehandelt werden.
Ohne entsprechendes Mandat mit einer daraus folgenden internationalen Verpflich-
tung, Staatsangehörigen der EFTA-Mitgliedstaaten zusätzliche Rechte zu gewähren,
sind die Änderungen des AIG nicht auf sie anwendbar. So bleiben die massgebenden
Rechtsgrundlagen des AIG und der VFP in Bezug auf die Bewilligungsarten und Aus-
länderausweise, die Anmelde- und Bewilligungsverfahren sowie die Beendigung der
Anwesenheit und die Fernhalte- und Entfernungsmassnahmen anwendbar.
293
SR
0.632.31
284 / 931
Aufenthaltsdokumente und Dokumente für Grenzgängerinnen und
Grenzgänger
Die Richtlinie 2004/38/EG sieht Aufenthaltsdokumente für Aufenthalte von länger
als drei Monaten vor, die das Aufenthaltsrecht in der Schweiz bestätigen: eine Anmel-
debescheinigung für Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten (Art. 8 Abs. 2) und
eine Aufenthaltskarte für ihre Familienangehörigen aus Drittstaaten (Art. 9 Abs. 1).
Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten erhalten somit keine Kurzaufenthalts- oder
Aufenthaltsbewilligungen mehr, im Gegensatz zu ihren Familienangehörigen aus
Drittstaaten.
Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die in der Schweiz eine unselbstständige
oder selbstständige Erwerbstätigkeit als Grenzgängerin oder Grenzgänger ausüben,
behalten ihren Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat. Das aufdatierte FZA sieht vor,
dass sie registriert werden können, wenn die Dauer der geplanten Erwerbstätigkeit
drei Monate übersteigt. Sie erhalten in diesem Fall eine Registrierungsbescheinigung
(neuer Art. 7
a
FZA).
Die Modalitäten der Ausstellung dieser Dokumente sollen in der VFP geregelt wer-
den. Folgende Dokumente sollen ausgestellt werden:
–
für Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten: ein als «Anmeldebescheini-
gung» geltender Aufenthaltstitel;
–
für ihre Familienangehörigen aus Drittstaaten, die nachgezogen werden: ein
als «Aufenthaltskarte» geltender Aufenthaltstitel;
–
für Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die eine Erwerbstätigkeit als
Grenzgängerin oder Grenzgänger ausüben: eine Sonderbescheinigung zum
Nachweis der Registrierung der ausgeübten Erwerbstätigkeit.
Die Gültigkeitsdauer dieser Dokumente soll ebenfalls in der VFP präzisiert werden.
Die Richtlinie 2004/38/EG regelt die Gültigkeitsdauer der Anmeldebescheinigung
nicht. Sie schliesst die Möglichkeit nicht aus, ein Gültigkeitsdatum in Verbindung mit
der Dauer des geplanten Aufenthalts einzutragen. Mit Ablauf der Gültigkeitsdauer
eines ausgestellten Ausweises gehen die Rechte aus dem FZA aber nicht verloren, da
die Bescheinigung eine rein deklaratorische Wirkung hat. Sie soll lediglich das Beste-
hen eines Aufenthaltsrechts zum Zeitpunkt der Ausstellung feststellen. Zudem soll die
Einführung einer Gültigkeitsdauer nicht dazu führen, dass systematisch geprüft wird,
ob die betroffenen Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten die Voraussetzungen
gemäss FZA erfüllen. Eine solche Prüfung wird nur im Einzelfall durchgeführt, wenn
begründete Zweifel bestehen (s. Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG). Die Auf-
enthaltskarte, die Drittstaatsangehörigen ausgestellt wird, gilt für fünf Jahre ab dem
Zeitpunkt der Ausstellung oder für die geplante Dauer des Aufenthalts, wenn diese
weniger als fünf Jahre beträgt (Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG).
Es ist vorgesehen, Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten und ihren Familienan-
gehörigen weiterhin einen Ausweis mit folgender Gültigkeitsdauer auszustellen:
–
ein Jahr (L) für geplante Aufenthalte von weniger als einem Jahr;
285 / 931
–
fünf Jahre (B) für geplante Aufenthalte von mehr als einem Jahr.
Der neue Artikel 7
a
FZA regelt die Gültigkeitsdauer der Registrierungsbescheinigung
für Grenzgängerinnen und Grenzgänger ebenfalls nicht. Diese Bestimmung schliesst
die Möglichkeit nicht aus, eine Gültigkeitsdauer gemäss der geplanten Erwerbstätig-
keit vorzusehen. Es ist vorgesehen, Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten, die in
der Schweiz eine Erwerbstätigkeit als Grenzgängerin oder Grenzgänger ausüben, eine
Sonderbescheinigung (G) mit folgender Gültigkeitsdauer auszustellen:
–
ein Jahr bei einem auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrag;
–
fünf Jahre bei einem auf mehr als ein Jahr befristeten oder einem unbefris-
teten Arbeitsvertrag sowie für selbstständig Erwerbstätige.
Nachzug von weiteren Familienangehörigen
Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie 2004/38/EG legt fest, welche Familienangehörigen
ein Einreise- und Aufenthaltsrecht haben. Gemäss Artikel 3 Absatz 2 dieser Richtlinie
muss die Schweiz nach Massgabe ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften die Ein-
reise und den Aufenthalt «weiterer» Familienangehöriger unabhängig ihrer Staatsan-
gehörigkeit erleichtern. Dabei handelt es sich um Familienangehörige, die in finanzi-
eller oder physischer Hinsicht (z. B. schwerwiegende gesundheitliche Gründe) von
Staatsangehörigen eines EU-Mitgliedstaats abhängig sind oder die mit ihnen in häus-
licher Gemeinschaft gelebt haben, sowie um die Lebenspartnerinnen oder den Leben-
spartnern, mit denen eine ordnungsgemäss bescheinigte dauerhafte Beziehung einge-
gangen wurde. Die persönlichen Umstände müssen gründlich geprüft werden und eine
Verweigerung der Einreise oder des Aufenthalts dieser Personen muss begründet wer-
den.
Gemäss Artikel 30 Absatz 1 Buchstabe b AIG kann bereits heute von den Zulassungs-
voraussetzungen abgewichen werden, um schwerwiegenden persönlichen Härtefällen
Rechnung zu tragen. Die allgemeinen Voraussetzungen und das Verfahren für solche
Härtefälle hat der Bundesrat in Artikel 31 VZAE festgelegt. Bei der Beurteilung sind
insbesondere folgende Kriterien zu berücksichtigen: die Integration der Gesuchstelle-
rin oder des Gesuchstellers anhand der Integrationskriterien nach Artikel 58
a
Ab-
satz 1 AIG; die Familienverhältnisse, insbesondere der Zeitpunkt der Einschulung und
die Dauer des Schulbesuchs der Kinder; die finanziellen Verhältnisse; die Dauer der
Anwesenheit in der Schweiz; der Gesundheitszustand sowie die Möglichkeiten für
eine Wiedereingliederung im Herkunftsstaat. Diese Aufzählung ist nicht abschlies-
send.
Gemäss heutiger Praxis kann eine Aufenthaltsbewilligung nach Artikel 31 VZAE er-
teilt werden namentlich an unterstützungsbedürftige Verwandte, die zwingend auf die
Betreuung durch in der Schweiz wohnhafte Personen angewiesen sind (s. Ziff. 5.6.2
der Weisungen SEM I.
294
), an Konkubinatspartnerinnen und -partner (s. Ziff. 5.6.3
und 5.6.4) sowie an gleichgeschlechtliche Partnerinnen und Partner, die auf eine Hei-
rat oder eine Eintragung ihrer Partnerschaft verzichtet haben, beispielsweise wegen
294
Weisungen SEM I. unter: www.sem.admin.ch > Publikationen & Service > Weisungen
und Kreisschreiben > I. Ausländerbereich.
286 / 931
drohender Benachteiligung im Heimatland der Partnerin oder des Partners
(s. Ziff. 5.6.6).
Die zuständigen Behörden (Art. 88 VZAE) berücksichtigen bei der Ermessensaus-
übung die öffentlichen Interessen und die persönlichen Verhältnisse sowie die In-
tegration der Ausländerinnen und Ausländer (Art. 96 Abs. 1 AIG). Die Erteilung einer
Aufenthaltsbewilligung bei einem schwerwiegenden persönlichen Härtefall ist dem
SEM zur Zustimmung zu unterbreiten (Art. 85 Abs. 2 VZAE und Art. 5 Bst. d der
Verordnung des EJPD vom 13. August 2015
295
über das ausländerrechtliche Zustim-
mungsverfahren [ZV-EJPD]).
Mit dem geltenden Recht werden die in Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie 2004/38/EG
erfassten Situationen bereits berücksichtigt. Eine Anpassung des AIG oder der VZAE
ist daher nicht nötig.
Biometrische Identitätskarten
Die Einführung von biometrischen Identitätskarten erfolgt auf Stufe der Ausweisver-
ordnung vom 20. September 2002
296
mit einem separaten Rechtsetzungsprojekt. Da-
bei werden im Wesentlichen das zusätzliche Modell der biometrischen Identitätskarte
zusätzlich aufgenommen und kostendeckende Gebühren für Bund und Kantone fest-
gelegt. Es wird eine Vernehmlassung zur Revision der Ausweisverordnung durchge-
führt werden. Die Einführung der biometrischen Identitätskarten soll in jedem Fall
rechtzeitig vor dem Ablauf der mit Artikel 7
g
des Änderungsprotokolls zum FZA
derogierten Fristen erfolgen.
Immobilienerwerb
Die weiterhin unverändert geltende Ausnahmeregelung zum Immobilienerwerb (s.
Ziff. 2.3.6.2.2, Erläuterungen zum Art. 1 Ziff. 6 des Änderungsprotokolls betreffend
Art. 7
f
des FZA) benötigt keine Umsetzungsgesetzgebung in Form einer Anpassung
des BewG. Die zu erwartenden Anpassungen der Ausführungsbestimmungen zum
AIG (z.B. die VFP) bezüglich der Bezeichnung für die schweizerischen Aufenthalts-
titel und Grenzgängerbescheinigungen der Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten
können rein technische Anpassungen der Verordnung vom 1. Oktober 1984
297
über
den Erwerb von Grundstücken durch Personen im Ausland zur Folge haben (voraus-
sichtlich insbesondere Art. 2 Abs. 2, Art. 18
a
Abs. 3 und Anhang II Ziffer 15 BewV).
Zulassungsvoraussetzungen für Ärztinnen und Ärzte
Damit Ärztinnen und Ärzte als Leistungserbringer gelten und über die Krankenkassen
abrechnen können, müssen sie gemäss Artikel 37 KVG mindestens drei Jahre im be-
antragten Fachgebiet an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte ge-
arbeitet haben. Sie müssen zudem die in ihrer Tätigkeitsregion notwendige Sprach-
kompetenz mittels einer in der Schweiz abgelegten Sprachprüfung nachweisen. Diese
Nachweispflicht entfällt für Ärztinnen und Ärzte, die über bestimmte Abschlüsse
295
SR
142.201.1
296
SR
143.11
297
SR
211.412.411
287 / 931
(z. B. schweizerische Maturität) in der Amtssprache der jeweiligen Tätigkeitsregion
verfügen.
Im Rahmen des GA des FZA machte die EU geltend, dass Artikel 37 KVG gegen das
Nichtdiskriminierungsgebot gemäss Artikel 2 FZA und gegen Artikel 55 der Richtli-
nie 2005/36/EG (Anhang III FZA) verstösst und verlangt, dass die Konformität mit
dem FZA hergestellt wird. Obwohl der Bundesrat bei parlamentarischen Beratungen
auf diesen Konflikt mit dem FZA hinwies (siehe seine Stellungnahme vom 25. Januar
2023
298
zur Parlamentarischen Initiative 22.413 «Ausnahmen von der dreijährigen
Tätigkeitspflicht gemäss Artikel 37 Absatz 1 KVG bei nachgewiesener Unterversor-
gung), sah das Parlament bisher keinen Handlungsbedarf eine Anpassung von Arti-
kel 37 KVG in Bezug auf die Vereinbarkeit mit dem FZA anzugehen.
2.3.7.5.2
Lohnschutz
Die bisherige Organisation und Zusammenarbeit im Vollzug des EntsG und der Ar-
beitsmarktbeobachtung gemäss Artikel 360
b
OR erfordert keine gesetzlichen Anpas-
sungen. Bezüglich der Vollstreckungshilfe von Verwaltungssanktionen auf Ersuchen
eines EU-Mitgliedstaates, ist darauf hinzuweisen, dass im Bereich des EntsG und des
Bundesgesetzes vom
11. April 1889
über
Schuldbetreibung
und
Konkurs
(SchKG)299 hauptsächlich die kantonalen Behörden für die konkrete Umsetzung der
rechtlichen Bestimmungen zuständig sein werden. Somit setzt die geplante Regelung
die aktive Zusammenarbeit der kantonalen Behörden im Bereich des EntsG und des
SchKG voraus. Im Übrigen erfordert die vorgeschlagene Änderung keine Anpassung
des kantonalen Rechts.
Die Ausführungsbestimmungen für die Umsetzung der Änderungen des Entsendege-
setzes werden in der Verordnung vom 21. Mai 2003
300
über die in die Schweiz ent-
sandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (EntsV) geregelt.
Weiter stellen sich Umsetzungsfragen betreffend die automatisierte Triage und Über-
mittlung der Meldungen eines Einsatzes in der Schweiz (vgl. Art. 6 Abs. 1, 4 und 6
sowie die entsprechenden Erläuterungen). Im Vorfeld wurde mit Vertreterinnen und
Vertretern der involvierten Bundesbehörden, der Kantone und der Sozialpartner ge-
prüft, wie die Prozessschritte des Meldeverfahrens effizienter ausgestaltet werden
können. In Zukunft werden die Triage und Weiterleitung der Meldungen nicht mehr
durch die Kantone, sondern zentral durch eine Bundesbehörde erfolgen. Infrage
kommt hierbei das SECO oder das SEM. Zur automatisierten Triage der Meldungen
wird künftig ein zentrales und lernendes maschinenbasiertes Triage-Instrument ein-
gesetzt werden. Zudem wird in Zukunft möglich sein, dass die Weiterleitung der Mel-
dung automatisiert über eine elektronische Schnittstelle erfolgt (bspw. über die Platt-
form für elektronische Kommunikation nach Art. 8
r
VE-EntsG). Wie und in welchen
Systemen die automatisierte Triage und Weiterleitung der Meldung am effizientesten
umgesetzt werden kann, wird im Rahmen einer Expertengruppe mit Vertreterinnen
und Vertretern der involvierten Bundesbehörden, der Kantone und der Sozialpartner
geklärt werden.
298
BBl
2023
343
299
SR
281.1
300
SR
823.201
288 / 931
Der grenzüberschreitende Behördenaustausch via IMI wird in der Schweiz vorwie-
gend mit den kantonalen Amtsstellen und den PK stattfinden. Die zuständigen kanto-
nalen Amtsstellen werden deshalb als IMI-Koordinationsstellen für ihr Kantonsgebiet
die Möglichkeit erhalten, weitere kantonale Amtsstellen im System aufzunehmen.
Das SECO wird für den Bereich «Entsendung von Arbeitnehmenden» die Rolle der
nationalen Koordination wahrnehmen. Die Kantone und die PK wurden konsultiert.
Da mit der EU verhandelt wurde, dass die Ausnahmen von der dynamischen Rechts-
übernahme, die Übernahme des EU-Entsenderechts und der Anschluss an das IMI erst
drei Jahre nach Inkrafttreten des angepassten FZA in Kraft treten, ist genügend Zeit
vorhanden, um die organisatorischen Vorkehrungen zu treffen. Die zuständige kanto-
nale Amtsstelle wird für den zusätzlichen Koordinationsaufwand entschädigt.
Neue Instrumente im Vollzug des EntsG wie die Bereithaltung von Dokumenten vor
Ort und die Benennung einer Ansprechpartnerin oder eines Ansprechpartners sowie
die Organisation der Beteiligung der Vollzugsorgane am IMI wurden im Vorfeld mit
Vertreterinnen und Vertretern der Kantone und der Sozialpartner auf die Vollzug-
stauglichkeit hin geprüft.
Öffentlichen Beschaffungswesen
Die von den Anbieterinnen einzureichenden GAV-Bescheinigungen für sich und ihre
allfälligen Subunternehmerinnen unterstützen die öffentliche Auftraggeberin bei der
Kontrolle der Einhaltung der Arbeits- und Lohnbedingungen, bevor sie einen Bauauf-
trag erteilt. Während der Ausführung des Bauauftrags erleichtern die von den paritä-
tischen Vollzugsorganen zur Verfügung gestellten Baustellenausweise die Kontrollen
auf öffentlichen Baustellen. Die Einführung dieser beiden Massnahmen wird einen
gewissen Schulungs- und Initialaufwand bei den öffentlichen Auftraggeberinnen so-
wie voraussichtlich Anpassungen bei manchen Vorlagen (z.B. Musterverträge) erfor-
dern. Unter anderem muss den öffentlichen Auftraggeberinnen vermittelt werden, in
welchen Fällen bzw. bei welchen Branchen eine GAV-Bescheinigung oder die Ver-
wendung von Baustellenausweisen zu verlangen ist.
2.3.8
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des
Umsetzungserlasses
2.3.8.1
Zuwanderung
2.3.8.1.1
Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG)
Art. 2 Abs. 2
Das AIG gilt für Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten und ihre Familienangehö-
rigen sowie für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die von Arbeitgebern mit Sitz
oder Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat in die Schweiz entsandt wurden, soweit das
FZA keine abweichenden Bestimmungen enthält oder dieses Gesetz günstigere Best-
immungen vorsieht (
subsidiäre Anwendung;
Art. 2 Abs. 2 zweiter Satz VE-AIG, wel-
cher der Formulierung des geltenden Art. 2 Abs. 2 AIG entspricht).
Es soll nun präzisiert werden, dass das AIG für diese Personen gilt, soweit das Gesetz
dies ausdrücklich vorsieht (
direkte Anwendung
; Art. 2 Abs. 2 erster Satz VE-AIG).
289 / 931
Einige Bestimmungen setzen das FZA um: Art. 13
a
(Besondere Pflichten), 41
c
(So-
zialhilfeausschluss), 61
a
(Verlust des Status als Erwerbstätige), 61
c
(Rechtsmiss-
brauch) und 120 VE-AIG (Sanktionen). Die anderen Bestimmungen werden geändert
oder neu geschaffen, weil die geltenden Bestimmungen des AIG nicht subsidiär auf
Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten angewandt werden können, da das System
der «Bewilligungen» durch die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG wegfällt:
Artikel 15 (Abmeldung), 61
d
(Erlöschen des Aufenthaltsrechts), 61
e
(Erlöschen, Ver-
weigerung und Widerruf des Rechts auf Daueraufenthalt), 64 Absatz 1 Buchstabe d
(Wegweisungsverfügung), 64
d
Absatz 2 Buchstabe g (Ausreisefrist und sofortige
Vollstreckung), 97 Absätze 4 und 5 (Amtshilfe und Datenbekanntgabe), 99 Absatz 1
(Zustimmungsverfahren) und 118 Absatz 1VE-AIG (Täuschung der Behörden). Es
handelt sich dabei um wichtige rechtsetzende Bestimmungen im Sinne von Arti-
kel 164 Absatz 1 BV, die eine formelle gesetzliche Grundlage benötigen.
Artikel 62 AIG bleibt beispielsweise subsidiär auf Familienangehörige aus Drittstaa-
ten anwendbar, die über ein Aufenthaltsrecht gemäss FZA verfügen, da sie eine Auf-
enthaltskarte erhalten. Demgegenüber wird diese Bestimmung für Staatsangehörige
der EU-Mitgliedstaaten nicht mehr gelten, da sie sich auf ausländerrechtliche «Bewil-
ligungen» bezieht, die durch die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG wegfallen.
Die zuständige Behörde kann die Beendigung des Aufenthaltsrechts feststellen
(s. neuer Art. 61
d
Abs. 2 VE-AIG).
Art. 13a
Besondere Pflichten von Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten
und deren Familienangehörigen
Allgemeines
Der neue Artikel 13
a
VE-AIG soll die Pflichten von Staatsangehörigen der EU-
Mitgliedstaaten und ihren Familienangehörigen regeln, die von ihrem Recht auf Ein-
reise (Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2004/38/EG) und Aufenthalt von mehr als drei Mo-
naten (Art. 8 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG) Gebrauch machen.
Es soll zudem auch die Pflichten der Grenzgängerinnen und Grenzgänger (Arbeitneh-
mende und Selbstständige) regeln, die von ihrem Recht auf Ausübung einer Erwerbs-
tätigkeit während mehr als drei Monaten (Art. 7
a
E-FZA) Gebrauch machen.
Mit diesem Artikel soll die Anmeldepflicht der Staatsangehörigen der EU-
Mitgliedstaaten und ihrer Familienangehörigen ausdrücklich geregelt werden, die sich
heute aus der subsidiären Anwendung von Artikel 12 AIG in Verbindung mit Arti-
kel 2 Absatz 4 Anhang I FZA ergibt. Er enthält zudem neue Begriffe aus der Richtli-
nie 2004/38/EG und dem aufdatierten FZA. Für die Regelung der Pflichten von
Staatsangehörigen der EFTA-Mitgliedstaaten, die ihre Rechte aus dem EFTA-
Übereinkommen nutzen, braucht es keine besonderen Bestimmungen. Für Staatsan-
gehörige eines EFTA-Mitgliedstaates sollen für die Anmelde- und Bewilligungsver-
fahren weiterhin die Artikel 10–15 AIG sowie Artikel 9, 10, 12, 13, 15 und 16 VZAE
sinngemäss gelten.
Vor der Einreise in die Schweiz beabsichtigter Aufenthalt von mehr als drei Monaten
(Abs. 1)
Gemäss Artikel 5 Absatz 5 der Richtlinie 2004/38/EG kann die Schweiz von Staats-
angehörigen der EU-Mitgliedstaaten und deren Familienangehörigen verlangen, dass
290 / 931
sie ihre Anwesenheit im Hoheitsgebiet der Schweiz innerhalb eines angemessenen
und nichtdiskriminierenden Zeitraums melden (
Meldung
in Zusammenhang mit dem
Einreiserecht).
Die Artikel 8 und 9 der Richtlinie 2004/38/EG regeln die Verwaltungsformalitäten für
Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten beziehungsweise ihre Familienangehörigen
aus Drittstaaten für Aufenthalte von über drei Monaten. Die Schweiz kann vorsehen,
dass Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten sich nach einer Frist von mindestens
drei Monaten ab dem Zeitpunkt der Einreise bei der zuständigen Behörde anmelden
und die Familienangehörigen aus Drittstaaten eine Aufenthaltskarte beantragen (
An-
meldung und Beantragung einer Aufenthaltskarte
in Zusammenhang mit dem Aufent-
haltsrecht).
In Absatz 1 wird die Meldepflicht verankert für Staatsangehörige der EU-
Mitgliedstaaten und deren Familienangehörigen, die bei ihrer Einreise beabsichtigen,
länger als drei Monate in der Schweiz zu bleiben. Zudem müssen sich Staatsangehö-
rige der EU-Mitgliedstaaten anmelden und ihre Familienangehörigen aus Drittstaaten
müssen eine Aufenthaltskarte beantragen. Damit nutzt die Schweiz die in der Richtli-
nie 2004/38/EG vorgesehene Möglichkeit, von den Staatsangehörigen der EU-
Mitgliedstaaten und ihren Familienangehörigen aus Drittstaaten vorzusehen, dass sie
ihre Einreise und ihren Aufenthalt in der Schweiz melden. Es handelt sich dabei nicht
um eine Voraussetzung für ein Aufenthaltsrecht, sondern um eine rein administrative
Formalität gemäss Richtlinie 2004/38/EG. Der Aufenthaltstitel, der bestätigt, dass die
Anmeldung erfolgt ist, und die Aufenthaltskarte haben eine rein deklaratorische Funk-
tion. Sie dienen dazu, das Bestehen von Rechten aus dem FZA zum Zeitpunkt der
Ausstellung zu bescheinigen, und sie sollen den Aufenthalt im Aufnahmestaat erleich-
tern. In der Verordnung (EU) 2019/1157 sind die Spezifikationen für solche Aufent-
haltsdokumente festgehalten (Art. 6 und 7).
Für Staatsangehörige der EU- oder EFTA-Mitgliedstaaten und ihre Familienangehö-
rigen, die beabsichtigen, weniger als drei Monate in der Schweiz zu bleiben (für den
Fall einer Absichtsänderung während des Aufenthalts von bis zu drei Monaten
s. Abs. 2), sind keine solchen Pflichten vorgesehen. Diese unterschiedliche Behand-
lung ist darauf zurückzuführen, dass bei einer kurzfristigen Erwerbstätigkeit eine Mel-
depflicht vorgesehen ist (s. Ziff. 2.3.8.4.1, Erläuterungen zum VE-EntsG). Für Perso-
nen, die keine Erwerbstätigkeit ausüben (Touristinnen und Touristen, Dienst-
leistungsempfängerinnen und -empfänger), ist die Einführung von solchen Pflichten
nicht erforderlich.
Im Hinblick auf den nichtdiskriminierenden Charakter der Meldefrist ist zu erwähnen,
dass auch Schweizer Staatsangehörige an eine Meldefrist gebunden sind (s. Art. 11
des Registerharmonisierungsgesetzes vom 23. Juni 2006
301
[RHG], wonach die Kan-
tone die notwendigen Vorschriften erlassen).
Nach der Einreise in die Schweiz beabsichtigter Aufenthalt von mehr als drei Monaten
(Abs. 2)
301
SR
431.02
291 / 931
Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen, die sich ge-
mäss ihrem Recht auf Aufenthalt von bis zu drei Monaten (Art. 6 der Richtli-
nie 2004/38/EG) in der Schweiz aufhalten, können im Laufe dieses Aufenthalts ihre
Absicht ändern und beschliessen, über diese drei Monate hinaus in der Schweiz zu
bleiben. Wenn eine solche Absichtsänderung erfolgt, bevor die Pflicht zur Anmeldung
und zur Beantragung einer Aufenthaltskarte anwendbar wird (drei Monate ab Einreise
in die Schweiz), begründet sie die Pflicht zur Meldung der Anwesenheit. Falls die
vom Bundesrat für die Meldung der Anwesenheit bei der Einreise in die Schweiz fest-
gelegte Frist bereits abgelaufen ist (Abs. 1 i. V. m. Abs. 4), muss dies Meldung spä-
testens vor Aufnahme der Erwerbstätigkeit erfolgen.
Die Festlegung der Pflicht, spätestens vor der Aufnahme der Erwerbstätigkeit seine
Anwesenheit zu melden, verfolgt ein legitimes öffentliches Interesse: Damit soll die
Umgehung der Bestimmungen des EntsG verhindert werden. Mit dieser Regelung
wird garantiert, dass Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten – je nach Dauer der
geplanten Erwerbstätigkeit – entweder über die Meldung der Anwesenheit oder über
die im EntsG vorgesehene Meldung mit den zuständigen Behörden in Kontakt gewe-
sen sein werden. Eine Widerhandlung gegen diese Pflichten kann sanktioniert werden
(s. Art. 120 Abs. 1 Bst. a VE-AIG und Art. 9 Abs. 2 Bst. a VE-EntsG).
Ausübung einer Erwerbstätigkeit als Grenzgängerin oder Grenzgänger während
mehr als drei Monaten (Abs. 3)
Gemäss Artikel 7
a
E-FZA sind Grenzgängerinnen und Grenzgänger Staatsangehörige
einer Vertragspartei, die im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei eine selbstständige
oder unselbstständige Erwerbstätigkeit ausüben und ihren Wohnsitz in der anderen
Vertragspartei haben, an den sie in der Regel täglich oder mindestens einmal in der
Woche zurückkehren (Abs. 1). Die zuständigen Behörden können Grenzgängerinnen
und Grenzgänger, die ihre Erwerbstätigkeit während mehr als drei Monaten ausüben,
zu deklaratorischen Zwecken registrieren (Abs. 2). Dabei stellen sie ihnen eine Re-
gistrierungsbescheinigung aus (Abs. 3).
Absatz 3 verpflichtet Grenzgängerinnen und Grenzgänger, die Staatsangehörige der
EU-Mitgliedstaaten sind, dazu, sich bei der zuständigen Behörde registrieren zu las-
sen. Bei unselbstständig Erwerbstätigen obliegt diese Pflicht dem Arbeitgeber. Die
Schweiz macht damit von einer Möglichkeit nach dem FZA Gebrauch.
Die genaue Frist für die Registrierung ist im FZA nicht festgelegt. Die Registrierung
muss jedoch spätestens vor Aufnahme der Erwerbstätigkeit in der Schweiz erfolgen.
Die Festlegung der Pflicht, sich vor der Aufnahme der Erwerbstätigkeit registrieren
zu lassen, verfolgt ein legitimes öffentliches Interesse: Damit soll die Umgehung der
Bestimmungen des EntsG verhindert werden. Mit dieser Regelung wird garantiert,
dass Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten – je nach Dauer der geplanten Erwerbs-
tätigkeit – mit den zuständigen Behörden in Kontakt gewesen sein werden (Meldung
kurzfristiger Erwerbstätigkeit bis zu drei Monaten oder Registrierung bei längerfristi-
ger Erwerbstätigkeit). Eine Widerhandlung gegen diese Pflichten kann sanktioniert
werden (s. Art. 120 Abs. 1 Bst. a VE-AIG und Art. 9 Abs. 2 Bst. a VE-EntsG).
Die mit einem Aufenthaltsrecht aus dem FZA verbundenen Bestimmungen sind auf
Grenzgängerinnen und Grenzgänger, die Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten
292 / 931
sind nicht anwendbar, da sie sich nicht gemäss der Richtlinie 2004/38/EG in der
Schweiz aufhalten.
Fristen und Verfahren (Abs. 4)
Absatz 4 ermächtigt den Bundesrat, die Fristen, in denen die in den Absätzen 1–3 ent-
haltenen Pflichten erfüllt werden müssen, sowie das entsprechende Verfahren festzu-
legen. Die Richtlinie 2004/38/EG präzisiert diesbezüglich, dass die Frist für die Mel-
dung der Anwesenheit angemessen und nicht diskriminierend sein muss (Art. 5
Abs. 5) und die Frist für die Anmeldung und die Einreichung des Antrags mindestens
drei Monate ab dem Zeitpunkt der Einreise betragen muss (Art. 8 Abs. 2 und Art. 9
Abs. 2).
Die Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen können
selber entscheiden, ob sie sich bereits nach ihrer Einreise in der Schweiz anmelden
beziehungsweise eine Aufenthaltsbewilligung beantragen wollen. In diesem Fall ent-
fällt die Meldung der Anwesenheit.
Art. 15 Abs. 2
In der geltenden Version ist Artikel 15 AIG nicht subsidiär (Art. 2 Abs. 2 VE-AIG)
auf Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten anwendbar, da er sich an Ausländerin-
nen und Ausländer richtet, die eine «Bewilligung» besitzen, welche durch die Teil-
übernahme der Richtlinie 2004/38/EG jedoch wegfällt. Auf ihre aus Drittstaaten stam-
menden Familienangehörigen ist er hingegen anwendbar, da diese über eine
Aufenthaltskarte (
Status quo
) oder eine Daueraufenthaltskarte verfügen.
Weder das FZA noch die Richtlinie 2004/38/EG regeln die Ausreise aus dem Aufnah-
mestaat. Unter «Ausreise» ist der Wille zu verstehen, seinen Wohnsitz ins Ausland zu
verlegen. Um die Wirksamkeit der Bestimmungen der Richtlinie 2004/38/EG sicher-
zustellen, namentlich jener in Zusammenhang mit vorübergehenden Abwesenheiten,
welche die Kontinuität des Aufenthalts im Hinblick auf den Erwerb des Rechts auf
Daueraufenthalt nicht berühren (Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG), und jener
in Zusammenhang mit dem Verlust des Rechts auf Daueraufenthalt (Art. 16 Abs. 4
der Richtlinie 2004/38/EG), ist es notwendig, dass die Staatsangehörigen der EU-
Mitgliedstaaten, die ein Aufenthaltsrecht oder ein Recht auf Daueraufenthalt besitzen,
die zuständigen Behörden informieren, wenn sie die Schweiz verlassen, sowie gege-
benenfalls, wenn sie in die Schweiz zurückkehren.
Der neue Absatz 2 verpflichtet Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die ein
Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate oder ein Recht auf Daueraufenthalt
besitzen zum einen, sich bei der am Wohnort zuständigen Behörde abzumelden, wenn
sie die Schweiz verlassen.
Zum anderen gelten für Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, welche die
Schweiz verlassen haben und beabsichtigen, für einen Aufenthalt von mehr als drei
Monaten zurückzukehren, die Pflichten nach Artikel 13
a
Absatz 1 VE-AIG (Anwe-
senheitsmeldung und Anmeldung).
293 / 931
Art. 21b
Schutzmassnahmen und Ausgleichsmassnahmen bei der Anwendung
des FZA
Abs. 1 und 2
Der Bundesrat ist für das gesamte Verfahren vor dem GA des FZA und dem Schieds-
gericht zuständig (Art. 21
b
Abs. 1 und 2 VE-AIG). Führt die Anwendung des FZA in
der ganzen Schweiz, in einer bestimmten Region oder in einer bestimmten Branche
zu schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen, so kann der Bundes-
rat einen Antrag an den GA nach dem neuen Artikel 14
a
Absatz 1 FZA stellen zu
deren Beseitigung (Art. 21
b
Abs. 1 VE-AIG). Er kann Beschlüsse des GA nach dem
neuen Artikel 14
a
Absatz 1 FZA über Schutzmassnahmen nach den Absätzen 6 und
7 genehmigen und sie umsetzen, soweit sie nicht direkt anwendbar sind (Art. 21
b
Abs. 1 VE-AIG).
Trifft der GA des FZA keinen Beschluss, so kann der Bundesrat das Schiedsgericht
gemäss neuem Artikel 14
a
Absätze 2 und 4 FZA anrufen (Art. 21
b
Abs. 2 VE-AIG).
Stellt das Schiedsgericht gemäss neuem Artikel 14
a
Absätze 3 und 5 FZA fest, dass
die Voraussetzungen nach den genannten Bestimmungen erfüllt sind, so kann er
Schutzmassnahmen nach den Absätzen 6 und 7 ergreifen (Art. 21
b
Abs. 2 VE-AIG).
Abs. 3
Gemäss Absatz 3 kann der Bundesrat trotz einem negativen Entscheid des Schiedsge-
richts selbst vorübergehende geeignete Schutzmassnahmen gemäss Absatz 6 und 7
ergreifen, wenn er zum Schluss kommt, dass die Probleme derart gross sind, dass
Massnahmen erforderlich erscheinen. Sollen diese Massnahmen länger als 12 Monate
dauern, muss der Bundesrat innerhalb dieser Frist der Bundesversammlung eine ent-
sprechende Vorlage unterbreiten. Die Massnahmen des Bundesrates gelten jedoch
über diese Frist hinaus bis zum Entscheid des Parlaments über die Vorlage.
Wenn der Bundesrat beziehungsweise die Bundesversammlung solche Massnahmen
ergreift, könnte die EU ihrerseits ein Streitbeilegungsverfahren anstreben, wenn sie
der Ansicht ist, dass diese Massnahmen – da ausserhalb der Schutzklausel – das FZA
verletzen. Diesfalls könnte es gegebenenfalls zu Ausgleichsmassnahmen in den Bin-
nenmarktabkommen (ausgenommen dem Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens)
kommen.
Die konkretisierte Schutzklausel sowie das im Institutionellen Protokoll festgelegte
Streitbeilegungsverfahren mit der Möglichkeit von Ausgleichsmassnahmen stellen
wesentliche Neuerungen im Vergleich zum geltenden FZA dar. Neu sieht das FZA
selber einen Mechanismus für den Fall vor, dass eine Vertragspartei vom FZA ab-
weicht. Dieser Mechanismus greift auch, falls die Schweiz trotz negativem Entscheid
des Schiedsgerichts befristete Schutzmassnahmen in Anwendung von Artikel 21
b
Ab-
satz 3 VE-AIG ergreift. Es ist davon auszugehen, dass das Bundesgericht diesen neuen
Mechanismus berücksichtigen wird, wenn es seine Rechtsprechung zum Verhältnis
zwischen innerstaatlichem Recht und dem FZA im Falle von Normenkonflikten über-
prüft.
Abs. 4
294 / 931
Ergreift die EU Schutzmassnahmen gegen die Schweiz, ist der Bundesrat für das all-
fällige Ergreifen von Ausgleichsmassnahmen im Geltungsbereich des FZA gegenüber
der EU zuständig.
Abs. 5
Der Bundesrat kann das Vorliegen von schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozi-
alen Problemen nach Absatz 1 in der ganzen Schweiz, in einer bestimmten Region
oder einer bestimmten Branche gestützt auf geeignete Indikatoren, insbesondere in
den Bereichen der Zuwanderung, des Arbeitsmarktes, der sozialen Sicherheit, des
Wohnungswesens und des Verkehrs, prüfen (Art. 21
b
Abs. 5 Satz 1 VE-AIG). Er
kann also die Auslösung der Schutzklausel prüfen, wenn geeignete Indikatoren auf
schwerwiegende wirtschaftliche oder soziale Probleme hinweisen. Er muss aber die
Auslösung der Schutzklausel prüfen, wenn die gestützt auf das FZA ausgelöste Net-
tozuwanderung, die Zunahme der Beschäftigung von Grenzgängerinnen und Grenz-
gängern, der Arbeitslosigkeit oder des Sozialhilfebezugs einen vom Bundesrat festge-
legten Schwellenwert für die ganze Schweiz überschreitet (Art. 21
b
Abs. 5 Satz 2 VE-
AIG).
1. Satz (Indikatoren)
Die Auflistung der Indikatoren ist in Artikel 21
b
Absatz 5 Satz 1 VE-AIG nicht ab-
schliessend. Als relevante Bereiche für die zu berücksichtigenden Indikatoren sind
beispielhaft die Zuwanderung, der Arbeitsmarkt (z.B. Beschäftigungs-, Arbeitslosig-
keit- und Lohnentwicklung, Spesenentschädigungen), die soziale Sicherheit (z.B. um-
fassendere Betrachtung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe sowie der Ergänzungsleis-
tungen),
das
Wohnungswesen
(z.B.
Nachfrage
nach
Wohnraum,
Wohnungsknappheit) und der Verkehr (z.B. Staustunden) aufgeführt.
2. Satz (Schwellenwerte)
Die Prüfung der Aktivierung der Schutzklausel muss erfolgen, wenn ein Schwellen-
wert überschritten wird. In Artikel 21
b
Absatz 5 Satz 2 VE-AIG werden daher die
Nettozuwanderung aus der EU, Grenzgängerbeschäftigung, Arbeitslosigkeit und So-
zialhilfebezug aufgelistet, für welche Schwellenwerte auf Verordnungsstufe definiert
werden sollen. Die Schwellenwerte sollen so festgelegt werden, dass sie eine ausser-
ordentliche Situation anzeigen, die schwerwiegende wirtschaftliche oder soziale Prob-
leme vermuten lässt. Gleichzeitig soll der Bundesrat die Schwellenwerte so festlegen,
dass sie realistischerweise auch erreicht werden können.
Im Bereich der Zuwanderung könnte es sich um eine ausserordentlich hohe Nettozu-
wanderung aus der EU handeln. Der Schwellenwert bei der Nettozuwanderung könnte
beispielsweise berechnet werden, in dem der EU-Wanderungssaldo (Einwanderung
minus Auswanderung) eines Jahres ins Verhältnis gesetzt wird mit der gesamten stän-
digen Wohnbevölkerung in der Schweiz. Auf nationaler Ebene könnte dieser Schwel-
lenwert auf 0,74 Prozent festgelegt werden (d.h. ab einer Nettozuwanderung von ge-
rundet 0,8 % und darüber müsste die Auslösung der Schutzklausel geprüft werden).
Bei der Grenzgängerbeschäftigung könnte beispielsweise die Veränderung im Grenz-
gängerbestand binnen eines Jahres im Verhältnis zur Anzahl der Erwerbstätigen des
Vorjahres beigezogen werden. Diese würde somit den Beitrag der EU-
Grenzgängerbeschäftigung zum Wachstum der Beschäftigung in einem Jahr messen.
295 / 931
Es könnte ein Schwellenwert von 0,34 Prozent festgelegt werden, das heisst die Prü-
fung der Auslösung der Schutzklausel würde bei einem jährlichen Zuwachs der
Grenzgängerbeschäftigung um gerundet 0,4 Prozent und höher erfolgen.
Im Bereich des Arbeitsmarkts könnte eine starke Zunahme der Arbeitslosigkeit, wie
sie in der Vergangenheit etwa nach Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise im
Jahr 2009 oder der Covid-Krise im Jahr 2020 zu beobachten war, als Auslöser festge-
legt werden. Konkret könnte die Veränderung der Arbeitslosigkeit auf nationaler
Ebene im Vergleich zum Vorjahr herangezogen werden. Gemessen würde hier nicht
nur die Veränderung der Arbeitslosigkeit von Staatsangehörigen der EU-
Mitgliedstaaten, sondern der allgemeinen Arbeitslosigkeit in der Schweiz, da diese
ein verlässlicher Krisenindikator ist. Bei der Arbeitslosigkeit dürfte es schwieriger
sein, einen direkten Zusammenhang zwischen der Anwendung des FZA und der Zu-
nahme der Arbeitslosigkeit zu belegen. Dies rechtfertigt einen höheren Schwellen-
wert. Der Schwellenwert könnte beispielswies auf 30 Prozent festgesetzt werden.
Nimmt die Arbeitslosigkeit in einem Jahr um mehr als 30 Prozent zu, so müsste die
Prüfung der Schutzklausel erfolgen.
Es besteht ein Kostenrisiko für die Kantone und Gemeinden, wenn die Sozialhilfe-
kosten als Folge der Anwendung des FZA zunehmen. Der Bundesrat soll deshalb die
Anwendung der Schutzklausel auch dann prüfen, wenn eine starke Zunahme des So-
zialhilfebezugs durch Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten beobachtet wird.
Hierfür könnte die Zunahme der Anzahl Sozialhilfebeziehenden mit Staatsangehörig-
keit der EU-Mitgliedstaaten auf gesamtschweizerischer Ebene herangezogen werden.
Der Schwellenwert könnte beispielsweise auf 12 Prozent festgelegt werden.
Die Schwellenwerte, welche gemäss den Beispielen oben zu einer Prüfung der
Schutzklausel geführt hätten, wären im Zeitraum 2011 bis 2023 insgesamt viermal
erreicht worden (2011 und 2022 bei der Grenzgängerbeschäftigung, 2013 bei der Net-
tozuwanderung und 2020 bei der Arbeitslosigkeit, siehe nachfolgende Tabelle
2.3.8.1.1[1]).
Tabelle 2.3.8.1.1 (1): Berechnung der jährlichen nationalen Schwellenwerte seit
2002
Jahr
EU-
Nettozuwande-
rung (%)
EU-
Grenzgängerbe-
schäftigung (%)
Veränderung der
Arbeitslosigkeit
(%)
Veränderung des
Sozialhilfebezugs
von
EU-Staats-
angehörigen (%)
2002
0,2
n/a
+50
n/a
2003
0,3
n/a
+45
n/a
2004
0,3
n/a
+5
n/a
2005
0,3
n/a
-3
n/a
296 / 931
2006
0,4
n/a
-11
n/a
2007
0,7
n/a
-17
-4
2008
0,9
n/a
-7
-3
2009
0,6
n/a
+44
+7
2010
0,5
n/a
+4
+4
2011
0,7
0,4
-19
+6
2012
0,7
0,3
+2
+11
2013
0,8
0,2
+9
+6
2014
0,7
0,2
0
+4
2015
0,6
0,2
+4
+2
2016
0,5
0,2
+5
+2
2017
0,4
0,2
-4
0
2018
0,3
0,1
-17
-4
2019
0,4
0,2
-9
-4
2020
0,5
0,0
+36
-1
2021
0,4
0,3
-6
-6
2022
0,6
0,4
-28
-7
2023
0,7
0,2
-6
0
2024
0,6
0,2
+20
Quelle: Statistik der Bevölkerung und der Haushalte des BFS (STATPOP) und Aus-
länderstatistik 2024 des SEM für die Nettozuwanderung, Grenzgängerstatistik des
BFS (GGS) und Statistik der Unternehmensstruktur des BFS (STATENT) für die
Grenzgängerrate, Arbeitsmarktstatistik des SECO für die Arbeitslosigkeit, Sozialhil-
festatistik (ausländische Sozialhilfebeziehende und Sozialhilfequote der wirtschaftli-
chen Sozialhilfe) des BFS für den Sozialhilfebezug.
297 / 931
Erläuterungen zur Berechnung der jährlichen Schwellenwert in der Tabelle 2.3.8.1.1
(1): Bei der EU-Nettozuwanderung wird der jährliche Wanderungssaldo ins Verhält-
nis gesetzt zur gesamten ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz zu Jahresbeginn.
Die Zuwachsrate der EU-Grenzgängerbeschäftigung wird berechnet, indem die Ver-
änderung des Grenzgängerbestands ins Verhältnis zur Anzahl der Beschäftigten ge-
mäss Statistik der Unternehmensstruktur (STATENT) des Vorjahres gesetzt wird. Für
das Jahr 2024 wird die Veränderung des Grenzgängerbestands zur Beschäftigung des
vorletzten Jahres (2022) ins Verhältnis gesetzt, da noch kein Wert für 2023 aus der
STATENT vorliegt. Bei der Veränderung der Arbeitslosigkeit wird die jährliche Ver-
änderung der Anzahl aller gemeldeten arbeitslosen Personen in der Schweiz gemäss
SECO betrachtet. Beim Sozialhilfebezug wird die jährliche Veränderung der Anzahl
Sozialhilfebeziehender mit Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaates berechnet.
Bei der Grenzgängerrate und bei der Veränderung des Sozialhilfebezugs sind Zahlen
gemäss obiger Definition erst ab 2011, resp. 2007 verfügbar. Im Rahmen der Erarbei-
tung des Monitorings zur Schutzklausel wird geprüft, welche Statistiken geeignet
sind, um zeitnah und verlässlich die Schwellenwerte aus der Schutzklausel zu über-
wachen (s. Ziff. 2.3.7.3.1).
Abs. 6
Im Absatz 6 wird festgehalten, welche Schutzmassnahmen beziehungsweise Aus-
gleichsmassnahmen der Bundesrat ergreifen kann: Bestimmte Zulassungsvorausset-
zungen nach den Artikeln 18–29 AIG und die Abweichungen nach 30 AIG können
auch für Personen angewendet werden, für die das FZA zur Anwendung kommt (Fest-
legung von Höchstzahlen, Schaffung eines Vorrangs der inländischen Arbeitskräfte,
Kontrolle der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie Bedingungen für die Zulassung
von Nichterwerbstätigen). Zudem kann als Schutzmassnahme bei unfreiwilliger Ar-
beitslosigkeit der Entzug des Aufenthaltsrechts in Abweichung von Artikel 61
a
VE-
AIG vorgesehen werden. Weiter soll es möglich sein, die Dauer der Stellensuche ein-
zuschränken und die Einhaltung der Aufenthaltsvoraussetzungen für einen vorgese-
henen Aufenthalt von mehr als drei Monaten bereits zum Zeitpunkt der Einreise zu
prüfen.
Bei den vorgeschlagenen Schutzmassnahmen handelt es sich um Massnahmen, die
grösstenteils im AIG bereits für Drittstaatsangehörige vorgesehen sind. Damit kann
die Schutzklausel bei ihrer Anrufung in kurzer Zeit ihre Wirkung entfalten, ohne den
Gesetzgebungsprozess durchlaufen zu müssen. Die Massnahmen «Beschränkung der
Dauer der Stellensuche und frühere Prüfung der Aufenthaltsvoraussetzungen» sind
nicht im AIG vorgesehen, sind aber genügend bestimmt, damit der Bundesrat diese
Massnahmen in einer gesetzesvertretenden Verordnung erlassen kann.
Die aufgeführten Schutzmassnahmen sind alle geeignet, ernsthafte wirtschaftliche
oder soziale Schwierigkeiten der Schweiz abzufedern und einzugrenzen. Zum Bei-
spiel kann mit der Festlegung von Höchstzahlen und der Schaffung eines Inländervor-
rangs die Zuwanderung gebremst und damit Schwierigkeiten in verschiedenen Berei-
chen (z.B. Wohnungswesen) entgegengewirkt werden. Mit der Kontrolle der Lohn-
und Arbeitsbedingungen sowie mit dem Erlöschen des Aufenthaltsrechts bei unfrei-
williger Arbeitslosigkeit werden hingegen vor allem wirtschaftliche Schwierigkeiten
wie die Belastung der Sozialhilfe und Sozialversicherungen entgegengewirkt. Diese
298 / 931
letzteren Massnahmen zielen auf Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die sich
bereits in der Schweiz aufhalten.
Abs. 7
Die Massnahmen nach Absatz 6 müssen Rechte nach dem FZA betreffen, geeignet
sein und zeitlich und in ihrem Umfang begrenzt sein. Die geplanten Schutzmassnah-
men müssen ausserdem angemessen sein und in direktem Zusammenhang mit der Be-
seitigung der Probleme im Sinne von Absatz 1 stehen. FZA-kompatible Massnahmen
zur Behebung eines Problems sind vorgängig zu prüfen und gegebenenfalls als mil-
dere Massnahme zu bevorzugen. Der Bundesrat kann nationale, oder auch regionale
(ein oder mehrere Kantone) und branchenspezifische Schutzmassnahmen treffen,
wenn die Prüfung aufzeigt, dass die Anwendung des FZA nicht auf nationaler Ebene
zu schwerwiegenden Problemen führt, sondern der Zusammenhang nur in einer Re-
gion oder einer Wirtschaftsbranche besteht. Dadurch dürfte die entsprechende Schutz-
massnahme auch als verhältnismässig gelten.
Abs. 8
Sollten die Massnahmen nach Absatz 6 nicht genügen oder werden andere Massnah-
men in Abweichung des FZA, die eine Gesetzesänderung erfordern, z.B. in den Be-
reichen des Arbeitsmarktes, der sozialen Sicherheit oder des Wohnungswesens oder
des Verkehrs als notwendig erachtet, so unterbreitet der Bundesrat der Bundesver-
sammlung zusätzliche oder andere Massnahmen, falls notwendig im dringlichen Ver-
fahren (Art. 165 BV).
Abs. 9
Der Bundesrat hört die zuständigen parlamentarischen Kommissionen, die Kantone
und die Sozialpartner vor dem Stellen eines Antrags gemäss Absatz 1, vor dem Er-
greifen von Schutzmassnahmen oder Ausgleichsmassnahmen nach den Absätzen 1-4
oder wenn er beabsichtigt, auf das Stellen eines Antrags gemäss Absatz 1 trotz Über-
schreitung eines nach Absatz 5 zweiter Satz festgelegten Schwellenwertes zu verzich-
ten an.
Abs. 10
Ausserdem soll jedem Kanton die Möglichkeit gegeben werden, dem Bundesrat zu
beantragen, die Aktivierung der Schutzklausel zu prüfen, wenn im Kanton schwer-
wiegende wirtschaftliche oder soziale Probleme vorliegen. Die Auswirkungen des
FZA sind regional sehr unterschiedlich. Dies zeigt sich in der Nettozuwanderung und
insbesondere auch in der Grenzgängerbeschäftigung. Gewisse Grenzkantone weisen
dabei überproportional hohe Grenzgängerzahlen im Vergleich zum Rest der Schweiz
auf. Dementsprechend können auch Schwierigkeiten bei der Anwendung des FZA
regional begrenzt sein. Um dieser besonderen Situation der Grenzkantone Rechnung
zu tragen, wird als Schwellenwert unter anderem auch die Zunahme der Grenzgän-
gerbeschäftigung vorgesehen (siehe Abs. 5).
Ein solches Antragsrecht für die Kantone umfasst die Möglichkeit bei Bedarf und mit
entsprechender Begründung dem Bundesrat zu beantragen, das Verfahren zur Akti-
vierung der Schutzklausel auszulösen, deren Schutzmassnahmen auf einen oder meh-
rere Kantone beschränkt sind. Ist einer der nationalen Schwellenwerte erreicht, führt
der Antrag zu einer obligatorischen Prüfung der Aktivierung der Schutzklausel. Zwar
299 / 931
hat der Bundesrat gemäss Artikel 21
b
Absatz 5 VE-AIG ohnehin die Pflicht, in diesen
Fällen die Aktivierung der Schutzklausel zu prüfen. Der Mehrwert des Antragsrechts
der Kantone besteht jedoch darin, dass sie vorschlagen können, auch kantonal oder
regional beschränkte Schutzmassnahmen einzuführen, indem sie nachweisen, dass auf
ihrem Gebiet besondere, ernsthafte wirtschaftliche oder soziale Schwierigkeiten vor-
liegen, die auf die Anwendung des FZA zurückzuführen sind. Der Bundesrat bleibt
aber auch bei einem entsprechenden kantonalen Antrag frei, schweizweite Schutz-
massnahmen zu ergreifen. Ist kein nationaler Schwellenwert überschritten, kann der
Bundesrat gestützt auf einen kantonalen Antrag ebenfalls eine Prüfung der Aktivie-
rung der Schutzklausel vornehmen. Bestehen starke Hinweise auf eine besondere kan-
tonale Problematik, beispielsweise gestützt auf weitere Indikatoren, kann sich eine
solche Prüfung aufdrängen, der Bundesrat behält indes einen Ermessenspielraum.
Art. 41c
Sozialhilfe von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EU oder
der EFTA
Allgemeines
Der Ausschluss von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EU oder der EFTA
und deren Familienangehörigen von der Sozialhilfe ist heute in Artikel 29
a
AIG ge-
regelt, soweit diese sich lediglich zum Zweck der Stellensuche in der Schweiz aufhal-
ten, und in Artikel 61
a
AIG im Falle einer unfreiwilligen Beendigung des Arbeitsver-
hältnisses vor Ablauf der ersten zwölf Monate des Aufenthalts.
Artikel 41
c
VE-AIG übernimmt den Inhalt der Artikel 29
a
und 61
a
AIG für Staats-
angehörige der Mitgliedstaaten der EU und der EFTA (Abs. 1 Bst. a und d). Zusätz-
lich sieht er zwei neue Situationen vor, die zu einem Sozialhilfeausschluss führen und
ausschliesslich Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten betreffen (Abs. 1 Bst. b und
c). Diese Bestimmung stützt sich auf Artikel 121 Absatz 1 BV (s. Ziff. 2.3.10.2.3).
Aus Gründen der Systematik ist es sinnvoll, diese Bestimmung im 6. Kapitel des AIG
(«Regelung des Aufenthalts») zu integrieren, da sie nicht die «Zulassungsvorausset-
zungen» im Sinne des 5. Kapitels betrifft. Vielmehr regelt sie die Rechte und Pflichten
von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EU und der EFTA während ihres Auf-
enthalts, in erster Linie den Sozialhilfeausschluss.
Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der EU oder der EFTA, die von ihrem Anspruch
auf Ausübung einer Erwerbstätigkeit in der Schweiz Gebrauch machen, ohne ihren
Wohnsitz im Ausland aufzugeben (Grenzgängerinnen und Grenzgänger), erhalten
ausschliesslich in ihrem Wohnsitzstaat Sozialhilfeleistungen (s. Art. 20 des Bundes-
gesetzes vom 24. Juni 1977
302
über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürfti-
ger und Art. 70 Abs. 4 der Verordnung [EG] Nr. 883/2004
303
). Es ist daher nicht not-
wendig, sie in dieser Bestimmung ausdrücklich auszuschliessen.
Abs. 1
302
SR
851.1
303
SR
0.831.109.268.1
300 / 931
Der Klarheit halber wurde die in den Artikeln 29
a
und 61
a
AIG verwendete Formu-
lierung im Sinne eines «Nichtbestehens eines Sozialhilfeanspruchs» durch den «So-
zialhilfeausschluss» ersetzt. Dadurch kommt der von der Schweiz im Bereich der So-
zialhilfe für bestimmte Personenkategorien verfolgte restriktive Ansatz deutlicher
zum Ausdruck.
Bst. a
Gemäss Artikel 24 Absatz 2 der Richtlinie 2004/38/EG ist die Schweiz nicht ver-
pflichtet, Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten, die weder Arbeitnehmende noch
Selbstständige sind beziehungsweise denen dieser Status nicht erhalten bleibt, und
ihren Familienangehörigen während der Stellensuche nach den ersten drei Monaten
des Aufenthalts (Art. 6) einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren, sofern sie nach-
weisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und dass sie eine begründete Aus-
sicht haben, eingestellt zu werden (Art. 14 Abs. 4 Bst. b).
Obwohl dies aus Artikel 24 Absatz 2 der Richtlinie 2004/38/EG nicht klar hervorgeht,
präzisiert die Europäische Kommission, dass die Richtlinie zulässt, dass sowohl Ar-
beitsuchende, die noch nicht im Aufnahmemitgliedstaat gearbeitet haben, als auch
jene, die zuvor beschäftigt waren, aber das Recht auf Daueraufenthalt noch nicht er-
worben haben und denen der Status als Erwerbstätige im Aufnahmestaat nicht erhal-
ten bleibt, von der Sozialhilfe ausgeschlossen werden können (s. Punkt iii).
304
Buchstabe a betrifft Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die anfänglich zum
Zweck der Stellensuche in die Schweiz einreisen oder die nach dem Verlust des Status
als Erwerbstätige eine Stelle suchen, sowie ihre Familienangehörigen. Im Gegensatz
zu Artikel 29
a
AIG sind nicht allgemein Ausländerinnen und Ausländer betroffen, da
die Zulassung von Staatsangehörigen von Drittstaaten einzig zum Zweck der Stellen-
suche in der Schweiz im AIG nicht geregelt ist.
Die Gemeinsame Erklärung über die Verweigerung der Sozialhilfe und die Aufent-
haltsbeendigung vor Erwerb des Daueraufenthalts präzisiert, dass die persönliche Si-
tuation der Staatsangehörigen von EU-Mitgliedstaaten und ihrer Familienangehörigen
in einem solchen Fall nicht einzeln geprüft werden muss.
305
Bst. b
Nach Artikel 6 der Richtlinie 2004/38/EG haben Staatsangehörige der EU-
Mitgliedstaaten das Recht auf Aufenthalt in der Schweiz während eines Zeitraums
von bis zu drei Monaten, wobei sie lediglich im Besitz eines gültigen Personalauswei-
ses oder Reisepasses sein müssen und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu er-
füllen oder Formalitäten zu erledigen brauchen. Ihre Familienangehörigen aus Dritt-
staaten, die sie begleiten oder ihnen nachziehen, müssen lediglich im Besitz eines
gültigen Reisepasses sein.
304
Ziff. 11.1.3 der Bekanntmachung der Kommission C/2023/8500 – Leitfaden zum Freizü-
gigkeitsrecht der Unionsbürger und ihrer Familien, ABl. C, C/2023/1392, 22.12.2023 un-
ter: https://eur-lex.europa.eu/homepage.html > Suche > 52023XC01392.
305
Siehe Änderungsprotokoll vom xx.xx.2025 zum Abkommen zwischen der Schweizeri-
schen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mit-
gliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit, Gemeinsame Erklärung über die Verwei-
gerung der Sozialhilfe und die Aufenthaltsbeendigung vor Erwerb des Daueraufenthalts.
301 / 931
Während dieser drei Monate können Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die
nicht als Arbeitnehmende oder Selbstständige gelten oder diesen Status beibehalten,
und ihre Familienangehörigen von der Sozialhilfe ausgeschlossen werden (Art. 24
Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG).
Buchstabe b hält ausdrücklich fest, dass Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die
sich ohne Status als Erwerbstätige in der Schweiz aufhalten, sowie ihre Familienan-
gehörigen während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts keinen Anspruch auf So-
zialhilfe haben. Damit macht der Gesetzgeber von einer in Artikel 24 Absatz 2 der
Richtlinie 2004/38/EG vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch. Diesen bedingungslo-
sen Anspruch auf einen Aufenthalt in der Schweiz während bis zu drei Monaten gibt
es im EFTA-Übereinkommen nicht, weshalb der Sozialhilfeausschluss auch nicht auf
die Staatsangehörigen der EFTA-Mitgliedstaaten erweitert werden muss (
Status quo
).
Buchstabe b soll die Attraktivität der Schweiz als Zuwanderungsland senken und stellt
somit ein mit der Migrationspolitik vereinbares Instrument zur Steuerung der Zuwan-
derung dar. Er betrifft nur Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten bei ihrer Ankunft
in der Schweiz und gilt für einen begrenzten Zeitraum von drei Monaten. Oft werden
die betroffenen Personenkategorien bereits auf kantonsrechtlicher Ebene von der So-
zialhilfe ausgeschlossen (z. B. Touristinnen und Touristen, Studierende), da sie für
die kurze Aufenthaltszeit in der Regel keinen Wohnsitz in der Schweiz haben. Der
Ausschluss von der Sozialhilfe hat also begrenzte materielle und zeitliche Auswirkun-
gen und lässt den Kernbereich der kantonalen Sozialhilfekompetenz unberührt
(Art. 115 BV i. V. m. Art. 121 Abs. 1 BV; s. auch Ziff. 2.3.10.2.3).
Die Gemeinsame Erklärung über die Verweigerung der Sozialhilfe und die Aufent-
haltsbeendigung vor Erwerb des Daueraufenthalts präzisiert, dass die persönliche Si-
tuation in einem solchen Fall nicht einzeln geprüft werden muss (s. Punkt i).
306
Bst. c
Nach Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 2004/38/EG haben nichterwerbs-
tätige Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten (z. B. Pensionierte, Studierende, Ren-
tenbeziehende) das Recht auf Aufenthalt in der Schweiz, wenn sie für sich und ihre
Familienangehörigen über ausreichende Mittel verfügen, sodass sie während ihres
Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen der Schweiz in Anspruch nehmen müssen. Im
Gegensatz zur Richtlinie 2004/38/EG sieht das EFTA-Übereinkommen den automa-
tischen Verlust des Aufenthaltsrechts vor, wenn die finanziellen Voraussetzungen
nicht mehr erfüllt sind (Art. 23 Abs. 8 Anhang K Anlage 1), weshalb dieser Aus-
schluss auch nicht auf Staatsangehörige der EFTA-Mitgliedstaaten erweitert werden
muss (
Status quo
).
Buchstabe c regelt den Sozialhilfeausschluss für Staatsangehörige der EU-
Mitgliedstaaten, die sich ohne Status als Erwerbstätige in der Schweiz aufhalten, da
ihr Aufenthaltsrecht davon abhängt, dass sie über ausreichende finanzielle Mittel ver-
306
Siehe Änderungsprotokoll vom xx.xx.2025 zum Abkommen zwischen der Schweizeri-
schen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mit-
gliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit, Gemeinsame Erklärung über die Verwei-
gerung der Sozialhilfe und die Aufenthaltsbeendigung vor Erwerb des Daueraufenthalts.
302 / 931
fügen (Art. 7 Abs. 1 Bst. b und 14 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG zur Aufrechter-
haltung des Aufenthaltsrechts). Dieser Sozialhilfeausschluss ist also eine Folge der
Voraussetzung, über genügend finanzielle Mittel zu verfügen. Wenn eine nichter-
werbstätige Person in der Schweiz um Sozialhilfeleistungen ersucht, nimmt die für
die Ausrichtung dieser Leistungen zuständige Behörde eine individuelle Prüfung vor
(s. Punkt ii,
a contrario
).
In Übereinstimmung mit dem FZA präzisiert Buchstabe c im zweiten Teil, dass die
Kantone die Ausnahmen festlegen und zum Beispiel punktuelle oder kurzfristige fi-
nanzielle Unterstützungen zur Bewältigung spezifischer Situationen gewähren kön-
nen. Darüber hinaus ist zu erwähnen, dass betroffene Personen trotz dem Sozialhil-
feausschluss ein Anrecht auf Nothilfe haben, denn dieses Grundrecht auf
Existenzsicherung erstreckt sich auf alle Personen, unabhängig davon, welchen auf-
enthaltsrechtlichen Status sie haben (Art. 12 BV)
307
.
Buchstabe c soll die Attraktivität der Schweiz als Zuwanderungsland senken und stellt
somit ein mit der Migrationspolitik vereinbares Instrument zur Steuerung der Zuwan-
derung dar. Er betrifft nur Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die sich ohne
Status als Erwerbstätige in der Schweiz aufhalten und für sich und ihre Familienan-
gehörigen nicht oder nicht mehr über ausreichende finanzielle Mittel verfügen.
308
Die
Regelung hat also begrenzte materielle und zeitliche Auswirkungen und lässt den
Kernbereich der kantonalen Sozialhilfekompetenz unberührt (Art. 115 BV i. V. m.
Art. 121 Abs. 1 BV; s. auch Ziff. 2.3.10.2.3). Diese Personen haben in der Regel be-
reits auf kantonsrechtlicher Ebene keinen Anspruch auf Sozialhilfe.
Bst. d
Nach Artikel 2 Absatz 1 Anhang K Anlage 1 des EFTA-Übereinkommens können
Staatsangehörige der EFTA-Mitgliedstaaten, die zum Zweck der Stellensuche in die
Schweiz einreisen oder nach Beendigung eines Arbeitsverhältnisses mit einer Dauer
von weniger als einem Jahr in der Schweiz bleiben, während der Dauer des Aufent-
haltes zu diesem Zweck von der Sozialhilfe ausgeschlossen werden.
Buchstabe d schliesst diese Personen entsprechend der im EFTA-Übereinkommen
vorgesehenen Möglichkeit explizit von der Sozialhilfe aus.
Im Übrigen wird auf die Ausführungen zu den Artikeln 29
a
und 61
a
AIG in der Bot-
schaft vom 4. März 2016
309
zur Änderung des Ausländergesetzes (Steuerung der Zu-
wanderung und Vollzugsverbesserungen bei den Freizügigkeitsabkommen) verwie-
sen.
Abs. 2
Bst. a
Artikel 41
c
VE-AIG bezieht sich auf Personen, die von ihrem Aufenthaltsrecht ledig-
lich zur Stellensuche (EU/EFTA) oder von ihrem Aufenthaltsrecht als Nichterwerbs-
tätige während bis zu drei Monaten (EU) oder während mehr als drei Monaten (EU)
Gebrauch machen.
307
BGE
121
I 367 E. 2d.
308
EuGH, Urteil vom 11. November 2014, Dano, C-333/13, EU:C:2014:2358.
309
BBl
2016
3007, 3053.
303 / 931
Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen, die das
Recht auf Daueraufenthalt erworben haben (neuer Art. 7
e
des FZA sowie Art. 16 und
17 der Richtlinie 2004/38/EG), sind von diesem Artikel nicht betroffen, da dieses
Recht, sobald es erworben ist, nicht unter die in Kapitel III der Richtlinie 2004/38/EG
aufgeführten Voraussetzungen für das Aufenthaltsrecht (Art. 6–15) fällt. Der Klarheit
halber präzisiert Absatz 2 Buchstabe a deshalb, dass Absatz 1 für sie nicht gilt.
Bst. b
Buchstabe b regelt die besondere Situation der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten
der EU oder der EFTA, die eine Niederlassungsbewilligung besitzen. Die Erteilung
und der Widerruf der Niederlassungsbewilligung richten sich ausschliesslich nach
dem AIG. Die Niederlassungsbewilligung wird unbefristet und ohne Bedingungen er-
teilt (Art. 34 AIG) und kann widerrufen werden, wenn die Ausländerin oder der Aus-
länder oder eine Person, für die sie oder er zu sorgen hat, dauerhaft und in erheblichem
Mass auf Sozialhilfe angewiesen ist (Art. 63 Abs. 1 Bst. c AIG). Der Widerruf muss
verhältnismässig sein (Art. 96 AIG). Da Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der EU
und der EFTA mit einer Niederlassungsbewilligung in einem gewissen Masse Sozi-
alhilfeleistungen beziehen können, ist Absatz 1 auf sie nicht anwendbar.
Abs. 3
Nach Artikel 16 Absatz 1 der Richtlinie 2004/38/EG haben Staatsangehörige der EU-
Mitgliedstaaten nach einem rechtmässigen und ununterbrochenen Aufenthalt von fünf
Jahren das Recht auf Daueraufenthalt in der Schweiz.
Für die Berechnung dieser Zeitdauer hält der neue Artikel 7
e
FZA fest, dass die
Schweiz beschliessen kann, Zeiträume von sechs Monaten oder mehr, in denen die
Person vollständig auf Sozialhilfe angewiesen ist, nicht zu berücksichtigen.
Absatz 3 schliesst gemäss der im aufdatierten FZA vorgesehenen Möglichkeit Zeit-
räume von sechs Monaten oder mehr, in denen Staatsangehörige der EU-
Mitgliedstaaten vollständig auf Sozialhilfe angewiesen sind, von dieser Berechnung
aus. Zum Begriff der Sozialhilfe wird auf die Normen der Schweizerischen Konferenz
für Sozialhilfe (SKOS)
310
und das Rundschreiben des SEM «Erläuterungen mit allge-
meinen Ausführungen zur Sozialhilfe»
311
verwiesen: So ist vollumfänglich von der
Sozialhilfe abhängig, wer nicht in der Lage ist, die materielle Grundsicherung aus
eigenen Mitteln zu decken und daher eine finanzielle Unterstützung bezieht. Ziel der
grundversorgenden Sozialhilfe ist die reine Existenzsicherung einer Person ohne wei-
tergehende fachliche Zielsetzungen wie Integration, Aus- und Weiterbildung oder Fa-
milienförderung usw.
310
www.skos.ch > SKOS-Richtlinien.
311
Rundschreiben des SEM vom 2. Februar 2021 «Erläuterungen mit allgemeinen Ausfüh-
rungen zur Sozialhilfe und zur Zustimmungspflicht beim Bezug von Sozialhilfe nach der
Verordnung des EJPD über das ausländerrechtliche Zustimmungsverfahren (ZV-EJPD)»
unter www.sem.admin.ch > Publikationen & Service > Weisungen und Kreisschreiben >
I. Ausländerbereich > 3 Aufenthaltsregelung > Anhang zu Ziffer 3.4.5 und Ziffer 8.11.
304 / 931
Art. 61a
Verlust des Status als Erwerbstätige und des Aufenthaltsrechts von
Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten
Das Ziel von Artikel 61
a
AIG, die Rechtsstellung der Staatsangehörigen der EU-
Mitgliedstaaten bei Beendigung der selbstständigen oder unselbstständigen Erwerbs-
tätigkeit zu regeln, ist nach wie vor gegeben. Der Artikel muss jedoch totalrevidiert
werden, um den Änderungen aus der (Teil-)Übernahme der Richtlinie 2004/38/EG
Rechnung zu tragen. Die Verweise im geltenden Absatz 1 auf die Kurzaufenthaltsbe-
willigung und das Aufenthaltsrecht sind nicht mehr relevant, die Absätze 2, 3 und 4
stehen im Widerspruch zur Richtlinie 2004/38/EG bezüglich der Aufrechterhaltung
des Status als Erwerbstätige, und Situationen nach Absatz 5 sind in der Richtli-
nie 2004/38/EG bereits klar geregelt (vorübergehende Arbeitsunfähigkeit durch Art. 7
Abs. 3 Bst. a und das aktuell geltende Verbleiberecht durch Art. 17 der Richtli-
nie 2004/38/EG).
Betroffen sind hier Erwerbstätigkeiten, die im Aufnahmestaat ausgeübt werden, un-
abhängig von deren Art (selbstständig oder unselbstständig) und von der Art des ge-
schlossenen Arbeitsvertrags
312
, solange es sich um tatsächliche und echte Tätigkeiten
handelt, wobei solche Tätigkeiten ausser Betracht bleiben, die einen so geringen Um-
fang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen
313
.
Personen, die das Recht auf Daueraufenthalt erworben haben oder eine Niederlas-
sungsbewilligung besitzen, verlieren ihren Status als Erwerbstätige, nicht aber ihr
Recht auf Daueraufenthalt oder ihre Niederlassungsbewilligung. Denn das Recht auf
Daueraufenthalt unterliegt nicht den Voraussetzungen nach Kapitel III der Richtli-
nie 2004/38/EG (Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG), und die Niederlassungs-
bewilligung wird unbefristet und ohne Bedingungen erteilt (Art. 34 Abs. 1 AIG).
Abs. 1
Nach Artikel 7 Absatz 3 Buchstabe c der Richtlinie 2004/38/EG bleibt bei Staatsan-
gehörigen der EU-Mitgliedstaaten die Erwerbstätigeneigenschaft während mindes-
tens sechs Monaten erhalten, wenn sie sich bei ordnungsgemäss bestätigter unfreiwil-
liger Arbeitslosigkeit nach Ablauf ihres auf
weniger als ein Jahr
befristeten
Arbeitsvertrags oder bei im Laufe der
ersten zwölf Monate
eintretender unfreiwilliger
Arbeitslosigkeit dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung stellen. Das Aufenthalts-
recht steht ihnen zu, solange sie diese Voraussetzungen erfüllen (Art. 14 Abs. 2 der
Richtlinie 2004/38/EG).
Der Absatz 1 regelt den Verlust des Status als Erwerbstätige und des damit verbunde-
nen Aufenthaltsrechts von mehr als drei Monaten gemäss dem FZA
de lege
, wenn die
selbstständige oder unselbstständige Erwerbstätigkeit während höchstens zwölf Mo-
naten ausgeübt wurde (s. EuGH-Urteil Gusa
314
).
Wenn die Person sich nicht als Stellensuchende beim zuständigen Arbeitsamt anmel-
det, erlischt ihr Aufenthaltsrecht als selbstständig oder unselbstständig erwerbstätige
Person mit Beendigung der Erwerbstätigkeit. Wenn sie sich anmeldet, erlischt es
312
EuGH, Urteil vom 11. April 2019, Tarola, C‑483/17, EU:C:2019:309, Rn 48.
313
EuGH, Urteil vom 23. März 1982, Levin, C-53/81, EU:C:1982:105, Rn 17.
314
EuGH, Urteil vom 20. Dezember 2017, Gusa, C-422/16, EU:C:2017:1004, Rn 36.
305 / 931
sechs Monate nach der Beendigung der Erwerbstätigkeit. Damit macht der Gesetzge-
ber vom Handlungsspielraum der Richtlinie 2004/38/EG («mindestens sechs Mo-
nate») Gebrauch.
Die persönliche Situation muss jeweils nicht im Einzelfall beurteilt werden.
Abs. 2
Nach Artikel 7 Absatz 3 Buchstabe b der Richtlinie 2004/38/EG bleibt Staatsangehö-
rigen der EU-Mitgliedstaaten die Erwerbstätigeneigenschaft erhalten, wenn sie sich
bei ordnungsgemäss bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach
mehr als einjäh-
riger
Beschäftigung dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung stellen.
Absatz 2 regelt den Verlust des Status als Erwerbstätige und des damit verbundenen
Aufenthaltsrechts von mehr als drei Monaten gemäss dem FZA
de lege
, wenn die
selbstständige oder unselbstständige Erwerbstätigkeit im Zeitpunkt der unfreiwilligen
Arbeitslosigkeit während mehr als zwölf Monaten ausgeübt wurde.
–
Buchstabe a regelt den Fall, in dem Staatsangehörige der EU-
Mitgliedstaaten sich nicht innerhalb der vom Bundesrat festgelegten Frist
als Stellensuchende beim zuständigen Arbeitsamt melden.
–
Buchstabe b bezieht sich auf den Fall, in dem Staatsangehörige der EU-
Mitgliedstaaten nicht vorhaben, ernsthaft und in gutem Glauben mit dem
zuständigen Arbeitsamt zusammenzuarbeiten, um innerhalb eines angemes-
senen Zeitraums eine Stelle zu finden.
–
Buchstabe c betrifft den Fall, in dem für Staatsangehörige der EU-
Mitgliedstaaten nach einem längeren Zeitraum ohne Erwerbstätigkeit (ein
bis zwei Jahre Arbeitslosenentschädigung + sechs Monate) objektiv be-
trachtet keine realistische Aussicht mehr darauf besteht, eine neue Stelle zu
finden. In diesem Fall verfehlt die Zusammenarbeit das Ziel, innerhalb eines
angemessenen Zeitraums eine Stelle zu finden.
315
Bevor der Verlust des
Status als Erwerbstätige und des Aufenthaltsrechts festgestellt wird (Fest-
stellungsverfügung über das Nichtbestehen von Rechten, Art. 5 Abs. 1
Bst. b VwVG), hört die Behörde die Person an (Art. 30 Abs. 1 VwVG).
Diese muss glaubhaft machen, dass Aussicht darauf besteht, in absehbarer
Zeit eine neue Stelle zu finden, auch wenn die Situation dies nicht vermuten
lässt, sodass die Behörde die individuelle Situation der Person berücksich-
tigen kann.
Art. 61b
Erlöschen des Aufenthaltsrechts von Staatsangehörigen der EFTA-
Mitgliedstaaten
Die Bestimmungen des bisherigen Artikels 61
a
AIG sind für EFTA-Staatsangehörige
weiterhin gültig. Ihr Inhalt wird daher im neuen Artikel 61
b
VE-AIG übernommen
315
Siehe Änderungsprotokoll vom xx.xx.2025 zum Abkommen zwischen der Schweizeri-
schen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mit-
gliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit, Gemeinsame Erklärung über die Verwei-
gerung der Sozialhilfe und die Aufenthaltsbeendigung vor Erwerb des Daueraufenthalts.
306 / 931
und entsprechend angepasst (kein Verweis mehr auf die Staatsangehörigen der EU-
Mitgliedstaaten). Einzig der Sozialhilfeausschluss nach unfreiwilliger Beendigung
des Arbeitsverhältnisses in den ersten zwölf Monaten des Aufenthalts ist künftig in
Artikel 41
c
VE-AIG geregelt, der die Sozialhilfe betreffend Staatsangehörige der Mit-
gliedstaaten der EU oder der EFTA zum Gegenstand hat.
Im Übrigen wird auf die Ausführungen zum bisherigen Artikel 61
a
AIG der Botschaft
vom 4. März 2016
316
zur Änderung des Ausländergesetzes (Steuerung der Zuwande-
rung und Vollzugsverbesserungen bei den Freizügigkeitsabkommen) verwiesen.
Art.61c
Nichtbestehen oder Erlöschen des Aufenthaltsrechts von
Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten bei Rechtsmissbrauch
Nach Artikel 35 der Richtlinie 2004/38/EG kann die Schweiz die Massnahmen erlas-
sen, die notwendig sind, um die durch diese Richtlinie verliehenen Rechte (d. h. auch
das Recht auf Daueraufenthalt) im Falle von Rechtsmissbrauch oder Betrug – bei-
spielsweise durch Eingehung von Scheinehen – zu verweigern, aufzuheben oder zu
widerrufen.
Ein Rechtsmissbrauch liegt vor, wenn eine Person sich rechtliche Vorteile verschafft,
indem sie dem Anschein nach die Regeln einhält, ohne jedoch tatsächlich deren
Zweck zu verfolgen (s. EuGH-Urteil Emsland-Stärke
317
).
Der neue Artikel 61
c
VE-AIG beinhaltet eine nicht abschliessende Liste von rechts-
missbräuchlichen Situationen, die zur Feststellung des Nichtbestehens oder des Erlö-
schens des (Dauer-)Aufenthaltsrechts führen, wenn es in missbräuchlicher Weise gel-
tend gemacht wird. Diese Bestimmung gilt nicht für Staatsangehörige der EFTA-
Mitgliedstaaten.
Die zuständige Behörde entscheidet jeweils unter Berücksichtigung aller Umstände
im Einzelfall (Verhältnismässigkeitsprüfung; Art. 96 AIG).
Bst. b
Hier geht es um das missbräuchliche Erlangen von Vorteilen, die im Zusammenhang
mit dem Aufenthaltsrecht nach Artikel 7 der Richtlinie 2004/38/EG stehen (insb. So-
zialhilfeleistungen, Recht auf Daueraufenthalt), während der Wohnsitz im Herkunfts-
staat der EU beibehalten wird. Der Wohnsitz einer Person befindet sich in dem Land,
in dem sie die Absicht dauernden Verbleibens hat (s. Art. 23 des Zivilgesetzbu-
ches
318
).
Im Urteil 2C_5/2021 vom 2. Dezember 2021 legte das Bundesgericht die Vorausset-
zungen für die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA oder einer Grenz-
gängerbewilligung EU/EFTA näher dar. Es wurde festgehalten, dass eine erwerbstä-
tige Person für die Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltsbewilli-
gung EU/EFTA gewillt sein muss, sich in der Schweiz niederzulassen. Ist die be-
316
BBl
2016
3007 3054 ff.
317
EuGH, Urteil vom 14. Dezember 2000, Emsland-Stärke, C-110/99, EU:C:2000:695, Rn 52
und 53.
318
SR
210
307 / 931
troffene Person hingegen als Grenzgängerin oder Grenzgänger im Sinne des FZA tä-
tig, besteht der notwendige Wille zur Niederlassung in der Schweiz nicht und eine
allenfalls bestehende Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA muss widerrufen und durch
eine Grenzgängerbewilligung EU/EFTA ersetzt werden (Art. 23 VFP). Durch diese
nachträgliche Präzisierung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung wurde im Be-
reich des FZA Klarheit geschaffen (s. Ziff. 3.1.2 des erläuternden Berichts zur Ände-
rung des AIG «Erleichterung der selbstständigen Erwerbstätigkeit, Berücksichtigung
des Lebensmittelpunkts und Zugriffe auf Informationssysteme»
319
).
Mit der (teilweisen) Übernahme der Richtlinie 2004/38/EG ändert sich nichts am Ziel
des FZA. Die vorgängig genannte Rechtsprechung des Bundesgerichts behält also ihre
Relevanz und wird weiterhin
mutatis mutandis
angewendet. Es wird weiterhin zwi-
schen Personen, die sich in der Schweiz aufhalten, und Personen, die in der Schweiz
als Grenzgängerin oder Grenzgänger erwerbstätig sind, unterschieden (Art. 13
a
VE-
AIG).
Durch
diese
Unterscheidung
erhalten
Staatsangehörige
der
EU-
Mitgliedstaaten, die ihren Wohnsitz im Aufnahmestaat haben, dort auch gewisse
Rechte. Ohne Wohnsitz im Aufnahmestaat können sie sich nicht auf diese Rechte
(z. B. Verbleiberecht) berufen. Die beiden Personenkategorien lassen sich also durch
den Willen, sich in der Schweiz niederzulassen, unterscheiden.
Bst. c
Hier geht es um Aufenthalte von mehr als drei Monaten in der Schweiz, obwohl die
Voraussetzungen dafür nicht erfüllt sind (Status als Erwerbstätige oder ausreichende
finanzielle Mittel; s. Art. 7 der Richtlinie 2004/38/EG).
Nach Artikel 6 der Richtlinie 2004/38/EG haben Staatsangehörige der EU-
Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen das Recht auf Aufenthalt im Hoheits-
gebiet der Schweiz für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten, wobei sie lediglich
im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein müssen und ansons-
ten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen brauchen.
Dem EuGH zufolge müssen Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die ein neuer-
liches Aufenthaltsrecht nach Artikel 6 Absatz 1 der Richtlinie 2004/38/EG in An-
spruch nehmen möchten, das Hoheitsgebiet des Aufnahmestaats nicht nur physisch
verlassen, sondern auch ihren Aufenthalt im betreffenden Hoheitsgebiet tatsächlich
und wirksam beendet haben, sodass bei ihrer Rückkehr in dieses Hoheitsgebiet nicht
davon ausgegangen werden kann, dass ihr vorangegangener Aufenthalt in Wirklich-
keit ununterbrochen fortbesteht. Sie können nicht dazu verpflichtet werden, sich wäh-
rend eines Mindestzeitraums, beispielsweise von drei Monaten, ausserhalb des Auf-
nahmestaats aufzuhalten, um sich auf ein neuerliches Aufenthaltsrecht nach dem
genannten Artikel berufen zu können (EuGH-Urteil Staatssecretaris van Justitie en
Veiligheid
320
).
319
Erläuternder Bericht, abrufbar unter: https://www.sem.admin.ch/sem/de/home.html > Das
SEM > Laufende Rechtsetzungsprojekte > Änderung des Ausländer- und Integrationsge-
setzes (Erleichterung der selbstständigen Erwerbstätigkeit, Berücksichtigung des Lebens-
mittelpunkts und Zugriffe auf Informationssysteme).
320
EuGH, Urteil vom 22. Juni 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid, C-719/19,
EU:C:2021:506, Rn 81 und 89.
308 / 931
Wie im französischen Recht (s. Art. L251-1 Abs. 3 des
Code de l’entrée et du séjour
des étrangers et du droit d’asile
321
) soll diese Bestimmung daher verhindern, dass
Aufenthalte von weniger als drei Monaten aneinandergereiht werden mit dem Ziel,
im betreffenden Hoheitsgebiet zu verbleiben, obwohl die Voraussetzungen für einen
Aufenthalt von mehr als drei Monaten nicht erfüllt sind.
Bst. d
Hier geht es um Fälle, in denen der Anschein erweckt wird, eine (selbstständige oder
unselbstständige) Erwerbstätigkeit auszuüben, mit dem einzigen Ziel, die Lebens-
grundlagen mithilfe von Sozialleistungen zu finanzieren.
Das Bundesgericht hält fest, dass die Einreise in die Schweiz für eine fiktive bezie-
hungsweise zeitlich sehr kurze Erwerbstätigkeit mit dem Ziel, von vorteilhafteren So-
zialleistungen als im Heimat- oder einem anderen Mitgliedstaat der EU oder der
EFTA zu profitieren, als missbräuchlich bezeichnet werden kann.
322
Dies deckt sich
mit der Rechtsprechung des EuGH. In seinem Urteil Ninni-Orasche
323
befand das Ge-
richt, dass eine Situation, in der ein Staatsangehöriger eines EU-Mitgliedstaats eine
kurzfristige unselbstständige Erwerbstätigkeit mit dem einzigen Ziel ausgeübt hat, im
Aufnahmestaat in den Genuss von gewissen Unterstützungsleistungen zu kommen,
als rechtsmissbräuchlich betrachtet werden kann.
Art. 61d
Erlöschen des Aufenthaltsrechts von Staatsangehörigen der EU-
Mitgliedstaaten
Abs. 1
In der geltenden Version ist Artikel 61 Absatz 1 AIG nicht subsidiär (Art. 2 Abs. 2
VE-AIG) auf Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten anwendbar, die ein Aufent-
haltsrecht von mehr als drei Monaten gemäss dem FZA besitzen, da er sich auf das
Erlöschen von «Bewilligungen» bezieht, welche durch die Teilübernahme der Richt-
linie 2004/38/EG jedoch wegfallen. Auf ihre aus Drittstaaten stammenden Familien-
angehörigen ist er hingegen anwendbar, da diese über eine Aufenthaltskarte verfügen
(
Status quo
).
Dieser Absatz regelt das Erlöschen des Aufenthaltsrechts
de lege
. Bezüglich der Lan-
desverweisung sei auf den neuen Artikel 7
h
FZA verwiesen.
Abs. 2
In der geltenden Version ist Artikel 62 Absatz 1 AIG nicht subsidiär (Art. 2 Abs. 2
VE-AIG) auf Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten anwendbar, die ein Aufent-
haltsrecht von mehr als drei Monaten gemäss dem FZA besitzen, da er sich auf den
321
https://www.legifrance.gouv.fr/codes/texte_lc/LEGITEXT000006070158/2024-04-23 >
Partie législative (Articles L110-1 à L837-4) > Livre II: Dispositions applicables aux ci-
toyens de l'union européenne et aux membres de leur famille (Articles l200-1 à l286-2) >
Titre V: décisions d'éloignement (Articles L251-1 à L253-1) > Chapitre I: Obligation de
quitter le territoire français (Articles L251-1 à L251-8) > Section 1: Décision portant obli-
gation de quitter le territoire français (Articles L251-1 à L251-2).
322
S. BGE
131
II 339 E. 3.4 und
141
II 1 E. 2.2.1.
323
EuGH, Urteil vom 6. November 2003, Ninni-Orasche, C-413/01, ECLI:EU:C:2003:600,
Rn 41 und 46.
309 / 931
Widerruf von «Bewilligungen» bezieht, welche durch die Teilübernahme der Richtli-
nie 2004/38/EG jedoch wegfallen. Auf ihre aus Drittstaaten stammenden Familienan-
gehörigen ist er hingegen anwendbar, da diese über eine Aufenthaltskarte verfügen
(
Status quo
).
Absatz 2 regelt die Fälle, in denen die zuständige Behörde das Erlöschen des Aufent-
haltsrechts von mehr als drei Monaten feststellen kann. Sie muss dabei den allgemei-
nen Grundsätzen und den Verfahrensgarantien gemäss den Artikeln 27–33 der Richt-
linie 2004/38/EG Rechnung tragen (vorbehältlich Art. 28 Abs. 2 und 3; s. neuer
Art. 7
h
des FZA, der diese Ausnahme vorsieht).
Abs. 3
Mit dieser Ausschlussklausel soll ein Dualismus vermieden werden, indem es der zu-
ständigen Migrationsbehörde untersagt ist, eine Aufenthaltsbewilligung allein ge-
stützt auf ein Delikt, für das ein Strafgericht bereits eine Strafe verhängt, jedoch keine
Landesverweisung ausgesprochen hat, zu widerrufen (s. Botschaft vom 26. Juni
2013
324
zur Änderung des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzes [Umsetzung
von Art. 121 Abs. 3–6 BV über die Ausschaffung krimineller Ausländerinnen und
Ausländer]).
Art. 61e
Erlöschen, Verweigerung und Widerruf des Rechts auf
Daueraufenthalt
Abs. 1
In der geltenden Version ist Artikel 61 Absatz 1 AIG nicht subsidiär (Art. 2 Abs. 2
VE-AIG) auf Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten anwendbar, die ein Recht auf
Daueraufenthalt gemäss dem FZA besitzen, da er sich auf das Erlöschen von «Bewil-
ligungen» bezieht, welche durch die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG je-
doch wegfallen.
Dieser Absatz regelt das Erlöschen des Rechts auf Daueraufenthalt von Staatsange-
hörigen der EU-Mitgliedstaaten und aus Gründen der Kohärenz auch von ihren Fami-
lienangehörigen
de lege
. Das ist deshalb gerechtfertigt, weil dieses durch die Richtli-
nie 2004/38/EG eingeführte Recht eine Neuerung darstellt, für die es im Schweizer
Recht keine entsprechende Regelung gibt. Bezüglich der Landesverweisung sei auf
den neuen Artikel 7
h
des FZA verwiesen.
Was die Abwesenheiten während mehr als zwei aufeinanderfolgenden Jahren anbe-
langt, sollen einfache Kurzbesuche in der Schweiz nicht genügen, um die Frist zu
unterbrechen.
Abs. 2
In der geltenden Version ist Artikel 62 Absatz 1 AIG nicht subsidiär (Art. 2 Abs. 2
VE-AIG) auf Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten anwendbar, die ein Recht auf
Daueraufenthalt gemäss dem FZA besitzen, da er sich auf den Widerruf von «Bewil-
ligungen» bezieht, welche durch die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG je-
doch wegfallen.
324
BBl
2013
5975, 6046.
310 / 931
Absatz 2 regelt die Fälle, in denen die zuständige Behörde das Recht auf Daueraufent-
halt von Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten und aus den oben genannten Ko-
härenzgründen auch von ihren Familienangehörigen verweigern oder widerrufen
kann. Sie muss dabei den allgemeinen Grundsätzen und den Verfahrensgarantien ge-
mäss den Artikeln 27–33 der Richtlinie 2004/38/EG Rechnung tragen (vorbehältlich
Art. 28 Abs. 2 und 3; s. neuer Art. 7
h
des FZA, der diese Ausnahme vorsieht).
Abs. 3
Mit dieser Ausschlussklausel soll ein Dualismus vermieden werden, indem es der zu-
ständigen Migrationsbehörde untersagt ist, eine Aufenthaltsbewilligung allein ge-
stützt auf ein Delikt, für das ein Strafgericht bereits eine Strafe verhängt, jedoch keine
Landesverweisung ausgesprochen hat, zu widerrufen (s. Botschaft vom 26. Juni
2013
325
zur Änderung des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzes [Umsetzung
von Art. 121 Abs. 3–6 BV über die Ausschaffung krimineller Ausländerinnen und
Ausländer]).
Art. 64 Abs. 1 Bst. d
In der geltenden Version ist Artikel 64 Absatz 1 AIG nicht subsidiär (Art. 2 Abs. 2
VE-AIG) auf Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten anwendbar, die ein Aufent-
haltsrecht gemäss dem FZA besitzen, da er sich auf die ordentliche Wegweisungsver-
fügung gegenüber Ausländerinnen oder Ausländern bezieht, die nicht oder nicht mehr
in Besitz einer «Bewilligung» sind, welche durch die Teilübernahme der Richtli-
nie 2004/38/EG jedoch wegfällt. Auf ihre Familienangehörigen aus Drittstaaten ist er
hingegen anwendbar, da diese über eine Aufenthaltskarte (
Status quo
) oder eine Dau-
eraufenthaltskarte verfügen.
Buchstabe d regelt die Fälle, in denen die zuständige Behörde eine ordentliche Weg-
weisungsverfügung erlässt, wenn Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten ein Auf-
enthaltsrecht gemäss dem FZA (Art. 61
a
, 61
c
und 61
d
VE-AIG) oder ein Recht auf
Daueraufenthalt gemäss dem FZA (Art. 61
e
Abs.1 Bst. b–c und Abs. 2 Bst. c VE-
AIG) nicht oder nicht mehr geltend machen können.
Art. 64d Abs. 2 Bst. g
In der geltenden Version ist Artikel 64
d
Absatz 2 Buchstabe c AIG nicht subsidiär
(Art. 2 Abs. 2 VE-AIG) auf Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten anwendbar, die
ein Aufenthaltsrecht gemäss dem FZA besitzen, da er sich auf die Ablehnung offen-
sichtlich unbegründeter oder missbräuchlicher Gesuche um Erteilung einer «Bewilli-
gung» bezieht, welche durch die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG jedoch
wegfällt. Auf ihre Familienangehörigen aus Drittstaaten ist er hingegen anwendbar,
da diese über eine Aufenthaltskarte verfügen (
Status quo
).
Artikel 30 Absatz 3 der Richtlinie 2004/38/EG legt fest, dass die Frist zum Verlassen
des Hoheitsgebiets des Mitgliedstaats, ausser in ordnungsgemäss begründeten drin-
genden Fällen, mindestens einen Monat betragen muss.
325
BBl
2013
5975, 6046.
311 / 931
Buchstabe g regelt die Möglichkeit, eine Wegweisung sofort zu vollstrecken oder eine
Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen anzusetzen, wenn die zuständige Behörde
das Nichtbestehen des Aufenthaltsrechts gemäss dem FZA feststellt, da das geltend
gemachte Recht offensichtlich unbegründet oder missbräuchlich ist.
Absatz 2 Buchstaben a und b sind subsidiär auf Staatsangehörige der EU-
Mitgliedstaaten anwendbar, die ein Aufenthaltsrecht gemäss dem FZA besitzen.
Art. 97 Abs. 3 Bst. d
bis
, 4 und 5
Abs. 3 Bst. d
bis
Der ergänzte Buchstabe d
bis
verpflichtet die öffentliche Arbeitsvermittlung (öAV)
dazu, den Migrationsbehörden die öAV-Anmeldung sowie die Nichteinhaltung der
Bedingungen nach Artikel 24
a
AVG zu melden. Anhand der gemeldeten Daten kön-
nen die Migrationsbehörden den Status als (selbstständig oder unselbstständig) Er-
werbstätige der betreffenden Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EU oder der
EFTA beurteilen.
Der Bundesrat legt auf Verordnungsstufe die Modalitäten und den Umfang der zu
meldenden Daten fest.
Abs. 4
Absatz 4 wird dahingehend ergänzt, dass die Behörden nach Absatz 1 dem für die
Festsetzung und die Auszahlung der Ergänzungsleistung zuständigen Organ von Am-
tes wegen auch Entscheide melden, wonach Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten
nicht oder nicht mehr über ein Recht gemäss dem FZA verfügen, damit dieses eben-
falls die Ergänzungsleistung überprüfen kann, die es diesen Personen ausrichtet.
Abs. 5
Analog zum geltenden Absatz 4 legt Absatz 5 für die Behörden nach Absatz 1 eine
Meldepflicht gegenüber den Behörden, welche die Sozialleistungen ausrichten, fest.
Mit dieser Bestimmung können diese Behörden die Leistungsausrichtung überprüfen.
Entscheide, wonach Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten nicht oder nicht mehr
über ein Aufenthaltsrecht gemäss dem FZA verfügen, müssen ebenfalls von Amtes
wegen gemeldet werden.
Art. 99 Abs. 1
In der geltenden Version ist Artikel 99 Absatz 1 AIG nicht subsidiär (Art. 2 Abs. 2
VE-AIG) anwendbar, da Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die ein Aufent-
haltsrecht gemäss dem FZA besitzen, keine «Kurzaufenthalts-» oder «Aufenthaltsbe-
willigungen» mehr erhalten, welche durch die Teilübernahme der Richtli-
nie 2004/38/EG wegfallen. Auf ihre aus Drittstaaten stammenden Familienangehöri-
gen ist er hingegen anwendbar, da diese über eine Aufenthaltskarte verfügen (
Status
quo
).
Artikel 99 Absatz 1 wird dahingehend angepasst, dass Entscheide über das Bestehen
eines Aufenthaltsrechts oder eines Rechts auf Daueraufenthalt gemäss dem FZA dem
SEM zur Zustimmung unterbreitet werden können. Dabei handelt es sich zurzeit um
312 / 931
die Fälle nach Artikel 3 Absatz 6 (Zulassung von Kindern zum allgemeinen Unter-
richt sowie zur Lehrlings- und Berufsausbildung) und Artikel 4 (Verbleiberecht) von
Anhang I FZA (Art. 4 Bst. e und f der Verordnung des EJPD über das ausländerrecht-
liche Zustimmungsverfahren
326
). In der Richtlinie 2004/38/EG entspricht dies den Ar-
tikeln 12 und 13 (Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen
in gewissen Fällen wie bei Tod oder Scheidung) sowie 17 (Recht auf Daueraufenthalt
für Personen, die im Aufnahmemitgliedstaat aus dem Erwerbsleben ausgeschieden
sind, und ihre Familienangehörigen).
Art. 118 Abs.1
In der geltenden Version ist Artikel 118 Absatz 1 AIG nicht subsidiär (Art. 2 Abs. 2
VE-AIG) auf Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten anwendbar, die ein Aufent-
haltsrecht gemäss dem FZA besitzen, da er sich darauf bezieht, dass die Erteilung
einer «Bewilligung» erschlichen oder bewirkt wird, dass der Entzug einer «Bewilli-
gung» unterbleibt, welche durch die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG jedoch
wegfällt. Auf ihre Familienangehörigen aus Drittstaaten ist er hingegen anwendbar,
da diese über eine Aufenthaltskarte verfügen (
Status quo
).
Artikel 118 Absatz 1 wird angepasst, damit missbräuchliches Verhalten in Zusam-
menhang mit dem Aufenthaltsrecht und dem Recht auf Daueraufenthalt gemäss dem
FZA strafrechtlich sanktioniert werden kann.
Im Übrigen ist zu präzisieren, dass die Artikel 115 Absatz 1 Buchstabe b (illegaler
Aufenthalt) und 118 Absatz 2 AIG (Scheinehe) subsidiär auf Staatsangehörige der
EU-Mitgliedstaaten anwendbar bleiben.
Art. 120 Abs. 1 Bst. a
Wenn Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten ihre Anwesenheit nicht melden, kann
die Nichterfüllung dieser Meldepflicht nach Artikel 5 Absatz 5 der Richtli-
nie 2004/38/EG mit verhältnismässigen und nichtdiskriminierenden Sanktionen ge-
ahndet werden.
Nach Artikel 8 Absatz 2 und Artikel 9 Absatz 3 der Richtlinie 2004/38/EG kann die
Nichterfüllung der Verwaltungsformalitäten (Registrierung der Staatsangehörigen der
EU-Mitgliedstaaten und Beantragung einer Aufenthaltskarte für aus Drittstaaten
stammende Familienangehörige) mit verhältnismässigen und nichtdiskriminierenden
Sanktionen geahndet werden.
Diese Pflichten werden im neuen Artikel 13
a
VE-AIG für Staatsangehörige der EU-
Mitgliedstaaten geregelt.
Der bisherige Buchstabe a nennt zwei Verpflichtungen (An- und Abmeldepflicht) un-
ter Verweis auf die Artikel 10–16 AIG. Zusätzlich zu den genannten Pflichten betref-
fen diese Artikel ausserdem die Bewilligungspflicht bei Aufenthalt (Art. 10 und 11)
und die Meldepflicht bei gewerbsmässiger Beherbergung (Art. 16).
Vor diesem Hintergrund wird der Buchstabe a neu formuliert.
326
SR
142.201.1
313 / 931
Gemäss Artikel 21 Absatz 1 RHG sind die Kantone für den Erlass der notwendigen
Ausführungsbestimmungen für den Vollzug zuständig. Auf kantonaler Ebene sind
gleichwertige Sanktionen vorgesehen.
327
Art. 122d
Nichteinhaltung der Höchstdauer bei der grenzüberschreitenden
Dienstleistungserbringung
Einige Kantone sind mit Situationen konfrontiert, in denen die im FZA (Art. 5 FZA
und neuer 5
e
FZA) oder EFTA-Übereinkommen (Art. 5 Anhang K) geregelte Dauer
von 90 Arbeitstagen pro Kalenderjahr im Zusammenhang mit der Entsendung oder
der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung umgangen wird.
Die neue Bestimmung soll diese Situationen bekämpfen, indem neue pekuniäre Ver-
waltungssanktionen eingeführt werden, die eine präventive und repressive Wirkung
auf die Sanktionsadressaten haben. Gemäss dem Legalitätsprinzip im Strafrecht set-
zen solche Sanktionen eine formelle gesetzliche Verankerung voraus.
328
Die Bestimmung betrifft sowohl Unternehmen als auch selbstständige Dienstleis-
tungserbringerinnen und Dienstleistungserbringer, die ihren Sitz oder ihren Wohnsitz
in einem Mitgliedstaat der EU oder der EFTA haben.
Abs. 1
Absatz 1 richtet sich an Schweizer Unternehmen, die Staatsangehörige der Mitglied-
staaten der EU oder der EFTA einzig zu dem Zweck beschäftigen, ausländischen Un-
ternehmen oder selbstständigen ausländischen Dienstleistungserbringerinnen und
Dienstleistungserbringern die Umgehung der im FZA vorgesehenen zeitlichen Be-
schränkung der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung (höchstens 90 Ar-
beitstage pro Kalenderjahr) zu ermöglichen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn
das Schweizer Unternehmen keine tatsächliche, effektive und dauerhafte Geschäfts-
tätigkeit ausübt und als Zweigstelle eines ausländischen Unternehmens betrachtet
werden muss (gleiches Tätigkeitsgebiet, gleiche beteiligte Personen, keine spezifische
Infrastruktur im Schweizer Hoheitsgebiet). Die bundesgerichtliche Rechtsprechung
kennt bereits zahlreiche solcher Fälle, insbesondere im Tessin.
329
«Der Gesetzgeber muss daher bei der Festlegung der Sanktionshöhe darauf achten,
dass die Sanktion hoch genug ist, um wirksam zu sein. Zu berücksichtigen sind dabei
die Besonderheiten des jeweiligen Sachbereichs, die Wertigkeit des geschützten
327
Als Beispiel:
Art. 24 Abs. 1
(contraventions)
des
loi du canton de Vaud sur le contrôle des habitants
(LOI 142.01), wonach
«celui qui omet de faire les déclarations qui lui sont imposées, fait
une déclaration inexacte ou incomplète, ou contrevient de toute autre manière aux pres-
criptions de la présente loi, est passible d'une amende de vingt à deux mille francs»,
abrufbar unter: https://prestations.vd.ch/pub/blv-publication/accueil > Recherche
§ 31 (Strafbestimmung) des Gesetzes des Kantons Zürich über das Meldewesen und die
Einwohnerregister (142.1), wonach mit Busse bestraft wird, wer: «a. Melde- und Auskun-
ftspflichten nach §§ 3–10 verletzt», abrufbar unter: https://www.zh.ch/de/politik-staat/ge-
setze-beschluesse/gesetzessammlung.html#zhlex_ls > Suche > Ordnungsnummer > 142.1.
328
BBl
2022
776 (Pekuniäre Verwaltungssanktionen. Bericht des Bundesrates in Erfüllung
des Postulates 18.4100 SPK-N vom 1. November 2018), Ziff. 4.4.4 und 4.6.
329
Urteil 2C_497/2023 vom 8. Januar 2024 E. 4 und 5.
314 / 931
Rechtsguts sowie das Verhältnismässigkeitsprinzip.»
330
Im vorliegenden Fall gilt für
Unternehmen, welche die Höchstdauer von 90 Arbeitstagen pro Kalenderjahr und da-
mit ausländerrechtliche Bestimmungen, einschliesslich des FZA, umgehen, eine ma-
ximale Sanktionshöhe von 30 000 Franken. Damit kann weniger schwerwiegenden,
schwerwiegenden und Wiederholungsfällen unter Beachtung des Verhältnismässig-
keitsprinzips Rechnung getragen werden. Dieser Höchstbetrag entspricht jenem, der
in Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe b EntsG bei Verstössen gegen die minimalen Arbeits-
und Lohnbedingungen vorgesehen ist.
Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der EU oder der EFTA, die auf betrügerische
Weise ein Aufenthaltsrecht gemäss dem FZA erschleichen, sind ihrerseits nach Arti-
kel 118 Absatz 1 VE-AIG (Täuschung der Behörden) sanktionierbar.
Abs. 2
Im Rahmen des FZA darf ein ausländisches Unternehmen nur für höchstens 90 tat-
sächliche Arbeitstage pro Kalenderjahr Arbeitnehmende in die Schweiz entsenden,
damit sie dort eine Dienstleistung erbringen. Diese Beschränkung gilt ebenfalls für
selbstständige ausländische Dienstleistungserbringerinnen und Dienstleistungserbrin-
ger. Bei Dienstleistungen bis zu 90 Tagen Dauer müssen die entsandten Arbeitneh-
menden gemäss EntsG angemeldet werden und die selbstständigen ausländischen
Dienstleistungserbringerinnen und Dienstleistungserbringer müssen sich anmelden
(Art. 6 und 6
a
VE-EntsG). Ab einem längeren Zeitraum müssen sie eine Kurzaufent-
halts- oder Aufenthaltsbewilligung nach dem AIG beantragen (neuer Art. 5
d
des
FZA).
Die maximale Sanktionshöhe von 30 000 Franken entspricht jener in Absatz 1. Auch
in diesem Fall wird die Nichteinhaltung der Höchstdauer von 90 Arbeitstagen pro Ka-
lenderjahr und damit die Umgehung ausländerrechtlicher Bestimmungen, einschliess-
lich des FZA, sanktioniert. Mit dem Betrag kann weniger schwerwiegenden, schwer-
wiegenden und Wiederholungsfällen unter Beachtung des Verhältnismässigkeitsprin-
zips Rechnung getragen werden.
Das AIG enthält bereits Sanktionsmöglichkeiten für entsandte Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer (Art. 115 AIG) und Leistungsbeziehende (Art. 117 AIG), aller-
dings noch nicht für Entsendeunternehmen oder selbstständige ausländische Dienst-
leistungserbringerinnen und Dienstleistungserbringer. Dies soll mit dem neuen Absatz
behoben werden.
Abs. 3
Bei Nichtbezahlung einer rechtskräftigen pekuniären Sanktion nach Absatz 2 können
die betreffenden Entsendeunternehmen oder selbstständigen Dienstleistungserbringe-
rinnen und Dienstleistungserbringer mit einem Verbot zur Erbringung von Dienstleis-
tungen belegt werden, wobei das Verbot mit der Zahlung des Betrags oder, bei Nicht-
bezahlung, nach zehn Jahren endet (Bst. a). In diesem Fall hat die Sanktion keinen
Strafcharakter.
330
BBl
2022
776 (Pekuniäre Verwaltungssanktionen. Bericht des Bundesrates in Erfüllung
des Postulates 18.4100 SPK-N vom 1. November 2018), Ziff. 4.4.2.
315 / 931
Diese Möglichkeit besteht auch für Wiederholungsfälle (Bst. b), zusätzlich zur peku-
niären Sanktion nach Absatz 2. In diesem Fall hat die Sanktion einen Strafzweck.
Ein solches Verbot besteht auch im EntsG (Art. 9 Abs. 2 Bst. b Ziff. 2). Bei dessen
Anordnung muss der Grundsatz der Verhältnismässigkeit beachtet werden.
Abs. 4
Der Vollzug dieser Bestimmung obliegt den Kantonen. Deshalb ist hier das kantonale
Verwaltungsverfahrensrecht anwendbar.
Die Behörden werden künftig die Möglichkeit haben, natürliche und juristische Per-
sonen sowohl nach dem AIG als nach dem EntsG mit einem Verbot zur Erbringung
von Dienstleistungen zu belegen. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass verschiedene
Behörden kurz nacheinander wegen unterschiedlicher Sachverhalte gegen ein- und
dieselbe Person ein Verbot aussprechen (z. B. Überschreitung der Höchstdauer von
90 Arbeitstagen und Verstoss gegen die minimalen Lohnbedingungen). Aus diesem
Grund wird eine Bestimmung vorgesehen, wonach sich die Behörden (sofern es meh-
rere sind) untereinander koordinieren. Sie soll sicherstellen, dass das Gebot der
Rechtsgleichheit und das Verhältnismässigkeitsprinzip gewahrt werden, wenn meh-
rere Verbote ausgesprochen werden.
Abs. 5
Die Daten zu den Verwaltungssanktionen sind besonders schützenswerte Daten im
Sinne von Artikel 5 Buchstabe c Ziffer 5 des Datenschutzgesetzes
331
(DSG). Für ihre
Bearbeitung bedarf es einer formellen gesetzlichen Grundlage (Art. 34 Abs. 2 Bst. a
DSG).
Die Vollzugsbehörden des EntsG (SECO und Kontrollorgane nach Art. 7 Abs. 1
EntsG) und die für die Umsetzung des AIG zuständigen Behörden müssen die Daten
zu den nach Artikel 122
d
VE-AIG sanktionierten Unternehmen bearbeiten können,
um die Einhaltung der ausländerrechtlichen Bestimmungen, einschliesslich jener des
FZA in Bezug auf Aufenthalt und Dienstleistungserbringung (Art. 5 FZA und neuer
Art. 5
a
ff. FZA), sowie die Koordination zwischen den Behörden gewährleisten zu
können – Letzteres, um sicherzustellen, dass sie nicht kurz nacheinander zwei Verbote
zur Erbringung von Dienstleistungen, eines gestützt auf das AIG und das andere ge-
stützt auf das EntsG, gegenüber demselben Unternehmen oder der- oder demselben
selbstständigen Dienstleistungserbringenden aussprechen.
2.3.8.1.2
Arbeitsvermittlungsgesetz (AVG)
Die Wiedereingliederungsstrategie (WES) stellt ein Instrument der öffentlichen Ar-
beitsvermittlung (öAV) dar, welches die Vorgehensziele zur raschen und dauerhaften
Wiedereingliederung des Stellensuchenden in den Arbeitsmarkt festlegt. Die WES ist
derzeit auf Weisungsstufe geregelt
332
. Aufgrund ihrer zentralen Stellung in der öAV
331
SR
235.1
332
SECO, Weisung AVG öAV (AVG-Praxis öAV), Stand am 1. Januar 2024, Rz. C6; abruf-
bar unter arbeit.swiss. > Publikationen / AVIG-Praxis.
316 / 931
ist es angezeigt, dafür eine formalgesetzliche Grundlage zu schaffen. Die Konkreti-
sierung obliegt dem Bundesrat, welcher nach Anhörung der Kantone und der betei-
ligten Organisationen die Ausführungsbestimmungen erlässt (Art. 41 Abs. 1 AVG).
Art. 24a
Die WES wird zwischen dem Arbeitsamt (i.d.R. dem Personalberatenden im RAV)
und dem Stellensuchenden vereinbart, kann aber andere Akteure einbeziehen (wie
z.B. die Invalidenversicherung oder die Sozialhilfe im Rahmen der interinstitutionel-
len Zusammenarbeit). Die WES muss schriftlich verfasst werden (Abs. 1). Die Aus-
arbeitung und die Unterzeichnung der Strategie findet im Rahmen eines RAV-
Beratungsgesprächs statt. Nach der Unterzeichnung wird diese im Informationssys-
tem der öAV abgelegt. Die Kantone sind in der Formulierung der WES frei, müssen
sich aber an den vom SECO gegebenen Rahmen halten
333
.
Die WES legt die Massnahmen fest, welche zugunsten der Wiedereingliederung des
Stellensuchenden in den Arbeitsmarkt ergriffen werden sollen (Abs. 2). Sie wird unter
Berücksichtigung des Profils und der Bedürfnisse des Stellensuchenden individuell
ausgestaltet, um die Chancen der raschen und dauerhaften Wiedereingliederung zu
erhöhen.
Der Einsatz der WES dient ebenfalls der Umsetzung von Artikel 7 Absatz 3 Buch-
stabe b-d der Richtlinie 2004/38/EG: In der Schweiz genügt es nicht, dass eine stel-
lensuchende Person sich dem Arbeitsamt nur zur Verfügung stellt, sondern sie muss
aktiv mit diesem kooperieren. Die Europäischen Kommission kennt eine ähnliche Pra-
xis.
334
Die WES wird für die Wiedereingliederung aller Stellensuchenden eingesetzt,
unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit. Es besteht damit keine Diskriminierung
zwischen Schweizer Staatsangehörigen und EU-Bürgern.
Das Arbeitsamt (bzw. der Personalberatende) muss den Stellensuchenden über die
möglichen Konsequenzen der Nichteinhaltung der WES informieren. Diese Informa-
tion erfolgt direkt in dem der WES verbriefenden Dokument. Ist der Stellensuchende
ein EU-Bürger, wird er darüber informiert, dass die Nichteinhaltung der WES Konse-
quenzen auf seinen migrationsrechtlichen Status haben kann (Art. 61
a
Abs. 2 Bst. b
VE-AIG). Das Arbeitsamt selbst nimmt keine migrationsrechtlichen Abklärungen
vor. Die möglichen Merkmale einer Nichteinhaltung der WES werden auf Verord-
nungsstufe spezifiziert. Die Beurteilung dieser Merkmale durch das Arbeitsamt und
das anschliessende Vorgehen werden mittels Weisung genauer geregelt.
333
SECO, Strategie öffentliche Arbeitsvermittlung 2030, aufrubar auf arbeit.swiss > Instituti-
onen / Medien > Aktuelle Projekte und Massnahmen > Strategie öffentliche Arbeitsver-
mittlung 2030.
334
Bekanntmachung der Kommission, Leitfaden zum Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger
und ihrer Familien, ABl C/2023/1392 vom 22. Dezember 2023, Ziff. 5.1.2.
317 / 931
Art. 34a Abs. 2 Bst. e
Ähnlich zu Artikel 33 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2000
335
über den Allge-
meinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) sieht Artikel 34
a
AVG vor, dass
die Durchführungsstellen der öAV der Schweigepflicht unterstehen. Diese Pflicht gilt
gegenüber Dritten, auch anderen Ämtern in derselben Verwaltung (kantonale oder
Bundesverwaltung). Nur mit einer ausdrücklichen Bestimmung in einem Gesetz im
formellen Sinne darf von diesem Grundsatz abgewichen werden. Artikel 34
a
Absatz 1
Buchstabe e VE-AVG ermöglicht damit die Übermittlung von Daten zwischen der
öAV und den zuständigen Migrationsbehörden, wenn Staatsangehörige der EU-
Mitgliedstaaten die WES nicht einhalten. Dabei handelt es sich um eine äquivalente
Bestimmung zu Artikel 97
a
Absatz 1 Buchstabe b
ter
des Arbeitslosenversicherungs-
gesetzes vom 25. Juni 1982
336
(AVIG), welche auch die Datenübermittlung zwischen
den Durchführungsstellen der Arbeitslosenversicherung und den Migrationsbehörden
vorsieht.
2.3.8.1.3
ETH-Gesetz
Nach dem Inkrafttreten des Änderungsprotokolls zum FZA sind universitäre Hoch-
schulen und Fachhochschulen verpflichtet, für Studierende, die Staatsangehörige ei-
nes EU-Mitgliedstaates sind, und zwar unabhängig von ihrem Wohnsitz, die gleichen
Studiengebühren wie für Schweizer Studierende zu erheben. Der Nichtdiskriminie-
rungsgrundsatz gilt auch für allfällige Unterstützungsmechanismen der Hochschulen
bezüglich Studiengebühren (z.B. Massnahmen zum Erlass von Studiengebühren). Das
ETH-Gesetz muss betreffend Studiengebühren angepasst werden.
Art. 34d Abs. 2 und 2
bis
Für Studierende, die Staatsangehörige eines EU-Mitgliedstaates sind, und zwar unab-
hängig von ihrem Wohnsitz, sind neu die gleichen Studiengebühren wie für Schweizer
Studierende zu erheben. Der ETH-Rat kann für Studierende aus Drittstaaten höhere
Studiengebühren vorsehen. Er wird seine Gebührenverordnung entsprechend anpas-
sen.
Mit der vorgeschlagenen Regelung wird die von der Bundesversammlung am 27. Sep-
tember 2024
337
beschlossene Anpassung des ETH-Gesetzes geändert und mit dem
Abkommen in Übereinstimmung gebracht. Der Bundesrat sieht auch vor, die Kompe-
tenz zur Festlegung der Studiengebühren für Studierende aus Drittstaaten wieder dem
ETH-Rat zu übertragen. Er erwartet, dass der ETH-Rat den Beschluss der Bundesver-
sammlung für eine höhere Nutzerbeteiligung von ausländischen Studierenden (siehe
oben) in seinen Analysen weiterhin berücksichtigen wird, auch ohne eine konkrete
Vorgabe im Gesetz.
335
SR
830.1
336
SR
837.0
337
BBl
2024
2497.
318 / 931
2.3.8.1.4
Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz (HFKG)
Art. 47 Abs. 1
bis
Für die bundesseitigen Kompensationszahlungen wird eine neue Beitragsart geschaf-
fen.
Art. 48 Abs. 2 Bst. c
Für die Bundesbeiträge nach Artikel 47 Absatz 1
bis
wird ein Zahlungsrahmen be-
schlossen.
5a. Abschnitt: Beiträge zur Umsetzung des Gleichbehandlungsgebots nach ...
Art. 61a
Mit den Zahlungsrahmen nach Artikel 48 Absatz 2 Buchstabe c HFKG werden die
kantonalen Hochschulen (die kantonalen Universitäten, universitären Institute und
Fachhochschulen) bei der Umsetzung des Nichtdiskriminierungsgrundsatzes betref-
fend Studiengebühren unterstützt. Der Gesamtbetrag entspricht den Einbussen, die
sich aus der Gleichbehandlung ergeben. Massgebend für die Berechnung sind die Stu-
diengebühren zum Zeitpunkt der Eröffnung der Vernehmlassung zum Änderungspro-
tokoll sowie die beim BFS verfügbaren Zahlen der Studierenden aus den EU-
Mitgliedstaaten. Der Bund übernimmt 50 Prozent dieses Betrages, die Kantone eben-
falls 50 Prozent.
Im ersten Jahr sollen 80 Prozent des Bundesanteils gemäss den konkreten Einbussen
auf die betroffenen Hochschulen verteilt werden. Die restlichen 20 Prozent sollen den
Hochschulen nach ihrem jeweiligen Anteil an Studierenden aus EU-Mitgliedstaaten
ausbezahlt werden, wobei die vom BFS verfügbaren Zahlen des Vorjahres berück-
sichtigt werden. In den drei Folgejahren wird die prozentuale Aufteilung dynamisch
angepasst. Die Ausrichtung der Beiträge ist auf vier Jahre befristet. Der Bundesrat
wird in der V-HFKG das Verfahren zur Berechnung und zur Auszahlung der Beiträge
regeln.
2.3.8.2
Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
2.3.8.2.1
Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen-
und Invalidenvorsorge
Art. 49 Abs. 2 Ziff. 27
In dieser Bestimmung ist zu präzisieren, dass der Teil internationale Koordination des
Gesetzes in Bezug auf die EU-Staaten auch für die weitergehende berufliche Vorsorge
gilt. Dies geschieht mittels Verweis auf die entsprechenden Gesetzesartikel.
Schlussbestimmung
319 / 931
Mit der EU konnte eine vierjährige Übergangsfrist für die Unterstellung der weiter-
gehenden Vorsorge unter die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und die Umsetzung der
Richtlinie 2014/50/EU vereinbart werden. Artikel 49 Absatz 2 Ziffer 27 BVG wird
daher am ersten Tag des 49. Monates nach Inkrafttreten des Änderungsprotokolls zum
FZA in Kraft treten.
2.3.8.2.2
Freizügigkeitsgesetz
Art. 25f Sachüberschrift, Abs. 1 Bst. a, Abs. 1
bis
sowie 2 und 3
Sachüberschrift.
Der vorliegende Entwurf bietet Gelegenheit, die Bezeichnung Euro-
päische Gemeinschaft durch Europäische Union, wie sie mittlerweile heisst, zu erset-
zen.
Abs. 1 Bst. a und Abs. 1
bis
(neu).
Weil künftig für die Barauszahlung der weitergehen-
den Vorsorge bei Wohnsitz in EU-Mitgliedstaaten andere Regelungen gelten (einge-
schränkte Barauszahlung) als in den EFTA-Staaten, werden die entsprechenden Best-
immungen neu getrennt aufgeführt. Absatz 1 Buchstabe a wird gestrichen. Die
Regelung für die EU-Staaten findet sich neu in Absatz 1
bis
.
Abs. 2 und 3.
Diese beiden Absätze können gestrichen werden, da sie infolge Zeitab-
laufs keine Bedeutung mehr haben.
Schlussbestimmung
Mit der EU konnte eine vierjährige Übergangsfrist für die Unterstellung der weiter-
gehenden Vorsorge unter die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und die Umsetzung der
Richtlinie 2014/50/EU vereinbart werden. Artikel 25
f
Sachüberschrift, Absatz 1
Buchstabe a, Absätze 1
bis
sowie 2 und 3 FZG wird daher am ersten Tag des 49. Mo-
nates nach Inkrafttreten des Änderungsprotokolls zum FZA in Kraft treten.
2.3.8.2.3
Zivilgesetzbuch
Art. 89a Abs. 6 Ziff. 24
Auch für Personalfürsorgestiftungen, die auf dem Gebiet der Alters-, Hinterlassenen-
und Invalidenvorsorge tätig sind und die dem Freizügigkeitsgesetz unterstellt sind,
gelten die BVG-Regelungen zur internationalen Koordination in Bezug auf die EU-
Mitgliedstaaten. Ziffer 24 wird daher durch einen entsprechenden Verweis angepasst.
Schlussbestimmung
Mit der EU konnte eine vierjährige Übergangsfrist für die Unterstellung der weiter-
gehenden Vorsorge unter die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und die Umsetzung der
Richtlinie 2014/50/EU vereinbart werden. Artikel 89
a
Absatz 6 Ziffer 24 ZGB wird
daher am ersten Tag des 49. Monates nach Inkrafttreten des Änderungsprotokolls zum
FZA in Kraft treten.
320 / 931
2.3.8.3
Anerkennung von Berufsqualifikationen
Seit dem Inkrafttreten 2002 ist der Anhang III FZA direkt anwendbar, da die Rege-
lungen ausreichend ausführlich sind und somit keine Umsetzungsgesetzgebung erfor-
dern. Die Änderungen durch die vorliegende Revision von Anhang III FZA sind ins-
besondere in der Richtlinie 2013/55/EU, aber auch in den in Kapitel 2.3.6.2.5
genannten EU-Rechtsakten klar geregelt. Die Verfahren und Änderungen der Aner-
kennungsregeln sind grundsätzlich alle ausreichend präzise, um sie direkt anzuwen-
den. Die Richtlinie 2005/36/EG, geändert durch die Richtlinie 2013/55/EU, behält
infolgedessen unverändert ihre unmittelbare Anwendbarkeit.
Die Schweiz kennt jedoch zwei Umsetzungserlasse. Erstens gilt das Bundesgesetz
vom 23. Juni 2000
338
über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte
(
BGFA).
Zweitens gilt das Bundesgesetz vom 14. Dezember 2012
339
über die Meldepflicht und
die Nachprüfung der Berufsqualifikationen von Dienstleistungserbringerinnen und -
erbringern in reglementierten Berufen (BGMD) als einziger Umsetzungserlass im Be-
reich der Richtlinie 2005/36/EG. Die Formulierung in Artikel 7 Absatz 1 der Richtli-
nie 2005/36/EG machte die Umsetzung der Meldepflicht erforderlich, weil die
Schweiz ansonsten seit 2013 die ausländischen Berufsqualifikationen von Dienstleis-
tungserbringerinnen und -erbringern in reglementierten Berufen nicht mehr hätte
nachprüfen dürfen. Deshalb wurden das BGMD und die entsprechende Verordnung
340
erlassen, um den Titel II der Richtlinie 2005/36/EG (Dienstleistungsfreiheit) umzu-
setzen. Aufgrund des neuen Abkommen muss das BGMD leicht angepasst werden (s.
Ziff. 2.3.8.3.1).
Die Verwaltungszusammenarbeit mittels IMI, namentlich die Übermittlung von War-
nungen, unterliegt hingegen einer anderen Logik und gilt nicht als direkt anwendbares
Recht. Der Austausch von Personendaten, einschliesslich besonders schützenswerter
Personendaten, mit ausländischen Behörden auf elektronischem Weg erfordert eine
neue formell-gesetzliche Rechtsgrundlage (s. Ziff. 2.3.8.3.2). Der Umsetzungserlass
stützt sich auf das revidierte Datenschutzgesetz vom 25. September 2020
341
(DSG).
Neben dem Austausch besonders schützenswerter Personendaten gilt es auch, die Mo-
dalitäten für eine Teilnahme am IMI festzulegen und zu definieren, welche Behörde
die Aufgabenerfüllung sicherstellt. Die materiellen Bestimmungen hingegen bedürfen
keiner Umsetzungsregelung, denn sie sind direkt anwendbar. Auch die bisherigen
Verantwortlichkeiten der Behörden bleiben bestehen.
2.3.8.3.1
Bundesgesetz über die Meldepflicht und die Nachprüfung
der Berufsqualifikationen von
Dienstleistungserbringerinnen und -erbringern in
reglementierten Berufen (BGMD)
Die Richtlinie 2013/55/EU bringt eine leichte Änderung der Regelungen zum Melde-
verfahren für Dienstleistungserbringerinnen und -erbringer mit sich. Zur Erinnerung:
338
SR
935.61
339
SR
935.01
340
SR
935.011
341
SR
235.1
321 / 931
Seit 2013 steht Staatsangehörigen der EU, die in der Schweiz einen reglementierten
Beruf als Dienstleistungserbringerinnen und -erbringer ausüben möchten – also ohne
Niederlassungsabsicht in der Schweiz und unter Beibehaltung ihrer beruflichen Tä-
tigkeit im Herkunftsland – ein beschleunigtes Verfahren zur Verfügung. Dieses Ver-
fahren wurde in der Schweiz durch das Bundesgesetz über die Meldepflicht und die
Nachprüfung der Berufsqualifikationen von Dienstleistungserbringerinnen und -er-
bringern in reglementierten Berufen (BGMD) umgesetzt. Dieses Gesetz schreibt eine
vorgängige Meldung vor. Ohne diese Meldung wäre die Erbringung von Dienstleis-
tungen auch in reglementierten Berufen – etwa im Gesundheitsbereich – ohne jegliche
Überprüfung der Berufsqualifikationen möglich. Um den im Abkommen vorgesehe-
nen Anpassungen Rechnung zu tragen, muss das BGMD in folgenden Punkten geän-
dert werden:
Art. 4
Verfahren bei reglementierten Berufen ohne Auswirkung auf die öffentliche
Gesundheit oder Sicherheit
Artikel 4 sieht eine Vereinfachung für Verfahren ohne Auswirkungen auf die öffent-
liche Gesundheit oder Sicherheit vor. Da eine Nachprüfung der Berufsqualifikation
nicht möglich ist, kann die Meldung direkt an die für die Berufsausübung zuständige
Behörde übermittelt werden, welche die formale Überprüfung übernimmt. In einem
zweiten Schritt muss auch die Verordnung zum BGMD entsprechend angepasst wer-
den.
Art. 5
Beginn der Berufsausübung
Artikel 5 muss angepasst werden, um den unmittelbaren Beginn der Tätigkeit ab dem
Zeitpunkt der erfolgten Meldung zu ermöglichen (Abs. 1). Zudem ist dem Bundesrat
die Kompetenz zu übertragen, das Verfahren im Falle einer Sistierung zu regeln – sei
es wegen fehlender Unterlagen oder weil eine Eignungsprüfung erforderlich ist, wenn
die Ausübung des Berufs Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit oder Sicher-
heit hat (Abs. 2).
2.3.8.3.2
Bundesgesetz über die Verwaltungszusammenarbeit im
Bereich der Anerkennung von Berufsqualifikationen
1. Abschnitt:
Allgemeine Bestimmungen
Art. 1
Gegenstand
Artikel 1 begrenzt den Gegenstand des Gesetzes auf die Verwaltungszusammenarbeit
im Bereich der Anerkennung von Berufsqualifikationen und die Verwendung des IMI
durch die Schweiz. Die Verwaltungszusammenarbeit ist in Titel V der Richtlinie
2005/36/EG verankert. Absatz 1 Buchstaben a - c listet die drei Bereiche auf, in denen
IMI genutzt wird. In Buchstabe b wird die englische Abkürzung EPC für den Europä-
ischen Berufsausweis in allen Amtssprachen eingeführt, um Verwechslungen mit dem
Eidgenössischen Berufsattest EBA zu vermeiden. In der deutschen Fassung der EU-
Rechtstexte wird der Europäische Berufsausweis offiziell mit EBA abgekürzt. Das
kann in der Praxis zu Problemen führen.
322 / 931
Art. 2
Geltungsbereich
Artikel 2 regelt den Geltungsbereich des Gesetzes. Absatz 1 unterscheidet zwischen
dem Geltungsbereich von Anhang III FZA und von Anhang K Anlage 3 des EFTA-
Übereinkommens. Da die Anpassungen des EFTA-Übereinkommens in einem späte-
ren Zeitpunkt durch Bundesratsbeschluss erfolgen werden, trägt diese Differenzierung
dem gestaffelten Inkrafttreten des Gesetzes Rechnung.
Bis zum Inkrafttreten einer allfälligen Anpassung von Anhang K Anlage 3 des EFTA-
Übereinkommens zwischen der Schweiz und der EFTA an den revidierten Anhang III
des FZA und dem entsprechenden Beschluss über das Inkrafttreten der relevanten
Bestimmungen dieses Gesetzes gilt es nur für EU-Mitgliedstaaten. Erst sobald diese
Anpassungen am EFTA-Übereinkommen vorgenommen worden sind und die ent-
sprechenden Bestimmungen des Gesetzes in Kraft treten, gelten die Ausführungen zu
Artikel 2 Buchstabe e, Artikel 4, Artikel 5, Artikel 8, Artikel 9, Artikel 13 und Artikel
15 sowie im Anhang des Umsetzungserlasses zu Artikel 50 Absatz 1 Buchstabe d
bis
und Absatz 3 MedBG, zu Art. 10 Absatz 5 GesBG sowie Artikel 37 Absatz 4 PsyG
bezüglich EFTA-Staatsangehörigen.
Absatz 2 zeigt auf, welche Stellen vom Gesetz betroffen sind:
Buchstabe a: Anerkennungsstellen, die je nach Beruf für das Verfahren und die An-
erkennung ausländischer Berufsqualifikationen bereits heute zuständig sind. Dabei
handelt es sich um eidgenössische, kantonale und interkantonale Stellen (wie z. B.
MEBEKO für die universitären Medizinalberufe, das ESTI für den Elektroinstallati-
onsbereich, die EDK für die Lehrpersonen) sowie Dritte, denen Aufgaben im Aner-
kennungsverfahren übertragen wurden (z. B. SRK gemäss GesBG).
Buchstabe b: Bezieht sich auf die für die Berufsausübung zuständigen Stellen auf
Bundes- und Kantonsebene, die einerseits über die Zulassung von Berufsangehörigen
zur Ausübung eines reglementierten Berufes entscheiden. Das geschieht unter ande-
rem in Form einer Berufsausübungsbewilligung, eines Berufszulassungsentscheids,
eines Eintrags in ein Berufsregister. Als zuständige Stellen gelten unter anderem die
kantonalen Gesundheitsdirektionen im Gesundheitswesen, die kantonalen Veterinär-
dienste für die reglementierten Berufe im Bereich der Tierschutz oder die kantonalen
Ämter der Wirtschaft bzw. des Tourismus z. B. für die Bergführer und Bergführerin-
nen. Andererseits fallen auch diejenigen Stellen unter diese Bestimmung, die die Aus-
übung der beruflichen Tätigkeiten beaufsichtigen und darüber entscheiden, sie ganz
oder teilweise – auch vorübergehend – zu verbieten oder zu beschränken. In der Praxis
wäre dies z. B. der Fall, wenn ein kantonales Jugendamt einer Sozialpädagogin die
Betriebsbewilligung für ihre Kita entzieht. Als Beispiel im Gesundheitswesen sind bei
den Medizinal- und Gesundheitsberufen die Tätigkeiten der Aufsichtsbehörden ge-
mäss Artikel 41 MedBG bzw. Artikel 17 GesBG zu nennen.
Buchstabe c: Gemeint sind diejenigen Stellen, welche für die Reglementierung einer
Ausbildung zuständig sind. Sie sind für den behördlichen Informationsaustausch und
den Berufsausweis von Bedeutung. Derzeit betrifft dies hauptsächlich das SBFI.
Wenn die Ausbildung auf kantonaler Ebene reglementiert ist, ist im Normalfall die
kantonale Stelle für die Auskunft zuständig.
323 / 931
Buchstaben d und e: Mit dieser Bestimmung wird die Koordinationszuständigkeit von
Bund und Kantonen im Vollzug von Anhang III FZA oder Anhang K Anlage 3 des
EFTA-Übereinkommens explizit erwähnt. Diese Aufteilung ist erforderlich, um ein
gestaffeltes Inkrafttreten des Gesetzes zu ermöglichen (vgl. Abs.1). Diese Buchstaben
betreffen insbesondere die Tätigkeiten, auf die im 2. Abschnitt eingegangen wird.
Buchstabe f: Bezieht sich auf die Gerichte, die darüber entscheiden, ob die Berufsaus-
übung zu beschränken oder zu verbieten ist. In der Praxis wäre dies der Fall, wenn
jemandem die berufliche Tätigkeit gestützt auf Artikel 67 StGB verboten wird.
Ebenso werden mit diesem Buchstaben jene Gerichte angesprochen, die aufgrund ei-
ner Fälschung von Berufsqualifikationen eine Verurteilung nach Artikel 251 bis 255
StGB aussprechen.
Art. 3
Reglementierte Berufe
Artikel 3 verankert den Begriff der reglementierten Berufe (Abs. 1).
Da die Verhältnismässigkeitsprüfung gemäss Richtlinie 2018/968/EU bei Erlass
neuer Reglementierungen stattfinden muss, werden im 2. Absatz die entsprechenden
Abläufe verankert. Die Stellen gemäss Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe b sind für die
Prüfung der Verhältnismässigkeit gemäss den materiellen Vorgaben der Richtlinie
2018/968/UE verantwortlich. Das SBFI trägt die Resultate der Prüfung und der Reg-
lementierung im IMI ein, sodass vermieden wird, dass eine grosse Anzahl von Stellen
Zugang zum IMI haben muss. Die Übermittlung der Resultate hat spätestens bis zur
Eröffnung der Vernehmlassung zu erfolgen, um einen Austausch zwischen den Be-
hörden vor der formellen Eingabe ins IMI zu ermöglichen.
Absatz 3 verpflichtet jede kantonale koordinierende Stelle, das SBFI mindestens ein-
mal pro Jahr über neue oder geänderte Reglementierungen von Berufen auf Kantons-
und Gemeindeebene zu informieren. Dies dient der Transparenz und ist vor allem aus
technischen Gründen erforderlich. Denn die reglementierten Berufe der Schweiz sind
im IMI in einer Datenbank aufgelistet und erfordern eine Behördenzuteilung im Sys-
tem.
2. Abschnitt
Koordination und Zusammenarbeit
Der
2. Abschnitt (Art. 4 und 5) klärt die Aufgaben, die das SBFI in der Funktion als
sektorieller IMI-Koordinator für den Vollzug von Anhang III FZA übernimmt. Das
SBFI wirkt als IMI-Koordinationsstelle unterstützend und koordiniert die Tätigkeiten
in Bezug auf die Verwendung von IMI. Bei Bedarf werden Arbeitsgruppen geschaf-
fen, Schulungen und auch Treffen auf nationaler oder regionaler Ebene organisiert.
Art. 4
IMI-Koordination
Artikel 4 überträgt die Funktion der IMI-Koordination im Bereich der Anerkennung
von Berufsqualifikationen dem SBFI, das seit 2002 die Federführung für den An-
hang III FZA innehat. Das SBFI übernimmt die Aufgabe, die zuständigen Stellen und
deren Berechtigungen im IMI zu erfassen. Alle Funktionen, die keiner spezifischen
Stelle zugewiesen sind, übernimmt ebenfalls das SBFI. Absatz 3 beauftragt das SBFI
324 / 931
ausserdem, neue sektorale Ausbildungsgänge zu notifizieren. Dies wird künftig elekt-
ronisch mittels IMI erfolgen. Weil die Schweiz auch an IMI im Bereich der Entsen-
dung (Anhang I FZA) teilnehmen wird, ist eine Stelle als nationaler Koordinator zu
bestimmen (Art. 6 der Richtlinie 1024/2012/EU). Die Bestimmung dieser Stelle wird
an den Bundesrat delegiert; in einem ersten Schritt ist vorgesehen, dass das SBFI diese
Funktion wahrnehmen wird. Drei Jahren nach Inkrafttreten wird die Schweiz ihre
Teilnahme im Bereich Entsendung ausdehnen, künftig allenfalls auch auf weitere Be-
reiche, sollte die dynamische Übernahme des EU-Rechts dies vorsehen. In solchen
Fällen kann die Funktion als nationaler IMI-Koordinator per Bundesratsverordnung
neu zugeteilt werden.
Art. 5
Verwaltungszusammenarbeit
Artikel 5 regelt explizit die Verpflichtung zur Zusammenarbeit zwischen dem SBFI
und den Kantonen. Die Koordination erfolgt bereits seit dem Inkrafttreten des FZA
im Jahre 2002. Aufgrund der Komplexität der Rechtsentwicklungen ist künftig eine
verstärkte Verwaltungszusammenarbeit unerlässlich. Die Vielfalt der kantonalen
Reglementierungen von Berufen sowie die erforderliche Kommunikation und Trans-
parenz gegenüber der EU machen diese gesetzliche Bestimmung notwendig. Ziel ist
es, dass die Verwaltungszusammenarbeit künftig regelmässiger, detaillierter und
strukturierter erfolgt. Darüber hinaus benötigt das SBFI für die Umsetzung der Neue-
rungen ein etabliertes und koordiniertes Netzwerk von Ansprechpersonen (koordinie-
rende Stellen) auf kantonaler Ebene. Diese tragen dazu bei, die in der geänderten
Richtlinie 2005/36/EG vorgesehenen Verpflichtungen einzuhalten. Mit der Einfüh-
rung von IMI in der Schweiz sollen die Zusammenarbeit der in- und ausländischen
Behörden sowie die Kontrollmöglichkeiten koordiniert genutzt werden, was innerhalb
der EU/EFTA-Staaten mittels IMI bereits seit Jahren erfolgt.
Absatz 1 verankert die Verwaltungszusammenarbeit mittels IMI im Bereich der An-
erkennung von Berufsqualifikationen. Die aktive und regelmässige Nutzung von IMI
sowie die Einhaltung der vorgesehenen Fristen sind zentral.
Absatz 2 legt fest, dass jeder Kanton eine koordinierende Stelle ernennt. In allen 26
Kantonen werden mehrere Behörden für verschiedenste Berufe das IMI nutzen. Be-
reits aus diesem Grund ist eine verlässliche Stelle, die innerhalb des Kantons die Ver-
wendung von IMI koordiniert, unabdingbar. Je nach Grösse des Kantons kann es sich
um eine einzelne Ansprechperson handeln oder aber auch um eine Organisationsein-
heit, die sich bereits mit transversalen Themen im Vollzug von EU-Recht beschäftigt.
Grundsätzlich ist es auch möglich, dass sich Kantone zusammenschliessen. Wichtig
ist, dass die Stelle auf kantonaler Ebene departements- bzw. amtsübergreifend tätig
ist (z. B. in der Staatskanzlei oder EU-Koordinationsstelle). In jedem Kanton werden
die Gesundheits-, Sozial-, Jugend- und Bildungsdirektionen, aber auch die Arbeits-
marktbehörden von IMI tangiert sein und aktive Rollen übernehmen müssen.
Jeder Kanton wird dafür zusätzliche Personalressourcen benötigen und falls nötig eine
neue Stelle schaffen müssen. Je nach Bedarf und Notwendigkeit wird eine enge Zu-
sammenarbeit und ein regelmässiger Austausch mit dem SBFI in der Funktion als
IMI-Koordinator stattfinden.
325 / 931
3. Abschnitt:
Behördlicher Informationsaustausch
Art. 6
Artikel 6 regelt den Zugang zum behördlichen Informationsaustausch im IMI und das
Vorgehen, wenn eine Behörde ohne Zugang zum IMI verbleibt. Gemäss Empfehlung
mehrerer EU-Mitgliedstaaten ist es effizienter, wenn nur diejenigen zuständigen Stel-
len einen Zugang zum IMI erhalten, die ihn regelmässig benötigen. Also jene, die
voraussichtlich mehrmals monatlich Anträge bearbeiten müssen. Diese Bestimmung
ermöglicht eine schrittweise Einführung des IMI im Verlauf der Zeit. So kann ver-
mieden werden, dass Behörden ausgebildet werden und die Accounts verwalten müs-
sen, wenn IMI nur ein- bis zweimal pro Jahr zur Nutzung käme. Es geht keineswegs
darum, einer Behörde den Zugang zu verhindern, sondern den administrativen Auf-
wand so gering wie möglich zu halten und sicherzustellen, dass ein effizienter Ablauf
gewährleistet ist. Diese Einschränkungen gelten nicht für die Bereiche Europäischer
Berufsausweis (Art. 7 ff.) und Vorwarnmechanismus (Art. 12 ff.), denn bei diesen
sind die zuständigen Stellen verpflichtet, IMI zu verwenden.
Hat die zuständige Stelle keinen Zugang zu IMI, kommt Absatz 2 zur Anwendung. In
diesem Fall erfolgt der behördliche Informationsaustausch über das SBFI. IMI sieht
zwingend vor, dass für jeden reglementierten Beruf eine Stelle eingetragen werden
muss. Erfolgt eine Anfrage im IMI, so nimmt das SBFI Kontakt zur zuständigen Stelle
auf.
4. Abschnitt
Europäischer Berufsausweis (EPC)
Der 4. Abschnitt (Art. 7–11) regelt das Verfahren und die Aufgaben der Bundesbe-
hörden oder Dritter, die für die Bearbeitung der Europäischen Berufsausweise «
Euro-
pean Professional Card
» (EPC) zuständig sind. Angesichts der Komplexität des Ver-
fahrens und zur Klarheit wird auf die Rechtsakte in Anhang III FZA verwiesen, die
das Verfahren detailliert umschreiben. Es handelt sich dabei um Artikel
4a
ff. der ge-
änderten Richtlinie 2005/36/EG und insbesondere die Durchführungsverordnung
(EU) 2015/983. Diese Bestimmungen sind direkt anwendbar (self-executing).
Art. 7
Zugang zum IMI-Bereich für EPC
Artikel 7 regelt den Zugang zum IMI. Das EPC-Verfahren ist derzeit für fünf Berufe
vorgesehen. Betroffen sind das SBFI, die MEBEKO und das SRK, dem diese Aufgabe
als zuständige Anerkennungsstelle übertragen wird.
Art. 8
Bearbeitung der EPC-Anträge in Bezug auf schweizerische Abschlüsse
Artikel 8 regelt die Bearbeitung der EPC-Anträge von Personen, die einen schweize-
rischen Abschluss in einem EU -Staat anerkennen lassen möchten. Das SBFI wird die
Anträge von Pflegefachfrauen/Pflegefachmännern, Physiotherapeutinnen/Physiothe-
rapeuten,
Immobilienmaklerinnen/Immobilienmaklern
und
die
Bergführerin-
nen/Bergführer behandeln. Die MEBEKO wird die EPC-Anträge für Diplome als
Apothekerinnen/Apotheker im IMI bearbeiten. Der MEBEKO werden die Aufgabe
326 / 931
im Zusammenhang mit dem EPC durch eine gesetzliche Anpassung des MedBG über-
tragen.
Art. 9
Bearbeitung der EPC-Anträge in Bezug auf ausländische Abschlüsse
Artikel 9 regelt die Bearbeitung der EPC-Anträge für Inhaber und Inhaberinnen von
EU -Abschlüssen, die in der Schweiz tätig sein möchten. Die bestehenden Zuständig-
keiten für die Anerkennung bleiben im EPC-Verfahren erhalten (MEBEKO für Apo-
theker/innen, SRK für Physiotherapeutinnen/-therapeuten sowie Pflegefachpersonen,
SBFI für Bergführerinnen/Bergführer und Immobilienmaklerinnen/Immobilienmak-
ler). Je nach Beruf kann es in der Praxis sinnvoll sein, dass der EPC-Antrag direkt an
die für die Berufsausübung zuständige Stelle gemäss Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe b
gelangt. Betrifft der EPC-Antrag die Erbringung von Dienstleistungen in einem reg-
lementierten Beruf, der keine Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit oder Si-
cherheit hat (Immobilienmaklerinnen/Immobilienmakler), oder in einem sektoralen
Beruf (Apothekerin/Apotheker und Pflegefachperson), ist keine Nachprüfung der
Berufsqualifikationen möglich. Das EPC-Zertifikat wird im Herkunftsstaat ausge-
stellt.
Die MEBEKO bzw. das SRK als zuständige Anerkennungsstellen gemäss Artikel 2
Absatz 2 Buchstabe a erhalten die Dokumente mittels IMI. Dadurch wird sicherge-
stellt, dass die Daten im entsprechenden Register, namentlich dem Medizinalberufe-
register (MedReg) und Gesundheitsberuferegister (GesReg) eingetragen werden.
Wenn die Dienstleistungen die öffentliche Gesundheit oder Sicherheit tangieren und
es sich nicht um sektorale Berufe handelt (Physiotherapeutin/Physiotherapeut, Berg-
führerin/Bergführer) oder auch bei Niederlassung, wird der EPC-Antrag von der zu-
ständigen Anerkennungsstelle (Art. 2 Abs. 2 Bst. a) bearbeitet. Das EPC-Zertifikat
wird dann im Aufnahmestaat, d. h. in der Schweiz, ausgestellt.
Art. 10 EPC-Zertifikate
Artikel 10 umschreibt die Wirkung eines EPC-Zertifikats, das im IMI generiert wird.
Von dieser Bestimmung sind auch die kantonalen Behörden betroffen, die über die
Zulassung zur Berufsausübung entscheiden (Art. 2 Abs. 2 Bst. b).
Absatz 1 besagt, dass das EPC-Zertifikat zwecks Niederlassung dieselbe Wirkung wie
eine formale Anerkennung von Berufsqualifikationen (Verfügung) hat, da es von der-
selben Behörde nach denselben Modalitäten bearbeitet wurde. Die Inhaberin oder der
Inhaber kann das EPC-Zertifikat folglich gegenüber Arbeitgebern oder Behörden ver-
wenden. Das EPC-Zertifikat ist im IMI einsehbar, sofern die Nummer der Identitäts-
karte oder des Passes der Inhaberin oder des Inhabers bekannt ist.
Absatz 2 befreit Dienstleistungserbringerinnen und -erbringer, die ein EPC-Zertifikat
zwecks Dienstleistungserbringung vorweisen und maximal 90 Arbeitstage pro Kalen-
derjahr in der Schweiz tätig werden möchten, von der Meldepflicht beim SBFI gemäss
BGMD. Zum EPC-Verfahren gehört nämlich bereits eine Überprüfung der Berufs-
qualifikationen. Eine Meldepflicht gemäss BGMD würde bedeuten, dass ein materiell
identisches Verfahren von den Dienstleistungserbringerinnen und -erbringern doppelt
327 / 931
verlangt wird, was nicht sinnvoll ist. Bei Dienstleistungen ohne Auswirkungen auf die
öffentliche Gesundheit und Sicherheit schliesst Artikel 4
a
Absatz 4 der geänderten
Richtlinie 2005/36/EG explizit eine Meldung aus. Die Meldepflicht gemäss BGMD
gilt daher nicht.
Art. 11 Zulassung zur Berufsausübung beim Vorweisen eines EPC-Zertifikats
Artikel 11 sieht explizit vor, dass ein Entscheid für die Zulassung zur Berufsausübung
erforderlich ist, wenn Berufsangehörige ein EPC-Zertifikat zwecks Niederlassung
oder zwecks Dienstleistungserbringung vorweisen. Eine Berufsausübungsbewilli-
gung wird nicht über IMI erteilt, sondern muss in einem separaten Schritt erfolgen.
Im Rahmen dieser Zuständigkeit dürfen die zuständigen Stellen gemäss Artikel 2 Ab-
satz. 2 Buchstabe b prüfen, ob spezifische Voraussetzungen für die Zulassung erfüllt
sind, beispielweise einen Sprachnachweis verlangen. Die im EPC-Verfahren einge-
forderten Unterlagen
342
sind im Übrigen dieselben, die bereits heute beizufügen sind
(Art. 7 der Richtlinie 2005/36/EG für die Erbringung von Dienstleistungen und An-
hang VII für die Niederlassung). Auf diese Weise wird das Verfahren vereinfacht und
der Aufwand der zuständigen Stellen verringert, ohne die inhaltlichen Prüf- und Kon-
trollmöglichkeiten einzuschränken. Wenn für den Registereintrag zudem Sprach-
kenntnisse vorausgesetzt sind, erfolgt der Eintrag erst nach Vorweisen des erforderli-
chen Sprachnachweises.
5. Abschnitt
Vorwarnmechanismus
Der 5. Abschnitt (Art. 12-14) bildet die gesetzliche Grundlage für die Umsetzung des
Vorwarnmechanismus.
Art. 12 Zugang zum IMI-Bereich für den Vorwarnmechanismus
Artikel 12 regelt den Zugang zum IMI. Beim Vorwarnmechanismus ist die Verwen-
dung des IMI zwingend. Zugang erhalten die Stellen gemäss Artikel 2 Absatz 2 Buch-
staben a und b im Bereich des Gesundheitswesens und im Bereich der Erziehung Min-
derjähriger. Je nach Zuständigkeit gemäss geltendem Recht werden die
entsprechenden Stellen im IMI erfasst. Die eingehenden Warnungen bei gefälschten
Berufsqualifikationsnachweisen im IMI erhalten die zuständigen Stellen gemäss Ar-
tikel 2 Absatz 2 Buchstabe a.
Art. 13 Warnung bei Verbot oder Beschränkung der Ausübung eines reglementier-
ten Berufs
Artikel 13 bezweckt, dass die zuständigen Stellen des Bundes, der Kantone, der inter-
kantonalen Organe oder Dritter die zuständigen Behörden der EU -Staaten über jedes
Verbot oder jede Beschränkung der Ausübung der beruflichen Tätigkeit im Sinne von
Artikel 56
a
der geänderten Richtlinie 2005/36/EG mittels IMI benachrichtigen. Dies
gilt auch dann, wenn das Verbot nur teilweise oder vorübergehend erfolgt. Was bei-
342
Vgl. Art. 10 ff. und Anhang II der Durchführungsverordnung (EU) 2015/983 (ABl. L 159
vom 25.6.2015, S. 27-42).
328 / 931
spielsweise die Berufe nach MedBG und GesBG anbelangt, sind vom Vorwarnme-
chanismus die Disziplinarmassnahmen (provisorische Massnahmen während der
Dauer des Disziplinarverfahrens sowie befristete oder definitive Berufsausübungsver-
bote) erfasst.
Die Mitteilung der Warnung hat gestützt auf die Frist gemäss Artikel 56
a
Absatz 2
der geänderten Richtlinie 2005/36/EG spätestens drei Tage nach der Entscheidung
über die vollständige oder teilweise Beschränkung oder das Verbot der Ausübung der
beruflichen Tätigkeit zu erfolgen. Die zuständige Stelle hat die EU -Behörden mittels
IMI auch unverzüglich zu unterrichten, wenn die Geltungsdauer eines Verbots oder
einer Beschränkung abgelaufen ist oder das Enddatum der Befristung sich ändert. Die
Durchführungsverordnung (EU) 2015/983 ist direkt anwendbar und regelt das Ver-
fahren für die Bearbeitung von Warnungen.
Grundsätzlich erfassen die Stellen (Art. 2 Abs. 2 Bst. b), die für Zulassung zur Be-
rufsausübung zuständig sind, deren Beschränkung oder Verbot die Warnungen im
IMI.
Absatz 2 bezieht sich auf die eingehenden Warnungen mittels IMI. Die zuständigen
Stellen gemäss Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe b beurteilen, wie die Informationen zu
werten sind. Es liegt in ihrem Ermessen, zu entscheiden, ob die eingehende Warnung
für die Berufstätigkeit in der Schweiz relevant ist. Allenfalls sind jeweils auch Ver-
bote, Beschränkungen, Massnahmen oder Auflagen in der Schweiz erforderlich. Mit-
tels IMI kann nachgefragt werden, ob die/der Berufsangehörige Rechtsmittel gegen
die Entscheidung eingelegt hat.
Absatz 3 verpflichtet die Gerichte, die zuständigen Stellen nach Artikel 2 Absatz 2
Buchstabe b und das SBFI – in seiner Funktion als sektorieller IMI-Koordinator –
über die Gerichtsurteile hinsichtlich der Beschränkung oder des Verbotes der Berufs-
ausübung zu informieren.
Absatz 4 stellt sicher, dass auch interkantonale Organe und beauftragte Dritte, die mit
der Erfassung der Warnungen im IMI nach Absatz 1 beauftragt sind, die Entscheide
nach Absatz 3 von den Gerichten erhalten. Diese Bestimmung eröffnet zudem die
Möglichkeit, dass auch interkantonale Organe sowie beauftragte Dritte Meldungen
erfassen können, obwohl sie keine Stellen im Sinne von Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe
b sind (vgl. Abs. 1), sofern ihnen ein entsprechender Auftrag erteilt wird. Der EDK
könnte derzeit eine entsprechende Funktion zugewiesen werden: Im schulischen Be-
reich führt die EDK bereits eine Liste über Lehrpersonen, denen im Rahmen eines
kantonalen Entscheides die Unterrichtsberechtigung oder die Berufsausübungsbewil-
ligung entzogen wurde. Die Kantone sind gestützt auf die interkantonale Diploman-
erkennungsvereinbarung verpflichtet, dem Generalsekretariat der EDK die Personen-
daten nach Rechtskraft des entsprechenden Entscheides mitzuteilen. Da die EDK die
329 / 931
oben erwähnte Liste gestützt auf die interkantonale Diplomanerkennungsvereinba-
rung
343
führt, ist es naheliegend, dass die Kantone auch Aufgaben im Vorwarnmecha-
nismus an die EDK delegieren werden. Delegieren die Kantone diese Aufgabe an die
EDK, wird diese nach Absatz 4 Warnungen im Schulbereich zentral erfassen können.
Solche interkantonalen Lösungen sind auch im Gesundheitswesen durch die GDK und
im sozialen Bereich durch die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und So-
zialdirektoren (SODK) denkbar.
Art. 14 Warnung bei gefälschten Berufsqualifikationsnachweisen
Artikel 14 regelt die Warnungen beim Vorliegen gefälschter Berufsqualifikations-
nachweise (Abschlüsse, Diplome etc.). Die Schweiz ist verpflichtet, die zuständigen
Behörden der EU-Staaten mittels IMI zu informieren, wenn bei einem/r Berufsange-
hörigen, der/die die Anerkennung in der Schweiz beantragt hat, gerichtlich festgestellt
wurde, dass er/sie gefälschte Berufsqualifikationen verwendet hat. Die Information
hat binnen drei Tagen nach Vorliegen der gerichtlichen Entscheidung zu erfolgen. Das
SBFI wird in diesen Fällen zentralisiert die Einträge im IMI erfassen. Es wäre nicht
zweckmässig, im IMI alle Justizbehörden zu erfassen, die eine Massnahme oder Sank-
tionen verhängen. Da Fälschungen im Endeffekt nur sehr selten vorkommen, wären
es zu viele Justizbehörden. Die Justizbehörden informieren die Stellen gemäss Arti-
kel 2 Absatz 2 Buchstabe a und das SBFI über die Urteile, damit die Warnung frist-
gerecht im IMI erfolgen kann.
6
. Abschnitt
Datenaustausch
Der 6. Abschnitt regelt den Datenaustausch und legt fest, welche Stellen, welche Per-
sonendaten zu welchem Zweck austauschen. Die zuständigen Stellen rufen Daten ab
und bearbeiten sie mittels IMI zur Erfüllung ihrer Aufgabe. Dabei werden Daten an-
deren Mitgliedstaaten zum Zwecke der Verwaltungszusammenarbeit über IMI be-
kanntgegeben. Der angepasste Anhang III FZA und die darin übernommenen Rechts-
akte
der
EU,
die
direkt
anwendbar
sind
(
self-executing),
regeln
die
datenschutzrechtlichen Aspekte materiell. In den einzelnen Rechtsakten sind Perso-
nendaten, einschliesslich besonders schützenswerter Personendaten, genannt, die mit-
tels IMI ausgetauscht werden. Somit deckt das vorliegende Gesetz den gesamten Da-
tenaustausch auch auf kantonaler Ebene ab. Den Kantonen steht es jedoch frei, wenn
sie es als nützlich erachten, ihre Gesetzgebung auf kantonaler bzw. interkantonaler
344
Ebene anzupassen.
Art. 15 Austausch von Personendaten
343
Interkantonale Vereinbarung über die Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen vom 18.
Februar 1993, www.edk.ch > Dokumentation > Rechtstexte und Beschlüsse > Rechts-
sammlung > 4. Diplomanerkennung > 4.1 Grundlagen > 4.1.1 Interkantonale Vereinba-
rung vom 18. Februar 1993 über die Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen.
344
Z.B. die interkantonale Vereinbarung über die Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen
vom 18. Februar 1993, www.edk.ch > Dokumentation > Rechtstexte und Beschlüsse >
Rechtssammlung > 4. Diplomanerkennung > 4.1 Grundlagen > 4.1.1 Interkantonale Ver-
einbarung vom 18. Februar 1993 über die Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen.
330 / 931
Nach Artikel 15 Absatz 1 tauschen die zuständigen Stellen Personendaten, ein-
schliesslich besonders schützenswerter Personendaten, mittels IMI aus. Der Aus-
tausch erfolgt mittels IMI in den Bereichen des behördlichen Informationsaustau-
sches, des EPC-Verfahrens und des Vorwarnmechanismus. In Absatz 2 wird die
Verarbeitung besonderer Datenkategorien geregelt. Dieser Absatz widerspiegelt in-
haltlich Artikel 16 Absatz 2 der IMI-Verordnung.
Absatz 3
verweist direkt auf die anwendbaren Rechtsakte, die ausreichend bestimmt
sind und Teil der schweizerischen Rechtsordnung werden. Es betrifft die Rechtsakte,
die gestützt auf Anhang III FZA gelten. Nach Artikel 7 und Anhang VII der Richtlinie
2005/36/EG, Artikeln 4
e
und 56
a
der geänderten Richtlinie 2005/36/EG und Arti-
kel 4, 10 und 24 der Durchführungsverordnung 2015/983 werden insbesondere fol-
gende Daten bearbeitet:
–
Informationen zur Berufsqualifikation (Gültigkeit und Echtheit des Ab-
schlusses, berufliche Tätigkeiten, die die Person mit dem entsprechenden
Abschluss ausüben darf, Dauer und Inhalt der absolvierten Ausbildung);
–
Adresse, Geburtsort, Staatsangehörigkeit, Nummer des Identitätsausweises;
–
Informationen über die Art und die Dauer der Berufserfahrung, beispiels-
weise in Form eines Lebenslaufs;
–
Informationen über die rechtmässige Niederlassung (Berechtigung bzw.
Bewilligung zur Berufsausübung, einschliesslich einer Begründung im Fall
einer Einschränkung derselben);
–
Informationen zur körperlichen und geistigen Gesundheit, finanziellen
Leistungsfähigkeit, Versicherungsdeckung oder Konkursfreiheit, sofern
dies Voraussetzungen für die Berufsausübung sind;
–
Informationen über allfällige disziplinarische oder gerichtliche Massnah-
men, wie das Verbot oder die Beschränkung der Berufsausübung, ein-
schliesslich Begründung, Dauer und Modalitäten der Massnahmen, sowie
Strafurteile betreffend gefälschter Berufsqualifikationsnachweisen.
Art. 16 Zugriff auf Personendaten im IMI
In Artikel 16 wird der elektronische Zugriff zum IMI auf diejenigen Personendaten,
einschliesslich besonders schützenswerter Personendaten, beschränkt, welche die zu-
ständigen Stellen zur Erfüllung ihrer Aufgaben im behördlichen Informationsaus-
tausch, EPC-Verfahren und Vorwarnmechanismus benötigen.
Art. 17 Information über eine Warnung
Artikel 17 betrifft den Vorwarnmechanismus und verpflichtet die zuständigen Stellen,
die betroffene Person zu informieren, wenn eine ausgehende Warnung im IMI erfasst
worden ist. Diese Verpflichtung ist in Artikel 56
a
Absatz 6 der geänderten Richtlinie
2005/36/EG verankert.
331 / 931
Art. 18 Auskunfts- und Berichtigungsrecht
Das Auskunftsrecht, das Recht auf Berichtigung und das Recht auf Löschung ist ein
wesentlicher Bestandteil im Zusammenhang mit dem Datenschutz. Artikel 18 bezieht
sich auf die schweizerische Datenschutzgesetzgebung und widerspiegelt Artikel 19
der IMI-Verordnung. Die Möglichkeit, Personendaten einzusehen oder unrichtige Da-
ten zu berichtigen, ist explizit gegeben. Es braucht ein schriftliches Gesuch beim
SBFI. Allfällige Beschwerden sind gestützt auf Absatz 2 beim SBFI einzureichen.
Beschwerden richten sich nach Artikel 41 des Datenschutzgesetzes.
7. Abschnitt
Aufsicht über die Bearbeitung von Daten
Der 7. Abschnitt regelt die Aufsicht über die Bearbeitung von Daten. Die rechtliche
Grundlage des IMI wurde durch die IMI-Verordnung geschaffen. Wie Artikel 21 Ab-
satz 3 der IMI-Verordnung entnommen werden kann, gewährleisten die nationalen
Datenschutzbehörden (Kontrollstellen) und der oder die Europäische Datenschutzbe-
auftragte (EDSB) im Rahmen ihrer jeweiligen Befugnisse eine koordinierte Überwa-
chung des IMI und seiner Nutzung durch die IMI-Akteure und Akteurinnen. Um dies
gewährleisten zu können, treffen sich die Datenschutzbehörden betreffend das IMI im
Rahmen des CSC (
Coordinated Supervision Committee)
des Europäischen Daten-
schutzausschusses (EDSA). Es gelten sowohl der Eidgenössische Datenschutz- und
Öffentlichkeitsbeauftragte (EDÖB) als auch die kantonalen Datenschutzbehörden in
diesem Zusammenhang als nationale Kontrollstellen. Der EDÖB und die kantonalen
Datenschutzbehörden arbeiten im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten zusam-
men und koordinieren die Aufsicht über die Bearbeitung von Personendaten in der
Schweiz. Dabei handelt es sich um eine koordinierte Zusammenarbeit und Überwa-
chung (wie dies auch auf europäischer Ebene gemäss Art. 21 Abs. 3 IMI-Verordnung
vorgesehen ist). Der EDÖB ist die nationale Ansprechstelle für den Europäischen Da-
tenschutzbeauftragten.
8. Abschnitt:
Schlussbestimmungen
Art. 20 Internationale Abkommen
Artikel 20 enthält eine Delegationsnorm an den Bundesrat zum Abschluss internatio-
naler Abkommen. Sie soll die künftige Übernahme des EU-
Acquis
in einem sehr tech-
nischen Bereich erleichtern und eine Ausweitung der von diesem Gesetz erfassten
Bereiche für die Beteiligung am IMI ermöglichen. Zu denken ist hier insbesondere an
EPCs für neue Berufe.
2.3.8.3.3
Änderung anderer Erlasse
Die Änderungen anderer Erlasse werden im Anhang des Umsetzungserlasses aufge-
führt. Auf Bundesebene gibt es einen Änderungsbedarf für folgende Bundesgesetze:
MedBG, PsyG, GesBG und BGMD.
Im BGMD wird ein neuer Artikel 2 Absatz 1
bis
eingefügt. Dienstleistungserbringerin-
nen und -erbringer, die ein EPC-Zertifikat zwecks Dienstleistungserbringung vorwei-
sen können, werden von der Meldepflicht befreit. So wird eine unnötige Doppelspu-
rigkeit vermieden. Die Bestimmungen für ein EPC-Zertifikat sehen die gleichen
332 / 931
Unterlagen vor wie beim Meldeverfahren gemäss BGMD. Dabei sind auch dieselben
Behörden involviert.
Das MedBG, PsyG und GesBG werden für die Verwendung des IMI für die Verwal-
tungszusammenarbeit mit einer entsprechenden Bestimmung ergänzt. Zudem wird die
Möglichkeit des EPC-Verfahrens für die Diplome als Apothekerinnen und Apotheker
im MedBG (Art. 15 Abs. 1
bis
) verankert und für die Physiotherapeutinnen und Physi-
otherapeuten sowie für die Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner im GesBG
(Art. 10 Abs. 1
bis
). Ziel der Anpassung ist, dass ein EPC-Zertifikat direkt von den Be-
hörden akzeptiert wird, ohne dass weitere schriftliche Unterlagen verlangt werden.
Ausserdem wird in allen drei Gesetzen eine neue Bestimmung über die Verwaltungs-
zusammenarbeit verankert (Art. 50 Abs. 1, Bst. d
bis
und Abs. 3 MedBG, Art. 10
Abs. 5 GesBG, Art. 37 Abs. 4 PsyG). Diese wird die Behörden dazu verpflichten, die
Verwaltungszusammenarbeit einschliesslich der Verarbeitung der besonders schüt-
zenswerter Personendaten mit EU/EFTA-Staaten mittels IMI durchzuführen (s. zum
Geltungsbereich Ausführungen zu Art. 2 Bundesgesetz über die Verwaltungszusam-
menarbeit im Bereich der Anerkennung von Berufsqualifikationen Ziff. 2.3.8.3.2).
Artikel 35 Absatz 1
bis
MedBG und Artikel 15 Absatz 1
bis
GesBG regeln das Verfah-
ren für Dienstleistungserbringerinnen und -Dienstleistungserbringer, die ein EPC-
Zertifikat zwecks Dienstleistungserbringung vorweisen.
Das Bundesgesetz vom 17. Dezember 2010 über das Bergführerwesen und Anbieten
weiterer Risikoaktivitäten wird nicht geändert. Die rechtliche Umsetzung des EPC-
Verfahrens für Bergführer und Bergführerinnen erfordert lediglich eine Anpassung
auf Verordnungsstufe
.
2.3.8.4
Lohnschutz
2.3.8.4.1
Entsendegesetz (EntsG)
1. Abschnitt: Gegenstand und Begriff
Art. 1 Abs. 2
bis
Neu werden in Absatz 2
bis
in Ergänzung des Gesetzesgegenstandes die Meldepflichten
der Arbeitgeber bei Entsendungen und kurzfristigen Stellenantritten in der Schweiz
sowie die Meldepflicht von selbstständig erwerbstätigen Dienstleistungserbringerin-
nen und Dienstleistungserbringern mit Niederlassung im Ausland aufgeführt. Unter
die Meldepflicht fallen zudem neu auch im Ausland wohnhafte Personen, die bis zu
drei Monaten innerhalb eines Kalenderjahres in der Schweiz eine selbstständige Er-
werbstätigkeit ausüben, die im Ausland jedoch keine Niederlassung haben (siehe be-
treffend Aufenthaltsberechtigung gestützt auf die Richtlinie 2004/38/EG Ziffer
2.3.5.2.1 und die Erläuterungen zur Gemeinsamen Erklärung über die Meldung be-
treffend Stellenantritte und Einseitige Erklärung der Schweiz über die bei Selbststän-
digen zu ergreifenden Massnahmen im Rahmen des Meldeverfahrens für kurzfristige
Erwerbstätigkeit ).
2. Abschnitt: Arbeitgeberpflichten
Art. 2 Abs. 2
ter
333 / 931
Gemäss dem neuen Artikel 5h des FZA können die PK von allgemeinverbindlich er-
klärten GAV von einem Arbeitgeber, welcher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
entsendet, in von der Schweiz aufgrund einer Risikoanalyse autonom definierter Bran-
chen vor Arbeitsbeginn die Hinterlegung einer verhältnismässigen Kaution verlangen,
wo ein ave GAV die Hinterlegung einer Kaution vorsieht und wenn dieser Arbeitge-
ber offene finanzielle Verpflichtungen gegenüber den paritätischen Kommissionen
hat, weil namentlich eine Konventionalstrafe nicht beglichen wurde. Der Wortlaut des
bisherigen Artikel 2 Absatz 2
ter
EntsG muss entsprechend angepasst werden. Neu gilt
eine Kautionspflicht, wo ein ave GAV die Hinterlegung eine Kaution vorsieht, somit
nur noch im Wiederholungsfall. Im Wiederholungsfall bedeutet, dass nach einem
Verstoss und einer daraus resultierenden Konventionalstrafe, die nicht beglichen wird,
der Arbeitgeber bei einer erneuten (wiederholten) Entsendung eine Kaution hinterle-
gen muss. Die Kaution gelangt bereits heute nur in Risikobranchen wie namentlich
dem Baunebengewerbe oder der privaten Sicherheitsdienstleistungsbranche zur An-
wendung. In die Bestimmung der Risikobranchen sollen die Erkenntnisse aus der
Vollzugs- und Kontrollpraxis einbezogen werden. Diese Prüfung kann im Rahmen
der Verfahren um Allgemeinverbindlicherklärung von GAV erfolgen. Im Falle der
Nichtzahlung der Kaution können die kantonalen Behörden verhältnismässige Sank-
tionen bis hin zu einer Dienstleistungssperre verhängen. Gestützt auf den neuen Arti-
kel 9 Absatz 2 Buchstabe b
bis
EntsG kann die kantonale Behörde bei Verstössen gegen
Artikel 2 Absatz 2
ter
EntsG eine Verwaltungssanktion bis 30 000 CHF aussprechen
(Ziffer 1), oder den betreffenden Unternehmen verbieten, bis zur Hinterlegung der
Kaution nach Artikel 2 Absatz 2
ter
EntsG in der Schweiz ihre Dienste anzubieten (Zif-
fer 2). Zu beachten ist, dass eine neu ausgerichtete Kaution nicht für die Begleichung
offener finanzieller Verpflichtungen aus früheren Einsätzen des Arbeitgebers verwen-
det werden kann.
Art. 2 Abs. 3 und 5 zweiter Satz
Die Auslagenentschädigung, welche bisher in Artikel 2 Absatz 3 geregelt war, wird
neu in einem eigenen Artikel 2
a
aufgenommen und Artikel 2 Absatz 3 aufgehoben.
Der in Artikel 2 Absatz 5 zweiter Satz enthaltene Verweis auf die Auslangeentschä-
digung wird entsprechend angepasst.
Art. 2a
Die Pflicht zur dynamischen Rechtsübernahme beinhaltet auch die EU-
Spesenregelung gemäss Artikel 3 Absatz 7 Unterabsatz 2 der Richtlinie 96/71/EG,
wie durch Richtlinie (EU) 2018/957 geändert. Gemäss dem Wortlaut dieser Bestim-
mung ist der Arbeitgeber verpflichtet, die Kosten im Zusammenhang mit der Entsen-
dung im Einklang mit den auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren nationalen Rechts-
vorschriften und/oder Gepflogenheiten zu erstatten. Die in der Schweiz seit 1. April
2020 geltende Spesenregelung (Artikel 2 Absatz 3 EntsG) wird nun mit Artikel 2a
dahingehend an die revidierte Richtlinie 96/71/EG angepasst und in Absatz 1 wird
entsprechend geregelt, dass sich die notwendig entstehenden Auslagen nach den auf
das Arbeitsverhältnis anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften oder nationalen
Gepflogenheiten richten. Es gilt wie bisher der Grundsatz, dass Entschädigungen für
Auslagen wie Reise, Unterkunft und Verpflegung nicht als Lohnbestandteil gelten.
334 / 931
Absatz 2 statuiert eine Pflicht zur Auszahlung des Differenzbetrags, wenn durch die
Entschädigung nach Absatz 1 die notwendig entstehenden Auslagen nicht gedeckt
sind. Als notwendig entstehende Auslagen können die tatsächlich im Zusammenhang
mit der Entsendung entstandenen Kosten betrachtet werden. Der Begriff der notwen-
dig entstehenden Auslagen richtet sich nach Artikel 327
a
OR und somit nach Schwei-
zer Recht. Aus Sicht des Bundesrates wird dadurch der Grundsatz «gleicher Lohn für
gleiche Arbeit am gleichen Ort» verwirklicht, den die Schweiz und die EU als ge-
meinsames Ziel und Prinzip im Bereich des Lohnschutzes definiert haben (vgl. die
Gemeinsame Erklärung zum Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen
Ort» und zu einem angemessenen und ausreichenden Schutzniveau für entsandte Ar-
beitnehmende). Bietet das auf das Arbeitsverhältnis der entsandten Arbeitnehmerin-
nen oder des entsandten Arbeitnehmers anwendbare nationale Recht oder die natio-
nalen Gepflogenheiten keine ausreichende Kostenerstattung und gehen die Auslagen
für Reise, Unterkunft und Verpflegung ganz oder teilweise zulasten der entsandten
Arbeitnehmerin oder des entsandten Arbeitnehmers, wäre das Prinzip «Gleicher Lohn
für gleiche Arbeit am gleichen Ort» nicht gewährleistet. Artikel 3 Absatz 10 der revi-
dierten Entsenderichtlinie erlaubt es, unter Einhaltung des Abkommens auf Unterneh-
men aus den EU-Mitgliedstaaten in gleicher Weise wie für inländische Unternehmen
Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für andere als die in Artikel 3 Absatz 1 Un-
terabsatz 1 der revidierten Entsenderichtlinie aufgeführten Aspekte vorzuschreiben,
soweit es sich um Vorschriften im Bereich der öffentlichen Ordnung handelt. Es ist
folglich möglich, zusätzlich zum abschliessenden Katalog der Arbeits- und Beschäf-
tigungsbedingungen in Artikel 3 Absatz 1 Unterabsatz 1 der revidierten EU-
Entsenderichtlinie, weitere Vorschriften zum Arbeitnehmerschutz zu definieren. Da-
von macht Absatz 2 Gebrauch. Diese weiteren Vorschriften müssen nichtdiskriminie-
rend und verhältnismässig sein sowie zum Bereich der öffentlichen Ordnung gehören.
Für inländische Arbeitsverhältnisse ist die Spesenregelung von Artikel 327a OR an-
wendbar, die den Arbeitgeber verpflichtet, alle durch die Ausführung der Arbeit not-
wendig entstehenden Auslagen zu ersetzen, bei Arbeit an auswärtigen Arbeitsorten
auch die für den Unterhalt erforderlichen Aufwendungen. Damit ist die Gleichbehand-
lung zwischen in- und ausländischen Betrieben sichergestellt. Der Grundsatz der Ver-
hältnismässigkeit ist gewahrt, indem primär das auf das Arbeitsverhältnis der entsand-
ten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anwendbare nationale Recht oder die
nationalen Gepflogenheiten anwendbar sind und nur wenn die notwendig entstehen-
den Auslagen nicht gedeckt sind, die Erstattungspflicht nach Absatz 2 zur Anwendung
gelangt.
Vor dem Hintergrund, dass die Schweiz im Vergleich zu den EU-
Mitgliedstaaten ein deutlich höheres Preisniveau und damit deutlich höhere Lebens-
haltungskosten aufweist, ist eine Massnahme wie in Artikel 2a Absatz 2 VE-EntsG
vorgesehen für den Erhalt des sozialen Standards und des sozialen Friedens und für
die Garantie von fairen Wettbewerbsbedingungen zwischen in- und ausländischen
Unternehmen unabdingbar. Sie ist somit als Vorschrift zum Erhalt der öffentlichen
Ordnung zu qualifizieren.
Zu Absatz 3: Zur Entschädigung der Auslagen können zwischen Arbeitgeber und Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmern ortsübliche Pauschalen oder ortsübliche Tages-
oder Monatsvergütungen vereinbart werden. Die Höhe der in ave GAV vereinbarten
Entschädigungen dürfte als ortsüblich gelten. Wo solche fehlen, werden in der Ver-
waltungsweisung zum Lohnvergleich Beträge festgelegt. Im Vollzug des EntsG wird
335 / 931
die Kostenentschädigung in die Kontrolle der Einhaltung der Mindestlöhne miteinbe-
zogen, und vom Arbeitgeber wird der Nachweis der Vergütung der Kosten verlangt.
An diesem Vorgehen wird sich auch künftig nichts ändern.
Art 5 Abs. 1
bis
, 2 zweiter Satz und 3 erster Satz
In
Absatz 1
bis
wird der Gegenstand der Haftung des Erstunternehmers auf die von den
PK eines ave GAV gegenüber den Subunternehmern ausgesprochenen Konventional-
strafen und Kontrollkosten erweitert. Diese erstreckt sich wie die bereits bestehende
Haftung für Arbeitnehmerforderungen auf alle dem Erstunternehmer nachfolgenden
Subunternehmer. Die Durchsetzung der Haftung richtet sich wie die bestehende nach
Zivilrecht und beschränkt sich auf das Bauhaupt- und Baunebengewerbe. Sie kommt
nicht zur Anwendung, wenn die Subunternehmer eine Kaution hinterlegt haben.
In
Absatz 2
wird die Haftungserweiterung an die Bedingung geknüpft, dass der Sub-
unternehmer zuvor erfolglos belangt wurde oder nicht belangt werden kann. Dieser
Subsidiaritätsgrundsatz gilt auch heute im Zusammenhang mit den Forderungen der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Er bedeutet, dass die Haftung erst dann zum
Zuge kommt, wenn die Forderungen beim Subunternehmer nicht erhältlich sind. Im
internationalen Kontext kann grundsätzlich von einer Uneinbringlichkeit der Forde-
rungen beim Subunternehmer ausgegangen werden, wenn die Zahlung nach Zah-
lungsaufforderung und Mahnung ausbleibt und die zivilrechtliche Verfolgung auf
dem Gerichtsweg im Einzelfall nicht möglich oder nicht erfolgreich ist. Der Entscheid
der Zivilgerichte zu diesem Punkt auf der Grundlage der besonderen Umstände eines
konkreten Falls bleibt vorbehalten.
Zu Absatz 3:
Die Exkulpationsmöglichkeit des Erstunternehmers aufgrund der Erfül-
lung seiner Sorgfaltspflicht wird auch im Falle einer Haftung für die Forderungen der
PK anwendbar sein und Absatz 3 entsprechend ergänzt. Inhaltlich ist keine Anpassung
der Anforderungen an die Sorgfaltspflicht des Erstunternehmers notwendig. Es gelten
dieselben Anforderungen wie bei der Haftung des Erstunternehmers für die Arbeit-
nehmerforderungen gegenüber den Subunternehmern. Der Bundesrat hat in der EntsV
(Art. 8
a
bis 8
c
) in nicht abschliessender Weise definiert, mit welchen Dokumenten
und Belegen die Einhaltung der minimalen Arbeits- und Lohnbedingungen glaubhaft
dargelegt und die Sorgfaltspflicht erfüllt werden kann. Eine von den Sozialpartnern,
den Kantonen und dem SECO ausgearbeitete Empfehlung zur Erfüllung der Sorg-
faltspflicht sieht vor, dass der Erstunternehmer in Branchen mit ave GAV vom Sub-
unternehmer eine durch die PK ausgestellte Bescheinigung verlangt, die Auskunft
darüber gibt, ob der Subunternehmer kontrolliert wurde und ob er die Arbeits- und
Lohnbedingungen einhält (Art 8b Abs. 1 Bst. c EntsV).
Es obliegt jedoch den Gerich-
ten, diese Frage aufgrund der Umstände des Einzelfalles zu beurteilen.
Vor dieser Ausgangslage sind in der EntsV keine Anpassungen notwendig.
Art. 5a
Zu Absatz 1:
Bei einer Entsendung in die Schweiz soll der Arbeitgebende neu eine
Ansprechpartnerin oder einen Ansprechpartner benennen, welche oder welcher als
dessen Vertreterin oder Vertreter in der Schweiz von den Behörden und Organen nach
336 / 931
Artikel 8
o
Absatz 1 VE-EntsG kontaktiert werden kann. Analog zu Artikel 9 Ab-
satz 1 Buchstabe e Richtlinie 2014/67/EU soll die Ansprechpartnerin oder der An-
sprechpartner in Vertretung des Arbeitgebenden in der Schweiz rechtsgültig für die-
sen Dokumente und Mitteilungen betreffend die minimalen Lohn- und
Arbeitsbedingungen entgegennehmen und weiterleiten.
Absatz 2:
Der Bundesrat wird in Artikel 5
a
Absatz 2 VE-EntsG ermächtigt, die Ein-
zelheiten zur Ansprechpartnerin bzw. zum Ansprechpartner, insbesondere die Anfor-
derungen an die Ansprechpartnerin oder den Ansprechpartner, den Zeitraum, während
dem sie oder er verfügbar sein muss und die Ausnahmen von der Pflicht zur Benen-
nung einer solchen Person zu regeln. Dabei dürfen keine unverhältnismässigen oder
diskriminierenden Anforderungen an die Ansprechpartnerin oder den Ansprechpart-
ner gestellt werden. Es kann aber bestimmt werden, dass diese Person während des
gesamten Ansprechzeitraumes in der Schweiz anwesend ist. Zudem kann bestimmt
werden, dass die Ansprechpartnerin oder der Ansprechpartner sowohl eine natürliche
wie auch eine juristische Person sein kann. Weiter kann der Ansprechzeitraum korre-
lierend zur Dauer des Kontrollverfahrens definiert werden, aufgrund des Verhältnis-
mässigkeitsprinzips jedoch nicht länger als zwei Jahre nach Abschluss der Entsen-
dung. Ausnahmen von der Pflicht zur Benennung einer Ansprechpartnerin oder eines
Ansprechpartners können insbesondere für Tätigkeiten von kurzer Dauer und aus-
serhalb von Branchen nach Artikel 6 Absatz 2 EntsV vorgesehen werden. Weiter kön-
nen Ausnahmen auch bei Notfällen bestimmt werden. Als Notfälle sind insbesondere
unvorhersehbare Ereignisse denkbar, die eines unverzüglichen Arbeitseinsatzes be-
dürfen.
Art. 6 Sachüberschrift, Abs. 1 Einleitungssatz und Bst. d-f sowie Abs. 1
bis
, 3, 4, 5
Bst. b und 6
Zu Absatz 1 Einleitungssatz und Bst. d-f
: Nach geltendem Wortlaut muss der Arbeit-
gebende der vom Kanton bezeichneten Behörde die für die Durchführung der Kon-
trollen erforderlichen Angaben melden. In der Regel erfolgt die Meldung online via
Webapplikation. Die Meldung wird an das Zentrale Migrationsinformationssystem
des Staatssekretariats für Migration übermittelt und dort von der zuständigen kanto-
nalen Behörde bearbeitet. Anschliessend werden die Meldedaten an die kantonalen
Systeme übermittelt und von dort triagiert. Die kantonale Behörde übermittelt darauf
eine Kopie der Meldung an das zuständige Kontrollorgan. Um die Übermittlung der
Meldung möglichst effizient zu gestalten und der Kontrollplanung infolge der Ver-
kürzung der Voranmeldefrist gerecht zu werden, wird die Weiterleitung der Meldung
neu auf Ebene Bund direkt an die zuständigen Kontrollorgane erfolgen.
Im Meldeverfahren sollen neu auch Angaben zur Ansprechpartnerin bzw. zum An-
sprechpartner und den im Inland vorzuweisenden Dokumente gemacht werden (siehe
dazu die neuen Art. 5
a
und Art. 7 Abs. 2
bis
und 2
ter
VE-EntsG).
Die zu machenden
Angaben zum Datum des Tätigkeitsbeginns und die voraussichtliche Dauer der Tä-
tigkeit werden neu auf Gesetzesstufe geregelt.
Zu Absatz 1
bis
: Nach geltendem Recht können sich meldepflichtige Personen auf zwei
Arten bei der zuständigen kantonalen Behörde melden. Es kann eine Online-Meldung
(Normalverfahren) oder eine Meldung auf dem Postweg oder per Fax (schriftliches
337 / 931
Verfahren) vorgenommen werden. Neu wird eine Meldung nur noch über das Nor-
malverfahren erfolgen können. Die Richtlinie 2014/67/EU steht einer Beschränkung
der Meldung über das Internet nicht entgegen.
Zu Absatz 3
: Nach geltendem Recht darf die Arbeit grundsätzlich frühestens acht Ka-
lendertage, nachdem der Einsatz gemeldet worden ist, aufgenommen werden. Neu soll
diese Frist auf vier Arbeitstage verkürzt werden und nur noch für Tätigkeiten in be-
stimmten Branchen gelten. Zu den Arbeitstagen zählen die Werktage ohne Samstage.
Die Voranmeldefrist nach Absatz 3 und deren Anwendung auf spezifische Branchen
stützt sich auf den neuen Artikel 5g des FZA und hat zum Ziel, Kontrollen vor Ort zu
ermöglichen. Für die übrigen Branchen soll die Voranmeldefrist wegfallen. Für sie
gilt, dass die Meldung vor Beginn des Einsatzes erfolgen muss.
Analog zur Regelung der Branchen, in welchen die acht meldefreien Tage nicht gelten
(Art. 6 Abs. 2 EntsV), soll auch die Bestimmung bestimmter Branchen, in welchen
die viertägigen Voranmeldefrist gelten soll, auf Verordnungsstufe erfolgen. Artikel 6
Absatz 3 VE-EntsG ermächtigt den Bundesrat deshalb, diese Branchen festzulegen.
Die Bestimmung dieser Branchen soll dabei basierend auf einer Risikoanalyse erfol-
gen und die Erkenntnisse aus der Vollzugs- und Kontrollpraxis einbeziehen. Infrage
kommen namentlich die Branchen nach Artikel 6 Absatz 2 EntsV, insbesondere das
Baunebengewerbe.
Zu Absatz 4
: Diese Änderung betrifft die zuständige Behörde, welche gemäss Absatz
1 neu eine Bundesbehörde sein wird. Zudem wird die vom Kanton nach Artikel 7
Absatz 1 Buchstabe d VE-EntsG bezeichnete Behörde in Absatz 4 aufgenommen,
weil gemäss Absatz 1 nicht mehr die kantonale Behörde Adressatin der Meldung ist,
sondern die zuständige Behörde des Bundes.
Zu Absatz 5 Buchstabe b
: Aufgrund der Verkürzung der Voranmeldefrist auf vier Ar-
beitstage muss der Wortlaut angepasst werden.
Zu Absatz 6
: Der Bundesrat wird ermächtigt, die Bundesbehörde zu bestimmen, an
die die Meldung eines Einsatzes in der Schweiz erfolgen muss und die für die Über-
mittlung der Meldung nach Absatz 4 zuständig ist. Aus Effizienzgründen soll in Zu-
kunft auch möglich sein, dass die Weiterleitung der Meldung basierend auf den in
einem Triage-Instrument hinterlegten kantonalen Parametrisierungen automatisiert
über eine elektronische Schnittstelle (bspw. über die Plattform für elektronische Kom-
munikation nach Art. 8
r
VE-EntsG) erfolgt. Aus diesem Grund wird der Bundesrat
auch befugt, eine automatisierte Übermittlung über eine elektronische Schnittstelle
vorzusehen.
Art. 6a
Artikel 6
a
regelt die Meldepflicht von Schweizer Arbeitgebern für die Anstellung im
Rahmen eines Arbeitsverhältnisses von im Ausland wohnhaften Personen bis zu drei
Monaten innerhalb eines Kalenderjahres. Da die Anmelde- bzw. Registrierungspflicht
im Rahmen des FZA erst bei einem Aufenthalt bzw. einer Erwerbstätigkeit von über
drei Monaten besteht, behalten Personen mit einem Stellenantritt von bis zu drei Mo-
naten ihren Wohnsitz im Ausland. Der Gesetzestext spricht nicht von Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmern, sondern Personen, damit nicht der Eindruck entsteht, es
338 / 931
handle sich um bereits im Herkunftsland tätige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Dies muss nicht der Fall sein.
Die Meldung muss spätestens am Tag vor dem Beginn der Erwerbstätigkeit gemacht
werden (Abs. 2) und enthält folgende Angaben: Die für die Meldung verantwortliche
Person; die Identität der gemeldeten Person; das Datum des Tätigkeitsbeginns und die
voraussichtliche Dauer; die in der Schweiz ausgeübte Tätigkeit und den Ort, an dem
die Arbeit ausgeführt wird (Abs. 1 Bst. a bis e). Der Bundesrat wird die Angaben
präzisieren, welche die Meldung enthalten muss (Abs. 3). Die Angaben müssen online
und in der Amtssprache des Einsatzortes übermittelt werden und werden den zustän-
digen Kontrollorganen weitergeleitet (Abs. 4). Die Kontrolle dieser sogenannten kurz-
fristigen Stellenantritte erfolgt wie bei allen Schweizer Arbeitgebern durch die für den
Vollzug von ave GAV zuständigen paritätischen Organe oder im Rahmen der Arbeits-
marktbeobachtung durch die tripartiten Kommissionen nach Artikel 360
b
OR. Aus
diesem Grund sind keine spezifischen Regelungen zur Kontrolle oder zur Auskunfts-
und Mitwirkungspflicht erforderlich.
3. Abschnitt: Selbstständige Erwerbstätigkeit
Art. 6b
Artikel 6
b
regelt die neue Meldepflicht von selbstständigen Dienstleistungserbringe-
rinnen und Dienstleistungserbringern mit Niederlassung im Ausland. Aus Gründen
der Gleichbehandlung wird die Meldepflicht
auf alle Dienstleistungserbringerinnen
und Dienstleistungserbringern unabhängig ihrer Nationalität als Staatsangehörige der
EU- und EFTA-Mitgliedstaaten oder als Schweizer Staatsangehörige anwendbar sein,
weshalb der Begriff «ausländische» gestrichen wird. Analog der Entsendung von Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmern gilt für selbstständige Dienstleistungserbringe-
rinnen und Dienstleistungserbringern in bestimmten Branchen eine viertägige Voran-
meldefrist. Die Festlegung dieser Branchen wird an den Bundesrat delegiert (vgl.
Art. 6 Abs. 3 VE-EntsG). Es wird sich um dieselben Branchen wie bei der Entsendung
von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern handeln. Die Meldung muss folgende
Angaben enthalten: Die für die Meldung verantwortliche Person; die Identität der ge-
meldeten Person; das Datum des Tätigkeitsbeginns und die voraussichtliche Dauer;
die in der Schweiz ausgeübte Tätigkeit und den Ort, an dem die Arbeit ausgeführt
wird (Abs. 1 Bst. a bis e). Der Bundesrat wird die Angaben präzisieren, welche die
Meldung enthalten muss (Abs. 3). Die Angaben müssen online und in der Amtsspra-
che des Einsatzortes übermittelt werden und werden den zuständigen Kontrollorganen
weitergeleitet (Abs. 4). Zudem gelten die Absätze 1
bis
, 4, 5 und 6 von Artikel 6 sinn-
gemäss, weshalb auf die entsprechenden Ausführungen zu Artikel 6 oben verwiesen
wird.
Die Voranmeldefrist nach Absatz 2 und deren Anwendung auf spezifische Branchen
stützt sich auf den neuen Artikel 5g des FZA und hat zum Ziel, Kontrollen vor Ort zu
ermöglichen. Die Schweiz legt die Branchen, in denen die Voranmeldefrist zur An-
wendung gelangt, eigenständig fest.
Art. 6c
339 / 931
Die bisherige Dokumentationspflicht nach Artikel 1
a
wird in Artikel 6
c
Absätze 1 bis
5 verschoben. Abgesehen von redaktionellen Anpassungen erfährt die Bestimmung
keine inhaltlichen Anpassungen. Die Dokumentationspflicht für selbstständige
Dienstleistungserbringerinnen und Dienstleistungserbringer, die sich auf selbststän-
dige Erwerbstätigkeit berufen, stützt sich auf den neuen Artikel 5i des FZA und hat
die Bekämpfung von Scheinselbstständigkeit und die damit verbundenen Umgehung
der schweizerischen Lohn- und Arbeitsbedingungen zum Ziel.
Art. 6d
Die bisherigen Massnahmen bei Verletzung der Dokumentationspflicht werden von
Artikel 1
b
in den neuen Artikel 6
d
verschoben. Abgesehen von redaktionellen Anpas-
sungen erfährt die Bestimmung keine inhaltlichen Anpassungen.
Art. 6e
Artikel 6
e
Absatz 1 enthält neu die Meldepflicht für Personen ohne Niederlassung im
Ausland, die in der Schweiz eine selbstständige Erwerbstätigkeit bis zu drei Monate
im Kalenderjahr ausüben. Die Meldepflicht gilt unabhängig von der Nationalität als
Staatsangehörige der EU--Mitgliedstaaten oder der Schweiz und soll die Kontrolle der
Einhaltung der drei Monate und des Vorliegens einer selbstständigen Erwerbstätigkeit
ermöglichen. Was oben zu Artikel 6
b
ausgeführt wurde zu den Angaben, die die Mel-
dung enthalten und dass die Meldung online und in der Amtssprache des Einsatzortes
übermittelt werden muss, gilt auch hier. Es gilt ausserdem, dass der Bundesrat die
Angaben präzisieren wird, welche die Meldung enthalten muss. Diese Angaben müs-
sen sich auf die Kontrollzwecke fokussieren. Die Kontrollen bezwecken die Aufde-
ckung und Verhinderung von Scheinselbstständigkeit. Die Meldung muss spätestens
am Tag vor dem Beginn der Erwerbstätigkeit erfolgen (Abs. 2). Wie bei Personen mit
einem kurzfristigen Stellenantritt in der Schweiz haben auch Personen, die im Aus-
land wohnhaft sind und in die Schweiz einreisen, um eine kurzfristige selbstständige
Erwerbstätigkeit auszuüben, keine geschäftliche Niederlassung im Ausland. Dem-
nach liegt auch keine grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung vor. Es ist da-
her gerechtfertigt, die Selbstständigen ohne Niederlassung im Ausland bezüglich der
Meldefristen gleich zu behandeln wie Personen, die in der Schweiz eine Stelle von bis
zu drei Monaten antreten. Hinzu kommt, dass es sich um eine Personengruppe han-
delt, bei welcher die Kontrollen mangels Geschäftssitzes schwieriger durchzuführen
sind und daher die Meldung am Tag vor der Erwerbstätigkeit auch aus diesem Grund
gerechtfertigt ist.
Selbstständig Erwerbstätige ohne Niederlassung im Ausland müs-
sen ihre selbstständige Erwerbstätigkeit in der Schweiz nachweisen können (Abs. 3).
Dazu müssen sie den Kontrollorganen die erforderlichen Dokumente und Unterlagen
zur Verfügung stellen, die für die Überprüfung ihres Status erforderlich sind. Wie bei
den selbstständigen Dienstleistungserbringerinnen und Dienstleistungserbringern mit
Niederlassung im Ausland richtet sich der Begriff der selbstständigen Erwerbstätig-
keit nach schweizerischem Recht (Abs. 1 durch Verweis auf Artikel 6
c
Abs. 1). Auch
bei selbstständig Erwerbstätigen ohne Niederlassung im Ausland wird die Verletzung
der Nachweispflicht sanktioniert (Art. 9 Abs. 2 i.V.m. Art. 6
e
Abs. 3 VE-EntsG).
340 / 931
Anders als bei den selbstständigen Dienstleistungserbringerinnen und Dienstleis-
tungserbringern mit Niederlassung im Ausland wird auf Massnahmen wie eine Doku-
mentationspflicht vor Ort und ein Arbeitsunterbruch für Personen mit selbstständiger
Erwerbstätigkeit in der Schweiz ohne Niederlassung im Ausland verzichtet. Zum ei-
nen fallen sie anzahlmässig deutlich weniger ins Gewicht als die selbstständigen
Dienstleistungserbringerinnen und Dienstleistungserbringer und zum anderen sind sie
nicht in denselben Branchen wie diese tätig. Personen ohne Niederlassung im Ausland
betätigen sich beispielsweise im Erotikgewerbe, im Coiffeurgewerbe, als Fahrende
oder als Handelsreisende in der Schweiz. Kontrollen zur Verhinderung von Schein-
selbstständigkeit sind trotzdem möglich.
3a. Abschnitt: Informationsplattform
Art. 6f
Mit Artikel 6
f
wird eine explizite gesetzliche Grundlage für die bereits bestehende
Entsendeplattform des SECO
345
und den nationalen Lohnrechner
346
geschaffen, die
im Entwurf als Informationsplattform bezeichnet wird. Gleichzeitig werden die EU-
Vorgaben nach Artikel 5 der Richtlinie 2014/67/EU für einen besseren Zugang zu In-
formationen und zur Schaffung einer einzigen offiziellen nationalen Informations-
plattform umgesetzt. Webzugangsstandards, die den Zugang für Personen mit Behin-
derungen sicherstellen, werden gestützt auf die gesetzliche Bestimmung errichtet.
Auf der Informationsplattform wird in detaillierter und nutzerfreundlicher Art und
Weise sowie in einem zugänglichen Format klare Angaben über die Arbeits- und Be-
schäftigungsbedingungen und über die rechtlichen Bestimmungen, die auf entsandte
Arbeitnehmer anwendbar sind, gemacht. Weiter werden Links zu Webseiten und
Kontaktstellen der Kontrollorgane des Entsendegesetzes und Informationen zu den
anwendbaren Verfahren zur Ahndung von Verstössen und zur Durchsetzung von Ar-
beits- und Beschäftigungsbedingungen leicht und kostenlos zugänglich gemacht.
Die Informationsplattform wird einen Lohnrechner und weitere Hilfsinstrumente ent-
halten. Bei den Hilfsinstrumenten handelt es sich um Werkzeuge und Anwendungen
auf der Informationsplattform, mit welchen die Besucher der Website den massgebli-
chen Mindestlohn berechnen können. Durch Eingabe der geforderten Angaben kann
auf der Informationsplattform mit dem Hilfsinstrument «Mindestlohnrechner» mit
Suchbegriffen oder durch die Direktwahl des GAV der massgebliche Mindestlohn
eruiert werden.
4. Abschnitt: Kontrolle
Art. 7 Abs. 2, 2
bis
, 2
te
und 2
quater
Zu Absatz 2: In Artikel 7 Absatz 2 bis 2
ter
soll die Pflicht zur Bereithaltung und/oder
Verfügbarmachung von Dokumenten in Papier- oder elektronischer Form vorgesehen
345
www.entsendung.admin.ch.
346
www.entsendung.admin.ch > Lohn und Arbeit > Löhne in der Schweiz > Übliche Lohn-
spanne berechnen.
341 / 931
werden. Diese neuen Regelungen setzen die Dokumentationspflicht vor Ort gemäss
Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe c der Richtlinie 2014/67 um. Unter geltendem Recht
muss der Arbeitgebende den Kontrollorganen erst auf Verlangen alle Dokumente zu-
stellen, welche die Einhaltung der Arbeits- und Lohnbedingungen der Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer belegen (Art. 7 Abs. 2 EntsG). Die neu geregelt Pflicht zur
Bereithaltung und/oder Verfügbarmachung von Dokumenten unterscheidet sich je
nach Dokument hinsichtlich des Ortes sowie des Zeitpunktes und der Zeitdauer der
Bereithaltung und/oder Verfügbarmachung der Dokumente.
Artikel 7 Absatz 2 VE-EntsG sieht vor, dass die entsandten Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer am Einsatzort in der Schweiz ihre Identitätspapiere vorweisen müssen.
Diese Pflicht besteht ab Beginn bis zum Abschluss des Einsatzes in der Schweiz.
Zu Absatz 2
bis
:
Artikel 7 Absatz 2
bis
VE-EntsG listet diejenigen Dokumente auf, wel-
che der Arbeitgebende ab Beginn des Einsatzes in der Schweiz in Papierform oder in
elektronischer Form vorweisen können muss. Diese müssen in jedem Falle und nicht
erst auf Verlangen verfügbar sein. Der Ort der Bereithaltung oder Zugänglichma-
chung der Dokumente muss im Meldeverfahren angegeben werden (Art. 6 Abs. 1
Bst. e VE-EntsG). Die Dokumentationspflicht umfasst gemäss Artikel 7 Absatz 2
bis
Buchstabe a VE-EntsG insbesondere den Arbeitsvertrag oder ein gleichwertiges Do-
kument. Ein gleichwertiges Dokument kann die schriftliche Information des Arbeit-
gebenden nach Artikel 7 Absatz 1 der Richtlinie (EU) 2019/1152
347
über transparente
und vorhersehbare Arbeitsbedingungen in der Europäischen Union oder das Formu-
lar A1 sein. Diese Dokumente müssen in einer Amtssprache der Schweiz vorgewiesen
werden.
Zu Absatz 2
2ter
:
Artikel 7 Absatz 2
ter
VE-EntsG sieht vor, dass Arbeitgebende den
Kontrollorganen auf Verlangen weitere Dokumente zur Überprüfung der Einhaltung
der Arbeits- und Lohnbedingungen vorweisen muss. Anders als die Dokumente ge-
mäss Artikel 7 Absatz 2
bis
VE-EntsG müssen die Dokumente nach Artikel 7 Ab-
satz 2
ter
VE-EntsG nicht bereits ab Beginn des Einsatzes in der Schweiz bereitgehalten
oder verfügbar gemacht werden, sondern erst auf Verlangen im Rahmen eines Kon-
troll- oder Sanktionsverfahrens. Unter Absatz 2
ter
fallen auch die Dokumente nach
Absatz 2
bis
, wenn diese nicht wie vorgeschrieben ab Beginn des Einsatzes bereitge-
halten werden oder zu Beginn noch nicht vorliegen.
Zu Absatz 2
quater
(Rechtsetzungsdelegation):
Artikel 7 Absatz 2
quater
VE-EntsG er-
mächtigt den Bundesrat, die Einzelheiten der Dokumentationspflicht, insbesondere
Ausnahmen und Dauer der Pflicht zur Vorweisung der Dokumente, zu regeln. Aus-
nahmen können insbesondere für Tätigkeiten von kurzer Dauer und ausserhalb von
Branchen nach Artikel 6 Absatz 2 EntsV vorgesehen werden. Weiter können Ausnah-
men auch bei Notfällen bestimmt werden. Als Notfälle sind insbesondere unvorher-
sehbare Ereignisse denkbar, die eines unverzüglichen Arbeitseinsatzes bedürfen. Un-
ter
Berücksichtigung
des
Verhältnismässigkeitsprinzips
soll
die
347
Richtlinie (EU) 2019/1152 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019
über transparente und vorhersehbare Arbeitsbedingungen in der Europäischen Union, Fas-
sung gemäss ABl. L 186 vom 11.7.2019, S. 105.
342 / 931
Dokumentationspflicht nur so lange wie notwendig betragen, aber nicht länger als
zwei Jahre nach Abschluss der Entsendung.
5. Abschnitt: Grenzüberschreitende Verwaltungszusammenarbeit: Grundsatz
Art. 8
In Artikel 8 wird die Verpflichtung und die Berechtigung der Vollzugsorgane des
EntsG zur Zusammenarbeit mit den ausländischen Behörden verankert, um die Durch-
führung des Entsenderechts gemäss Artikel 6 der Richtlinie 2014/67 (EU) einerseits
und des Vollzugs des EntsG andererseits sicherzustellen. Die Amtshilfe soll nur sub-
sidiär in Anspruch genommen werden, etwa wenn der betroffene Arbeitgeber nicht
reagiert und die anderen Möglichkeiten wie die Ansprechpartnerin oder der Ansprech-
partner in Artikel 5
a
Absatz 1 VE-EntsG nicht greifen. Auch Vollstreckungsersuchen
von Verwaltungssanktionen sollen nur gestellt werden, wenn diese beim Arbeitgeber
oder bei der selbstständig erwerbstätigen Person nicht vollstreckt werden können.
6. Abschnitt: Grenzüberschreitende Verwaltungszusammenarbeit: Ersuchen auslän-
discher Behörden
Art. 8a
In
Absatz 1
sind die Inhalte der Amtshilfe der ersuchenden ausländischen Behörden
geregelt: die Auskünfte über Arbeitgeber, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so-
wie selbstständige Erwerbstätige aus der Schweiz (Bst. a), die Durchführung von
Kontrollen (Bst. b), die Vollstreckung von rechtskräftigen Verwaltungssanktionen
des ersuchenden Staates (Bst. c) und die Zustellung von Entscheiden und Dokumen-
ten im Zusammenhang mit einer Entsendung (Bst. d).
Absatz 2:
Eine Delegation an den Bundesrat ist vorgesehen, um die Modalitäten der
Ersuchen ausländischer Behörden an die kantonale Behörde nach Artikel 7 Absatz 1
Buchstabe d zu regeln.
Das Ersuchen muss insbesondere folgende Angaben enthalten: (1) die relevanten In-
formationen zur Identifizierung des Empfängers des Ersuchens (zum Beispiel: Name
und Adresse), (2) eine Zusammenfassung des Sachverhalts und der Umstände des
Verstosses, der Art der Zuwiderhandlung und der einschlägigen geltenden Vorschrif-
ten, (3) das Instrument zur Vollstreckung in der Schweiz und alle sonstigen relevanten
Informationen oder Dokumente auch gerichtlicher Art bezüglich der zugrunde liegen-
den Forderung, der Verwaltungssanktion und/oder Geldbusse und (4) Name, Adresse
und sonstige Kontaktdaten der zuständigen Stelle, die für die Beurteilung der Sanktion
und/oder Geldbusse verantwortlich ist, und, falls nicht identisch, der zuständigen
Stelle, bei der weitere Informationen über die Sanktion und/oder Geldbusse oder die
Möglichkeit zur Anfechtung der Zahlungsverpflichtung oder der einschlägigen Ent-
scheidung eingeholt werden können.
Insbesondere müssen bei einem Vollstreckungsersuchen von Verwaltungssanktionen
die folgenden Informationen enthalten sein: das Datum, an dem das Urteil oder die
Entscheidung vollsteckbar oder rechtskräftig wurde, eine Beschreibung der Art und
343 / 931
der Höhe der Sanktion und/oder Geldbusse, alle für den Vollstreckungsprozess sach-
dienlichen Daten, einschliesslich ob und gegebenenfalls wie die Entscheidung oder
das Urteil dem/den Beklagten zugestellt wurde und/oder ob es sich um eine Versäum-
nisentscheidung/ein Versäumnisurteil handelt, sowie eine Bestätigung der ersuchen-
den Behörde, dass gegen die Sanktion und/oder Geldbusse keine weiteren Rechtsmit-
tel eingelegt werden können sowie die dem Ersuchen zugrunde liegende Forderung
und deren verschiedene Bestandteile. Darüber hinaus muss das Ersuchen um Mittei-
lung einer Verwaltungsstrafe oder um Auskunft auch den Gegenstand der Mitteilung
und die Frist, innerhalb derer diese zu erfolgen hat, enthalten.
In der EntsV wird auch die Frist für die Bearbeitung geregelt, diese soll gemäss Arti-
kel 6 Absatz 6 der Richtlinie 2014/67/EU in der Regel längstens 25 Arbeitstage nach
Erhalt des Ersuchens betragen. In dringenden Fällen, die nur eine Einsichtnahme in
ein Register erfordern, soll die Frist spätestens zwei Tage nach Erhalt des Ersuchens
dauern.
Die Mitteilung der Behörden und paritätischen Organe nach Artikel 7 zu den aufgrund
des Ersuchens getroffenen Massnahmen sowie die zu verwendende Währung sind in
der EntsV angegeben.
Schliesslich stützen sich Gegenstand und Modalität des Ersuchens auf Artikel 16 der
Richtlinie 2014/67/EU.
Art. 8b Abs. 2 Bst. a–d und Abs. 3
Diese Bestimmung regelt die Voraussetzungen für die Ablehnung eines Ersuchens.
Diese sind abschliessend. Darüber hinaus sieht die Richtlinie 2014/67/EU kein Aner-
kennungsverfahren des ausländischen Entscheids vor. Falls also die ausländische Be-
hörde von der zuständigen kantonalen Behörde einen Entscheid zur Ablehnung des
Ersuchens verlangt, ist das kantonale Verwaltungsverfahren anwendbar.
Absatz 2 Buchstabe c
sieht einen Mindestbetrag von 350 Euro vor, damit die ersu-
chende ausländische Behörde die kantonale Behörde nach Artikel 7 Absatz 1 Buch-
stabe d um die Vollstreckung ersuchen kann. Für den Wechselkurs wird auf die von
der ESTV veröffentlichten Kurse verwiesen.
348
Absatz 3:
Eine Delegation an den Bundesrat für die Sistierung des Verfahrens ist vor-
gesehen. Eine Sistierung des Verfahrens in der Schweiz wird möglich sein, falls die
Verwaltungssanktion und/oder Geldbusse vom betreffenden Dienstleistungserbringer
oder einer betroffenen Partei im ersuchenden Mitgliedstaat der Europäischen Union
angefochten wird. In der Schweiz hingegen werden keine Rechtsmittel bestehen, um
die Sistierung des Verfahrens zu verlangen.
Schliesslich stützen sich die Ablehnungsgründe auf Artikel 17 der Richtlinie
2014/67/EU und die Aussetzung des Verfahrens auf Artikel 18 der Richtlinie
2014/67/EU.
348
www.estv.admin.ch > Mehrwertsteuer > Mehrwertsteuer abrechnen > Fremdwährungs-
kurse > Monatsmittelkurse.
344 / 931
Art. 8c Abs. 2 und 3
Absatz 2:
Vor Einleitung eines Betreibungsverfahrens muss die kantonale Behörde
nach Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe d VE-EntsG dem Schuldner oder der Schuldnerin
eine letzte Gelegenheit geben, die rechtskräftige Verwaltungssanktion zu begleichen.
Daher muss sie dem Schuldner eine Frist einräumen, nach deren Ablauf das Betrei-
bungsverfahren eingeleitet wird, falls sie nicht genutzt wird. Die von der kantonalen
Behörde nach Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe d VE-EntsG festgelegte Frist muss ange-
messen sein. Die Angemessenheit der Frist wird anhand der jeweiligen Umstände des
Falles beurteilt, wobei insbesondere der Komplexität des Falles, der Bedeutung des
Streitfalls für den Empfänger oder die Empfängerin, seinem oder ihrem Verhalten so-
wie dem Verhalten der zuständigen Behörden Rechnung zu tragen ist.
Absatz 3:
Ein Schuldner, der mit dem Vollzug des Entscheids in der Schweiz nicht
einverstanden ist, kann seine Einwendungen im Rahmen des Betreibungsverfahrens
nach Artikel 81 Absatz 3 SchKG geltend machen. Folglich kann bei der zuständigen
kantonalen Behörde kein Rechtsmittel eingelegt werden.
Art. 8d Abs. 1 und 2
Absatz 1:
Diese Bestimmung sieht vor, dass die kantonale Behörde nach Artikel 7
Absatz 1 Buchstabe d das Betreibungsbegehren direkt an das zuständige Betreibungs-
amt zu richten hat. Das Verfahren, um die Vollstreckung des Begehrens zu erlangen,
richtet sich nach Artikel 67 ff. SchKG. Im Übrigen ist für die Bestimmung des Betrei-
bungsortes Artikel 46 SchKG anwendbar.
Absatz 2:
Die kantonale Behörde nach Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe d VE-EntsG hat
die gleichen Rechte und Pflichten wie ein Gläubiger. So muss sie, wenn nötig, das
Betreibungsverfahrens selbst vorantreiben. Falls der Schuldner beispielsweise
Rechtsvorschlag erhebt (Art. 74 und 75 SchKG), muss die kantonale Behörde nach
Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe d die Aufhebung des Rechtsvorschlags erlangen (mit-
tels eines Ersuchens um definitive Rechtsöffnung gemäss Art. 80 SchKG), indem sie
sich vor Ablauf der Gültigkeit des Zahlungsbefehls an die für Betreibungen zustän-
dige kantonale Behörde wendet.
Art. 8e Abs. 2
Der Bund vergütet den kantonalen Behörden die Betreibungskosten nach Abzug der
Einnahmen aus dem Betreibungsverfahren.
Art. 8
f
Da sie die Stellung des Gläubigers einnimmt, erhält die kantonale Behörde nach Ar-
tikel 7 Absatz 1 Buchstabe d den Erlös aus dem Betreibungsverfahren, bei einer Pfän-
dung im Einklang mit Artikel 144 SchKG und bei einem Konkurs im Einklang mit
den Artikeln 261 ff. SchKG.
Art. 8g
345 / 931
Artikel 8
g
VE-EntsG regelt das Verfahren zur Bearbeitung von Auskunftsersuchen
von ausländischen Behörden. Primär müssen die erforderlichen Auskünfte und Doku-
mente beim Arbeitgeber oder bei der selbstständig erwerbstätigen Person eingeholt
werden, nur subsidiär sind die Behörden gemäss Artikel 8
o
Absatz 1 und gemäss Ar-
tikel 8
p
Absatz 2 VE-EntsG anzufragen (Abs. 2), wobei diese nur Auskünfte erteilen
können, soweit sie über die entsprechenden Informationen verfügen.
Nötigenfalls erfordert die Beantwortung eines Amtshilfeersuchens auch Kontrollen
(Abs. 4). Diese sollen durch die kantonalen Behörden nach Artikel 7 Absatz 1 Buch-
stabe d EntsG durchgeführt werden. Der Gegenstand solcher Kontrollen beschränkt
sich auf Fragen im Zusammenhang mit dem Vollzug der Entsendevorschriften des
ersuchenden Staates (vgl. Art. 8
a
Abs. 1 Bst. b VE-EntsG). Die kantonalen Behörden
können bei Bedarf die Organe und weitere Behörden nach Artikel 7 beiziehen, bei-
spielsweise die zuständige PK, wenn ein Arbeitgeber einem ave GAV unterstellt ist.
Absatz 4 Satz 3 verweist für die Auskunfts- und Mitwirkungspflicht des Arbeitgebers
und der selbstständig Erwerbstätigen auf Artikel 7 Absatz 4 EntsG. Die Sprache der
zu liefernden Dokumente richtet sich nach den Vorgaben des ersuchenden Staates
(Abs. 5). Verstösse gegen die Auskunfts- und Mitwirkungspflicht des Arbeitgebers
oder der selbstständig erwerbstätigen Person werden mit Verwaltungssanktionen von
maximal 5000 Franken geahndet werden (siehe Art. 9 Abs. 2 Bst. g VE-EntsG).
Art. 8h
Die Amtshilfe an ausländische Behörden muss kostenlos gewährt werden, Absatz 2
sieht jedoch vor, dass die kantonalen Behörden und die paritätischen Organe von ave
GAV für ihren Aufwand bei der Gewährung von Amtshilfe durch den Bund entschä-
digt werden. Die PK von kantonalen ave GAV werden wie üblich im Vollzug des
EntsG durch den Kanton entschädigt. Die neuen Pflichten im Zusammenhang mit der
Amtshilfe werden in den Inspektionsaufgaben gemäss Artikel 16
c
EntsV aufgenom-
men.
7. Abschnitt: Grenzüberschreitende Verwaltungszusammenarbeit: Ersuchen inländi-
scher Behörden
Art. 8i
Artikel 8
i
bildet das Gegenstück zu Artikel 8
a
und regelt die Ersuchen von kantonalen
Behörden und PK an ausländische Behörden um Auskünfte, Durchführung von Kon-
trollen, Zustellung und Vollstreckung von Verwaltungssanktionen nach Artikel 9 so-
wie wie um die Zustellung von Dokumenten.
Art. 8j, Abs
.
2
Eine Delegation an den Bundesrat zur Regelung der Modalitäten der durch die kanto-
nalen Behörden und die PK nach Artikel 7 Absatz 1 EntsG an die ausländische Be-
hörde übermittelten Ersuchen ist vorgesehen. Diese Ersuchen enthalten dieselben An-
gaben, die in Artikel 8
a
Absatz 2 VE-EntsG aufgeführt sind.
Art. 8k
346 / 931
Die kantonalen Behörden können die ausländischen Behörden auch von sich aus und
ohne Ersuchen informieren, wenn Anhaltspunkte auf einen Verstoss gegen das EntsG
vorliegen, der auf eine Unregelmässigkeit im Herkunftsstaat hindeutet.
8. Abschnitt: Grenzüberschreitende Verwaltungszusammenarbeit:
Binnenmarktinfor-
mationssystem
Art. 8l
Dieser Artikel legt in Absatz 1 fest, dass die Verwaltungszusammenarbeit mit EU-
Mitgliedsaaten im Entsendebereich mittels IMI zu erfolgen hat.
Absatz 2 hält fest, dass die Kantone eine zentrale Behörde, resp. koordinierende Stelle
ernennen und dem SECO melden müssen. In der Regel wird dies die kantonale Ar-
beitsmarktbehörde sein. Die kantonalen IMI-Koordinationsstellen sind befugt - im
Einverständnis mit dem SECO als nationaler IMI-Koordinator im Bereich Entsendung
– weitere, zuständige kantonale Behörden im IMI-System aufzunehmen. Dies könn-
ten z. B. die kantonale Migrationsbehörde oder das kantonale Arbeitsinspektorat sein.
Falls Behörden oder Organe, die am Vollzug des Entsendegesetzes beteiligt sind, kei-
nen Zugriff auf IMI haben, so ist gemäss Absatz 3 die kantonale Koordinationsstelle
zuständig im IMI die grenzüberschreitende Verwaltungszusammenarbeit gemäss Ar-
tikel 8 EntsG sicherzustellen.
Art. 8m
Absatz 1 sieht vor, dass das SECO die Rolle des IMI-Koordinators im Bereich Ent-
sendung von Arbeitnehmenden wahrnimmt.
Gemäss Absatz 2 kann das SECO IMI-Koordinatoren und zuständige Behörden im
System registrieren. Diesen können abgestufte Berechtigungen im IMI-System zuge-
sprochen werden.
Absatz 3 delegiert die Benennung eines nationalen IMI-Koordinators an den Bundes-
rat.
Art. 8n
Die jährlichen Kosten für den Anschluss und den Betrieb von IMI werden vom Bund
übernommen.
9. Abschnitt: Datenschutz
Art. 8o
Zu Absatz 1
: In Artikel 8
o
Absatz 1 VE-EntsG werden die nach Artikel 7 Absatz 1
EntsG mit der Durchführung der Kontrolle oder dem Vollzug des Entsendegesetzes
beauftragten Organe, die tripartiten Kommissionen und das SECO ermächtigt, Daten
zu bearbeiten, welche sie für die Erfüllung entsendegesetzlicher Aufgaben und der
Beobachtungsaufgaben nach Art. 360
b
OR benötigen. Die Datenbearbeitung umfasst
347 / 931
sowohl Personendaten wie auch Daten juristischer Personen, einschliesslich Daten
über verwaltungs- und strafrechtliche Verfolgungen oder Sanktionen nach Artikel 9
und 12 EntsG.
Zu Absatz 2 (Rechtsetzungsdelegation):
Der Bundesrat wird in Artikel 8
o
Absatz 2
VE-EntsG ermächtigt, die Aufbewahrungsdauer der Daten zu regeln. Vorbehalten
bleiben kantonale Bestimmungen.
Art. 8p
Zu Absatz 1
: Damit der Vollzug des Entsendegesetzes koordiniert erfolgen kann, ist
die gegenseitige Bekanntgabe von Daten zwischen den Behörden und Organen nach
Artikel 8
o
Absatz 1 VE-EntsG unerlässlich. Diese Datenbekanntgabe soll deshalb in
Artikel 8
p
Absatz 1 VE-EntsG als Verpflichtung aufgenommen werden, sofern die
Datenbekanntgabe für die Erfüllung der Aufgaben nach Artikel 8
o
Absatz 1 VE-
EntsG erforderlich ist.
Zu Absatz 2
: Den Behörden und Organen nach Artikel 8
o
Absatz 1 VE-EntsG wird in
Artikel 8
p
Absatz 2 VE-EntsG die Möglichkeit eingeräumt, anlässlich der gesetzli-
chen Aufgabenerfüllung erhaltene Hinweise auf Verstösse gemäss Buchstabe a - e
den zuständigen Behörden und Organe von sich aus oder auf Anfrage mitzuteilen. Die
Anhaltspunkte auf diese Verstösse müssen sich dabei im Rahmen der Erfüllung be-
stehenden gesetzlichen Aufgaben ergeben. Artikel 8
p
Absatz 2 VE-EntsG soll nicht
zu einer Erweiterung bestehender Aufgaben und Kompetenzen führen.
Zu Absatz 3
: Artikel 8
p
Absatz 3 VE-EntsG entspricht inhaltlich dem geltenden Arti-
kel 8 Absatz 2 Satz 2 EntsG.
Zu Absatz 4
: Analog zu Artikel 8
p
Absatz 2 VE-EntsG sollen auch die Behörden und
Organe nach Artikel 8
p
Absatz 2 Buchstabe a bis e VE-EntsG die Möglichkeit haben,
Daten nach Buchstabe a- c den Behörden und Organen nach Artikel 8
o
Absatz 1 VE-
EntsG bekannt zu geben.
Zu Absatz 5
: Artikel 8
p
Absatz 5 VE-EntsG entspricht dem geltenden Artikel 8 Ab-
satz 4 EntsG. Es wurden lediglich redaktionelle Änderungen vorgenommen.
Art. 8q
Der Vollzug des Entsendegesetzes wird es künftig zu einem verstärkten Austausch
mit ausländischen Behörden kommen, weshalb in Artikel 8
q
VE-EntsG die Behörden
und Organe nach Artikel 8
o
Absatz 1 VE-EntsG zur Bekanntgabe von Daten ins Aus-
land im Entsendebereich verpflichtet werden.
10. Abschnitt: Plattform für elektronische Kommunikation
Art. 8r Abs. 1
Diese Anpassung betrifft lediglich den Verweis auf Artikel 8
p
VE-EntsG, welcher
aufgrund der Neunummerierung angepasst werden muss.
348 / 931
11. Abschnitt: Sanktionen und Strafen
Art. 9 Abs. 2 Einleitungssatz sowie Bst. a, b, b
bis
, h und g
Vorausschickend sei angemerkt, dass Sanktionen wirksam, verhältnismässig und ab-
schreckend sein müssen. Aus der ständigen Rechtsprechung des EuGH geht hervor,
dass solche Sanktionen zulässig sein können, wenn sie zwingenden Gründen des All-
gemeininteresses entsprechen, wenn sie geeignet sind, die Verwirklichung des mit
ihnen verfolgten Ziels zu gewährleisten, und wenn sie nicht über das hinausgehen,
was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.
349
Das bedeutet, dass die Härte der
verhängten Sanktion der Schwere des mit ihr geahndeten Verstosses entsprechen
muss. Diese Bedingungen sind erfüllt, da Artikel 9 Absatz 2 EntsG zwei Kategorien
von Verwaltungssanktionen vorsieht: Bussen bis 5000 Franken (Bst. a, d, g und h)
beziehungsweise bis 30 000 Franken (Bst. b, bbis und f) sowie ein Verbot für die be-
treffenden Unternehmen, während ein bis fünf Jahren in der Schweiz ihre Dienste
anzubieten. Die kantonale Behörde nach Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe d EntsG kann
je nach Sachverhalt (geringer oder schwerwiegender Verstoss) eine der beiden Sank-
tionen verhängen (Bst. b, bbis und d). Das Verbot, ihre Dienste in der Schweiz anzu-
bieten, ist nicht nur geeignet, die betroffenen Unternehmen von erneuten Verstössen
gegen das EntsG abzuhalten, sondern auch erforderlich, da eine Verwaltungssanktion
in Form einer Busse in gewissen Fällen nicht ausreicht, um den Verstössen ein Ende
zu setzen. Somit wird auch der Grundsatz der Verhältnismässigkeit gewahrt. Schliess-
lich kommt nur bei besonders schwerwiegenden Verstössen (Bst. c) und bei Verstös-
sen im Sinne von Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe a oder b EntsG oder bei Nichtbezah-
lung des Betrags der rechtskräftigen Verwaltungssanktion nach Buchstabe a, b oder d
(Bst. e) ausschliesslich das Dienstleistungsverbot in Frage: In solchen Fällen ent-
spricht diese Lösung auch dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit, da die verhängte
Sanktion für den jeweiligen Sachverhalt angemessen sein muss und es sich hier um
die einzig mögliche wirksame und abschreckende Sanktion handelt.
Die Sanktion in Buchstabe
a
wird ergänzt um Verstösse gegen die Pflicht zur Bereit-
haltung von Dokumenten gemäss Artikel 7 Absatz 2 oder 2
bis
. Verstösse gegen die
Herausgabepflicht von Dokumenten gemäss Artikel 7 Absatz 2
ter
, die nur auf Verlan-
gen vorgelegt oder zugänglich gemacht werden müssen, sollen wie heute mit einer
Busse gemäss Artikel 12 EntsG bestraft werden.
Buchstabe a wird ferner ergänzt um Verstösse gegen die Meldepflicht von:
–
Schweizer Arbeitgebern, die im Ausland wohnhafte Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer bis zu drei Monaten innerhalb eines Kalenderjahres an-
stellen (Art. 6
a
).
–
im Ausland niedergelassenen Dienstleistungserbringerinnen und Dienst-
leistungserbringer, die bis zu 90 Arbeitstagen innerhalb eines Kalenderjah-
res in der Schweiz eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausüben (Art. 6
b
)
349
EuGH, Urteil vom 12. September 2019, C-64/18, Maksimovic, EU:C:2019:723, Rz. 35 so-
wie die ebd. in Rz. 39 erwähnte Rechtsprechung.
349 / 931
–
im Ausland wohnhaften Personen, die dort keine Niederlassung haben, und
die bis zu drei Monaten innerhalb eines Kalenderjahres in der Schweiz
selbstständig erwerbstätig sind (Art. 6
e
)
Auch bei selbstständig Erwerbstätigen ohne Niederlassung im Ausland wird die Ver-
letzung der Nachweispflicht sanktioniert (Art. 9 Abs. 2 i.V.m. Art. 6
e
Abs. 3 VE-
EntsG).
Buchstabe b
bis
sieht bei Verstössen gegen Artikel 2 Absatz 2
ter
EntsG eine Verwal-
tungssanktion bis 30 000 CHF vor (Ziffer 1) oder eine Dienstleistungssperre bis zur
Hinterlegung der Kaution nach Artikel 2 Absatz 2
ter
vor (Ziffer 2). Eine Dienstleis-
tungssperre wegen Nichtleisten der Kaution ist folglich aufzuheben, wenn die Zah-
lung der Kaution erfolgt ist.
Buchstabe g
sieht eine Verwaltungssanktion bis zu einem Betrag von 5000 CHF vor,
wenn ein Arbeitgeber im Rahmen eines Amtshilfeersuchens seine Auskunfts- und
Mitwirkungspflicht gemäss Artikel 8
g
Absatz 4 und 5 VE-EntsG verweigert.
Buchstabe h
sieht ebenfalls eine Verwaltungssanktion bis 5000 CHF gegen den Ar-
beitgebenden vor, wenn die Ansprechpartnerin oder der Ansprechpartner die Voraus-
setzungen nach Artikel 5
a
VE--EntsG trotz vorgängiger Mahnung nicht erfüllt.
12. Abschnitt: Klagerecht
Art. 13a
Der bisherige Artikel 11 wird unverändert in Artikel 13a verschoben.
13. Abschnitt: Aufsicht über den Vollzug
Art. 14
In Artikel 14 VE-EntsG wird lediglich eine redaktionelle Änderung vorgenommen.
14. Abschnitt: Schlussbestimmungen
Römische Ziffer III
In Ziffer III wird die Bestimmung über das Inkrafttreten des revidierten EntsG an den
Bundesrat delegiert. Die Umsetzung der Richtlinien 2014/67/EU und (EU) 2018/957
sowie der neuen Artikel 5g, h und i des FZA muss innerhalb von 36 Monaten nach
Inkrafttreten des Änderungsprotokoll zum FZA erfolgen. Das EntsG ist auf Arbeitge-
ber, entsandte Arbeitnehmer und auf selbstständige erwerbstätige unabhängig von ih-
rer Herkunft anwendbar. Gewisse Bestimmungen wie die zum Meldeverfahren nach
Artikel 6, 6
a, 6b
und 6
e
VE-EntsG gelten nicht nur für Staatsangehörige aus der EU,
sondern auch der EFTA. Bis zum Inkrafttreten eines allfälligen angepassten EFTA-
Übereinkommen gelten die Bestimmungen über die Amtshilfe via IMI nur für Ange-
hörige aus den EU-Staaten. Die anderen Anpassungen im EntsG sind auch auf Ange-
hörige aus den EFTA-Staaten anwendbar, da keine Unvereinbarkeiten mit dem heuti-
gen EFTA-Übereinkommen bestehen.
350 / 931
2.3.8.4.2
Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB)
Art. 26 Abs. 2bis und 3
Bisher steht es allein im Ermessen der öffentlichen Auftraggeberin festzulegen, wel-
che Nachweise sie wann verlangt, um die Einhaltung der Teilnahmebedingungen
durch die Anbieterinnen und ihre Subunternehmerinnen sicherzustellen; das Gesetz
nennt beispielhaft eine Selbstdeklaration oder die Aufnahme in ein Verzeichnis (Art.
26 Abs. 2 und 3 BöB). Artikel 26 Absatz 2
bis
BöB verpflichtet die Auftraggeberin, bei
der Vergabe von Bauleistungen immer dann einen zusätzlichen Nachweis in Form
einer GAV-Bescheinigung zu verlangen, wenn eine Anbieterin einem ave GAV für
Bauleistungen unterstellt ist. Soweit im Zeitpunkt des Zuschlags bereits Subunterneh-
merinnen gemeldet werden müssen und sofern diese einem ave GAV unterstehen,
reicht die Anbieterin auch für sie die GAV-Bescheinigung ein. Damit kann geprüft
werden, ob die betreffende Anbieterin oder Subunternehmerin bereits einer Kontrolle
durch die zuständigen paritätischen Organe unterzogen worden ist und ob allfällige
Verstösse gegen die massgeblichen Arbeitsschutzbestimmungen und Arbeitsbedin-
gungen innert Frist geheilt oder noch offen sind. Bei offenen Verstössen ist die An-
bieterin aus dem Verfahren auszuschliessen, sofern sich dies mit dem Verhältnismäs-
sigkeitsprinzip verträgt. In Branchen ohne GAV-Bescheinigung, ist weiterhin primär
auf die Selbstdeklaration abzustellen. Schon heute sind die GAV-Bescheinigungen
für ausländische Betriebe, die bereits Leistungen in der Schweiz erbracht haben, zu
den gleichen Bedingungen erhältlich wie für Schweizer Betriebe. Um eine diskrimi-
nierungsfreie Umsetzung sicherzustellen, werden die paritätischen Kommissionen
auch für Firmen, die noch nie in der Schweiz tätig waren, eine Bescheinigung ausstel-
len müssen.
Es bleibt weiterhin Sache der Auftraggeberin, den Zeitpunkt der Einreichung der
GAV-Bescheinigung zu bestimmen (vgl. Abs. 3). Die redaktionelle Änderung von
Absatz 3 wirkt sich nicht materiell aus.
2.3.8.4.3
Obligationenrecht (OR)
Art. 335l
Diese Bestimmung definiert den Geltungsbereich der neuen Regeln. Mit diesen Re-
geln soll ein spezifisches Verfahren geschaffen werden, das zur Anwendung kommt,
wenn Arbeitnehmervertreterinnen und -vertretern, Mitglieder eines Organs einer pa-
ritätischen Personalvorsorgeeinrichtung sowie Mitglieder nationaler Branchenvor-
stände, gekündigt wird. Die in Artikel 3 des Mitwirkungsgesetzes vorgesehene
Grenze von mindestens fünfzig Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern soll hier auch
gelten. Die Begrenzung auf Arbeitgebende mit mindestens fünfzig Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmern steht in Einklang mit der Grenze, welche in Artikel 3 des
Mitwirkungsgesetzes vorgesehen ist. Darüber hinaus kann sie Fragen hinsichtlich des
nach Artikel 8 der Bundesverfassung (BV) garantierten Gleichbehandlungsgrundsat-
zes aufwerfen. Es gilt jedoch auch, die finanzielle Belastbarkeit der Unternehmen zu
berücksichtigen, besonders von Kleinunternehmen mit weniger als 10 Angestellten,
welche 90 Prozent der Unternehmen der Schweiz im Jahr 2022 ausmachten. Diese
351 / 931
Belastungen sind gegen einen anderen Schutz (in diesem Fall die bereits in Art. 336
OR vorgesehenen) für einen Teil der Arbeitnehmervertreterinnen und Arbeitnehmer-
vertreter und dessen Auswirkungen auf ihre Tätigkeit abzuwägen.
Die neuen Regeln gelten bei der Kündigung des Arbeitsvertrags durch den Arbeitge-
ber, wobei sie sich auf die ordentliche Kündigung beschränken. Die fristlose Kündi-
gung gemäss den Artikeln 337 ff. OR bleibt vorbehalten (Abs. 2).
Absatz 1 legt die Kategorien von Personen fest, für die das Verfahren zur Anwendung
kommt: Das Verfahren gilt in erster Linie für Arbeitnehmervertreterinnen und -ver-
treter, die gemäss dem Mitwirkungsgesetz
gewählt wurden (Abs. 1 Bst. a Ziff. 1). Zu
dieser ersten Kategorie von Personen, die auch die Mitglieder von Personalkommis-
sionen umfasst, kommen Vertreterinnen und Vertreter hinzu, die ad hoc, das heisst für
eine bestimmte Angelegenheit, gewählt wurden (Abs. 1 Bst. a Ziff. 2). Dies betrifft
beispielsweise Situationen, in denen die Arbeitnehmenden eine Vertretung wählen,
die im Falle einer Massenentlassung mit dem Arbeitgeber verhandelt, insbesondere
wenn der Betrieb keine Personalkommission hat. Die Bestimmungen des Mitwir-
kungsgesetzes über die Modalitäten der Wahl gelten sinngemäss für die Ad-hoc-
Wahl, soweit sie für diese Art von Wahl relevant sind. Es handelt sich hierbei um die
Artikel 5, 6, 7 Absätze 1 und 8. Absatz 1 Buchstabe a Ziffer 3 erfasst die in paritäti-
schen Verwaltungsorganen von Vorsorgeeinrichtungen tätigen Arbeitnehmervertrete-
rinnen und -vertreter gemäss Artikel 51 BVG. Auch andere Gesetzesbestimmungen
sehen solche paritätischen Organe vor, beispielsweise Artikel 9 des PUBLICA-
Gesetzes vom 20. Dezember 2006
350
. Für die Arbeitnehmervertreterinnen und -vertre-
ter in diesen Organen gilt das Verfahren somit ebenfalls, soweit die Bestimmungen
des OR auf ihr Arbeitsverhältnis Anwendung finden. Absatz 1 Buchstabe b schliess-
lich sieht vor, dass auch die Mitglieder nationaler Branchenvorstände eingeschlossen
sind. Diese Branchenvorstände, die durch die Arbeitnehmerorganisationen eingesetzt
werden, bestehen aus Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Arbeitgeber aus
derselben Branche. Der Anwendungsbereich beschränkt sich jedoch auf die Vor-
stände von Branchen mit einem ave GAV, wodurch sich die Anzahl der betroffenen
Personen deutlich reduziert.
Die betroffenen Personen werden die neuen Regeln ausschliesslich während der
Dauer ihres Mandats geltend machen können. Vorbehalten bleiben Fälle, in denen
eine Kündigung vor Beginn oder nach Beendigung des betreffenden Mandats ausge-
sprochen wurde, um die neuen Regeln zu umgehen.
Art. 335m
Das neue Verfahren beginnt mit einer Ankündigung der Kündigung. Diese Ankündi-
gung ist der Arbeitnehmerin bzw. dem Arbeitnehmer zuzustellen, bevor die Kündi-
gung ausgesprochen wird. Die betroffene Person kann auf diese Ankündigung reagie-
ren und eine Aussprache verlangen. So ist es möglich, Gespräche zu führen und nach
Lösungen zu suchen. Das vorgeschlagene Verfahren stützt sich auf Abläufe, die in
bestimmten GAV bereits vorgesehen sind, etwa in Artikel 38.5 des GAV der Maschi-
nen-, Elektro- und Metall-Industrie (MEM-Industrie).
350
SR
172.222.1
352 / 931
Artikel 335
m
regelt die Ankündigung der Kündigung und die darauffolgende Aus-
sprache.
Was den Zeitpunkt der Ankündigung betrifft, wird die Formulierung von Artikel 335
f
OR übernommen, gemäss dem die Ankündigung bei einer Massenentlassung zu dem
Zeitpunkt zu erfolgen hat, zu dem der Arbeitgeber diese «beabsichtigt». Damit handelt
es sich klar um einen Zeitpunkt, der eintritt, bevor die Kündigung ausgesprochen wird.
In Absatz 3 geht es um eine Drittperson, die die Arbeitnehmerin bzw. den Arbeitneh-
mer oder den Arbeitgeber allenfalls begleitet und die als «Vertrauensperson» bezeich-
net wird. Diese Person hat keine Vertretungsbefugnis, da die Parteien persönlich an-
wesend sein müssen.
Gemäss
Absatz 4 ist für die Aussprache und die Bemühung um eine Lösung der
Grundsatz von Treu und Glauben anzuwenden. Das Angebot einer vergleichbaren Ar-
beitsstelle wird als Beispiel genannt, aber es wird weder in diesem Punkt noch gene-
rell eine Ergebnisverpflichtung definiert.
Art. 335n
Dieser Artikel regelt das weitere Vorgehen. Nach der Aussprache ist zu prüfen, ob
weitere Treffen oder andere Schritte erforderlich sind, um das Ziel, nämlich die Ver-
meidung der Kündigung, zu erreichen. Absatz 2 sieht für das Verfahren eine maxi-
male Dauer von zwei Monaten vor. Die Parteien können das Verfahren im gegensei-
tigen Einvernehmen verkürzen oder verlängern. Eine Verkürzung des Verfahrens
durch den Arbeitgeber ist beispielsweise dann denkbar, wenn sich die Parteien bereits
nach wenigen Tagen bzw. vor Ablauf von zwei Monaten auf den Abschluss des Ver-
fahrens einigen oder gemeinsam übereinkommen, dass das Verfahren nicht weiterge-
führt werden soll. Der Grundsatz von Treu und Glauben gilt auch für das weitere Vor-
gehen.
Art. 335o
Diese Bestimmung hält fest, dass eine Kündigung nicht vor Abschluss des in den vor-
hergehenden Artikeln beschriebenen Verfahrens ausgesprochen werden darf. Es liegt
auf der Hand, dass eine Kündigung nicht erfolgen darf, während das Verfahren zur
Vermeidung ebendieser Kündigung noch läuft. Damit regelt diese Bestimmung
a contrario
den Zeitpunkt, ab dem die Kündigung ausgesprochen werden darf.
Art. 335p
Artikel 335
p
sieht die Nichtigkeit der Kündigung vor, wenn das Verfahren, das der
Kündigung vorausgehen muss, nicht eingehalten wurde.
Der Arbeitgeber und die Arbeitnehmerin bzw. der Arbeitnehmer haben sich während
des gesamten Verfahrens nach dem Grundsatz von Treu und Glauben zu verhalten
(Art. 335
m
). Spricht ein Arbeitgeber die Kündigung aus, ohne das vorgeschriebene
Verfahren eingehalten zu haben, so muss er das Verfahren mit Ankündigung der Kün-
digung wiederholen. Sobald das Verfahren eingehalten wurde, kann die Kündigung
durch den Arbeitgeber erfolgen. Die Arbeitnehmerin bzw. der Arbeitnehmer muss
353 / 931
sich ebenfalls nach Treu und Glauben verhalten und darf etwa das Verfahren nicht
unbegründet hinauszögern oder einer geplanten Aussprache fernbleiben.
Art. 335q
Ein zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden abgeschlossener GAV kann
von den Artikeln 335
l
–
o
abweichen, sofern er eine gleichwertige Lösung vorsieht.
Mit dieser Bestimmung wird den Sozialpartnern die notwendige Flexibilität gegeben,
um andere Vorgehensweisen festzulegen, wobei die Gleichwertigkeit der vereinbar-
ten Regelungen mit der gesetzlich vorgesehenen gewährleistet sein muss.
Die Gleichwertigkeit betrifft die Gesamtlösung. Es geht nicht darum, für jede einzelne
Gesetzesbestimmung eine gleichwertige Regel zu finden, sondern insgesamt eine Re-
gelung zu vereinbaren, die einen gleichwertigen Rechtsschutz bietet.
Als Grundlage zur Beurteilung der Gleichwertigkeit dienen die mit den rechtlichen
Bestimmungen verfolgten Zwecke. Das in den Artikeln 335
m
ff. vorgesehene Verfah-
ren soll impulsive und unüberlegte Kündigungen verhindern. Arbeitnehmerinnen oder
Arbeitnehmer, die eine Vertretungsfunktion wahrnehmen, dürfen nicht aufgrund die-
ser Funktion entlassen werden. Die entsprechenden Funktionen sind zudem bei der
Entscheidung, die zur Kündigung führt, zu berücksichtigen. Ebenso darf die Kündi-
gung nicht dazu eingesetzt werden können, einen laufenden Verhandlungsprozess zu
beeinflussen. Gleichzeitig muss eine begründete Kündigung trotzdem möglich sein.
Die gesetzliche Lösung sieht zu diesem Zweck eine Frist vor, innert der ein Dialog zu
führen ist. Eine in einem GAV vereinbarte Regelung ist somit dann gleichwertig,
wenn sie ebenfalls eine Frist vorsieht, um Gespräche führen und eine Lösung aushan-
deln zu können.
Die Gleichwertigkeit kann aber auch dann gegeben sein, wenn für die Arbeitnehmerin
bzw. den Arbeitnehmer nachteilige Abweichungen durch andere Massnahmen kom-
pensiert werden. Möchten beide Parteien weder ein vorgängiges Verfahren noch eine
Ankündigung vereinbaren, können sie beispielsweise eine längere Kündigungsfrist,
etwa von sechs Monaten, vorsehen. Denkbar ist auch, dass eine Kündigung, die vor
Abschluss des Verfahrens erfolgt oder bei der das Verfahren nicht eingehalten wurde,
zwar nicht nichtig ist, aber zu einer finanziellen Entschädigung führt, die ausreichend
hoch ausfällt, damit sie als gleichwertig betrachtet werden kann.
In dieser Hinsicht können bereits bestehende Regelungen als gleichwertig betrachtet
werden. Gewisse GAV-Lösungen, die eine vorgängige Ankündigung vorsehen –
wenn auch mit einer teilweise kürzeren Frist als in der vorgeschlagenen Gesetzesbe-
stimmung –, können dennoch als gleichwertig angesehen werden, da die sich daraus
ergebenden Nachteile durch einen stärkeren Schutz der Arbeitnehmervertreterinnen
und -vertreter in anderen Situationen, etwa bei einer Umstrukturierung, ausgeglichen
werden (Art. 38.5 GAV der MEM-Industrie).
Art. 336a
Wird einer Arbeitnehmervertreterin bzw. einem Arbeitnehmervertreter oder einem
Mitglied eines Organs einer Personalvorsorgeeinrichtung oder eines Branchenvor-
354 / 931
stands gemäss Artikel 335
l
missbräuchlich gekündigt, so muss die Sanktion eine ab-
schreckende Wirkung haben. Diese ist vom Gericht unter Würdigung aller Umstände
und im Einklang mit Artikel 336
a
Absatz 2 OR festzusetzen. Die von der Rechtspre-
chung herausgearbeiteten Kriterien müssen in diesem Fall vollumfänglich zur Anwen-
dung kommen und der jeweiligen spezifischen Situation ist gebührend Rechnung zu
tragen. So muss das Gericht insbesondere folgende Aspekte berücksichtigen: die fi-
nanziellen Möglichkeiten des Betriebs, das Alter und die bisherige Beschäftigungs-
dauer der Arbeitnehmervertreterin bzw. des -vertreters oder des Mitglieds eines Or-
gans einer Personalvorsorgeeinrichtung oder eines Branchenvorstands gemäss
Artikel 335
l
sowie die Bemühungen und die Möglichkeiten des Arbeitgebers, der Per-
son eine andere vergleichbare Arbeitsstelle anzubieten. Das Höchstmass der Sanktion
liegt bei zehn Monatslöhnen. Grundsätzlich – und sofern keine besonderen Gründe
vorliegen – muss die Entschädigung höher sein als bei anderen Fällen missbräuchli-
cher Kündigung. Denn sie muss aufgrund des besonderen Status der Arbeitnehmer-
vertreterin bzw. des Arbeitnehmervertreters gemäss Artikel 335
l
Absatz 1 eine aus-
reichende abschreckende Wirkung entfalten.
2.3.8.4.4
Bundesgesetz über die Allgemeinverbindlicherklärung von
Gesamtarbeitsverträgen (AVEG)
Art. 2 Ziff. 3
Es gilt weiterhin der Grundsatz, dass am Gesamtarbeitsvertrag mehr als die Hälfte
aller Arbeitnehmer, auf die der Geltungsbereich des Gesamtarbeitsvertrages ausge-
dehnt werden soll, beteiligt sein müssen (Arbeitnehmerquorum). Wie bisher kann nur
beim Vorliegen von besonderen Verhältnissen vom Erfordernis dieser Mehrheit ab-
gewichen werden, die neue Regelung führt nicht zu einer Erleichterung der Allge-
meinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen. Gestrichen wird der Begriff
«
ausnahmsweise
»
. Die GAV-Parteien müssen weiterhin in ihrem gemeinsamen An-
trag auf Allgemeinverbindlicherklärung das Vorliegen der besonderen Umstände
nachweisen, welche die Organisierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
der Branche erschweren und die Abweichung vom Arbeitnehmerquorum rechtferti-
gen. Dadurch soll die heute gängige und unter den Sozialpartnern breit abgestützte
Praxis der zuständigen Behörden auf Bundes- und Kantonsebene im Gesetz abgebil-
det und die Rechtssicherheit für die gesuchstellenden GAV-Parteien verbessert wer-
den. Gemäss der heutigen Praxis der zuständigen Behörden können dies namentlich
sein: ein hoher Anteil jüngerer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Branche,
viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit zeitlich befristeten Arbeitsverträgen,
eine hohe Fluktuation und Austritte aus der Branche, ein erschwerter Zugang der Ge-
werkschaften zu den Arbeitsplätzen, weil diese aus Sicherheitsgründen nicht öffent-
lich zugänglich sind, zahlreiche Kleinbetriebe in ländlichen Gebieten, in denen ein
persönliches Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmern herrscht oder eine grosse Anzahl von Saisonbetrieben.
355 / 931
Art. 2a
Die am GAV beteiligten Arbeitgeber müssen mindestens 40 Prozent aller Arbeitgeber
auf die der Geltungsbereich des Gesamtarbeitsvertrages ausgedehnt werden soll, aus-
machen (Bst. b), während der erforderliche Anteil der bei den beteiligten Arbeitgebern
beschäftigten Arbeitnehmer (gemischtes Quorum) mindestens so viel Prozent über 50
Prozent liegt, wie der Anteil der beteiligten Arbeitgeber (Arbeitgeberquorum) unter
50 Prozent liegt. (Bst. c). Zusammen müssen die beiden Beteiligungen immer min-
destens 100 Prozent betragen. Beispiel: Beträgt das Arbeitgeberquorum 45 Prozent,
muss das gemischte Quorum mindestens 55 Prozent betragen. Die Parteien eines
GAV müssen neu bei den Anträgen auf Allgemeinverbindlicherklärung darauf hin-
weisen, dass sie sich auf die Regelung zur besonderen Mehrheit beziehen. Alle wei-
teren Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung (Art. 2 und 3 AVEG)
gelten weiterhin. Die Regelung der besonderen Mehrheit kommt nur zur Anwendung
bei der Weiterführung von bereits ave GAV. Darunter fallen auch diejenigen GAV,
die für eine gewisse Zeit nicht allgemeinverbindlich erklärt waren, weil sich die Par-
teien beispielsweise nicht auf einen neuen GAV einigen und deshalb die Allgemein-
verbindlicherklärung nicht weitergeführt werden konnte. Die Zeitspanne ohne Allge-
meinverbindlicherklärung darf höchstens 18 Monate betragen und wird gezählt ab
dem Moment, ab dem der Gültigkeit der Allgemeinverbindlicherklärung ausläuft und
dauert bis zur Beantragung einer erneuten Allgemeinverbindlicherklärung des GAV
bei der zuständigen Behörde (Bst. a).
Art. 4a
Die vorgeschlagene Bestimmung bezieht sich auf die Organe, die für die gemeinsame
Durchführung nach Artikel 357
b
Absatz 1 des Obligationenrechts verantwortlich
sind. In der Praxis handelt es sich bei diesen Vollzugsorganen in den allermeisten
Fällen um die paritätischen Kommissionen. Die Klage richtet sich gegen diejenige
paritätische Kommission, welche die Unterstellungsabklärungen eingeleitet hat, wenn
die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind bzw. gegen die beteiligten
Vertragsparteien. Auf das Verfahren kommt die Zivilprozessordnung zur Anwen-
dung.
Die negative Feststellungsklage gemäss Artikel 88 der schweizerischen Zivilprozess-
ordnung
351
kann grundsätzlich jederzeit nach Einleitung von Unterstellungabklärun-
gen erhoben werden, sofern ein schutzwürdiges Interesse vorliegt. Von einem rechts-
genüglichen Feststellungsinteresse ist insbesondere dann auszugehen, wenn die
zuständige paritätische Kommission Unterstellungsabklärungen eingeleitet hat und
ihre Abklärungen nicht innert einer angemessenen Frist seit der ersten Kontaktauf-
nahme mit dem betreffenden Betrieb (bspw. 3 - 4 Monate) abgeschlossen. Gleichzei-
tig soll es den paritätischen Kommissionen möglich sein, die notwendigen Abklärun-
gen für die Prüfung der Unterstellung eines Betriebes vorzunehmen. Die paritätischen
Kommissionen überprüfen beispielsweise die Handelsregistereinträge, Webseiten
von Firmen, Telefonbücher oder Gewerberegister. Insbesondere bei Mischbetrieben
351
SR
272
356 / 931
können unter Umständen weitere Auskünfte oder Unterlagen für die Klärung der Un-
terstellungsfrage notwendig sein. Die geforderte Mitwirkung muss jedoch stets ver-
hältnismässig und dem Stand der Unterstellungsabklärungen angemessen sein.
Die rasche Klärung der Unterstellungsfrage ist auch für die Frage der Rückwirkung
relevant. Ein ave GAV gilt für einen nicht beteiligten Arbeitgeber ab dem Zeitpunkt,
in dem er Tätigkeiten im Geltungsbereich des ave GAV aufnimmt. Die Arbeitgeber-
und Arbeitnehmerbeiträge (bspw. Vollzugs- und Weiterbildungskostenbeiträge,
FAR-Beiträge) sind ebenfalls ab diesem Zeitpunkt geschuldet. Bei länger dauernden
Unterstellungsabklärungen kann es deshalb zu rückwirkenden Forderungen von Ar-
beitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen kommen. In diesem Zusammenhang ist zu be-
achten, dass eine rückwirkende Unterstellung sowohl für die Arbeitgeber wie auch für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer finanziell tragfähig sein soll.
Art. 11 Abs. 2
Bereits heute kann die zuständige Behörde ein Gutachten einholen zu den Auswirkun-
gen einer Allgemeinverbindlicherklärung, sofern sich dieses nicht von vornherein als
überflüssig erweist. Auch kann bereits heute gegen einen Antrag auf Allgemeinver-
bindlicherklärung während der Publikationsfrist beim Glaubhaftmachen eines Interes-
ses Einsprache eingereicht werden (Art. 10 AVEG). Diese Einsprachemöglichkeit
kommt auch gegen Gesuche, die sich auf die besondere Mehrheit gemäss Artikel 2
a
VE-AVEG stützen, zur Anwendung und steht grundsätzlich auch Dachverbänden of-
fen. Bei der Veröffentlichung des Antrags auf Allgemeinverbindlicherklärung im
Schweizerischen Handelsamtsblatt (SHAB) soll ein Hinweis auf die beantragte Aus-
nahme vom Arbeitgeberquorum (besondere Mehrheit) aufgenommen werden. Um je-
doch die Befürchtung auszuräumen, dass bei Gesuchen mit der besonderen Mehrheit
unerwünscht Auswirkungen der Allgemeinverbindlicherklärung entstehen können,
muss die zuständige Behörde bei jedem Antrag die Notwendigkeit eines Gutachtens
eines unabhängigen Experten zu den Voraussetzungen von Artikel 2 Ziffern 1 und 2
des Gesetzes prüfen. Gleich wie in Artikel 11 Absatz 1 ist dies nur notwendig, sofern
es sich nicht von vornherein als überflüssig erweist.
Art. 12 Abs. 5 und 6
Zu Absatz 5:
Eine Vertragspartei eines nicht ave GAV kann bei der zuständigen Be-
hörde beantragen, dass im Geltungsbereich der Allgemeinverbindlicherklärung eine
Klarstellung für die am nicht ave GAV beteiligten Arbeitgeber aufgenommen wird.
Bedingung ist, dass der nicht ave GAV bereits seit vor Inkrafttreten des AVEG (1956)
abgeschlossen wurde und seither im Wesentlichen ohne Unterbruch Bestand und na-
tionale Geltung hat sowie mindestens Bestimmungen über Mindestlöhne, Arbeitszei-
ten und Vollzug enthält. Die Klarstellung im Geltungsbereich der Allgemeinverbind-
licherklärung soll jedoch nur für Betriebe und Betriebsteile gewährt werden, die ihre
überwiegende Tätigkeit im Tätigkeitsfeld des nicht ave GAV haben. Die Klarstellung
gemäss Absatz 5 hat deklaratorische Wirkung und soll die geltende Rechtspraxis und
Rechtsprechung zur Unterstellung wiedergeben. Sie stellt daher eine Klarstellung,
aber keine Änderung der Unterstellungspraxis dar. Im Einzelfall ist nach wie vor ein
357 / 931
Zivilgericht zuständig für die Klärung, ob ein spezifischer Betrieb unter einen ave
GAV fällt.
Es ist Aufgabe der Behörde, den Geltungsbereich einer Allgemeinverbindlichkeit
festzusetzen (Art. 12 Abs. 2 AVEG) und sicherzustellen, dass die Allgemeinverbind-
lichkeit nur für den Wirtschaftszweig oder Beruf angeordnet wird, für den der GAV
abgeschlossen wurde und die GAV-Parteien tarifzuständig sind. Wer ein Interesse
glaubhaft macht (bspw. Arbeitgeber, Verbände oder GAV-Parteien), kann sich im
Rahmen einer Einsprache (Art. 10 AVEG) auch zum Geltungsbereich äussern und
Anpassungen beantragen, falls sich dieser als nicht genügend klar erweist. Die neuen
Bestimmungen haben darauf keinen Einfluss.
Für Vertragsparteien von Firmen-GAV kommt Absatz 5
nicht zur Anwendung. Weiter
kann sich eine Klarstellung nur auf den betrieblichen, nicht aber auf den persönlichen
Geltungsbereich beziehen. Bei identischen betrieblichen Geltungsbereichen ist eine
Klarstellung im Geltungsbereich der Allgemeinverbindlicherklärung nicht möglich
(siehe auch Art. 4 Abs. 2 AVEG).
Zu Absatz 6:
Eine Klarstellung im Geltungsbereich der Allgemeinverbindlicherklä-
rung soll auch möglich sein für Betriebe, die einem Wirtschaftsverband angehören,
der mit dem Arbeitgeberverband des nicht ave GAV gemäss Absatz 5 strukturell und
bezüglich der Branchenausrichtung eng verbunden ist. Die Klarstellung soll jedoch
nur für Betriebe und Betriebsteile gewährt werden, die ihre überwiegende Tätigkeit
im Tätigkeitsfeld des nicht ave GAV haben. Im Übrigen gelten für die Anwendung
und Wirkung des Absatzes 6 die gleichen Grundsätze wie vorstehend zu Absatz 5
ausgeführt. Absatz 6 kommt nur in Verbindung mit Absatz 5 zur Anwendung.
2.3.8.4.5
Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs
(SchKG)
Art. 80 Abs. 2 Ziff. 6
Der Entscheid über die Vollstreckung einer Verwaltungssanktion muss rechtskräftig
sein. Es darf kein Rechtsmittel mehr dagegen eingelegt werden können.
Für die Eintreibung der Forderung muss der Gläubiger, d. h. die kantonale Behörde
nach Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe d VE-EntsG zunächst eine Betreibung bei der zu-
ständigen Betreibungsbehörde einleiten (Art. 46 SchKG). Falls der Schuldner Rechts-
vorschlag erhebt, muss sie auf der Grundlage von Artikel 80 Absatz 2 Ziffer 6 VE-
SchKG beim Rechtsöffnungsrichter des Kantons, in dem die Betreibung stattfindet,
die definitive Rechtsöffnung gemäss Artikel 80 Absatz 1 SchKG beantragen. Der
Schuldner kann die Einwendungen nach Artikel 81 Absatz 3 SchKG geltend machen.
2.3.9
Auswirkungen des Paketelements
Das FZA wurde im Rahmen der Bilateralen I zwischen der Schweiz und der EU sowie
ihren Mitgliedstaaten ausgehandelt. Es ist somit Bestandteil der Verhandlungen zum
Paket Stabilisierung und Weiterentwicklung der Beziehungen Schweiz–EU. Im Rah-
men dieser Verhandlungen haben sich die Schweiz und die EU unter anderem auf die
Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG und auf die Übernahme des dazugehörigen
EU-
Acquis
geeinigt.
358 / 931
Die Stabilisierung mit der Aufdatierung des FZA sichert die Personenfreizügigkeit für
die Staatsangehörigen der Vertragsparteien und garantiert den Zugang zu Arbeitskräf-
ten aus der EU für hiesige Unternehmen, was die Attraktivität des Schweizer Wirt-
schaftsstandorts sichert. Ohne Aufdatierung des FZA bestünde die Gefahr, dass die
bilateralen Abkommen mit der EU zunehmend erodieren, was negative Folgen für die
Schweizer Wirtschaft zur Folge hätte (s. Ziff. 3.3).
Verwaltungsexterne RFA-Studie von Ecoplan
Um die Auswirkungen der Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG genauer ab-
schätzen zu können, hat das SEM eine externe Studie zur Regulierungsfolgenabschät-
zung (RFA)
352
an das Büro Ecoplan in Bern in Auftrag gegeben
353
. Die Analyse der
Prüfpunkte zur RFA zeigte auf, dass die Auswirkungen der Teilübernahme der Richt-
linie 2004/38/EG hauptsächlich den Bund, die Kantone und Gemeinden betreffen
werden. Im Mittelpunkt der Studie standen dabei die Auswirkungen auf den Sozial-
staat (Sozialhilfe, Arbeitslosenversicherung, Ergänzungsleistungen), auf die Voll-
zugsbehörden in den Kantonen und Gemeinden sowie auf das Hochschulwesen
(Gleichstellung der Studierenden aus der EU mit solchen aus der Schweiz betreffend
Studiengebühren). Der Studienauftrag beinhaltet einzig die Schätzung der potentiel-
len zusätzlichen Kosten durch die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG und
weist deshalb den Unterschied zwischen dem FZA von 1999 und dem Änderungspro-
tokoll zum FZA aus. Der Schwerpunkt wurde auf die Prüfpunkte I (Notwendigkeit
und Möglichkeit staatlichen Handelns) und II (Auswirkungen auf die einzelnen ge-
sellschaftlichen Gruppen) gelegt. Nicht ausführlich behandelt wird hingegen der Prüf-
punkt V (Zweckmässigkeit im Vollzug). Die Studie verwendet sowohl quantitative
als auch qualitative Daten. Insbesondere für die qualitativen Teile der Studie wurden
Gespräche mit dem SEM, dem SECO, dem BSV, der SODK, der SKOS, der VKM
und dem VSAA geführt.
Die konkreten Resultate der Studie werden nachfolgend in den entsprechenden Kapi-
teln dargestellt.
Nicht Teil der RFA-Studie zur Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG sind die
volkswirtschaftlichen und finanziellen Auswirkungen auf die Schweiz beim Wegfall
der bilateralen Abkommen (u.a. der Personenfreizügigkeit). Diese werden in einer se-
paraten Studie geschätzt und unter Ziffer 3.3 vorgestellt.
Für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Anhang II FZA) und die
Anerkennung von beruflichen Qualifikationen (Anhang III FZA) sowie auch für den
Lohnschutz wurden keine verwaltungsexternen RFA-Studien in Auftrag gegeben.
352
Siehe Richtlinien des Bundesrates für die Regulierungsfolgenschätzung bei Rechtsset-
zungsvorhaben des Bundes (RFA-Richtlinien, BBl
2024
664).
353
www.sem.admin.ch> Publikation & Service > Service > Forschung und Evaluation > Stu-
die von Ecoplan vom 09.05.2025: «RFA zur Teilübernahme der Unionsbürgerrichtlinie
UBRL. Auswirkungen auf die staatlichen Institutionen».
359 / 931
2.3.9.1
Auswirkungen auf den Bund
2.3.9.1.1
Finanzielle Auswirkungen
Nebst den voraussichtlichen Einführungsaufwänden (Schulung der Vollzugsbehör-
den, Anpassungen der Weisungen, Anpassungen am Zentralen Migrationsinformati-
onssystem ZEMIS und dem Online-Meldeverfahren für kurzfristige Erwerbstätigkeit,
etc.) führt das Änderungsprotokoll zum FZA zu keinen finanziellen Auswirkungen im
SEM und im BSV. Dagegen führt die Pflicht zur Gleichbehandlung von EU-
Studierenden bei den Studiengebühren an universitären Hochschulen und Fachhoch-
schulen zu finanziellen Auswirkungen für den Bund (siehe unten).
Zudem fallen jährliche Beiträge an die Informationssysteme der EU an (s. Tabelle
2.3.9.1.1 (1) unten). Der Mechanismus für diese Beiträge wird in Artikel 13 des IP-
FZA geregelt. Der jährliche finanzielle Beitrag der Schweiz für die Nutzung der In-
formationssysteme setzt sich aus einem operativen Beitrag und einer Teilnahmege-
bühr zusammen. Der operative Beitrag basiert auf einem Verteilschlüssel, der als das
Verhältnis des Bruttoinlandprodukts (BIP) der Schweiz zu Marktpreisen zum BIP der
EU zu Marktpreisen definiert ist. Dieser Verteilschlüssel wird auf das EU-
Jahresbudget für das jeweilige Informationssystem angewandt. Zu diesem operativen
Beitrag wird eine Teilnahmegebühr addiert, welche vier Prozent des erwähnten ope-
rativen Beitrags entspricht. Die Höhe des Beitrags kann sich also je nach Entwicklung
des BIP oder des EU-Jahresbudgets ändern. Dadurch wird die Schweiz die Kosten –
auch für Entwicklungs- und Investitionskosten – mittragen müssen, was zu jährlich
höheren Beiträgen führen könnte. Die EU ist aber für jeden Beitrag an ein Informati-
onssystem verpflichtet, der Schweiz die entsprechenden Informationen vorgängig zu
liefern, sodass die Schweiz diese prüfen kann. Allfällige Kostensteigerungen müssen
erklärbar sein und werden auch von den EU-Mitgliedstaaten mitgetragen.
360 / 931
Tabelle 2.3.9.1.1 (1): Beiträge, die die Schweiz an Informationssysteme der EU
zu bezahlen hätte
Informa-
tions-systeme
EU-Budget in Euro Schweizer Bei-
trag in Euro
Kommentar
EURES
354
20 029 978
999 897
s. Ziff.2.3.5.2.1
EESSI
355
7 084 122
353 639
Dieser Beitrag wird von den
einzelnen Sozialversiche-
rungszweigen mittels Gebüh-
ren gedeckt werden (Art. 75
c
ATSG).
IMI
356
2 140 000 (2025)
106 829 (2025)
Beitrag deckt alle IMI-
Module ab (Entsendungen,
berufliche Qualifikationen,
Europäischer Berufsausweis,
Datenbank über reglemen-
tierte Berufe, Single Digital
Gateway)
Quelle: Interne Abklärungen der Bundesverwaltung mit der Europäischen Kommis-
sion (Stand Mai 2025)
Bezüglich der Übernahme der Kosten für das IMI handelt es sich rechtlich um eine
Subvention. Es muss ein neuer Subventionskredit eingerichtet werden. Es ist darauf
hinzuweisen, dass zum Zeitpunkt der Zahlung genauere Informationen über die Bei-
tragshöhe erforderlich sein werden und dass es wünschenswert wäre, die finanziellen
Prognosen frühzeitig zu erhalten, damit sie in die Budgetierungsprozesse integriert
werden können (Ende 2026 für eine Zahlung im Jahr 2028). Auf Basis der bisherigen
Entwicklung kann davon ausgegangen werden, dass die Beitragshöhe im Durchschnitt
jährlich um etwa 9 Prozent steigen wird.
354
Die EU-Budgets für EURES unterlagen in den letzten Jahren Schwankungen. Der Betrag
für das Jahr 2024 entspricht einer konservativen Annahme für die künftige Entwicklung
des EU-Budgets für EURES basierend auf dem durchschnittlichen Wert der letzten fünf
Jahre.
355
Die EU-Budgets für EESSI unterlagen in den letzten Jahren Schwankungen. Um dies zu
berücksichtigen, wird für EESSI ein Durchschnittswert angegeben, der auf den Budgets
von 2022-2026 beruht.
356
Betrag für das Jahr 2025, da es bei IMI ein durchschnittliches Wachstum von ca. 9 % pro
Jahr in den letzten fünf Jahren gab.
361 / 931
Auswirkungen auf die öffentliche Arbeitsvermittlung
Die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG bringt keinen Systemwechsel und
keine neuen Kompetenzen für die öAV. Die RAV beraten Stellensuchende weiterhin
nach denselben Grundsätzen. Es werden hingegen höhere Fallzahlen erwartet.
Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die länger als ein Jahr in der Schweiz er-
werbstätig sind und danach unfreiwillig arbeitslos werden, behalten durch die neuen
Bestimmungen aus dem Änderungsprotokoll zum FZA den Erwerbstätigenstatus, so-
lange sie mit der öAV kooperieren. Die Anmeldung der Stellensuchenden bei der öAV
und die daraus entstehende Kooperation sind gemäss der Richtlinie 2004/38/EG Vo-
raussetzungen, um weiterhin das Aufenthaltsrecht als Erwerbstätige oder Erwerbstä-
tiger aufrechterhalten zu können. Neu werden die öAV verpflichtet, den zuständigen
Migrationsbehörden zu melden, wenn Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten die
Wiedereingliederungsstrategie (s. Art. 24
a
und Art. 34
a
Abs. 2 Bst. e VE-AVG) nicht
einhalten. Durch diese Neuerungen werden sich einerseits mehr Personen bei der öAV
anmelden und dies unabhängig davon, ob sie Leistungen aus der Arbeitslosenversi-
cherung beziehen. Andererseits müssen die öAV im Rahmen der bestehenden Pro-
zesse zusätzliche Daten weitergeben. Dazu ist es zielführend, IT- und Prozessanpas-
sungen vorzunehmen und die Digitalisierung konsequent weiterzuführen, um die
Vollzugsstellen administrativ zu entlasten.
Gestützt auf die Daten von 2018 und 2019 schätzt die Ecoplan-Studie, dass die Teil-
übernahme der Richtlinie 2004/38/EG im Jahresdurchschnitt zu einer Zunahme von
zwischen rund 3 700 und 8 300 Personen bei der öAV führen wird. Gemäss der Schät-
zung von Ecoplan führt dies zu zusätzlichen Vollzugskosten von zwischen 9 Mio.
(plus 1,9 %) und 22 Mio. Franken (plus 4,4 %). Gemäss dem im AVIG verankerten
Mechanismus wird dieser Betrag den Kantonen anteilsmässig automatisch ausgegli-
chen (siehe AVIG-Vollzugskostenentschädigungsverordnung vom 29. Juni 2001
357
).
Auswirkungen auf die Erneuerung des Zentralen
Migrationsinformationssystems
Zurzeit läuft die Erneuerung des Zentralen Migrationsinformationssystems
(ZEMIS
358
), wofür das Parlament am 7. März 2022
359
einen Verpflichtungskredit von
50,66 Mio. Franken genehmigt hat. Das ZEMIS ist das umfassende Arbeitsinstrument
im Bereich des FZA und AIG und enthält über 10 Millionen Personendatensätze. Um
die Einführung und Umsetzung der neuen Bestimmungen im FZA für die Vollzugs-
behörden möglichst ressourcenschonend zu gewährleisten, sollen im Rahmen der Er-
neuerung des ZEMIS (Programm ERZ) die nötigen Anpassungen antizipiert werden.
Sollte das Änderungsprotokoll zum FZA am 1. Januar 2028 in Kraft treten, müssten
die ersten Anpassungen im ZEMIS bis zu diesem Datum bereits umgesetzt sein. Die
konkreten Änderungen im Vergleich zur aktuellen Programmplanung umfassen fol-
gende Punkte:
357
SR
837.023.3
358
BBl
2021
1056.
359
BBl
2022
778.
362 / 931
–
Grenzgängerbescheinigung EU: Die Beantragung dieser Bescheinigung soll
künftig ausschliesslich durch den Arbeitgeber erfolgen. Die Umsetzung ist
für den 1. Januar 2028 geplant und wird über das Portal EasyGov
360
abge-
wickelt. Diese Anpassung hat eine hohe Dringlichkeit und wird daher un-
verzüglich in die Planung aufgenommen sowie im Programm ERZ priori-
siert.
–
Verfahren zum Einholen der Aufenthaltstitel für Staatsangehörige der EU-
Mitgliedstaaten: Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten erhalten neu eine
Frist von drei Monaten für die Anmeldung bei der Wohngemeinde und be-
kommen einen Aufenthaltstitel. Für diese Änderung gilt eine Übergangsfrist
von zwei Jahren, sodass die neuen Prozesse spätestens ab dem 1. Januar
2030 umgesetzt werden sollen. Zudem ist sicherzustellen, dass diese An-
passung vollständig in das neue Kundenportal von ERZ integriert wird. Das
neue Daueraufenthaltsrecht wird erstmals im Jahr 2035 gewährt. Diese Ein-
führung wird nicht mehr Teil des Programms ERZ sein, welches zu diesem
Zeitpunkt bereits abgeschlossen sein wird.
Nach Abschluss der Verhandlungen konnten die ersten Planungsarbeiten für die
ZEMIS-Anpassungen aufgenommen werden. Erste Einschätzungen deuten darauf
hin, dass die erforderlichen Änderungen im Rahmen des Programms zur Erneuerung
des ZEMIS ohne zusätzliche Mittel umgesetzt werden können. Weitere Analysen sind
erforderlich, um diese Einschätzung zu bestätigen.
Auswirkungen auf die AHV/IV (1. Säule)
Das Änderungsprotokoll zum FZA führt hinsichtlich des Koordinierungsrechts im So-
zialversicherungsbereich zu keinen Änderungen. Die Ergebnisse der im November
2023 publizierten BSV-Studie «Migration und Sozialversicherungen. Eine Betrach-
tung der ersten Säule und der Familienzulagen»
361
zeigen jedoch auf, dass die Zuwan-
derung die Sozialwerke der 1. Säule nicht zusätzlich belastet. Im Gegenteil: Bis 2070
wirkt sich die Zuwanderung weiterhin positiv auf die Sozialversicherungen aus.
Grund dafür ist, dass die Zuwanderung die Bevölkerungsstruktur verjüngt und über
Beitragszahlungen den ansteigenden Leistungsbezug kompensiert. Diese Wirkung der
Zuwanderung wird sich zwar bis 2070 abschwächen, aber immer noch positiv bleiben.
Die Beiträge von Staatsangehörigen der EU/EFTA-Mitgliedstaaten übersteigen deren
Leistungsbezug deutlich, weil sie im Vergleich zu anderen Zuwanderungsgruppen hö-
here Einkommen erzielen und ihre Erwerbsbeteiligung grösser ist. Im Jahr 2020 leis-
teten Staatsangehörige der EU/EFTA-Mitgliedstaaten über 25 Prozent der Beiträge
der ersten Säule, sie erhielten aber weniger als 15 Prozent der Leistungen. Im Jahr
2070 werden knapp 35 Prozent der Beiträge und nur etwas über 25 Prozent der Leis-
tungen auf Zugewanderte aus EU- und EFTA-Staaten entfallen.
360
www.easygov.swiss.
361
www.aramis.admin.ch > Projektsuche > Eingabe G20_01.
363 / 931
Auswirkungen im Bereich des Entsendegesetzes (EntsG)
Im Rahmen der Anpassung des EntsG ist gemäss dem Änderungsprotokoll zum FZA
vorgesehen, dass die heute für alle Einsatzbranchen geltende Meldefrist von acht Ka-
lendertagen für die Dienstleistungserbringer aus der EU auf vier Arbeitstage reduziert
wird und nur noch für Risikobranchen gilt. Auf der Grundlage des Änderungsproto-
kolls sieht das EntsG zudem die Erhebung der Kaution vor Beginn der Tätigkeit nur
noch für den Fall vor, dass ein Unternehmen einem Anspruch, den eine paritätische
Kommission (PK) bei einem früheren Einsatz geltend gemacht hatte, nicht Folge ge-
leistet hat. Diese Änderungen wirken sich potenziell auf die Kontrolltätigkeit der
Vollzugsorgane bzw. die Organisation der Kontrollverfahren aus und könnten fall-
weise einen zusätzlichen Personalbedarf verursachen. Allerdings ist eine Gesamtbe-
urteilung schwierig, namentlich aufgrund der kantonalen Unterschiede (Arbeitsmarkt-
grösse, Organisationsstrukturen, Wirtschaftsgefüge, Grenznähe usw.) und der
künftigen Reaktionen der Dienstleistungserbringer auf die neuen Bestimmungen zur
Meldefrist. Gemäss dem aktuellen Finanzierungsmodell wird der Bund einen Teil der
zusätzlichen Kosten der kantonalen und paritätischen Organe zu tragen haben. Gleich-
zeitig werden diese finanziellen Auswirkungen durch die Massnahme zur Optimie-
rung und Weiterentwicklung des Meldeverfahrens abgeschwächt.
Die Revision des EntsG beinhaltet auch die Integration der Schweiz in das IMI-
System, für die eine finanzielle Beteiligung (s. Tabelle 2.3.9.1.1 (1)) vorzusehen ist.
In diesem Rahmen wird ein nationaler IMI-Koordinator eingesetzt (s. Ziff. 2.3.9.1.2).
Im Bereich der Entsendung tritt die Teilnahme am IMI erst nach einer Übergangsfrist
von drei Jahren in Kraft. Der zusätzliche Personalbedarf beim Bund (s. Ziff. 2.3.9.1.2)
wird jedoch aufgrund der Vorbereitungsarbeiten, zur Anpassung der Instrumente für
den Gesetzesvollzug und für die Schulung der zukünftigen IMI-Nutzerinnen
und -Nutzer bereits während dieser Übergangsfrist anfallen. Dabei wird das SBFI in
den ersten drei Jahren der IMI-Nutzung die gesamten Kosten für die Teilnahme am
IMI tragen (s. Ziff. 2.3.9.1.1). Ausserdem ist mit der Schaffung einer Koordinations-
stelle pro kantonalem Vollzugsorgan zu rechnen, also insgesamt 22, was zu Kosten
für den Bund führen wird. Zudem könnten die neuen Bestimmungen zur Verwaltungs-
zusammenarbeit mit den EU-Mitgliedstaaten einen administrativen Mehraufwand für
die Kantone verursachen, der ebenfalls zu berücksichtigen ist. Die neuen Koordinati-
onsstellen sowie der genannte Mehraufwand könnten zu zusätzlichen Ausgaben für
den Bund führen, die auf 1,08 Millionen Franken pro Jahr geschätzt werden, während
die Kantone gemäss der aktuellen Gesetzgebung zur Entschädigung der kantonalen
Vollzugsorgane den gleichen Betrag finanzieren werden. Angesichts der relativ ge-
ringen Zahl von Schweizer Betrieben, die Personal in die EU entsenden, ist heute al-
lerdings davon auszugehen, dass die kantonalen Behörden eher mehr Ersuchen um
Zusammenarbeit versenden als erhalten werden.
Kompensationsmassnahmen im Bereich des EntsG
Dank der in Ziffer 2.3.7.3.2 beschriebenen Optimierung und Weiterentwicklung des
Meldeverfahrens werden die Vollzugsorgane die Kontrollen auch nach der Verkür-
zung der Voranmeldefrist weiterhin angemessen planen können. Die dazu notwendi-
364 / 931
gen Weiterentwicklungen erfolgen grundsätzlich im Rahmen des gemeinsamen Pro-
jekts des SEM, des SECO und der für den Vollzug der Begleitmassnahmen zuständi-
gen Behörden. Dennoch bleibt zwischen den betroffenen Bundesstellen sowie den
Vertreterinnen und Vertretern der Kantone und der Sozialpartner zu klären, wie und
in welchen Systemen die verschiedenen Etappen des Verfahrens möglichst effizient
umgesetzt werden können. Dafür sollen verschiedene Ansätze vertieft geprüft werden.
Die finanziellen Auswirkungen für den Bund werden von den Ergebnissen dieser
Analysen abhängen. Eine Schätzung wird deshalb erst im Rahmen der Verordnungs-
anpassungen möglich sein. Dies gilt auch für die Anpassungen beim Meldeverfahren,
die nötig sein werden, damit im Wiederholungsfall eine Kaution geleistet werden
kann.
Zur Kompensation der nur noch bei Wiederholungsfällen zu hinterlegenden Kaution
und ergänzend zu Artikel 5 EntsG besteht die Möglichkeit, im Baugewerbe eine er-
weiterte Haftung des Erstunternehmers einzuführen, damit dieser zivilrechtlich für die
durch eine PK gegen seine Subunternehmer verhängten Konventionalstrafen und
Kontrollkosten haftet. Eine erweiterte Haftung des Erstunternehmers kann in das be-
stehende Haftungssystem integriert werden. Der Erstunternehmer ist zwar der Ver-
tragspartner der Bauherrschaft, führt die Arbeit jedoch nicht oder nur teilweise selbst
aus, sondern beauftragt einen oder mehrere Subunternehmer. Er könnte deshalb für
die Einhaltung der GAV-Bestimmungen durch die Subunternehmer haftbar gemacht
werden. Eine solche Mithaftung besteht bereits hinsichtlich der Forderungen der Ar-
beitnehmenden im Rahmen der Haftung der Subunternehmer gemäss Artikel 5 EntsG.
Die Mithaftung wird lediglich auf die Konventionalstrafen und die Kontrollkosten
ausgedehnt. Diese Massnahme hat keine besonderen Auswirkungen auf den Bund.
Auswirkungen im Bereich der Allgemeinverbindlicherklärung von
Gesamtarbeitsverträgen
Die Anpassungen des Bundesgesetzes über die Allgemeinverbindlicherklärung von
Gesamtarbeitsverträgen (AVEG) sollen die Beibehaltung der heute allgemeinverbind-
lich erklärten GAV sicherstellen. Diese Massnahme hat sehr wahrscheinlich keine
Auswirkungen auf den Bund. Denn die Verfahren für die Allgemeinverbindlicherklä-
rung auf Bundesebene dürften nicht komplexer werden und es ist auch nicht mit einem
Anstieg der Verfahren zu rechnen.
Weitere Folgen oder Kompensationsmassnahmen im Bereich des EntsG oder der All-
gemeinverbindlicherklärung von GAV könnten zusätzliche finanzielle Auswirkungen
für den Bund nach sich ziehen, die jedoch zurzeit noch nicht bezifferbar sind.
Auswirkungen im öffentlichen Beschaffungswesen
Für den Bund wird die Aufwertung der GAV-Bescheinigungen im Rahmen des öf-
fentlichen Beschaffungswesens bei der Vergabe von Bauaufträgen in gewissem
Masse zu Vereinfachungen führen. Das obligatorische Mitführen von Baustellenaus-
weisen wird zudem die Kontrollen erleichtern. Bei der Umsetzung dieser Massnah-
men ist mit geringen indirekten Folgen für den Bund zu rechnen, da die Kontrollen
365 / 931
der Vollzugsorgane vereinfacht werden. Allerdings erfordert die Einführung der Mas-
snahmen einen gewissen Schulungs- und Initialaufwand vonseiten der Vergabestel-
len.
Beteiligung der Schweiz an EU-Instanzen: Europäische Arbeitsbehörde
(ELA)
Der Bund wird keinen finanziellen Beitrag zur ELA zu leisten haben, solange die ak-
tuelle Situation (d. h. eine Beteiligung als Beobachterin ohne weiteren Einbezug in
die Tätigkeiten der Organisation) bestehen bleibt.
Beteiligung der Schweiz an EU-Instanzen: European Employment Services
(EURES)
Für die Teilnahme am EURES wird die Schweiz Informationssysteme der EU nutzen.
Die Kosten für diese Nutzung (siehe Ziffer 2.3.9.1.1) werden über den Ausgleichs-
fonds der Arbeitslosenversicherung finanziert.
Zusammenfassung der Auswirkungen im Bereich des EntsG auf den Bund
Insgesamt sind zunächst zusätzliche Ausgaben infolge der verkürzten Meldefrist zu
erwarten, die der Bund zwischen den Kantonen und den Paritätischen Kommissionen
aufteilen muss. Zusätzlich hat der Bund die Projektkosten zur Optimierung des Mel-
deverfahrens zu tragen, die zurzeit noch unbekannt sind. Schliesslich wird die Integra-
tion der Schweiz in das IMI-System im Bereich der Entsendung von Arbeitnehmen-
den zusätzliche Kosten verursachen, vor allem aufgrund der Schaffung verschiedener
Stellen für sektorale Koordinatorinnen und -Koordinatoren, der zusätzlichen Arbeit
für die Kantone und des jährlichen Beitrags an die EU. Es ist darauf hinzuweisen, dass
gemäss Artikel 16
d
EntsV einerseits und Artikel 9 EntsV andererseits die Kosten im
Zusammenhang mit dem kantonalen Vollzug gleichmässig zwischen dem Bund und
den Kantonen aufgeteilt werden. Hingegen wird der Bund alle zusätzlichen Kosten in
Verbindung mit dem Vollzug des EntsG durch die Paritätischen Kommissionen über-
nehmen. Die definitive Finanzplanung für die Jahre 2027‒2029 sieht bisher noch
keine zusätzlichen Ressourcen vor. 1,08 Millionen Franken pro Jahr werden nötig
sein, um die zusätzlichen Kosten zu decken, die von den IMI-Koordinationsaufgaben
und den durch die Kantone geleisteten Vollzugsaufgaben verursacht werden. Eine
entsprechende Erhöhung des Kredits A231.0191 für das Entsendegesetz ist somit ins
Auge zu fassen.
Auswirkungen im Hochschulbereich (ETH-Gesetz und HFKG)
Die Verpflichtung zur Gleichbehandlung der Studierenden aus der EU bei den Stu-
diengebühren an den universitären Hochschulen (kantonale Universitäten, universi-
täre Institute und ETH) und den Fachhochschulen hat finanzielle Auswirkungen für
den Bund: Einerseits hat er die daraus resultierenden Mindereinnahmen der beiden
ETH mitzutragen. Bezogen auf die Studierendenzahlen 2023 und die Studiengebüh-
ren gemäss ETH-Ratsbeschluss vom Dezember 2024 würden sich diese gemäss den
Berechnungen von Ecoplan auf rund 23,3 Mio. CHF/Jahr belaufen. Andererseits wird
sich der Bund auch an den finanziellen Mindereinnahmen der kantonalen universitä-
ren Hochschulen, der universitären Institute und der Fachhochschulen beteiligen müs-
366 / 931
sen, die sich aus dem Gleichbehandlungsgebot ergeben. Im Jahr 2024 hätte dies ge-
mäss der Ecoplan-Studie zu Mindereinnahmen der öffentlichen Hochschulen in der
Höhe von 21,8 Mio. CHF geführt. Auf Basis dieser Zahlenwerte müsste sich der Bund
mit Begleitmassnahmen über einen Zeitraum von vier Jahren mit 34,2 Mio. CHF pro
Jahr an den Mindereinnahmen beteiligen.
2.3.9.1.2
Personelle Auswirkungen
Personalbedarf im Bereich der Anerkennung von Berufsqualifikationen
Damit das SBFI die neuen Aufgaben im Zusammenhang mit den neuen EU-
Rechtsakten, die im Anhang III FZA übernommen werden, erfüllen kann, sind zusätz-
liche personelle Ressourcen erforderlich. Es ist mit zusätzlich maximal 270 Stellen-
prozenten zur Wahrnehmung der neu entstehenden gesetzlichen Verpflichtungen zu
rechnen, wovon 100 Stellenprozente auf zwei Jahre befristet sind (Einführungsauf-
wand). Diese Aufgaben sind neu und ersetzen keine anderen Tätigkeiten. Zudem ste-
hen die politischen Erwartungen hinsichtlich der Integration von Personen mit Schutz-
status S, das Bestreben des Bundesrates, die Anerkennung ihrer Berufsqualifikationen
zu beschleunigen, sowie die bestehenden Herausforderungen im Zusammenhang mit
dem Fachkräftemangel einem Verzicht auf andere Aufgaben entgegen. Schliesslich
sind Synergien mit bestehenden Aufgaben nicht möglich, da bereits ein starker An-
stieg der Gesuche ohne zusätzliche personelle Ressourcen bewältigt werden muss
(2022: 5020; 2023: 5841; 2024: 6530).
Es ist vorgesehen, dass die zusätzlichen Stellen seitens WBF (SBFI) kompensiert wer-
den. Da infolge der Aufdatierung des Anhangs III FZA keine Aufgaben wegfallen, ist
eine Verzichtsplanung erforderlich. Ergänzend ist bei der Ressourcensteuerung zu
prüfen, in welchen Bereichen über den Entwicklungsrahmen zusätzliche Finanzmittel
zuzuteilen sind.
Tabelle 2.3.9.1.2 (1): Aufgaben im Zusammenhang mit der Anpassung von An-
hang III FZA
Bereich
Aufgaben
% befristet
% unbefris-
tet
A. Verwaltungszu-
sammenarbeit
Verwendung des IMI für das
Meldeverfahren für Dienst-
leistungserbringer/innen
-
15 %
B. Sektorielle Ko-
ordination des IMI
im Bereich der An-
erkennung von
Berufsqualifikatio-
nen (ABQ)
Aufgabe als IMI-Koordinator
im Bereich der ABQ
Benutzerverwaltung und Ver-
waltung der Systemnutzung
40 %
wäh-
rend 2 Jahren
40 %
367 / 931
Basisschulung
der
IMI-
Benutzer/innen
C. European Pro-
fessional
Card
(EPC)
Ausstellung
ausgehender
EPC-Zertifikate für den Beruf
Immobilienmakler/in
(vo-
rübergehende Mobilität)
Überprüfung der Gültigkeit
und der Echtheit von hochge-
ladenen Abschlüssen für die
Berufe Bergführer/in und Im-
mobilienmakler/in
-
15 %
Aufstockung
alle
zwei
Jahre
(Zu-
nahme
der
Anzahl
An-
träge)
D. Vorwarnmecha-
nismus
Bearbeitung der ein- und aus-
gehenden Warnungen zu ge-
fälschten Abschlüssen
Verwaltung aller Änderungen
und Löschungen, Information
der Berufstätigen
Koordination mit den zustän-
digen Behörden, insbesondere
bei Auskunftsersuchen
-
10 %
E. Erhöhung der
Transparenz
Abklärungen, vertiefte Analy-
sen der Praxis und Berichte:
Erarbeitung und/oder Koordi-
nation
60 % für zwei
Jahre
zur
Durchführung
einer
ersten
Analyse
der
geltenden
Reglementie-
rungen
40 %
unbe-
fristet für die
Aktualisie-
rung
F. Beratungszent-
rum
Ausbau der Kontaktstelle und
Umwandlung in ein Bera-
tungszentrum
Verwaltung der Online-Infor-
mationsplattform
Partnermanagement
-
50 %
368 / 931
Total:
100 %
auf
2 Jahre
befristet
170 %
unbefristet
Dazu kommen neue Aufgaben im Bereich der gesamten nationalen IMI-Koordination
(übergreifende Koordination, d.h. zurzeit für die Anerkennung von Berufsqualifikati-
onen und Entsendung). Diese Aufgabe ist neu und wurde in den 270 Stellenprozenten
nicht berücksichtigt. Sie wird vom SBFI übernommen, allerdings ist der Aufwand für
diese Tätigkeit zurzeit schwer abschätzbar. Die Zuweisung dieser Aufgabe wird dem
Bundesrat übertragen (siehe Art. 4 Abs. 4 VE-BGVB und Art. 8
m
Abs. 3 VE-EntsG).
Der Bundesrat wird den ausgewiesenen Ressourcenbedarf zu gegebener Zeit überprü-
fen und darauf achten, dass ein allfälliger Mehrbedarf an Personalaufwand innerhalb
des Eigenbereichs des Bundes kompensiert wird.
Personalbedarf im Bereich des EntsG
Drei zusätzliche Stellen, von denen zwei befristet für die Jahre 2025–2026 schon be-
setzt wurden, sind im Bereich des EntsG erforderlich, noch bevor das Abkommen in
Kraft tritt. Die entsprechenden Personen sind zuständig für die Vorbereitungsarbeiten
im Bereich der Gesetzgebung sowie die Anpassung der verschiedenen Instrumente
für den Vollzug, insbesondere die Weisungen und Empfehlungen, die Leistungsver-
einbarungen und die Vollzugshilfen sowie für die Schulung der zukünftigen IMI-
Nutzerinnen und -Nutzer. Das SECO muss in der Lage sein, seinem gesetzlichen Auf-
trag zur Überwachung des EntsG-Vollzugs weiterhin nachzukommen. Somit werden
die bestehenden Stellen mit den bisher in diesem Bereich anfallenden Aufgaben be-
traut sein, während die neuen Personen für die IMI-Sektorkoordination im Bereich
der Entsendung, für Aufgaben der Verwaltungszusammenarbeit und neue Vollzugs-
aufgaben sowie für die dynamische Übernahme von europäischem Recht verantwort-
lich sein werden. Die auf nationaler Ebene vorgesehenen neuen Kompensationsmass-
nahmen und ganz generell die Annahme des Pakets Schweiz-EU führen zu neuen
Aufgaben, die in die Vollzugsüberwachung des SECO zu integrieren sind. Sollte es
beim Vollzug zu Vereinfachungen kommen, werden diese in erster Linie den direkten
EntsG-Vollzug und somit die Kantone und paritätischen Kommissionen betreffen.
Der Bundesrat wird den ausgewiesenen Ressourcenbedarf zu gegebener Zeit überprü-
fen und darauf achten, dass ein allfälliger Mehrbedarf an Personalaufwand innerhalb
des Eigenbereichs des Bundes kompensiert wird.
Tabelle 2.3.9.1.2 (2): Aufgaben im Zusammenhang mit der Anpassung im Be-
reich der Entsendungen
Bereich
Aufgaben
% befristet
% unbefris-
tet
A. IMI-
Koordinator/-in im
Koordinationsaufgaben
im
Bereich Entsendung von Ar-
beitnehmenden
100 %
369 / 931
Bereich Entsen-
dung von Arbeit-
nehmenden
Schulung der (künftigen) IMI-
Nutzer/-innen
Vorbereitungsarbeiten für den
Vollzug des EntsG (während
der Übergangsphase)
B. Wissenschaftli-
che/-r Mitarbei-
ter/-in im Bereich
Entsendung von
Arbeitnehmenden
Vorbereitungsarbeiten für den
Vollzug
des
geänderten
EntsG:
- Erarbeitung bzw. Anpassung
neuer bzw. bestehender Wei-
sungen
- Empfehlungen zuhanden der
Vollzugsorgane und Schulun-
gen für die Vollzugsorgane
- Neuverhandlung der Leis-
tungsvereinbarungen zur Fi-
nanzierung der Kontrolltätig-
keit
- Anpassung / Überarbeitung
der Audits zu den FlaM
- komplexe Arbeiten zur Wei-
terentwicklung und Zentrali-
sierung des Meldeverfahrens
im Zusammenhang mit der
verkürzten
Voranmeldefrist
und den neuen Anforderungen
für die Hinterlegung der Kau-
tion (Informatikprojekt)
100 %
C. Wissenschaftli-
che/-r Mitarbei-
ter/-in im Bereich
Entsendung von
Arbeitnehmenden
Aufgaben im Zusammenhang
mit der dynamischen Über-
nahme von EU-Recht:
- Analyse der Entwicklungen
im EU-Recht
- juristische Recherchearbei-
ten
100 %
370 / 931
- Empfehlungen zuhanden der
Vollzugsorgane und Schulun-
gen für die Vollzugsorgane
- komplexe Arbeiten zur Wei-
terentwicklung und Zentrali-
sierung des Meldeverfahrens
im Zusammenhang mit der
verkürzten
Voranmeldefrist
und den neuen Anforderungen
für die Hinterlegung der Kau-
tion (Informatikprojekt)
Total:
300 % unbe-
fristet
Personalbedarf beim SEM
Beim SEM sind mit der Genehmigung und dem Inkrafttreten des aufdatierten FZA
neue Aufgaben zu erfüllen (wie bspw. Aufbau Monitoring für Schutzklausel, Schu-
lung der Kantone, Teilnahme am
Decision Shaping
), welche zu einem Mehrbedarf
führen. Es ist von rund 2-4 Vollzeitstellen auszugehen. Der Bundesrat wird den aus-
gewiesenen Ressourcenbedarf zu gegebener Zeit überprüfen und darauf achten, dass
ein allfälliger Mehrbedarf an Personalaufwand innerhalb des Eigenbereichs des Bun-
des kompensiert wird
Personalbedarf bei den weitern Bundesbehörden
Bei den weiteren Bundesbehörden sind keine personellen Auswirkungen durch das
Änderungsprotokoll zum FZA zu erwarten. Die Aufgaben können mit den bestehen-
den personellen Mitteln ausgeführt werden.
2.3.9.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf
urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete
2.3.9.2.1
Auswirkungen auf Kantone im Zuwanderungsbereich
Die Aufgaben der zuständigen kantonalen Vollzugsbehörden im Bereich der Zuwan-
derung bleiben durch das Änderungsprotokoll zum FZA im Wesentlichen unverän-
dert. Für das Daueraufenthaltsrecht für Erwerbstätige nach einem Aufenthalt von fünf
Jahren wird kein separater Aufenthaltstitel ausgestellt, das Daueraufenthaltsrecht wird
einzig auf dem bereits bestehenden Titel vermerkt. Prüfen müssen die kantonalen
Vollzugstellen einerseits die Aufenthaltsdauer von fünf Jahren sowie ob die Person
während dieser Periode als erwerbstätige Person gemäss der Richtlinie 2004/38/EG
galt und nicht sechs Monate oder länger vollständig von der Sozialhilfe abhängig war.
Es dürfte in Einzelfällen Bedarf an weitergehenden Abklärungen bestehen.
371 / 931
Das Daueraufenthaltsrecht wird auf Gesuch hin geprüft und allenfalls gewährt. 2021
hielten sich gemäss der RFA-Studie von Ecoplan rund 690 000 Personen in der
Schweiz auf, die die Voraussetzungen für das Daueraufenthaltsrecht in den Jahren
2017 bis 2021 erfüllten und demnach theoretisch ein Gesuch stellen könnten (in der
Annahme, dass das Daueraufenthaltsrecht 2012 eingeführt worden wäre). Diesen Be-
rechnungen zufolge könnten jährlich rund 50 000 bis 70 000 Personen dazukommen,
die die Voraussetzungen zusätzlich erfüllen. Angenommen, von diesen Personen stel-
len nur jene ein Gesuch, die sich in einer unsicheren Arbeitssituation befinden und
deshalb von einem Daueraufenthaltsrecht profitieren würden (mind. zwei Monate
kein Einkommen aufweisen), so wäre mit jährlich zwischen 4000 und 20 000 Anträ-
gen zu rechnen. Der dadurch entstehende Mehraufwand kann langfristig durch eine
Vereinfachung der Bewilligungsverfahren (weniger Wechsel zwischen der Aufent-
haltsbewilligung und der Niederlassungsbewilligung) kompensiert werden. Kurzfris-
tig besteht die Möglichkeit das Daueraufenthaltsrecht zumindest bei offensichtlicher
Erfüllung der Voraussetzungen gemeinsam mit der Erteilung einer Niederlassungsbe-
willigung zu prüfen, womit beide Verfahren zusammengelegt würden. Es gilt festzu-
halten, dass das Daueraufenthaltsrecht für Personen, die sich bereits langjährig und
insbesondere mit einer Niederlassungsbewilligung in der Schweiz aufhalten, keinen
unmittelbaren Mehrwert bietet. Wie viele Gesuche daher tatsächlich gestellt werden,
wird erst die Praxis zeigen.
Auch die Abklärungen zur Überprüfung des Aufenthaltsrechts von unfreiwillig ar-
beitslosen Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten dürften für die kantonalen Mig-
rationsbehörden aufwändiger und komplexer werden. Dort dürfte insbesondere der
erhöhte Koordinationsaufwand zwischen den Migrationsbehörden und der öAV ins
Gewicht fallen. Denn für die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft bei un-
freiwilliger Arbeitslosigkeit sind die Anmeldung bei und die Kooperation mit der
öAV Voraussetzungen. Den Aufwand mindern dürfte hingegen die Bestimmung aus
Artikel 61
a
Absatz 2 Buchstabe c VE-AIG. Gemäss dieser Bestimmung verlieren die
betroffenen Personen ihre Erwerbstätigeneigenschaft und das damit verbundene Auf-
enthaltsrecht gemäss FZA bei unfreiwilliger Beendigung der Erwerbstätigkeit mit ei-
ner Dauer von mehr als zwölf Monaten, wenn sie nicht innerhalb von sechs Monaten
nach dem Ende der Arbeitslosenentschädigung eine andere Arbeit gefunden haben.
Über diese sechs Monate hinaus besteht die Erwerbstätigeneigenschaft nur weiter, so-
fern sie gegenüber der Migrationsbehörde glaubhaft machen, dass Aussicht darauf
besteht, in absehbarer Zeit eine neue Stelle zu finden. Ebenso entstehen durch die
engere Koordination der Behörden Chancen für eine ganzheitliche Betreuung und Un-
terstützung bei der nachhaltigen Erwerbsintegration, die sich ebenfalls kostendämp-
fend auswirken kann.
Bei Grenzgängerinnen und Grenzgängern wird neu der Arbeitgeber die Bescheini-
gung systematisch über das Portal EasyGov beantragen. Bereits heute stellen in den
meisten Fällen die Arbeitgeber das Gesuch für die Grenzgängerbescheinigung, wes-
halb hier nicht mit zusätzlichem Aufwand bei den kantonalen Behörden gerechnet
wird. Im Gegenteil: die Erteilung der Grenzgängerbescheinigung dürfte zu leichten
Einsparungen bei den Vollzugskosten führen, da bei unterjährigen Arbeitsverträgen
jeweils eine einjährige Bescheinigung ausgestellt wird. Unter dem FZA von 1999 ent-
372 / 931
spricht hingegen die Dauer der Grenzgängerbescheinigung der Dauer der unterjähri-
gen Arbeitsverträge, was dazu führt, dass mehrmals jährlich Bescheinigungen ausge-
stellt werden müssen.
Anwendung der Schutzklausel
Bei den Kantonen und Gemeinden können personelle Zusatzaufwände entstehen, um
allfällige Schutz- oder Ausgleichsmassnahmen umzusetzen. Der Aufwand variiert
stark je nach Art der Massnahmen. Die kantonalen Vollzugsstellen im Migrationsbe-
reich haben bereits Erfahrungen bei der Anwendung der Zulassungsvoraussetzungen
aus dem AIG (z.B. Prüfung des Inländervorrangs), falls in diesem Bereich Schutz-
oder Ausgleichsmassnahmen ergriffen würden. Gleichzeitig wird je nach ergriffenen
Massnahmen eine finanzielle Entlastung erwartet, insbesondere bei den Sozialversi-
cherungen oder der Sozialhilfe.
Auswirkungen auf die Sozialhilfe
Durch die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG erhalten im Vergleich zum FZA
von 1999 potentiell mehr Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten und ihre Familien-
angehörigen Zugang zur Sozialhilfe. Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, denen
das Daueraufenthaltsrecht nach einem Aufenthalt mit Erwerbstätigkeit von fünf Jah-
ren gewährt wird, können Sozialhilfe beziehen, ohne dass das Aufenthaltsrecht entzo-
gen werden kann. Ebenso erhalten Selbstständigerwerbende denselben Anspruch auf
Gleichbehandlung wie Arbeitnehmende, was auch den Zugang zur Sozialhilfe um-
fasst. Ausserdem behalten Personen, die länger als ein Jahr in der Schweiz erwerbs-
tätig sind und danach unfreiwillig arbeitslos werden, den Erwerbstätigenstatus, so-
lange sie mit der öAV kooperieren. Während dieser Zeit dürfen diese Personen
Sozialhilfe beziehen, ohne dass dies zum Verlust des Aufenthaltsrechts führt. Perso-
nen mit weniger als einem Jahr Aufenthalt haben ebenfalls neu Anspruch auf Sozial-
hilfe während sechs Monaten, wenn sie während dieser Zeit mit der öAV kooperieren.
Gemäss den Schätzungen von Ecoplan dürften durch das Änderungsprotokoll zum
FZA jährlich zwischen 3000 und 4000 Personen zusätzlich Sozialhilfe beziehen. Ge-
stützt auf die Zahlen von 2015 bis 2019 könnten dadurch jährliche Mehrkosten von
schätzungsweise 56 bis 74 Mio. CHF verursacht werden, was rund 2,0 - 2,7 Prozent
der totalen Sozialhilfekosten ausmacht. Diese Zahlen bedeuten jedoch nicht, dass
diese Personen tatsächlich auch Sozialhilfe beziehen werden. Die Studie quantifiziert
einzig die Anzahl Personen, die mit der Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG mit
einer gewissen Wahrscheinlichkeit ihren potenziellen Anspruch auf Sozialhilfe gel-
tend macht. Für die Betreuung dieser zusätzlichen Personen in der Sozialhilfe schätzt
Ecoplan einen personellen Bedarf zwischen 13,5 und 18 zusätzlichen Vollzeitstellen
schweizweit. Diese Kosten gilt es in den Gesamtkontext der volkswirtschaftlichen
Auswirkungen des FZA und der bilateralen Abkommen zu stellen. Der Wegfall der
Bilateralen I hätte bis im Jahr 2045 einen Rückgang des BIP von 4.9 Prozent zur
Folge, wobei das FZA aus volkwirtschaftlicher Perspektive das wichtigste bilaterale
Abkommen mit der EU ist (s. Ziff. 2.3.9.3). Zudem soll mit den Umsetzungs- und
Begleitmassnahmen im Zuwanderungsbereich (s. Ziff. 2.3.7.1.1 und 2.3.7.2.1) das
Kostenrisiko bei der Sozialhilfe weiter gesenkt werden.
373 / 931
Die Sozialdienste werden öfter im Austausch mit Migrationsbehörden und der öAV
stehen müssen. Dies kann Doppelbetreuungen auslösen, aber auch Synergien schaf-
fen, sofern eine gut koordinierte Interinstitutionelle Zusammenarbeit (IIZ) etabliert
wird.
Ecoplan hat in Bezug auf langfristige Entwicklungen eine Literaturrecherche durch-
geführt. Diese zeigt, dass tendenziell innerhalb der EU die Aufnahmeländer von der
Zuwanderung profitieren, während in den Emigrationsländern die Kosten aufgrund
der Abwanderung überwiegen. Weiter zeigen wissenschaftliche Befunde überwie-
gend, dass ein Sogeffekt vernachlässigbar ist. Es ist deshalb nicht davon auszugehen,
dass es im Zuge der Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG aufgrund der zusätzli-
chen Sozialhilfeansprüche zu einer erhöhten Zuwanderung kommt.
Auswirkungen auf die Ergänzungsleistungen (EL)
Durch die Richtlinie 2004/38/EG können Arbeitnehmende der EU-Mitgliedstaaten
auch beim Vorbezug der Altersrente gemäss Artikel 40 AHVG und damit ab dem
63. Altersjahr ein Daueraufenthaltsrecht geltend machen (s. Ziff. 2.3.6.2.2, Erläute-
rungen zu Art. 7
e
FZA). Diese zusätzlichen Kosten schätzt Ecoplan auf jährlich rund
7 Mio. Franken, was 2022 rund 0,22 Prozent der Gesamtausgaben der EL ausmachte.
Die Studie kommt zum Schluss, dass sich kein systemischer Wandel oder erhebliche
Mehrbelastungen für Bund und Kantone abzeichnen. Weiter wird der Bund beobach-
ten, ob und wie viele Personen, die nach Erhalt des Daueraufenthaltsrechts Sozialhilfe
beziehen, später nach Erreichen des Rentenalters auch auf EL angewiesen sind.
Personelle Auswirkungen bei der öffentlichen Arbeitsvermittlung
Um die zusätzlich beim RAV eingeschriebenen Personen zu betreuen, schätzt die
RFA-Studie von Ecoplan einen zusätzlichen personellen Mehrbedarf von schweizweit
zwischen 31 und 70 RAV-Beraterinnen und -Beratern. Dieser Personalaufwand ist
aber über die Vollzugskostenentschädigung des Bundes gemäss Artikel 1 und 2 der
AVIG-Vollzugskostenentschädigungsverordnung gedeckt (s. Ziff. 2.3.9.1.1).
Auswirkungen auf die Kantone durch die Einführung biometrischer
Identitätskarten
Heute haben einige Kantone gestützt auf Artikel 4
a
des Ausweisgesetzes vom 22. Juni
2001
362
ihre Wohnsitzgemeinden ermächtigt, Anträge von Identitätskarten ohne Chip
entgegen zu nehmen. Die Bearbeitung der Anträge für biometrische Identitätskarten
muss jedoch mit der kantonalen Erfassungsinfrastruktur erfolgen, da wie für Pässe ein
direkter Zugang auf die Informationssysteme des Bundes und die Erfassung von zwei
Fingerabrücken notwendig sind. Betroffene Kantone müssen deshalb ihre Erfassungs-
infrastruktur für biometrische Identitätskarten erweitern und ihre kantonalen Rechts-
akte anpassen. Nichtbiometrische Identitätskarten können weiterhin auf den Gemein-
den beantragt werden, sofern der Kanton dies vorsieht.
Mit der zur Einführung der
biometrischen Identitätskarte geplanten Revision der Ausweisverordnung sollen kos-
tendeckende Gebühren festgelegt werden.
362
SR
143.1
374 / 931
Auswirkungen auf die Kantone im Bereich der Anerkennung von
beruflichen Qualifikationen (Anhang III FZA)
Anhang III FZA kommt bei der Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen
nur zur Anwendung, wenn die Ausübung eines Berufs in der Schweiz reglementiert
ist. Ist ein Beruf nicht reglementiert, brauchen ausländische Berufstätige ihre Berufs-
qualifikationen nicht anerkennen zu lassen, um in der Schweiz zu arbeiten.
Die Reglementierung eines Berufs fällt grundsätzlich in die Zuständigkeit der Kan-
tone. Aus diesem Grund spielen sie eine wichtige Rolle bei der Zulassung zur Aus-
übung eines reglementierten Berufes von Berufstätigen aus der EU.
Selbst wenn der Bund die Berufsausübung aufgrund des Artikels 95 BV reglemen-
tiert, bleiben die Kantone in den meisten Fällen für die Erteilung der Berufsaus-
übungsbewilligung zuständig. Sie sorgen dabei für die Einhaltung des Bundesrechts
und prüfen bei der Erteilung der Bewilligung unter anderem, ob die betreffenden Per-
sonen im Besitz der nach Bundesrecht erforderlichen Berufsqualifikationen (Diplome
und Ausweise) sind. Die Kantone sind dadurch vom FZA direkt betroffen.
Die Anpassung von Anhang III FZA hat mehrere Auswirkungen auf den Ressourcen-
bedarf der Kantone. Die Kantone müssen neu bei der Erhöhung der Transparenz
(Art. 59 der Richtlinie 2005/36/EG in der durch die Richtlinie 2013/55/EU geänderten
Fassung) mitwirken und eine koordinierende Stelle für den Vollzug von Anhang III
FZA schaffen. Sie sind verpflichtet, Informationen über die Reglementierungen der
Berufe auf kantonaler Ebene aufzubereiten. Dabei ist es erforderlich, dass sie eine
aktive Rolle übernehmen und das SBFI regelmässig darüber informieren. Im Hinblick
auf die Erhöhung der Transparenz müssen sie die entsprechenden personellen Res-
sourcen bereitstellen.
Gegenwärtig sind auf Bundesebene Beschränkungen oder Verbote der Berufsaus-
übung z. B. bei den Medizinal- und Gesundheitsberufen im Regelungsbereich des
MedBG und GesBG verankert. Auf kantonaler und interkantonaler Ebene sind Erlasse
im Gesundheits-, Schul- und im Sozialbereich sowie im Bereich der Kinderbetreuung
(Erziehung Minderjähriger) betroffen. Daher werden die kantonalen Stellen, die für
den Bereich der Gesundheit und der Erziehung Minderjähriger, einschliesslich Kin-
derbetreuungseinrichtungen und frühkindliche Erziehung zuständig sind, den Vor-
warnmechanismus umsetzen müssen. Es müssen dafür die benötigten Ressourcen ge-
sprochen und gegebenenfalls die rechtlichen Grundlagen erlassen werden. Die vom
Vorwarnmechanismus betroffene Stellen sind:
375 / 931
Tabelle 2.3.9.2.1 (1): vom Vorwarnmechanismus betroffene Stellen
Betroffene Berufe
Zuständigkeit
Berufe im Gesundheitswesen
Kantonale Gesundheitsdirektionen
Berufe im Bereich der Erziehung
Minderjähriger (einschliesslich
Kinderbetreuung in Einrichtungen
und frühkindliche Erziehung)
Kantonale Jugend- und Sozialämter
Berufe im Unterrichtsbereich
Kantonale Bildungsämter bzw. Konferenz
der kantonalen
Erziehungsdirektorinnen und -direktoren
(EDK) gemäss interkantonaler Vereinba-
rung über die Anerkennung von Ausbil-
dungsabschlüssen vom 18. Februar
1993
363
(«interkantonale Diplomanerken-
nungsvereinbarung»)
Auswirkungen auf die Kantone im Hochschulbereich
Die Verpflichtung zur Gleichbehandlung der Studierenden aus der EU bei den Stu-
diengebühren an den kantonalen universitären Hochschulen, den universitären Insti-
tuten und Fachhochschulen hat finanzielle Auswirkungen für die Kantone und Hoch-
schulen: Diese müssen die Ausfälle tragen, die sich aus der Gleichbehandlung
ergeben. Im Jahr 2024 hätte diese gemäss der Ecoplan-Studie zu Mindereinnahmen
der öffentlichen Hochschulen in der Höhe von 21,8 Mio. CHF geführt. Der Bund soll
sich im Rahmen von Begleitmassnahmen befristet an diesen Ausfällen beteiligen. Da
das Gleichbehandlungsgebot auch allfällige öffentliche Unterstützungsmechanismen
für Studiengebühren umfasst, können den Kantonen und Hochschulen auch in diesem
Bereich Mehrkosten entstehen. Die Gleichbehandlung bei den Studiengebühren kann
die Attraktivität des Studiums für Studierende aus der EU an jenen Hochschulen zu-
sätzlich erhöhen, welche die Studiengebühren auf das Niveau der Gebühren für
Schweizer Studierende senken.
Anpassungen kantonaler Gesetzgebung
Durch die Erweiterung der Datenbekanntgabe zwischen den Vollzugsbehörden (Mig-
rationsämtern, öAV, Sozialhilfebehörden) bei unfreiwillig arbeitslosen Staatsangehö-
rigen der EU-Mitgliedstaaten, die nicht mehr mit öAV kooperieren (Art. 34
a
Abs. 2
Bst. e VE-AVG), dürften die kantonalen Ausführungsbestimmungen mit materiellem
363
www.edk.ch > Dokumentation > Rechtstexte und Beschlüsse > Rechtssammlung > 4. Dip-
lomanerkennung > 4.1 Grundlagen > 4.1.1 Interkantonale Vereinbarung vom 18. Februar
1993 über die Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen.
376 / 931
datenschutzrechtlichem Inhalt (z.B. im Bereich der Sozialhilfe) per Inkrafttretens des
Änderungsprotokolls zum FZA notwendig sein. Die Neuerungen im Bereich der öAV
dürften weiter zu einer Prüfung und allenfalls Anpassung der kantonalen Ausfüh-
rungsgesetzgebung (inkl. Organisationserlasse) führen. Vom Bundesrecht vorge-
schriebenen Anpassungen kantonaler Erlasse sind jedoch
a priori
keine zu erwarten.
Da die Ansprüche auf Sozialhilfe durch die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG
ausgeweitet werden, werden die Kantone ihre Sozialhilfegesetze überprüfen und al-
lenfalls anpassen müssen.
Durch die Einführung der biometrischen Identitätskarte besteht bei einigen Kantonen
Änderungsbedarf in ihren Verordnungen für die Ausstellung von solchen Identitäts-
karten.
Im Bereich der Anerkennung von Berufsqualifikationen werden namentlich für den
Vorwarnmechanismus im Bereich der Gesundheit und der Erziehung Minderjähriger,
einschliesslich Kinderbetreuungseinrichtungen und frühkindliche Erziehung, rechtli-
che Grundlagen für die Übermittlung von persönlichen Daten ins Ausland erlassen
werden müssen.
Im Hochschulbereich wird die Verpflichtung zur Gleichbehandlung der Studierenden
aus der EU betreffend Studiengebühren an den kantonalen universitären Hochschulen
und Fachhochschulen in verschiedenen Kantonen zu Anpassungen der entsprechen-
den Ausführungserlasse führen.
Das Änderungsprotokoll zum FZA hat keine spezifischen Auswirkungen auf Gemein-
den, urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete.
2.3.9.2.2
Auswirkungen auf Kantone im Bereich des Lohnschutzes
Auswirkungen im Bereich des EntsG
Die Verkürzung der Voranmeldefrist zwingt die kantonalen Vollzugsorgane wahr-
scheinlich dazu, ihre Strategie zu überdenken und möglicherweise auch zusätzliches
Personal anzustellen. Die Auswirkungen und der Personalbedarf hängen angesichts
der jeweiligen kantonalen Besonderheiten von verschiedenen Faktoren ab (z. B. geo-
grafische Lage, Wirtschaftsgefüge), was eine Kostenabschätzung schwierig macht.
Gemäss den geltenden Leistungsvereinbarungen zwischen dem Bund und den Kanto-
nen werden die Kantone 50 Prozent dieser zusätzlichen Kosten zu tragen haben. Die
Optimierung des Online-Meldeverfahrens sollte den zusätzlichen Personalbedarf al-
lerdings beschränken.
Wie oben erwähnt erfordert die Integration in das IMI-System die Schaffung einer
Koordinationsstelle bei jedem kantonalen Vollzugsorgan. Im Fall von Kooperations-
ersuchen von ausländischen Behörden müssen die Kantone auch mit einem höheren
administrativen Aufwand rechnen. Dieser Mehraufwand sollte allerdings vor allem in
der ersten Zeit nach der Integration der Schweiz ins IMI-System spürbar sein und
dürfte angesichts der geringen Zahl von Schweizer Entsendungen in die EU gering
bleiben. Gemäss der aktuellen Praxis zur finanziellen Entschädigung durch den Bund
werden diese Kosten zu 50 Prozent von den Kantonen getragen werden müssen, was
377 / 931
ein Gesamtbetrag von zusätzlichen 1,08 Millionen Franken ausmachen würde. Zu be-
achten ist auch, dass die auf diesem Weg durch die Kantone verhängten Geldbussen
durch das betroffene andere Land eingezogen werden können, was zu einem Rück-
gang der Einnahmen für die Kantone führt.
Kompensationsmassnahmen im Bereich des EntsG
Das Projekt zur Optimierung und Weiterentwicklung des Meldeverfahrens sollte den
Kantonen die Möglichkeit geben, die Kontrollen weiterhin so zu planen, dass sie den
neuen, durch die verkürzte Anmeldefrist entstandenen zeitlichen Vorgaben entspre-
chen. Dank der Weiterentwicklungen, die das Verfahren optimieren und die Effizienz
steigern sollen, dürfte sich der zusätzliche Ressourcenbedarf bei den Kantonen je nach
der definitiven Ausgestaltung in Grenzen halten; allenfalls kann in einzelnen Kanto-
nen sogar eine Umteilung von aktuell für die Verwaltung der Meldungen im Entsen-
debereich zuständigen Ressourcen hin zu anderen Bereichen möglich werden.
Die neue Bestimmung im EntsG, die eine erweiterte Haftung des Erstunternehmers
für Forderungen der PK einführt, dürfte für die Kantone keinen zusätzlichen Aufwand
verursachen. So können die Kantone schon heute veranlasst sein, die Einhaltung der
Sorgfaltspflicht durch den Erstunternehmer zu überprüfen. Es ist allerdings möglich,
dass die Kantone diese Überprüfung in Zukunft häufiger vornehmen und gegebenen-
falls die Nichteinhaltung der Sorgfaltspflicht sanktionieren müssen.
Auswirkungen im öffentlichen Beschaffungswesen
Die Aufwertung der GAV-Bescheinigungen bei kantonalen und kommunalen Bau-
aufträgen wird das Vergabeverfahren und die Kontrolle der Einhaltung der Arbeits-
und Lohnbedingung vor dem Zuschlag vereinfachen, wenn ein Unternehmen im Be-
reich des Bauhaupt- und Baunebengewerbe tätig ist. Darüber hinaus wird das obliga-
torische Mitführen von Baustellenausweisen die Kontrollen auf kantonalen und kom-
munalen öffentlichen Baustellen und damit während der Ausführung des Auftrags
erleichtern. Bei Umsetzung dieser Massnahmen ist abgesehen von einem gewissen
Schulungs- und Initialaufwand mit geringen indirekten Folgen für die Kantone und
Gemeinden zu rechnen, da die Kontrollen der Vollzugsorgane vereinfacht werden.
Die Massnahmen sollen insbesondere verhindern, dass die am inländischen Ort der
Leistung massgeblichen Arbeits- und Lohnbedingungen unterschritten werden. Sie
haben ansonsten keine besonderen Auswirkungen auf die Situation in urbanen Zen-
tren und Agglomerationen sowie der Berggebiete.
2.3.9.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
Für Unternehmen in der Schweiz bringt die Aufdatierung des FZA und die Umsetzung
im nationalen Recht gegenüber der heutigen Regelung keine bedeutenden Verände-
rungen. Die Schweizer Wirtschaft kann weiterhin bei Bedarf Arbeitskräfte aus der EU
rekrutieren, was für den Wirtschaftsstandort und die Planungssicherheit der Unterneh-
men von grosser Bedeutung ist. Damit wird gewährleistet, dass die Zuwanderung auch
in Zukunft arbeitsmarktorientiert bleibt. Unternehmen in der Schweiz werden zwar
378 / 931
neu gesetzlich verpflichtet, die Grenzgängerbescheinigung für ihre Arbeitnehmenden
aus der EU zu beantragen (s. Ziff. 2.3.8.1.1, Erläuterungen zu Art. 13
a
VE-AIG), dies
entspricht jedoch bereits heute der bestehenden Praxis. 2024 wurden rund 77 500
Grenzgängerbewilligungen erteilt
364
.
Die gegenseitige Anerkennung von Qualifikationen bleibt gewährleistet und in den
reglementierten Berufen werden die Qualifikationen der Arbeitskräfte aus der EU ge-
mäss den bestehenden Bestimmungen überprüft. Damit bleibt die Schweizer Wirt-
schaft wettbewerbsfähig und innovativ. Auch bleiben beispielsweise Rentenanwart-
schaften, die auf Beitragszahlungen in einem anderen Land beruhen, gemäss den
geltenden Bestimmungen gesichert. Neu wird die Schweiz rechtliche Weiterentwick-
lungen der EU-Koordinationsregeln dynamisch übernehmen.
Was den Beitrag des FZA zum Wachstum der Schweizer Wirtschaft betrifft, wird auf
die Ecoplan-Studie
365
(2025) «Volkswirtschaftliche Auswirkungen eines Wegfalls
der Bilateralen I» verwiesen. Der Wegfall der Bilateralen I hätte gemäss dieser Studie
bis im Jahr 2045 einen Rückgang des BIP von -4,9 Prozent zur Folge und würde eine
Schwächung der Schweizer Wirtschaft und vermehrt Standortverlagerungen verursa-
chen. Das FZA ist aus einer volkswirtschaftlichen Perspektive das wichtigste bilate-
rale Abkommen mit der EU. In einer isolierten Betrachtung entspricht der Wegfall
des FZA rund drei Vierteln der Summe der Effekte der einzelnen Abkommen der Bi-
lateralen I.
366
Insgesamt rechnet die Studie mit Einkommenseinbussen beim Arbeits-
und Kapitaleinkommen im Jahr 2045 von - 22,64 Mrd. CHF, wenn das FZA wegfal-
len würde. Auch aus Sicht der Schweizer Wirtschaftsverbände ist das FZA im Kontext
der demografischen Entwicklung in der Schweiz und der sich verstärkenden Nach-
frage nach Arbeitskräften von eminenter Bedeutung für die Wirtschaft.
Schutzklausel
Die konkretisierte Schutzklausel bietet der Schweiz die Möglichkeit, geeignete
Schutzmassnahmen zu ergreifen, wenn die Anwendung des FZA zu schwerwiegenden
wirtschaftlichen oder sozialen Schwierigkeiten führt. Die Schweiz kann das Verfah-
ren zur Aktivierung der Schutzklausel eigenständig einleiten. Sofern es im GA des
FZA keine Einigung über das Vorliegen schwerwiegender Probleme gibt, kann die
Schweiz das Schiedsgericht neu ohne Zustimmung der EU anrufen. In bestimmten
Situationen, namentlich wenn die Nettozuwanderung gestützt auf das FZA bezie-
hungsweise die Zunahme der Beschäftigung von Grenzgängerinnen und Grenzgän-
gern, der Arbeitslosigkeit oder des Sozialhilfebezugs einen bestimmten Schwellen-
wert überschreitet, muss der Bundesrat die Anrufung der Schutzklausel immer prüfen.
Da die Anrufung der Schutzklausel für die Schweiz je nach Konstellation Vor- und
Nachteile hat und je nachdem auch mit Ausgleichsmassnahmen der EU zu rechnen
364
www.sem.admin.ch > Publikation & Service > Statistiken > Ausländerstatistik > Statistik
Zuwanderung > 2024 > Jahresstatistik Zuwanderung 2024.
365
www.seco.admin.ch > Wirtschaftslage & Wirtschaftspolitik > Grundlagen für die Wirt-
schaftspolitik.
366
Siehe S.69 Ecoplan (2025) Volkswirtschaftliche Auswirkungen eines Wegfalls der Bilate-
ralen I. Abrufbar unter: www.seco.admin.ch > Wirtschaftslage & Wirtschaftspolitik >
Grundlagen für die Wirtschaftspolitik.
379 / 931
ist, muss die Schweiz fallweise abwägen, ob eine Abweichung von Bestimmungen
des FZA notwendig und geeignet ist, um vorliegende Probleme zu entschärfen. Im
Schutzklauselverfahren sind die Vorgaben für allfällige Ausgleichsmassnahmen bei-
der Vertragsparteien definiert. Damit werden für die Schweiz die volkswirtschaftli-
chen Konsequenzen von allfälligen Massnahmen der EU kalkulierbarer.
Auswirkungen im Bereich des EntsG auf die Schweizer Unternehmen
Gestützt auf das Änderungsprotokoll zum FZA haben die Verkürzung der Voranmel-
defrist und die Anpassung des Kautionssystems keine Auswirkungen auf die Schwei-
zer Unternehmen. So betreffen die Änderungen nicht direkt die hiesigen Unterneh-
men, sondern die europäischen Dienstleistungserbringer. Sollten diese Änderungen
zu einer signifikanten Zunahme von Betrieben mit Meldepflicht auf dem Schweizer
Markt führen, könnten Schweizer Betriebe in den betreffenden Branchen mit einem
zunehmenden Wettbewerb konfrontiert sein.
Hinsichtlich der neuen Bestimmungen zur Verwaltungszusammenarbeit mit den aus-
ländischen Behörden im Rahmen des Vollzugs der Begleitmassnahmen, sind die
Schweizer Unternehmen ebenfalls nicht direkt von diesen Massnahmen betroffen, so-
lange sie auf nationalem Gebiet tätig sind oder bei der Entsendung von Arbeitneh-
menden die in den EU-Ländern geltenden Arbeits- und Lohnbedingungen einhalten.
Hingegen wird die Verwaltungszusammenarbeit bei einer Dienstleistungserbringung
in der EU durch Schweizer Unternehmen direkte Auswirkungen auf fehlbare Unter-
nehmen haben. Aufgrund der geringen Zahl von Schweizer Unternehmen, die Perso-
nal in die EU entsenden, sowie des hohen Lohnniveaus in der Schweiz werden die
neuen Bestimmungen zur Verwaltungszusammenarbeit jedoch nur geringfügige Fol-
gen für die Schweizer Unternehmen nach sich ziehen.
Die Massnahmen zur Optimierung und Weiterentwicklung des Meldeverfahrens ha-
ben keine Auswirkungen auf die Schweizer Unternehmen.
Für die Unternehmen hat die Einführung einer erweiterten Haftung des Erstunterneh-
mers bei Forderungen der PK vor allem zur Folge, dass die präventive Natur der be-
stehenden Solidarhaftung verstärkt wird. Denn diese Lösung umfasst keine neuen
Massnahmen, mit denen sich die Unternehmen von ihrer Haftung befreien könnten.
Falls die Erstunternehmer allerdings ihre Vergabeverfahren anpassen sollten, indem
sie etwa lieber Subunternehmer auswählen, die eine Kaution hinterlegt haben, könnte
diese neue Bestimmung einen gewissen Mehraufwand verursachen. Dieser wäre al-
lerdings geringfügig und dürfte mit der Zeit verschwinden.
Auswirkungen im Bereich des EntsG auf die anderen Wirtschaftsakteure
Die PK der betroffenen Wirtschaftszweige müssen die erforderlichen Anpassungen
am Kautionsverfahren vornehmen, um sich an die neuen Bestimmungen zu halten.
Falls das aktuelle Kontrollvolumen sowie die geltenden Bedingungen auch nach der
Verkürzung der Voranmeldefrist beibehalten werden sollen, ist es möglich, dass den
PK der ave GAV auf Bundesebene zusätzliche Ressourcen gewährt werden müssen.
Die zusätzlichen Kosten würden gemäss dem aktuellen Entschädigungsmodus durch
den Bund getragen.
380 / 931
Die PK können künftig die ausländischen Behörden um Auskünfte ersuchen, wenn
ein Arbeitgeber, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entsendet oder ein selbst-
ständiger Dienstleistungserbringer seine Auskunftspflicht nicht erfüllt. Dazu wird den
PK dank dem aufdatierten FZA ein Zugriff auf IMI gewährt. Der Initialaufwand für
die Einrichtung von IMI bei den regionalen oder zentralen PK dürfte kompensiert
werden durch die verbesserten Vollzugsmöglichkeiten gegenüber Dienstleistungser-
bringern, die wegen Verweigerung von Auskünften eine Kontrolle verunmöglichen.
Die Massnahmen zur Optimierung des Meldeverfahrens werden vor allem durch eine
schnellere und effizientere Übermittlung der Meldungen zur Verbesserung der Voll-
zugstätigkeit der PK beitragen.
Auswirkungen im Bereich des EntsG auf die Gesamtwirtschaft
Die Ergebnisse der Verhandlungen im Rahmen des Änderungsprotokolls zum FZA
betreffend die Anpassung des Kautionssystems und die Verkürzung der Voranmelde-
frist haben keine wesentlichen Auswirkungen auf die Schweizer Wirtschaft insge-
samt. So ist die grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung weiterhin ein relativ
beschränktes Phänomen. Das durch diese Dienstleistungserbringer geleistete Arbeits-
volumen – gemessen an der Anzahl Leistungstage – hat in den letzten zwanzig Jahren
nie mehr als knapp 1 Prozent der Beschäftigung in Vollzeitäquivalenten ausgemacht.
Die grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung konzentriert sich zudem auf be-
stimmte Wirtschaftszweige und wirkt sich daher nicht auf alle Schweizer Branchen
aus. Gestützt auf das Änderungsprotokoll zum FZA ist keine starke Zunahme der
Dienstleistungserbringung und damit des Wettbewerbs zu erwarten. Der Entscheid,
Dienstleistungen in der Schweiz zu erbringen, ist von zahlreichen Faktoren abhängig
– wie etwa der Konjunktur in der Schweiz oder im Herkunftsland – und nicht nur von
der Meldefrist oder der Kautionspflicht.
So werden sich die Anpassungen zur Kautionspflicht für Unternehmen, die in Bran-
chen tätig sind, welche dieses Instrument vorsehen, mit Sicherheit nur geringfügig auf
die Gesamtwirtschaft auswirken. Einzig ein Teil der im Baunebengewerbe tätigen
Branchen kennen heute eine Kautionspflicht. Ausserdem deuten die mit der Melde-
frist von 8 Kalendertagen gemachten Erfahrungen darauf hin, dass die Verkürzung
der Voranmeldefrist auf 4 Arbeitstage nicht zu einer starken Zunahme von Unterneh-
men führen wird, die Dienstleistungen in der Schweiz erbringen. Schon heute meldet
eine wesentliche Zahl der Dienstleistungserbringer ihre Einsätze deutlich mehr als
8 Kalendertage vor Beginn, was nahelegt, dass die aktuelle Frist für die Unternehmen
kein Hindernis für die Dienstleistungserbringung in der Schweiz darstellt. Zudem bie-
ten die aktuellen Bestimmungen den Entsendeunternehmen bereits jetzt die Möglich-
keit, ihre Tätigkeit im Notfall auch ohne Voranmeldung auszuüben.
Die neuen Bestimmungen zur Verwaltungszusammenarbeit mit den ausländischen
Behörden im Rahmen des Vollzugs des Entsendegesetzes haben keine Auswirkungen
auf die Schweizer Unternehmen und die Gesamtwirtschaft.
Die für Entsendeunternehmen neu eingeführte Pflicht, in der Schweiz eine Vertretung
des Arbeitgebers zu bezeichnen, die als Ansprechpartnerin oder Ansprechpartner der
Vollzugsbehörden dient, verursacht zusätzlichen Aufwand für die Entsendeunterneh-
381 / 931
men. Zudem wird die Pflicht, dass die entsandten Arbeitnehmenden vor Ort über Do-
kumente verfügen müssen, die die Einhaltung der geltenden Arbeitsbedingungen
nachweisen, die Kontrolle der Einhaltung der Schweizer Arbeits- und Lohnbedingun-
gen vereinfachen und indirekt zu einem fairen Wettbewerb beitragen.
Die zusätzlichen Verbesserungen des Meldeverfahrens werden die Abschwächung
der präventiven Wirkungen durch die Anpassungen bei der Kautionspflicht und die
Verkürzung der Voranmeldefrist teilweise kompensieren. Die Optimierung des Mel-
deverfahrens hat jedoch keine Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft.
Auswirkungen im Bereich des AVEG auf die Gesamtwirtschaft
Die Gesamtarbeitsverträge (GAV) als Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern
tragen zur Stabilisierung der potenziell konfliktbehafteten Beziehungen zwischen Ar-
beitgebern und Arbeitnehmenden bei. Die GAV haben damit eine regulierende Funk-
tion und entlasten indirekt den Staat. Der breite Handlungsspielraum der Sozialpartner
in Bezug auf die zwingenden Bestimmungen eines GAV erlaubt zudem eine weniger
starke Arbeitsmarktregulierung durch den Staat.
Da die Allgemeinverbindicherklärung von GAV durch den Staat den Abschluss von
GAV begünstigt, besteht ihr Zweck vor allem darin, den sozialen Frieden sowie ge-
wisse Mindeststandards bei den Arbeits- und Lohnbedingungen zu fördern. Die All-
gemeinverbindlicherklärung eines GAV verfolgt zwei Ziele: einerseits die bestehen-
den Verträge gegen Niedriglohnkonkurrenz zu schützen, andererseits auch eine
wirtschaftliche Benachteiligung der Aussenseiter zu vermeiden. Denn während die
wirtschaftlichen Auswirkungen bei der Allgemeinverbindlicherklärung eines GAV
für die Mitgliedsbetriebe der Unterzeichnerverbände des Vertrags auf den ersten Blick
erträglich sein sollten, kann die Situation für die Aussenseiterbetrieben schwieriger
sein. Die Allgemeinverbindlicherklärung eines GAV und der entsprechenden Min-
destlöhne bedeutet für diese Aussenseiterbetriebe gewissermassen, dass der Grund-
satz der freien Lohnverhandlung aufgegeben wird. Da es nicht das Ziel der Allge-
meinverbindlicherklärung ist, unliebsame Konkurrenten zu eliminieren oder
Hindernisse für den Marktzugang zu errichten, hat der Gesetzgeber die Voraussetzun-
gen, unter denen ein GAV allgemeinverbindlich erklärt werden kann, im Gesetz
(AVEG) klar festgelegt.
Die neue Massnahme zur Stabilisierung der Anzahl ave GAV wird die Sozialpartner-
schaft stärken. Sie hat keinerlei Auswirkungen auf Unternehmen und Wirtschafts-
zweige, die keinem ave GAV unterstehen. Aussenseiterbetriebe werden zwar von der
Massnahme betroffen sein, müssen aber bei einem ave GAV auch heute schon dessen
zwingenden Bestimmungen einhalten. Die neue Massnahme führt nicht zu mehr Un-
ternehmen, die einem ave GAV unterstellt sind, wird aber helfen zu vermeiden, dass
gewisse Wirtschaftszweige über gar keine zwingenden Bestimmungen für die Ar-
beits- und Lohnbedingungen verfügen, obwohl sie bisher solchen unterstanden. Ab-
gesehen davon bleiben die sonstigen Voraussetzungen für die Allgemeinverbindli-
cherklärung eines GAV unverändert. Eine Allgemeinverbindlicherklärung darf dem
Gesamtinteresse nicht zuwiderlaufen und die berechtigten Interessen anderer Wirt-
schaftsgruppen und Bevölkerungskreise nicht beeinträchtigen. Mit dieser Massnahme
382 / 931
zur Stabilisierung der aktuellen Situation sind insgesamt nur geringe Auswirkungen
zu erwarten.
Auswirkungen im Bereich des öffentlichen Beschaffungswesens
Die Massnahmen zur Aufwertung der GAV-Bescheinigungen für Anbieterinnen im
Bauhaupt- und Baunebengewerbe sowie für ihre allfälligen Subunternehmerinnen und
die Pflicht zum Mitführen von Baustellenausweisen auf öffentlichen Baustellen dürf-
ten nur geringe Auswirkungen auf die Unternehmen haben.
Den Anbieterinnen in den genannten Branchen steht das Instrument der GAV-
Bescheinigung bereits heute zur Verfügung, um beim Einsatz einer Subunternehmerin
im Rahmen der Solidarhaftung nachzuweisen, dass die geltenden Arbeits- und Lohn-
bedingungen eingehalten werden. Ebenso besteht für Anbieterinnen in den genannten
Branchen schon jetzt die Möglichkeit, Baustellenausweise zu bestellen. Sie werden
somit auf bereits bestehende Instrumente zurückgreifen können, während Anbieterin-
nen, die in Branchen tätig sind, in denen dieses Instrument nicht verfügbar ist, sich
weiterhin auf die Selbstdeklaration stützen können. Durch die Verwendung der GAV-
Bescheinigung kann jedoch sichergestellt werden, dass beim Vergabeverfahren nur
Firmen ohne offene Verstösse berücksichtigt werden.
Die Sozialpartner haben ein ausweisbasiertes Kontrollsystem eingerichtet. Sie sorgen
selbst dafür, dass die Ausweise aktuell sind, und stellen dabei sicher, dass die Bedin-
gungen stets eingehalten werden. Das obligatorische Mitführen von Baustellenaus-
weisen in den Branchen des Bauhaupt- und Baunebengewerbes vereinfacht die Kon-
trollen für die paritätischen Kommissionen vor Ort und verringert damit den
administrativen Aufwand für die kontrollierten Unternehmen. Die Baustellenaus-
weise müssen zudem auch für ausländische Unternehmen einfach erhältlich sein und
dürfen keinen Hinderungsgrund für eine Teilnahme an öffentlichen Ausschreibungen
sein.
Auswirkungen einer Verbesserung des Kündigungsschutzes
Die Auswirkungen auf die Volkswirtschaft lassen sich nicht im Detail beziffern, dürf-
ten sich aber in einem sehr geringen Mass bewegen. Ein verbesserter Kündigungs-
schutz für gewählte Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter, Mitglieder eines Or-
gans einer Personalvorsorgeeinrichtung und Mitglieder nationaler Branchen-
vorstände, die im Rahmen eines allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsvertra-
ges tätig sind, wird nur Unternehmen mit mehr als 50 Beschäftigten betreffen (ent-
spricht rund 2% der Unternehmen in 2022) und sofern überhaupt eine Arbeitnehmer-
vertretung im Betrieb besteht. Die Massnahme dürfte den flexiblen Arbeitsmarkt in
der Schweiz kaum einschränken.
2.3.9.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
Es ist nicht davon auszugehen, dass das Änderungsprotokoll zum FZA die Zuwande-
rung von der EU in die Schweiz im Vergleich zu heute verstärkt und die soziale Si-
cherheit in grösserem Ausmass zusätzlich belastet. Die Zuwanderung im Rahmen des
FZA bleibt arbeitsmarktorientiert. Ausschlaggebend für die Höhe der Zuwanderung
383 / 931
ist demnach insbesondere der Bedarf der Wirtschaft an Arbeitskräften, welcher auf-
grund des in der Schweiz herrschenden Arbeitskräftemangels sowie des demografi-
schen Wandels (Alterung der Gesellschaft) nicht im Inland gedeckt werden kann.
Im Rahmen des jährlichen Observatoriumsberichts zum Freizügigkeitsabkommen
Schweiz–EU
367
kann bis anhin keine Verdrängung von Schweizer Arbeitskräften
durch Arbeitnehmende aus der EU festgestellt werden. Durch die Personenfreizügig-
keit wandern Personen im erwerbsfähigen Alter aus der EU in die Schweiz ein, was
positive Effekte auf die Finanzierung der Altersvorsorge hat. Gemäss dem am 24. Juni
2024
publizierten
20. Observatoriumsbericht
zum
Freizügigkeitsabkommen
Schweiz–EU finanzierten 2021 Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten beispiels-
weise die 1. Säule (AHV und IV) mit 26,3 Prozent der Beiträge, sie beziehen jedoch
nur 13,4 Prozent der individuellen Leistungen der 1. Säule.
Das Änderungsprotokoll zum FZA führt nicht nur zu weitergehenden Rechten von
Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten in der Schweiz, es führt auch zu einer Ver-
besserung der Rechtstellung der fast 466 000 Schweizerinnen und Schweizer
368
, die
in der EU ihren Ruhestand verbringen, dort erwerbstätig sind oder studieren. Auch sie
profitieren von weitergehenden Ansprüchen und Rechten aus dem Änderungsproto-
koll zum FZA, wenn sie beispielsweise arbeitslos werden oder das Daueraufenthalts-
recht erlangen. Dadurch werden die Karriere- und Lebensgestaltungsmöglichkeiten
von Schweizer Staatsangehörigen und ihren Familienangehörigen erweitert und ver-
einfacht.
2.3.9.5
Auswirkungen auf die Umwelt
Die Vorlage hat namentlich in Bezug auf die Umwelt keine weiteren Auswirkungen.
2.3.10
Rechtliche Aspekte der Protokolle
Dieser Abschnitt behandelt das Änderungsprotokoll zum FZA. Ausführungen zum
IP - FZA finden sich unter Ziffer 2.1.9, es sei denn es wird nachstehend ausdrücklich
auf das IP-FZA Bezug genommen.
2.3.10.1
Verfassungsmässigkeit der Protokolle
2.3.10.1.1
Zuständigkeit
Das Änderungsprotokoll zum FZA stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 BV, wonach
der Bund für die auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV
ermächtigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu ratifi-
zieren. Nach Artikel 166 Absatz 2 BV ist die Bundesversammlung für die Genehmi-
gung völkerrechtlicher Verträge zuständig, sofern für deren Abschluss nicht aufgrund
von Gesetz oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (Art. 24
367
www.seco.admin.ch > Publikationen & Dienstleistungen > Publikation > Arbeit > Perso-
nenfreizügigkeit und Arbeitsbeziehungen > Observatoriumsberichte.
368
Siehe Ausländerschweizerstatistik des BFS, www.bfs.admin.ch > Statistiken > Bevölke-
rung > Migration und Integration > Auslandschweizer/-innen.
384 / 931
Abs. 2 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 2002
369
[ParlG]; Art. 7
a
Abs. 1 des
Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 1997
370
[RVOG]).
Beim Änderungsprotokoll zum FZA handelt es sich nicht um einen Vertrag, für des-
sen selbstständigen Abschluss der Bundesrat aufgrund eines Gesetzes oder eines von
der Bundesversammlung genehmigten völkerrechtlichen Vertrags ermächtigt ist. Ins-
besondere geht das Änderungsprotokoll über die in Artikel 100 AIG vorgesehenen
Geltungsbereiche hinaus, in denen der Bundesrat Abkommen im Migrationsbereich
abschliessen kann. Es handelt sich des Weiteren auch nicht um einen völkerrechtli-
chen Vertrag von beschränkter Tragweite nach Artikel 7
a
Absatz 2 RVOG. Zudem
erfordert die Umsetzung des Änderungsprotokoll zum FZA die Anpassung von Bun-
desgesetzen. Das Änderungsprotokolls zum FZA ist folglich der Bundesversammlung
zur Genehmigung zu unterbreiten.
Die Verfassungsmässigkeit des Institutionellen Protokolls zum FZA wird in Ziffer
2.1.9.1 erläutert.
2.3.10.1.2
Verfassungsbestimmungen zur strafrechtlichen
Landesverweisung (Art. 121 BV)
Das Änderungsprotokoll zum FZA schliesst die Anwendung neuer Verpflichtungen
der Schweiz im Bereich der strafrechtlichen Landesverweisung aus (s. neuer Art. 7
h
e contrario
FZA und Art. 5 Abs. 7 des IP-FZA). So haben sich die EU und die
Schweiz darauf geeinigt, dass die Schweiz den verstärkten Ausweisungsschutz aus
der Richtlinie 2004/38/EG (Art. 28 Abs. 2 und 3) sowie die einschlägige Rechtspre-
chung des EuGH nicht übernimmt. Weiter muss die Schweiz die in Artikel 33 Ab-
satz 2 der Richtlinie 2004/38/EG vorgesehenen Verfahren zur Überprüfung einer
Ausweisungsverfügung von Amtes wegen nicht anwenden, da es sich in Bezug auf
das geltende FZA (von 1999) um neue Verpflichtungen handelt. Das Änderungspro-
tokoll verlangt, dass anstelle von Artikel 33 Absatz 2 der Richtlinie 2004/38/EG die
im geltenden FZA vorgesehenen Garantien, namentlich Artikel 3 der Richtli-
nie 64/221/EWG
371
und die einschlägige Rechtsprechung des EuGH im Sinne von
Artikel 16 des FZA von 1999, Anwendung finden. Durch diese zwei vertraglich zu-
gesicherten Ausnahmen (zu den Art. 28 Abs. 2 und 3 und Art. 33 Abs. 2 der Richtli-
nie 2004/38/EG) behält die Schweiz in diesem Bereich die Verpflichtungen aus dem
geltenden FZA bei, geht aber nicht darüber hinaus. Damit ist das Änderungsprotokoll
auch verfassungskonform.
Die Verpflichtungen aus dem FZA von 1999 wurden mit der Richtlinie 2004/38/EG,
insbesondere in deren Artikeln 27 und 32, kodifiziert und präzisiert. Es ist bekannt,
dass diese bereits vor dem Änderungsprotokoll vorhandenen Verpflichtungen in ei-
nem Spannungsverhältnis zur Vorgabe von Artikel 121 Absätze 3 und 5 BV stehen.
369
SR
171.10
370
SR
172.010
371
Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sonder-
vorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen
der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, ABl. 56 vom
4.4.1964, S. 850.
385 / 931
So verlangt Artikel 27 Absatz 2 der Richtlinie 2004/38/EG zu prüfen, ob eine Aus-
weisung aufgrund einer tatsächlichen, gegenwärtigen und erheblichen Gefahr, die ein
Grundinteresse der Gesellschaft berührt, erforderlich ist, so wie dies in Artikel 5 An-
hang I des FZA von 1999 in Verbindung mit der einschlägigen Rechtsprechung des
EuGH vorausgesetzt wird (s. Art. 16 FZA von 1999). Nach derselben Bestimmung
begründen strafrechtliche Verurteilungen nicht automatisch eine Ausweisung; der
Grundsatz der Verhältnismässigkeit muss gewahrt werden, auch bei der Bestimmung
der Dauer des Einreiseverbots. Diese Bedingungen stehen im Widerspruch zum Wort-
laut von Artikel 121 Absätze 3 und 5 BV, insbesondere in Bezug auf die automatische
Ausweisung und das Einreiseverbot von mindestens fünf Jahren bei bestimmten straf-
rechtlichen Verurteilungen (s. auch Erläuterungen unter Ziff. 2.3.6.2.2). Ein Wider-
spruch, der sich übrigens in den innerstaatlichen Umsetzungsbestimmungen zu einem
grossen Teil wiederfindet (s. Art. 66
a
ff. StGB und Art. 49
a
ff. MStG). Dabei handelt
es sich jedoch um Spannungen, die bereits vor dem vorliegenden Änderungsprotokoll
zum FZA bestanden.
Die Frage, ob die strafrechtliche Landesverweisung mit dem geltenden FZA vereinbar
sei, wurde bereits im Zusammenhang mit der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative
aufgeworfen.
372
Es wurde bewusst in Kauf genommen (und auch transparent kommu-
niziert), dass die Bestimmungen zur strafrechtlichen Landesverweisung möglicher-
weise nicht FZA-konform seien und hieraus Vertragsverletzungen resultieren könn-
ten.
373
Die Spannungen gegenüber dem bestehenden Recht befinden sich jedoch
hauptsächlich auf normativer Ebene. Bisher hat das Bundesgericht keine Unverein-
barkeit zwischen dem geltenden FZA und den Massnahmen festgestellt, die auf der
Grundlage der Bundesverfassung und des Strafgesetzbuches ergriffen wurden. Dies
ist insbesondere auf die Anwendung der Härtefallklausel (Art. 66
a
Abs. 2 StGB) zu-
rückzuführen.
Die vertraglich verankerten Ausnahmen betreffen ausserdem nicht das Recht der be-
troffenen Person, nach einem angemessenen Zeitraum, spätestens aber drei Jahre nach
Vollzug der Landesverweisung, ein Gesuch auf Überprüfung und Aufhebung des Ein-
reiseverbots zu stellen (Art. 32 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG). Das Recht auf
Überprüfung innerhalb eines angemessenen Zeitraums ergibt sich aus der einschlägi-
gen Rechtsprechung des EuGH, die für die Schweiz nach Artikel 16 des FZA von
1999 verbindlich ist. Artikel 32 Absatz 1 der Richtlinie 2004/38/EG begründet dem-
nach keine neuen Verpflichtungen für die Schweiz, sondern kodifiziert lediglich eine
bestehende Überprüfungspflicht mit vorgegebenen Fristen.
Dieses Recht steht möglicherweise in einem Spannungsverhältnis zur Vorgabe von
Artikel 121 Absatz 5 BV, wonach Ausländerinnen und Ausländer, die ihr Aufent-
haltsrecht nach Artikel 121 Absatz 3 BV verlieren, mit einem Einreiseverbot von min-
destens fünf Jahren zu belegen sind. Artikel 121 Absatz 5 BV regelt jedoch nur den
372
Bundesratsbeschluss über das Ergebnis der Volksabstimmung vom 28. November 2010
(«Ausschaffungsinitiative» und Gegenentwurf der Bundesversammlung; «Steuergerechtig-
keits-Initiative»), BBl
2011
2771.
373
S. Botschaft zur Änderung des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzes (Umsetzung
von Art. 121 Abs. 3–6 BV über die Ausschaffung krimineller Ausländerinnen und Auslän-
der), BBl
2013
5975, 6056 f. und 6059.
386 / 931
(anfänglichen) Entscheid über die Ausweisung und das Einreiseverbot. Eine spätere
Überprüfung oder die Aufhebung eines solchen Entscheids können als separate
Rechtsfragen betrachtet werden, die nicht durch Artikel 121 Absatz 5 BV geregelt
sind. Letzterer schliesst also die Möglichkeit der Überprüfung eines Einreiseverbots
nicht aus. Die bestehenden Spannungen gegenüber Artikel 121 Absätze 3 und 5 BV
bleiben hingegen in Bezug auf die in Artikel 32 Absatz 1 der Richtlinie 2004/38/EG
vorgesehenen Überprüfungskriterien vorhanden. Diese Überprüfung setzt nämlich
eine Analyse der Gültigkeit des Ausweisungsentscheids anhand der Kriterien des FZA
voraus (s. insb. Art. 27 der Richtlinie 2004/38/EG), wobei diese in einem Spannungs-
verhältnis zu Artikel 121 Absätze 3 und 5 BV stehen.
Da die Bestimmungen des Änderungsprotokolls zum FZA die Verpflichtungen aus
dem FZA von 1999 nur kodifizieren und keine materielle Änderung des Abkommens
im Bereich der strafrechtlichen Landesverweisung vorsehen, kann die Schweiz die
Verpflichtungen der Richtlinie 2004/38/EG (insb. die Art. 27 und 32 Abs. 1) ohne
Verfassungsänderung übernehmen.
Diese Bestimmungen der Richtlinie 2004/38/EG sind direkt anwendbar und es obliegt
wie bis anhin den Gerichten, die Einhaltung der internationalen Verpflichtungen zu
prüfen.
2.3.10.1.3
Verfassungsbestimmungen zur Steuerung der
Zuwanderung (Art. 121a BV)
Gemäss Artikel 121
a
Absatz 4 BV
«dürfen keine völkerrechtlichen Verträge abge-
schlossen werden, die gegen diesen Artikel verstossen»
. Diese Bestimmung betrifft
nur neue Verträge beziehungsweise alle völkerrechtlichen Verträge zwischen der
Schweiz und anderen Staaten oder internationalen Organisationen, die neue völker-
rechtliche Verpflichtungen oder Änderungen von bestehenden Verträgen enthalten.
Verträge verstossen gegen Artikel 121
a
BV, wenn sie mit den in Absatz 1, 2 oder 3
verankerten Anforderungen nicht vereinbar sind. Es dürfen also keine Verträge abge-
schlossen werden, welche die Schweiz daran hindern würden, die Zuwanderung über
die Anwendung von Höchstzahlen und Kontingenten eigenständig zu steuern, oder
welche die Anwendung der in Absatz 3 verankerten Kriterien verbieten würden. Ob
internationale Verpflichtungen im Widerspruch zu Artikel 121
a
BV stehen, hängt
folglich von der Auslegung dieses Verfassungsartikels ab.
Absatz 1 beschränkt den persönlichen Anwendungsbereich der Bestimmung auf Aus-
länderinnen und Ausländer, die in die Schweiz zuwandern, das heisst diejenigen, die
ihr Land verlassen, um sich dauerhaft in der Schweiz aufzuhalten, nicht aber auf jene,
die bereits in die Schweiz eingewandert sind. Artikel 121
a
Absatz 4 BV verbietet
folglich nicht den Abschluss von Verträgen zu anderen Aufenthaltsarten, welche nicht
unter den Begriff der «Zuwanderung» fallen. So ist es mit Artikel 121
a
BV insbeson-
dere auch vereinbar, völkerrechtliche Verträge abzuschliessen, wenn diese bezwe-
cken, die Rechtsstellung von ausländischen Personen zu verbessern, welche sich be-
reits in der Schweiz befinden.
Die in Artikel 121
a
Absatz 1 BV geforderte Eigenständigkeit bei der Steuerung der
Zuwanderung bedeutet, dass die Schweiz selbst über die Art und den Umfang der
387 / 931
Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern entscheidet, ohne andere Staaten,
internationale Organisationen oder supranationale Gemeinschaften miteinzubeziehen.
Mit eigenständiger Steuerung der Zuwanderung ist gemeint, dass die Schweiz in
quantitativer und qualitativer Hinsicht alleine entscheidet und nicht durch völkerrecht-
liche Verpflichtungen dazu gebracht werden kann, die Kontrolle über die Zuwande-
rung zu verlieren oder zu übertragen. Artikel 121
a
BV bezweckt die eigenständige
Steuerung der Zuwanderung, sieht aber keine fixe Obergrenze der Zuwanderung vor.
Es ist insbesondere auch zulässig, bestehende Kompensationsmöglichkeiten innerhalb
des dualen Zulassungssystems der Schweiz zu nutzen (s. dazu die nachfolgenden Aus-
führungen zur Teilübernahme der Richtlinie 2004/38 EG in diesem Kapitel).
Verträge, in denen es hauptsächlich oder teilweise um die Regelung der Zuwanderung
geht, sind also nicht grundsätzlich verboten. Selbst im Zuwanderungsbereich verbietet
diese Verfassungsbestimmung nicht jeden neuen Vertrag, der Ausländerinnen und
Ausländern von der Anwendung von Höchstzahlen oder Kontingenten ausnimmt oder
ihnen Freizügigkeitsrechte verleiht. Abkommen, die einem eng begrenzten Personen-
kreis Freizügigkeitsrechte einräumen, stellen die Eigenständigkeit der Schweiz nicht
in Frage. Solche Abkommen können mit der in Artikel 121
a
Absatz 2 BV geforderten
Begrenzung der Zuwanderung durch Höchstzahlen und Kontingente vereinbar sein,
wenn die Zuwanderung gering ist und eine allfällige Zunahme derselben im Rahmen
der Kontingentierung für Drittstaatsangehörige berücksichtigt werden kann. Es ist so-
mit zulässig, völkerrechtliche Abkommen abzuschliessen, solange die Schweiz die
Kontrolle über die Zuwanderung nicht verliert und solange diese Verträge die Mög-
lichkeit der Schweiz, die Zuwanderung durch Höchstzahlen und Kontingente zu steu-
ern, weitgehend unberührt lassen
374
.
Artikel 121
a
Absatz 3 BV legt gewisse Kriterien für eine qualitative Steuerung der
Zuwanderung von erwerbstätigen Personen fest. Die Kontingente sind auf die gesamt-
wirtschaftlichen Interessen der Schweiz unter Berücksichtigung eines Vorranges für
Inländerinnen und Inländer auszurichten. Der betreffende Absatz 3 enthält überdies
eine nicht abschliessende Liste von massgebenden Kriterien für die Erteilung von
Aufenthaltsbewilligungen zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit (Gesuch eines Arbeit-
gebers, Integrationsfähigkeit und eine ausreichende, eigenständige Existenzgrund-
lage; s. Ziff. 2.3.6.2.2, Erläuterungen zu Art. 5
f
FZA). Diese Kriterien sind auch im
Lichte von Absatz 1 auszulegen, der mit der eigenständigen Steuerung der Zuwande-
rung das Hauptziel der Bestimmung festhält. Wenn die neuen internationalen Ver-
pflichtungen nur eine geringe Anzahl von Personen betreffen, haben sie nur eine ge-
ringfügige Auswirkung auf die globale Zuwanderung und dementsprechend auf die
Zuwanderung von erwerbstätigen Personen.
Im vorliegenden Fall geht es also darum zu prüfen, ob durch das Inkrafttreten des
Änderungsprotokolls neue Ansprüche auf Zuwanderung geschaffen werden und ob
diese neuen Ansprüche im Vergleich zum FZA von 1999 mit einer eigenständigen
374
Dies war beispielsweise der Fall bei den Freihandelsabkommen mit Japan
(SR
0.946.294.632
) und China (SR
0.946.292.492
). Zudem wurde davon ausgegangen,
dass auch Migrationspartnerschaften und Stagiaires-Abkommen die Eigenständigkeit nicht
beeinträchtigen.
388 / 931
Steuerung der Zuwanderung, die sich auf quantitative und qualitative Massnahmen
stützt, in Einklang gebracht werden können.
Im Rahmen des vorliegenden Abkommenspakets mit der EU schafft, in Bezug auf das
FZA von 1999, einzig die Übernahme der Richtlinie 2004/38/EG neue Aufenthalts-
rechte für Ausländerinnen und Ausländer, die im Sinne von Artikel 121
a
BV in die
Schweiz einwandern. Die Übernahme der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 über die
Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union betrifft zwar auch den Zugang
zur Erwerbstätigkeit in der Schweiz, sie bringt jedoch keine neuen Verpflichtungen
für die Schweiz mit sich, da sie nur die Bestimmungen der Verordnung (EWG)
Nr. 1612/68
375
kodifiziert, die inhaltlich im Anhang I des geltenden FZA übernom-
men wurden. Das Protokoll zu Bewilligungen für Langzeitaufenthalte (Niederlas-
sungsbewilligungen) wird in das FZA aufgenommen, Bewilligungen für Langzeitau-
fenthalte (Niederlassungsbewilligungen) liegen gemäss diesem Protokoll aber
ausserhalb des Geltungsbereichs des FZA. Auch dieses Protokoll verstösst nicht ge-
gen Artikel 121
a
BV, da nicht die Zuwanderung in die Schweiz betrifft, sondern die
Voraussetzungen für die Erlangung einer Niederlassungsbewilligung nach einem
Aufenthalt von fünf Jahren für Personen, die bereits in die Schweiz eingewandert sind.
Die übrigen in das FZA aufgenommenen Erlasse der EU betreffen andere Aspekte der
Personenfreizügigkeit wie das Ausweisformat, den gerichtlichen Schutz der Freizü-
gigkeitsrechte, die soziale Sicherheit oder die Entsendung von Arbeitnehmenden.
Durch die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG geht die Schweiz neue Ver-
pflichtungen ein, die sich im Sinne von Artikel 121
a
BV auf die Zuwanderung in die
Schweiz auswirken können, nämlich Artikel 2 Absatz 2 und Artikel 3 Absatz 2 der
Richtlinie 2004/38/EG. Die anderen Bestimmungen der Richtlinie beziehen sich hin-
gegen auf Rechte, die entweder nicht die Zuwanderung im Sinne von Artikel 121
a
BV betreffen oder materiell den Rechten des geltenden FZA entsprechen. Folglich
muss nur die Vereinbarkeit dieser beiden Bestimmungen aus der Richtlinie
2004/38/EG mit Artikel 121
a
BV geprüft werden.
Im Vergleich zum FZA von 1999 erweitert oder erleichtert die Richtlinie 2004/38/EG
den Familiennachzug und die damit verbundenen Rechte in verschiedenen Punkten.
Der Kreis der Personen, die Anspruch auf Familiennachzug haben, wurde erweitert
auf eingetragene Partner (Art. 2 Nr. 2 Bst. b der Richtlinie 2004/38/EG), unterhalts-
berechtigte Verwandte in aufsteigender Linie von Personen in eingetragener Partner-
schaft (Art. 2 Nr. 2 Bst. d der Richtlinie 2004/38/EG) sowie auf Nachkommen von
Personen in eingetragener Partnerschaft, die unter 21 Jahre alt sind oder denen Unter-
halt gewährt wird (Art. 2 Nr. 2 Bst. c der Richtlinie 2004/38/EG). Weiter wird der
Personenkreis, der einen erleichterten Familiennachzug geltend machen kann, erwei-
tert (Art. 3 Abs. 2 UAbs. 1 Bst. a und b der Richtlinie 2004/38/EG) und die Pflichten
des Aufnahmestaates bei der Prüfung der persönlichen Umstände und Begründung
von Ablehnungen ausgeweitet. Ausserdem erwähnt die Richtlinie 2004/38/EG die Be-
dingung einer angemessenen Wohnung beim Familiennachzug nicht mehr.
375
Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit
der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, ABl. L 257 vom 19.10.1968, S. 2–12.
389 / 931
Die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG enthält daher Bestimmungen, die sich
im Vergleich zum FZA von 1999 auf die Zuwanderung in die Schweiz im Sinne von
Artikel 121
a
BV auswirken können. Im Vergleich zur Anzahl der Personen, die ge-
stützt auf das FZA von 1999 Anspruch auf Einreise und Aufenthalt haben, ist davon
auszugehen, dass es sich um eine vernachlässigbare Anzahl von zusätzlichen Perso-
nen handelt, die aufgrund der neuen Rechte aus der Richtlinie 2004/38/EG in die
Schweiz einwandern würden. Auf jeden Fall wird diese Zahl nicht so gross sein, dass
sie eine eigenständige Steuerung der Zuwanderung im Sinne von Artikel 121
a
Ab-
satz 1 BV unmöglich machen würde. Im dualen Zulassungssystem der Schweiz kann
zudem einer allfälligen, daraus entstehenden Zunahme der Zuwanderung durch
Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten durch eine Anpassung der jährlichen
Höchstzahlen oder der Kontingente für Drittstaatsangehörige Rechnung getragen wer-
den.
Die neuen Rechte, die sich aus der Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG ergeben,
stehen deshalb nicht im Widerspruch zu den Verfassungsbestimmung über die Steue-
rung der Zuwanderung.
Das geänderte FZA verpflichtet die Schweiz und die EU auch zur dynamischen In-
tegration künftiger Rechtsakte der EU in die Anhänge des Abkommens, wenn diese
in den Geltungsbereich des Abkommens fallen und keine zwischen den Vertragsstaa-
ten vereinbarten Ausnahmen betreffen. Dieser vom GA getroffene Integrationsent-
scheid hat zur Folge, dass der betreffende Rechtsakt in die schweizerische Rechtsord-
nung übernommen wird. Dabei wird es sich jeweils um einen internationalen
Rechtsakt zur Änderung des vorliegenden Abkommens handeln. Die Übernahme ge-
schieht allerdings nicht automatisch, da jeder im Anhang des Abkommens hinzuge-
fügte Rechtsakt der EU nur nach einvernehmlichem Beschluss durch die Vertretungen
der beiden Vertragsparteien im GA übernommen werden kann. Die Schweiz kann also
beschliessen, auf die Übernahme eines Rechtsakts zu verzichten. In diesem Fall
könnte es allerdings zu Streitigkeiten zwischen den beiden Vertragsparteien kommen,
die dann im GA behandelt werden müssten. Gelingt es dem GA nicht, die Streitigkei-
ten innerhalb von drei Monaten beizulegen, könnte die EU von einem Schiedsgericht
feststellen lassen, dass die Schweiz gegen ihre Verpflichtungen verstossen hat, worauf
die EU Ausgleichsmassnahmen gegen die Schweiz ergreifen könnte, die nicht nur das
FZA, sondern auch alle anderen Binnenmarktabkommen zwischen der Schweiz und
der EU betreffen können. Mit dieser neuen völkerrechtlichen Verpflichtung wird die
Schweiz also nicht automatisch alle neuen Rechtsakte der EU übernehmen müssen,
wenn diese mit Artikel 121
a
BV nicht vereinbar sind. Daraus ergibt sich, dass die
Schweiz durch die Genehmigung des Änderungsprotokolls zum FZA neue internati-
onale Verpflichtungen nicht eingeht, wenn diese zu einem Verlust oder einer Über-
tragung der Kontrolle über die Zuwanderung führen würden. Sie bleibt dadurch in der
Lage, die Zuwanderung in quantitativer und qualitativer Hinsicht zu steuern. Diese
Änderung des FZA ist somit auch mit Artikel 121
a
Absatz 4 BV vereinbar.
390 / 931
2.3.10.2
Verfassungsmässigkeit der Umsetzungsgesetzgebung und
Begleitmassnahmen
2.3.10.2.1
Zuständigkeit
Die Erlassentwürfe zur Umsetzung des Änderungsprotokolls zum FZA stützen sich
im Wesentlichen auf Artikel 121 BV, welcher dem Bund die Kompetenz im Auslän-
derbereich erteilt. Im Bereich des Anhangs II FZA (berufliche Vorsorge) stützen sie
sich auf Artikel 113 BV sowie auf Artikel 122 BV (Personalfürsorgestiftungen), und
im Bereich der Anerkennung der Berufsqualifikationen auf Artikel 95 Absatz 1 sowie
Artikel 117
a
Absatz 2 Buchstabe a BV.
Die Entwürfe zum EntsG stützen sich auf Artikel 110 Absatz 1 Buchstaben a und b
BV, jene zum Bundesgesetz über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtar-
beitsverträgen hingegen auf Artikel 110 Absatz 1 Buchstaben d BV.
2.3.10.2.2
Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV)
Durch die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG wird die Meldepflicht für kurz-
fristige Erwerbstätigkeit auch für Schweizer Staatsangehörige gelten (s.
Ziff. 2.3.8.4.1). Neu unter die Meldepflicht fallen Schweizerinnen und Schweizer, die
entweder in einem EU-Mitgliedstaat wohnen und in der Schweiz für höchstens 90 Ar-
beitstage im Kalenderjahr eine grenzüberschreitende Dienstleistung erbringen, oder
die für höchstens drei Monate in der Schweiz einer Erwerbstätigkeit nachgehen.
Zweck der Meldung ist es, den Status von Selbstständigen oder bei Arbeitnehmenden
die Lohn- und Arbeitsbedingungen zu überprüfen und Scheinselbstständigkeit zu be-
kämpfen. Damit erhalten Schweizer Staatsangehörige denselben Schutz wie Staatsan-
gehörige der EU-Mitgliedstaaten.
Es handelt sich dabei um ein deklaratorisches Verfahren, was bedeutet, dass das Feh-
len einer Meldung nicht dazu führt, dass die Ausübung der Erwerbstätigkeit einge-
schränkt oder verboten würde. Diese Meldepflicht behindert weder den freien Wett-
bewerb noch schützt sie gewisse Wirtschaftsbranchen. Somit verstösst die
Ausweitung der Meldepflicht auf Schweizer Staatsangehörige auch nicht gegen Arti-
kel 94 Absatz 4 BV.
Damit werden die freie Berufswahl sowie der freie Zugang zu einer Erwerbstätigkeit
und deren freie Ausübung nicht tangiert und die Wirtschaftsfreiheit bleibt gewährleis-
tet.
2.3.10.2.3
Zuständigkeit des Bundes im Bereich der Sozialhilfe
Die Sozialhilfe liegt grundsätzlich im Kompetenzbereich der Kantone (Art. 115 BV).
Der Bund kann jedoch sozialhilferechtliche Bestimmungen erlassen, sofern die be-
treffende Massnahme zur Durchsetzung eines wichtigen ausländerpolitischen Ziels
notwendig erscheint, nicht im Konflikt steht mit anderen ausländerpolitischen Zielen,
in ihrer inhaltlichen und zeitlichen Wirkung begrenzt ist und den Kernbereich der
kantonalen Sozialhilfekompetenz unberührt lässt (Art. 121 Abs. 1 BV). Als wichtige
ausländerpolitische Ziele anerkannt sind insbesondere die Senkung der Attraktivität
der Schweiz als Zuwanderungsland (für bestimmte Personengruppen) oder auch die
391 / 931
rasche Integration von Personengruppen mit Aussicht auf einen längerfristigen Ver-
bleib in der Schweiz. Es muss sich also um ein besonders gewichtiges Ziel handeln,
das eine breite Unterstützung geniesst.
376
Die Senkung der Attraktivität der Schweiz für bestimmte Personenkategorien, die eine
finanzielle Belastung darstellen, kann als Ziel der Ausländerpolitik betrachtet werden
und steht nicht im Konflikt mit anderen ausländerpolitischen Zielen.
Folglich kann der Bund gestützt auf Artikel 121 Absatz 1 BV Einschränkungen des
Anspruches auf Sozialhilfe für zusätzliche Personenkategorien gesetzlich regeln,
wenn damit das oben erwähnte Ziel verfolgt wird. Artikel 41
c
VE-AIG regelt, welche
Personenkategorien auch mit der Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG von der
Sozialhilfe ausgeschlossen werden können und bewegt sich innerhalb der Zuständig-
keit des Bundes im Bereich der Sozialhilfe (s. Ziff. 2.3.8.1.1, Erläuterungen zu
Art. 41
c
VE-AIG). Der Sozialhilfeausschluss von bestimmten Kategorien von Staats-
angehörigen der EU-Mitgliedstaaten während den ersten Monaten ihres Aufenthalts
ist in seiner inhaltlichen und zeitlichen Wirkung begrenzt und lässt den Kernbereich
der kantonalen Kompetenz unberührt. Artikel 41
c
VE-AIG verankert den Sozialhil-
feausschluss ebenfalls für Personen, die sich mehr als drei Monate in der Schweiz
aufhalten (und dabei weder den Status als Erwerbstätige haben noch Familienangehö-
rige sind oder das Recht auf Daueraufenthalt erworben haben). Indem das Bundesge-
setz vorsieht, dass die Kantone Ausnahmen in ihrer Gesetzgebung festlegen, wird die
kantonale Gesetzgebungskompetenz im Bereich der Sozialhilfe angemessen berück-
sichtigt.
2.3.10.3
Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen
der Schweiz
2.3.10.3.1
Bilaterale Abkommen mit EU-Mitgliedstaaten in anderen
Bereichen als der sozialen Sicherheit und der
Steuerabkommen
Das Änderungsprotokoll zum FZA hat keine Auswirkungen auf das Verhältnis zu an-
deren bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und EU-Mitgliedstaaten. Diese
bleiben weiterhin in Kraft und unverändert bestehen.
Die Schweiz und die EU haben sich auf eine Harmonisierung bezüglich der Erteilung
der
Niederlassungsbewilligung
geeinigt.
Alle
Staatsangehörigen
der
EU-
Mitgliedstaaten erhalten diese neu nach einem rechtmässigen und ununterbrochenen
Aufenthalt von fünf Jahren (s. Ziff. 2.3.6.4). Von der Harmonisierung betroffen ist
376
Siehe Bericht des Bundesrates von Juni 2019 «Kompetenzen des Bundes im Bereich der
Sozialhilfe für Ausländerinnen und Ausländer aus Drittstaaten», Bericht des Bundesrates
in Erfüllung des Postulates der Staatspolitischen Kommission des Ständerates 17.3260
vom 30. März 2017, S. 12, https://www.parlament.ch/de > Suche > 17.3260 > Bericht in
Erfüllung des parlamentarischen Vorstosses.
392 / 931
jedoch einzig der vorgängige Aufenthalt von fünf Jahren. Hingegen bleiben die beste-
henden Niederlassungsvereinbarungen, die die Schweiz mit verschiedenen EU-
Mitgliedstaaten
377
abgeschlossen hat, weiterhin in Kraft.
In Bereichen, in denen ein spezielles Dienstleistungsabkommen zwischen der
Schweiz und der EU bereits besteht (z.B. das Abkommen über das öffentliche Be-
schaffungswesen) oder künftig abgeschlossen wird, darf die gestützt auf diese Ab-
kommen erfolgende Dienstleistungserbringung nicht durch Bestimmungen über den
freien Personenverkehr behindert werden.
In Bezug auf die bilateralen Sozialversicherungs- und Steuerabkommen gilt die aktu-
elle Regelung des FZA (Art. 20 und 21) unverändert weiter. Mit den rein formellen
Änderungen von Artikel 21 wird lediglich bezweckt, die Bestimmung an den aktuel-
len internationalen Steuerkontext anzupassen. Diese Änderungen, insbesondere jene
im Artikel 21 Absatz 2 des Änderungsprotokolls zum FZA, haben keine Auswirkun-
gen auf den materiellen Geltungsbereich der Bestimmung.
2.3.10.3.2
EFTA-Übereinkommen
Das Änderungsprotokoll zum FZA ist vereinbar mit dem revidierten EFTA-
Übereinkommen vom 21. Juni 2001. Das Protokoll findet nur im Verhältnis zwischen
der Schweiz und der EU und ihren Mitgliedstaaten, nicht aber im Verhältnis zu den
EFTA-Staaten Anwendung. Zwischen der Schweiz und den EFTA-Staaten gelten im
Bereich der Personenfreizügigkeit daher weiterhin die im Anhang K des EFTA-
Übereinkommens enthaltenen Bestimmungen, die mit dem geltenden FZA weitge-
hend übereinstimmen.
Um weiterhin möglichst einheitliche Regeln zwischen den EU- und EFTA-
Mitgliedstaaten zu gewährleisten, wird eine Anpassung des Anhangs K des EFTA-
Übereinkommens an die im Rahmen des Pakets Schweiz-EU vorgenommen Ände-
rungen des FZA zu prüfen sein.
2.3.10.3.3
GATS/WTO
Das Allgemeine Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) der Welt-
handelsorganisation (WTO) schreibt die Anwendung der Meistbegünstigungsklausel
(Art. II) vor, unter welcher jedem anderen Mitgliedstaat der WTO eine gleich vorteil-
hafte Behandlung zu gewähren ist, vorbehaltlich eines Abkommens zwischen den
Vertragsparteien, das den Handel mit Dienstleistungen im Sinne von Artikel V GATS
horizontal abdeckt, oder einer Ausnahme im Sinne von Artikel II Absatz 2 GATS.
Sowohl die Schweiz als auch die EU haben in Bezug auf die Massnahmen ihrer bila-
teralen Abkommen zur grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung durch na-
türliche Personen eine solche Ausnahme geltend gemacht. Das Änderungsprotokoll
zum FZA kann somit als mit den Verpflichtungen der Schweiz aus dem GATS ver-
einbar betrachtet werden.
377
Siehe Ziffer 0.2.1.3.1 der Weisungen und Erläuterungen des Staatssekretariats für Migra-
tion SEM zum I. Ausländerbereich (Weisungen AIG), Stand am 1. Januar 2025, abrufbar
unter www.sem.admin.ch > Publikationen & Service > Weisungen und Kreisschreiben > I.
Ausländerbereich.
393 / 931
2.3.10.3.4
EMRK und UNO-Pakt II
Die Verpflichtungen der Schweiz aus der Konvention vom 4. November 1950
378
zum
Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) sowie auch aus dem In-
ternationalen Pakt vom 16. Dezember 1966
379
über bürgerliche und politische Rechte
(UNO-Pakt II) bleiben durch das neue Abkommen mit der EU unberührt.
2.3.10.3.5
Übereinkommen Nr. 98 der Internationalen
Arbeitsorganisation (IAO)
Die Schweiz hat 1999 das Übereinkommen Nr. 98 der Internationalen Arbeitsorgani-
sation (IAO) über die Anwendung der Grundsätze des Vereinigungsrechtes und des
Rechtes zu Kollektivverhandlungen von 1949
380
ratifiziert. 2003 hat der Schweizeri-
sche Gewerkschaftsbund (SGB) bei einem der IAO-Kontrollorgane, dem Ausschuss
für Vereinigungsfreiheit, gegen die Schweiz eine Klage wegen Verletzung der Ge-
werkschaftsrechte eingereicht. Gestützt auf das IAO-Übereinkommen Nr. 98 bean-
standet der SGB den unzureichenden Schutz der Delegierten sowie der Vertreterinnen
und Vertreter von Gewerkschaften in der Schweiz.
Schon 2004 anerkannte die IAO die Vorwürfe des SGB als begründet und forderte die
Schweiz auf, ihr privates Arbeitsrecht anzupassen. 2006 wurde dieser Fall an der In-
ternationalen Arbeitskonferenz im Rahmen des Normenausschusses behandelt.
Im Jahr 2010 schickte der Bundesrat einen Vorentwurf zur Teilrevision des Obligati-
onenrechts in die Vernehmlassung, der die Erhöhung der Sanktion von sechs auf
zwölf Monatslöhne vorsah. Dieser Vorentwurf wurde äusserst kontrovers beurteilt
und führte zu diametral entgegengesetzten Stellungnahmen.
Nachdem im Jahr 2015 mehrere Studien in Auftrag gegeben sowie 2017 verschiedene
Seminare organisiert worden waren und ein Versuch, eine Einigung zwischen den
Sozialpartnern zu erzielen, erfolglos verlaufen war, wurde 2020 eine unabhängige ex-
terne Mediation eingeleitet. Ende 2023 wurde diese Mediation ausgesetzt, obwohl ein
konkretes Ergebnis auf dem Tisch lag.
Gemäss den letzten Äusserungen der IAO zu dieser Angelegenheit hofft der Aus-
schuss, dass die laufende Mediation zu einer Einigung führen werde, und fordert die
Regierung auf, die notwendigen Massnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass
die Gesetzgebung und die Rechtspraxis zum Schutz vor gewerkschaftsfeindlichen
Kündigungen vollumfänglich mit dem Übereinkommen Nr. 98 im Einklang stehen.
Sofern kein Konsens gefunden werden kann, sei es an der Regierung, die notwendigen
Entscheidungen zu treffen, damit die von ihr ratifizierten internationalen Überein-
kommen eingehalten werden.
378
SR
0.101
379
SR
0.103.2
380
SR
0.822.719.9
394 / 931
Gestützt auf die Ergebnisse der Mediation und die letzten Äusserungen der IAO
schlägt der Bundesrat eine Änderung des Obligationenrechts vor, um den Kündi-
gungsschutz für Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter zu verbessern.
(s. Ziff. 2.3.7.2.2).
2.3.10.4
Erlassform
Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV unterliegen völkerrechtliche Ver-
träge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige rechtsetzende Bestimmungen
enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Nach Ar-
tikel 22 Absatz 4 ParlG sind unter rechtsetzenden Normen jene Bestimmungen zu ver-
stehen, die in unmittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten auf-
erlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen. Als wichtig gelten
Bestimmungen, die auf der Grundlage von Artikel 164 Absatz 1 BV in der Form eines
Bundesgesetzes erlassen werden müssten.
Das Änderungsprotokoll sowie das Institutionelle Protokoll enthalten wichtige recht-
setzende Bestimmungen. Zudem erfordert die Umsetzung des Änderungsprotokolls
die Änderung von Gesetzen. Der Bundesbeschluss über die Genehmigung des Vertra-
ges untersteht deshalb dem fakultativen Referendum nach Artikel 141 Absatz 1 Buch-
stabe d Ziffer 3 BV (s. Varianten in Ziff. 4.2)
.
Zur Frage der Bündelung der Umset-
zungsgesetzgebung, siehe Ziffer 4.3.
2.3.10.5
Vorläufige Anwendung
Das Änderungsprotokoll zum FZA sieht keine vorläufige Anwendung vor.
2.3.10.6
Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass
2.3.10.6.1
Unterstellung unter die Ausgabenbremse
Mit der Vorlage werden weder neue Subventionsbestimmungen noch neue Verpflich-
tungskredite oder Zahlungsrahmen beschlossen. Die Vorlage ist somit nicht der Aus-
gabenbremse (Art. 159 Abs. 3 Bst. b BV) unterstellt.
2.3.10.6.2
Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der
fiskalischen Äquivalenz
Die Vorlage führt zu keiner Verschiebung der Aufgabenzuweisungen zwischen dem
Bund und den Kantonen und das Subsidiaritätsprinzip wird gewahrt. Der Vollzug im
Ausländerrecht bleibt Sache der Kantone, der Bundesrat beaufsichtigt den Vollzug
des AIG (Art. 124 AIG).
2.3.10.6.3
Delegation von Rechtssetzungsbefugnissen
Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen im AIG
Der Gesetzesentwurf sieht vor, dem Bundesrat im AIG die Kompetenz zur Festlegung
der Fristen und des Verfahrens einzuräumen, welche sich im Zusammenhang mit den
Pflichten bei der Einreise und dem Aufenthalt von Staatsangehörigen der EU-
Mitgliedstaaten und ihren Familienangehörigen ergeben (Art. 13
a
VE-AIG). Die
395 / 931
Festlegung der Fristen und der Verfahren wird der Bundesrat auf Verordnungsstufe
ausführen.
Gemäss Artikel 21
b
VE-AIG ist der Bundesrat für das gesamte Verfahren vor dem
GA des FZA und dem Schiedsgericht, einschliesslich für die Genehmigung eines Be-
schlusses des GA über Schutzmassnahmen und die Festlegung der Schutzmassnah-
men bei einem positiven Entscheid des Schiedsgerichts zuständig (Art. 21
b
Abs. 1
und 2 VE-AIG). Er hat demnach die Kompetenz, Beschlüsse des GA über Schutzmas-
snahmen zu genehmigen und sie umzusetzen, soweit sie nicht direkt anwendbar sind
(Art. 21
b
Abs. 1 VE-AIG), sowie Schutzmassnahmen nach den Absätzen 6 und 7 zu
ergreifen, wenn das Schiedsgericht feststellt, dass die im neuen Artikel 14a Absätze 3
und 5 FZA genannten Voraussetzungen vorliegen (Art. 21
b
Abs. 2 VE-AIG). Der
Bundesrat hat ausserdem die Kompetenz, Ausgleichsmassnahmen vorzusehen, wenn
die EU Schutzmassnahmen ergreift, die zu einem Ungleichgewicht zwischen den
Rechten und Pflichten der Vertragsparteien aus dem FZA führen (Art. 21
b
Abs. 4 VE-
AIG). Artikel 21
b
Absatz 5 VE-AIG sieht weiter vor, dem Bundesrat die Kompetenz
zur Festlegung der Höhe der Schwellenwerte einzuräumen, welche zu einer obligato-
rischen Prüfung des Vorliegens schwerwiegender wirtschaftlicher oder sozialer Prob-
leme im Sinne des neuen Artikels 14a Absatz 1 FZA führen.
Gemäss Artikel 21
b
Absatz 3 VE-AIG kann der Bundesrat trotz einem negativen Ent-
scheid des Schiedsgerichts selbst vorübergehende geeignete Schutzmassnahmen ge-
mäss Absatz 6 und 7 ergreifen, wenn er zum Schluss kommt, dass die Probleme derart
gross sind, dass Massnahmen erforderlich erscheinen. Sollen diese Massnahmen län-
ger als 12 Monate dauern, muss der Bundesrat innerhalb dieser Frist der Bundesver-
sammlung eine entsprechende Vorlage unterbreiten. Die Massnahmen des Bundesra-
tes gelten jedoch über diese Frist hinaus bis zum Entscheid des Parlaments über die
Vorlage.
Weiter wird die bestehende Kompetenz des Bundesrates zur Bestimmung der Daten-
bekanntgabe zwischen den Behörden erweitert (Art. 97 Abs. 3 Bst. d
bis
AIG).
Dadurch wird sichergestellt, dass die mit dem Vollzug des AIG betrauten Behörden
(z.B. Migrationsbehörden) und die für die öffentliche Arbeitsvermittlung zuständigen
Behörden, sich bei der Erfüllung der Aufgaben gegenseitig unterstützen.
Anerkennung von Berufsqualifikationen
Im Geltungsbereich von Anhang III FZA ermöglicht der Entwurf des Bundesgesetzes
über die Verwaltungszusammenarbeit im Bereich der Anerkennung von Berufsquali-
fikationen dem Bundesrat, die Behörden zu benennen, die die verschiedenen Koordi-
nationsfunktionen im Rahmen des IMI wahrnehmen sollen. Dabei handelt es sich so-
wohl um die Funktion des nationalen Koordinators als auch um jene des sektoriellen
Koordinators für die Anerkennung von Berufsqualifikationen. Der Bund ist zuständig
für die Koordination der verschiedenen IMI-Nutzer, da diese Aufgabe mit den aus-
wärtigen Angelegenheiten verknüpft ist (Art. 54 Abs. 1 BV). Zudem obliegt es gemäss
Artikel 8 Absatz 1 RVOG dem Bundesrat, eine zweckmässige Organisation der Bun-
desverwaltung sicherzustellen. Indem ihm die Kompetenz übertragen wird, festzule-
gen, welches Amt welche Koordinationsrolle im IMI übernimmt, bleibt er in der Lage,
diese Zuständigkeiten bei Bedarf flexibel den sich ändernden Umständen anzupassen.
396 / 931
Die Bestimmungen zum Datenschutz entsprechen dem DSG. Die erforderlichen Re-
gelungen wurden auf Gesetzesstufe vorgesehen. Die vorgängige Risikoprüfung hat
kein hohes Risiko für die Grundrechte der betroffenen Personen ergeben.
Die geringfügigen Anpassungen des BGMD beinhalten keine Delegation von Gesetz-
gebungskompetenzen und stehen in keinem Zusammenhang mit dem Datenschutz.
Im Übrigen enthalten die Umsetzungsakte im Bereich der Anerkennung von Berufs-
qualifikationen keine Bestimmungen über die Gewährung von finanzhilfen oder Ab-
geltungen.
Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen im Bereich des EntsG
Im Zusammenhang mit der Meldepflicht wird der Bundesrat ermächtigt, die spezifi-
schen Branchen zu bestimmen, in welchen eine viertägige Voranmeldefrist gelten
soll. Es handelt sich um diese Meldepflichtigen:
–
Artikel 6
b
Absatz 2: selbstständige im Ausland niedergelassene Dienstleis-
tungserbringerinnen und Dienstleistungserbringer, die bis zu 90 Arbeitsta-
gen innerhalb eines Kalenderjahres in der Schweiz eine selbstständige Er-
werbstätigkeit ausüben;
–
Artikel 6
Absatz 3: Arbeitgebende mit Wohnsitz oder Sitz im Ausland, die
ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in die Schweiz entsenden.
Schweizer Arbeitgeber, die im Ausland wohnhafte Personen während höchstens drei
Monaten pro Kalenderjahr einstellen, Personen, die eine selbstständige Erwerbstätig-
keit ausüben, ohne im Ausland niedergelassen zu sein, und im Ausland niedergelas-
sene Dienstleistungserbringer, die eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausüben, müs-
sen spätestens am Tag vor Beginn der Erwerbstätigkeit (Artikel 6
a
Absatz 1 und 2
VE-EntsG und Artikel 6
e
Absatz 1 und 2 VE-EntsG) bzw. vor dem Beginn der Tätig-
keit (Artikel 6
b
Absatz 1 und 2 VE-EntsG) der zuständigen Bundesbehörde die für
die Durchführung der Kontrollen notwendigen Angaben melden. In diesem Zusam-
menhang präzisiert der Bundesrat, welche Angaben die Meldung enthalten muss (Ar-
tikel 6
a
Abs. 3 VE-EntsG, Artikel 6
b
Absatz 3 VE-EntsG und Artikel 6
e
Absatz 4
VE-EntsG). Weiter wird der Bundesrat in Artikel 6 Absatz 6 VE-EntsG ermächtigt,
die zuständige Behörde des Bundes zu bestimmen, welcher die Meldung eines Ein-
satzes in der Schweiz zu melden ist. Zudem wird er befugt, die automatisierte Über-
mittlung der Meldung über eine elektronische Schnittstelle vorzusehen.
Der Bundesrat wird zudem ermächtigt, Ausnahmen von der Pflicht zur Bereithaltung
und Zugänglichmachung von Dokumenten zu regeln. Ausnahmen können insbeson-
dere für Tätigkeiten von kurzer Dauer und ausserhalb von Branchen nach Artikel 6
Absatz 2 EntsV vorgesehen werden. Weiter können Ausnahmen auch bei Notfällen
bestimmt werden. Als Notfälle sind insbesondere unvorhersehbare Ereignisse denk-
bar, die eines unverzüglichen Arbeitseinsatzes bedürfen. Unter Berücksichtigung des
Verhältnismässigkeitsprinzips soll die Dokumentationspflicht eine Dauer von zwei
Jahren nach Abschluss der Entsendung nicht übersteigen. Analog zur Regelung der
Branchen, in welchen die acht meldefreien Tage nicht gelten (Art. 6 Abs. 2 EntsV),
397 / 931
soll auch die Bestimmung der spezifischen Branchen, in welchen die viertägige Vo-
ranmeldefrist gelten soll, auf Verordnungsstufe erfolgen. Artikel 6 Absatz 3 VE-
EntsG ermächtigt den Bundesrat deshalb, die Einzelheiten zur Bestimmung dieser
Branchen zu regeln. Die Bestimmung der spezifischen Branchen soll dabei basierend
auf einer Risikoanalyse erfolgen und die Erkenntnisse aus der Vollzugs- und Kon-
trollpraxis einbeziehen.
Artikel 8
m
Absatz 3 delegiert die Benennung des nationalen IMI-Koordinators an den
Bundesrat.
In der römischen Ziffer III wird die Bestimmung über das Inkrafttreten des revidierten
EntsG an den Bundesrat delegiert. Die Umsetzung der Richtlinien 2014/67/EU und
(EU) 2018/957 muss innerhalb von 36 Monaten nach Inkrafttreten des Änderungspro-
tokolls zum FZA erfolgen. Das EntsG ist auf Arbeitgeber und entsandte Arbeitnehmer
unabhängig von ihrer Herkunft anwendbar. Gewisse Bestimmungen wie die zum Mel-
deverfahren nach Artikel 6, 6
a
, 6
b
und 6
e
EntsG gelten nicht nur für Staatsangehörige
aus der EU, sondern auch der EFTA. Bis zum Inkrafttreten eines allfälligen angepass-
ten EFTA-Übereinkommens gelten die Bestimmungen über die Amtshilfe via IMI
nach Artikel 8ff. nur für Staatsangehörige aus den EU-Staaten. Die anderen Anpas-
sungen im EntsG sind auch auf Staatsangehörige aus den EFTA-Staaten anwendbar,
da keine Unvereinbarkeiten mit dem heutigen EFTA-Übereinkommen bestehen.
2.3.10.7
Datenschutz
Für Datenschutzfragen bezüglich der institutionellen Elemente gelten die allgemeinen
Erwägungen (s. Ziff. 2.1.8.6., Datenschutz).
Anforderungen an den Datenschutz im Bereich des EntsG
Bei den Artikeln 8
o
bis 8
q
VE-EntsG handelt es sich um eine Präzisierung des bishe-
rigen Artikels 8 EntsG, der den heutigen Anforderungen an die Grundlagen für die
Datenbearbeitung und -bekanntgabe im Vollzug des Entsendegesetzes nicht mehr ge-
nügt. Bei den neuen Datenschutzbestimmungen handelt es sich insbesondere um eine
Kodifizierung der Gerichts- und Vollzugspraxis. Aus diesem Grund muss auch keine
Datenschutz-Folgenabschätzung nach Artikel 22 DSG durchgeführt werden.
Die Bestimmung in Artikel 6
f
VE-EntsG zur elektronischen Informationsplattform ist
mit dem DSG konform. Die Informationsplattform erhebt oder bearbeitet keine Per-
sonendaten. Bei den abrufbaren Daten handelt es sich nicht um vertrauliche Informa-
tionen, da sie auf anderen Webseiten resp. Dokumenten öffentlich abrufbar sind. Da-
ten zu Besucherzahlen oder Aufrufe von bestimmten Inhalten werden nur zu
statistischen Zwecken erhoben.
Anforderungen an den Datenschutz im Bereich des AVG
Mit Artikel 34
a
Absatz 2 Buchstabe e VE-AVG soll die heute vorgesehene Datenbe-
kanntgabe auf Ausländerbehörden erweitert werden. Die Bearbeitung dieser Daten
durch die öAV stützt sich auf Artikel 33
a
AVG. Der datenschutzrechtliche Grundsatz
der Verhältnismässigkeit (Art. 6 Abs. 2 DSG) ist gewährt, indem ausschliesslich die
Nichteinhaltung der Wiedereingliederungsstrategie mitgeteilt wird. Die Bekanntgabe
wird in einer formell-gesetzlichen Grundlage vorgesehen und erfüllt damit die Anfor-
398 / 931
derung von Artikel 36 Absatz 1 DSG. Vor diesem Hintergrund erübrigt sich eine Da-
tenschutz-Folgenabschätzung nach Artikel 22 DSG. Die vorgeschlagene Anpassung
steht im Einklang mit dem DSG.
399 / 931
2.4
Technische Handelshemmnisse (MRA)
2.4.1
Zusammenfassung
Mit dem Abkommen vom 21. Juni 1999
381
über die gegenseitige Anerkennung von
Konformitätsbewertungen (MRA), das im Rahmen der Bilateralen I abgeschlossen
wurde, sollen technische Hemmnisse beim Handel mit Industrieprodukten mit der EU
beseitigt werden. Das MRA soll in den 20 vom Abkommen abgedeckten Produktbe-
reichen
(z. B. Maschinen, Medizin- oder Bauprodukte) einen erweiterten Zugang zum
EU-Binnenmarkt gewährleisten. Dank des Abkommens lassen sich kostspielige, dop-
pelt durchgeführte Konformitätsbewertungen (Prüfungen, Inspektionen, Zertifizie-
rungen, Anmeldungen und Zulassungen) vermeiden, was wesentliche Erleichterun-
gen mit sich bringt und den Unternehmen in für die Schweiz wichtigen
Produktbereichen des Industriesektors administrativen Mehraufwand erspart. So müs-
sen beispielsweise keine Bevollmächtigten auf dem Hoheitsgebiet der anderen Ver-
tragspartei benannt und die Produkte nicht mit den Koordinaten eines Wirtschaftsak-
teurs mit Niederlassung im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei neu
gekennzeichnet werden. Das MRA deckt etwa zwei Drittel des Werts der zwischen
der Schweiz und der EU gehandelten Industrieprodukte ab, was einem Exportvolumen
von 96,6 Milliarden Franken entspricht (Stand 2023).
382
Ziel der Verhandlungen war es, institutionelle Elemente (s. Ziff. 2.1) in das MRA auf-
zunehmen, um dessen vollständige Anwendung und regelmässige Aktualisierung si-
cherzustellen. Die neuen institutionellen Bestimmungen sehen unter anderem die
Pflicht zur dynamischen Integration relevanter Rechtsakte der EU in das Abkommen
vor. Somit ist die EU neu verpflichtet, die Kapitel zu den einzelnen Produktbereichen
zu aktualisieren. Dadurch lässt sich künftig vermeiden, dass die erforderlichen Aktu-
alisierungen des Abkommens vom guten Willen der EU abhängen. Eine Situation wie
die fehlende Aktualisierung des MRA im Bereich der Medizinprodukte seit 2021 wäre
somit nicht mehr möglich. Zudem gewährleisten die ins MRA aufgenommenen insti-
tutionellen Bestimmungen für die im Abkommen geregelten Bereiche den Einbezug
der Schweiz beim
Decision Shaping
der EU sowie bei der Umsetzung des EU-Rechts
(Zusammenarbeit bei der Marktüberwachung sowie Teilnahme an Ausschüssen und
Arbeitsgruppen, die für eine einheitliche Rechtsumsetzung sorgen).
Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt. Er beantragt
im Rahmen des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU die Genehmigung des
Änderungsprotokolls und des Institutionellen Protokolls zum MRA.
2.4.2
Ausgangslage
Da sich das MRA auf die Gleichwertigkeit der Gesetzgebungen der Vertragsparteien
stützt, passt die Schweiz heute im Falle grundlegender Überarbeitungen der EU-
Gesetzgebung in den im Abkommen geregelten Bereichen ihre Gesetzgebung jeweils
381
SR
0.946.526.81
382
Abrufbar unter: www.seco.admin.ch > Aussenwirtschaft & Wirtschaftliche Zusammenar-
beit > Wirtschaftsbeziehungen > Technische Handelshemmnisse > Staatsvertragliche Ver-
einbarungen (Mutual Recognition Agreements – MRA) > MRA Schweiz–EU > Handels-
statistik.
400 / 931
an diejenige der EU an, um eine Aktualisierung des Abkommens zu ermöglichen und
weiterhin von den damit verbundenen Vorteilen zu profitieren. Doch selbst wenn die
Gesetzgebungen gleichwertig sind, besteht für die Vertragsparteien heute keinerlei
rechtliche Pflicht zur Aktualisierung des MRA. Nach dem Beschluss des Bundesrates,
den Entwurf für ein institutionelles Rahmenabkommen nicht zu unterzeichnen, hat die
EU 2021 denn auch entschieden, das MRA im Bereich der Medizinprodukte trotz der
Gleichwertigkeit des Schweizer Rechts nicht zu aktualisieren. Ausserdem besteht der
einzige Streitbeilegungsmechanismus zurzeit darin, den für die Durchführung des
MRA zuständigen Gemischten Ausschuss mit einer Streitigkeit zu befassen, der im
gegenseitigen Einvernehmen handelt.
De facto
kann die Schweiz ihre Rechte somit
nicht geltend machen.
Die Teilnahme der Sachverständigen der Schweiz an den Ausschüssen und Arbeits-
gruppen der EU, die für die Umsetzung der EU-Gesetzgebung in den unter das Ab-
kommen fallenden Bereichen zuständig sind, ist derzeit nicht vertraglich geregelt.
Was Erleichterungen bezüglich der Pflichten der Wirtschaftsakteure anbelangt (etwa,
dass keine Bevollmächtigten in der EU benannt oder die Produkte für das Inverkehr-
bringen nicht mit den Koordinaten eines Wirtschaftsakteurs in der EU gekennzeichnet
werden müssen, wenn es in der Schweiz bereits einen solchen Wirtschaftsakteur gibt),
so müssen diese für jeden Produktbereich im MRA einzeln ausgehandelt werden. Das
gilt auch für die Teilnahme der Schweiz am Marktüberwachungssystem der EU,
wodurch für die Konsumentinnen und Konsumenten in der Schweiz die Produktsi-
cherheit gewährleistet wird.
Da das MRA einen Bestandteil der Bilateralen I bildet, war es Teil der Verhandlungen
zwischen der Schweiz und der EU, die im März 2024 aufgenommen wurden.
2.4.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
Das Schweizer Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 sah die Aufnahme von insti-
tutionellen Elementen ins MRA vor, mit denen künftig dessen vollständige Anwen-
dung und regelmässige Aktualisierung gewährleistet ist. (s. Ziff. 2.1.3). Dieses Ziel
wurde im Rahmen der Verhandlungen erreicht. Ebenfalls vereinbart wurde die Bei-
behaltung der Äquivalenzmethode (s. Ziff. 2.1.5.2.2), um eine dynamische Rechts-
übernahme zu garantieren (s. Ziff. 2.4.6.1 zu Art. 5). Zudem wurden Bestimmungen
aufgenommen, die in den vom Abkommen geregelten Bereichen den Einbezug der
Schweiz bei der Umsetzung von EU-Recht sicherstellen, sowie Erleichterungen für
die Wirtschaftsakteure eingeführt (s. Ziff. 2.4.6.2).
Die institutionellen Elemente werden in Form eines Institutionellen Protokolls (nach-
stehend das «Institutionelle Protokoll») ins MRA übernommen; das Institutionelle
Protokoll ist Bestandteil des Abkommens (s. Ziff. 2.4.6.1). Im Einklang mit den aus-
gehandelten institutionellen Bestimmungen werden ferner durch ein Änderungspro-
tokoll zum MRA (nachstehend das «Änderungsprotokoll») gewisse Artikel des MRA
angepasst und neue Bestimmungen in das Abkommen aufgenommen (s. Ziff. 2.4.6.2).
401 / 931
2.4.4
Vorverfahren
In Bezug auf das Vorverfahren gibt es für das MRA nichts Spezielles zu erwähnen.
Die Aussenpolitischen Kommissionen (APK), die anderen interessierten parlamenta-
rischen Kommissionen und die Kantone (Konferenz der Kantonsregierungen KdK)
sowie Sozial- und Wirtschaftspartner haben bei der Erarbeitung des Verhandlungs-
mandats für das Paket Stellung genommen; das Paket umfasst auch die zwei Proto-
kolle zum MRA (s. Ziff. 2.1.4).
2.4.5
Grundzüge der Protokolle
Die institutionellen Elemente werden in Form eines Institutionellen Protokolls ins
MRA übernommen, welches künftig Bestandteil des MRA sein wird. Das Institutio-
nelle Protokoll fürs MRA ist gemäss der horizontal ausgehandelten Vorlage struktu-
riert (s. Ziff. 2.1.5). Es umfasst 20 Artikel, einen Anhang zu den Umsetzungsmodali-
täten für den finanziellen Beitrag an die Agenturen und die Informationssysteme der
EU, an denen die Schweiz teilnimmt, sowie eine Anlage über das Schiedsgericht.
Im Einklang mit den ausgehandelten institutionellen Bestimmungen werden ferner
durch das Änderungsprotokoll zum MRA gewisse Artikel des MRA angepasst und
neue Bestimmungen in das Abkommen aufgenommen (s. Ziff. 2.4.6.2).
2.4.6
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der Protokolle
2.4.6.1
Institutionelles Protokoll
Die institutionellen Bestimmungen zum MRA weichen von den in Ziffer 2.1.6 erläu-
terten Bestimmungen nur unwesentlich ab. Die nachfolgenden Erläuterungen betref-
fen die Artikel des Institutionellen Protokolls, die MRA-spezifische Bestimmungen
oder Erklärungen enthalten.
Artikel 2 – Beziehung zum Abkommen
Artikel 2 regelt die Beziehung zwischen den im MRA bereits bestehenden und den im
Institutionellen
Protokoll
neu
vereinbarten
institutionellen
Bestimmungen
(s. Ziff. 2.1.6.1.3). Artikel 2 listet die Artikel des MRA auf, die aufgehoben werden,
da sie aufgrund des Inkrafttretens des Institutionellen Protokolls obsolet sind. Es han-
delt sich um die folgenden Artikel:
– Artikel 1 Absatz 3: siehe Erläuterungen unter Ziff. 2.4.6 zu Art. 1;
– Artikel 14: Dieser Artikel betrifft die Streitbeilegung und wird durch die Bestim-
mungen von Artikel 10 des Institutionellen Protokolls (
Verfahren bei Auslegungs-
oder Anwendungsschwierigkeiten
) und die Anlage über das Schiedsgericht ersetzt
(s. Ziff. 2.1.6.4.2);
– Artikel 19: Dieser Artikel sieht für eine Vertragspartei die Möglichkeit vor, bei
Nichteinhaltung der Bestimmungen des Abkommens nach Konsultation im Gemisch-
ten Ausschuss die Anwendung von Anhang 1 des MRA ganz oder teilweise auszuset-
402 / 931
zen. Diese Bestimmung wird durch die Bestimmungen von Artikel 10 des Institutio-
nellen Protokolls (
Verfahren bei Auslegungs- oder Anwendungsschwierigkeiten
) und
die Anlage über das Schiedsgericht ersetzt (s. Ziff. 2.1.6.4.2).
Artikel 3 – Bilaterale Abkommen in den Bereichen betreffend den Binnenmarkt, an
denen die Schweiz teilnimmt
Artikel 3 Absatz 2 präzisiert, dass das MRA ein bilaterales Abkommen in einem Be-
reich betreffend den Binnenmarkt ist, an dem die Schweiz teilnimmt (s.
Ziff. 2.1.6.1.4).
Artikel 4 – Mitwirkung bei der Erarbeitung von Rechtsakten der Union (Mitsprache-
recht)
Artikel 4 gewährleistet für die Sachverständigen der Schweiz, dass sie am Verfahren
zur Erarbeitung der Rechtsakte der EU durch die Europäische Kommission (Mitspra-
cherecht, sog.
Decision Shaping
), die unter dieses Abkommen fallen, möglichst breit
mitwirken können (s. Ziff. 2.1.6.2.1).
Was das MRA anbelangt, so stellt
Artikel 4 Absatz 4
sicher, dass die Sachverständigen
der Schweiz, wenn dies zur Gewährleistung des ordnungsgemässen Funktionierens
des Abkommens erforderlich ist, ebenfalls in die Arbeiten von «Ausschüssen» im
weiteren Sinne einbezogen werden, also von Ausschüssen, die nicht in Artikel 4 Ab-
sätze 1–3 geregelt sind. Hierbei geht es um die Ausschüsse und Arbeitsgruppen, die
in den unter das MRA fallenden Produktbereichen für die Umsetzung des EU-Rechts
zuständig sind. Dabei handelt es sich beispielsweise um Arbeitsgruppen im Bereich
der Marktüberwachung, in denen die Marktüberwachungsbehörden der Mitgliedstaa-
ten Erfahrungen und Informationen über nichtkonforme oder gefährliche Produkte
austauschen. Oder es geht um Arbeitsgruppen wie die Koordinierungsgruppe Medi-
zinprodukte (
Medical Device Coordination Group
MDCG), die durch die Verordnun-
gen über Medizinprodukte
383
geschaffen wurde und die insbesondere Anleitungen für
eine wirksame Rechtsanwendung erarbeitet, Empfehlungen unterbreitet und bei der
Evaluation von Stellen mitarbeitet, die als Konformitätsbewertungsstellen anerkannt
werden möchten. Durch die Teilnahme der Sachverständigen der Schweiz in solchen
Ausschüssen und Arbeitsgruppen kann die Schweiz einerseits bei den dort geführten
Diskussionen ihren Standpunkt einbringen, andererseits aber auch eine einheitliche
Umsetzung der Gesetzgebung in der Schweiz und der EU sicherstellen und die Kon-
formität der Produkte auf dem Gebiet beider Vertragsparteien gewährleisten. Die
Liste dieser Ausschüsse und Arbeitsgruppen wird vom Gemischten Ausschuss erstellt
und aktualisiert (
s.
auch Ziff. 2.1.6 zu Art. 4 Abs. 4).
Artikel 5 – Integration von Rechtsakten der Union ins Abkommen
383
Verordnung (EU) 2017/745 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Ap-
ril 2017 über Medizinprodukte (ABl. L 117, 5.5.2017, S. 1) und Verordnung (EU)
2017/746 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2017 über In-vitro-Di-
agnostika (ABl. L 117, 5.5.2017, S. 176).
403 / 931
Die allgemeinen Pflichten der Vertragsparteien und das Verfahren zur Integration der
EU-Rechtsakte in das Abkommen sind in Ziffer 2.1.6.2 erläutert. Gemäss der Äqui-
valenzmethode, die für das MRA beibehalten wird, muss die Schweiz in ihrer Rechts-
ordnung Bestimmungen erlassen oder beibehalten, um ein gleichwertiges Ergebnis zu
erreichen wie die in das Abkommen integrierten Rechtsakte der EU. Die Schweiz
muss somit gleichwertiges – nicht identisches – Recht verabschieden, was ihr einen
grösseren Handlungsspielraum lässt. Wenn die EU also in einem unter das MRA fal-
lenden Bereich einen neuen Rechtsakt verabschiedet, müssen die Vertragsparteien
diesen so rasch wie möglich in Anhang 1 des Abkommens integrieren. Für die
Schweiz bedeutet das konkret, dass sie im Einklang mit ihren üblichen innerstaatli-
chen Verfahren gleichwertiges Recht erlassen muss. Die Integration der Rechtsakte
in Anhang 1 des MRA erfolgt auf Beschluss des Gemischten Ausschusses. Da die
Schweiz ihr Recht bereits heute an dasjenige der EU anpasst, um weiterhin von den
Vorteilen des MRA zu profitieren, zieht die dynamische Rechtsübernahme gemäss
Artikel 5 keine wesentlichen Praxisänderungen nach sich. Hingegen wird diese im
Abkommen festgehaltene Pflicht zur Integration der Rechtsakte in Anhang 1 des
MRA die beiden Vertragsparteien zur Aktualisierung der sektoriellen Kapitel zwin-
gen, wodurch sich Verzögerungen oder Blockaden seitens der EU, wie dies seit 2021
im Bereich der Medizinprodukte der Fall ist, vermeiden lassen.
Artikel 5 Absatz 4
räumt dem für die Durchführung des Abkommens zuständigen Ge-
mischten Ausschuss die Kompetenz zur Aktualisierung von Anhang 1 des MRA ein,
der die sektoriellen Kapitel enthält. Der Gemischte Ausschuss entscheidet nicht nur
über die Integration neuer relevanter Rechtsakte in Anhang 1, sondern auch über alle
erforderlichen Anpassungen, die sich aus der Integration dieser neuen Gesetzgebung
in Anhang 1 ergeben.
Artikel 5 Absatz 7
(s. Ziff. 2.1.6.2.2
Ausnahmen
) legt fest, dass sich die Pflicht zur
Integration neuer EU-Rechtsakte in das Abkommen und somit die dynamische
Rechtsübernahme nicht auf den unter Artikel 1 Absatz 1 des MRA fallenden Produkt-
bereich, sprich den Sektor Fertigpackungen (Kapitel 11 von Anhang 1), bezieht, für
den das Schweizer Recht nicht mit demjenigen der EU harmonisiert ist.
Artikel 11 – Ausgleichsmassnahmen
Artikel 11 Absatz 1
sieht vor, dass eine Vertragspartei zur Behebung eines allfälligen
Ungleichgewichts verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen ergreifen kann, wenn
die andere Vertragspartei einen Entscheid des Schiedsgerichts nicht umsetzt oder sie
der Auffassung ist, dass die von der anderen Vertragspartei ergriffenen Massnahmen
nicht dem Entscheid des Schiedsgerichts entsprechen (s. Ziff. 2.1.6.4.3). Da es sich
beim MRA um ein bilaterales Abkommen in einem Bereich betreffend den Binnen-
markt handelt, an dem die Schweiz teilnimmt, können diese Ausgleichsmassnahmen
im Rahmen des MRA ergriffen werden oder im Rahmen jedes anderen Abkommens
in einem Bereich des Binnenmarkts, an dem die Schweiz teilnimmt.
Artikel 13 – Finanzieller Beitrag
Artikel 13 zum finanziellen Beitrag sowie der Anhang zum Institutionellen Protokoll
mit den Umsetzungsmodalitäten für Artikel 13 enthalten detaillierte Bestimmungen
404 / 931
zu den Modalitäten der Beteiligung der Schweiz an der Finanzierung der Agenturen
und der Informationssysteme der EU, die für das MRA relevant sind
(s. Ziff. 2.1.6.5.1). Der Anhang zur Anwendung von Artikel 13 regelt die Modalitäten
der finanziellen Beteiligung an der EU-Datenbank EudraGMDP. In dieser Datenbank
sind die Zertifikate der guten Herstellungspraxis und der guten Vertriebspraxis für
Arzneimittel hinterlegt (im MRA durch Anhang 1 Kapitel 15 abgedeckt). In diesem
Zusammenhang sollte zudem erwähnt werden, dass die Schweiz momentan an gewis-
sen Aktivitäten und Informationssystemen der Europäischen Agentur für chemische
Stoffe (ECHA) beteiligt ist. Die Finanzierungsmodalitäten für diese Beteiligung sind
im MRA in Anhang 1 Kapitel 18 (Biozidprodukte) bereits enthalten, sodass es nicht
nötig war, die entsprechenden Modalitäten im Institutionellen Protokoll zu regeln; die
bestehende Regelung kann beibehalten werden.
Anlage über das Schiedsgericht
Die Anlage über das Schiedsgericht beruht auf den Schiedsregeln, die für die Binnen-
marktabkommen ausgehandelt wurden (
s
. Ziff. 2.1.6.4.2).
2.4.6.2
Änderungsprotokoll
Artikel 1 des Änderungsprotokolls mit den Änderungen des MRA
In Übereinstimmung mit den ausgehandelten institutionellen Bestimmungen werden
durch das Änderungsprotokoll die nachfolgenden Artikel des MRA angepasst und
neue Bestimmungen in das MRA aufgenommen:
Artikel 1 Absatz 1 des Änderungsprotokolls zu Artikel 1 des MRA (Ziel)
Beim Abschluss des MRA im Jahr 1999 konnte die gegenseitige Anerkennung auf
zwei Ebenen erfolgen, abhängig davon, ob die technischen Rechtsvorschriften der
Vertragspartien unterschiedlich (Art. 1 Abs. 1) oder harmonisiert (Art. 1 Abs. 2) wa-
ren. Basiert die gegenseitige Anerkennung auf unterschiedlichen Rechtsvorschriften,
braucht es zwei Bescheinigungen auf der Grundlage der zwei Gesetzgebungen. Diese
können allerdings durch eine einzige Stelle ausgestellt werden. Bei der gegenseitigen
Anerkennung gestützt auf harmonisiertes Recht ist hingegen nur eine einzige Beschei-
nigung auf der Grundlage einer der zwei Gesetzgebungen erforderlich. Die Anerken-
nung basierend auf nicht harmonisiertem Recht ist inzwischen obsolet, da sich die
Ziele des MRA damit nur teilweise erreichen lassen. Für die meisten sektoriellen Ka-
pitel des MRA wird bereits harmonisiertes Recht angewendet. Lediglich zwei Halb-
kapitel von Anhang 1 des MRA (Heizkessel in Kapitel 5 und Fertigpackungen in Ka-
pitel 11) stützen sich noch auf das nicht harmonisierte System. Der nicht
harmonisierte Teil von Kapitel 5 sowie ein Grossteil von Kapitel 11 konnten in den
harmonisierten Teil des MRA übertragen werden. Einzig für einen Teil des Bereichs
Fertigpackungen gilt nach wie vor das nicht harmonisierte System, da die Schweiz
ihre Gesetzgebung in diesem Bereich nicht an diejenige der EU angleichen will. Ar-
tikel 1 des Abkommens wird angepasst, sodass der Geltungsbereich des auf nicht har-
monisiertem Recht beruhenden Teils des MRA auf diesen einen Bereich beschränkt
wird. Für diesen Bereich gilt somit die durch das Institutionelle Protokoll eingeführte
dynamische Rechtsübernahme nicht (s. Ziff. 2.4.6.1 zu Art. 5 Abs. 7).
405 / 931
Artikel 1 Absatz 3 des MRA wird aufgehoben. Gemäss diesem Absatz kann der für
die Durchführung des Abkommens zuständige Gemischte Ausschuss für jeden neu in
das Abkommen aufgenommenen Produktbereich festlegen, ob die gegenseitige Aner-
kennung auf der Grundlage von harmonisiertem oder nicht harmonisiertem Recht er-
folgen soll. In Zukunft gilt für jeden neu ins MRA aufgenommenen Produktbereich
harmonisiertes Recht. Aus Sicht der Schweiz zieht dies keine wesentlichen Änderun-
gen nach sich, da die EU die Aufnahme eines neuen Produktbereichs schon immer
ablehnen konnte, wenn dieser auf nicht harmonisiertem Recht beruhte.
Artikel 1 Absatz 2 des Änderungsprotokolls zu Artikel 3 des MRA (Geltungsbereich)
Die dynamische Rechtsübernahme kann gemäss der Integrations- oder der Äquiva-
lenzmethode erfolgen. Für das MRA konnte die Äquivalenzmethode beibehalten wer-
den. (s. Ziff. 2.1.6.2.2). Sie ist in Artikel 5 des Institutionellen Protokolls festgehalten
(s. Ziff. 2.4.6.1 zu Art. 5). Um zu vermeiden, dass wie bisher eine Prüfung und eine
Erklärung der Gleichwertigkeit erforderlich sind, hat die EU den Wunsch geäussert,
dass sich die Auflistung der Rechtsvorschriften im Abschnitt I der sektoriellen Kapitel
in Anhang 1 des MRA künftig auf die Rechtsakte der EU beschränkt. Die Schweiz
kann in Zukunft auf diesen Schritt verzichten. Sie wird die schweizerischen Rechts-
vorschriften selbst verfassen, sodass sie gleichwertig sind mit denjenigen des EU-
Rechts. Ficht die EU nachträglich die Gleichwertigkeit der schweizerischen Vor-
schriften an, muss sie den Gemischten Ausschuss damit befassen und den Streitbeile-
gungsmechanismus nutzen, falls keine Lösung gefunden werden kann. Der Wortlaut
von Artikel 3 des MRA musste angepasst werden, damit das Schweizer Recht weiter-
hin in den Geltungsbereich des MRA fällt, auch wenn es nicht mehr in Anhang 1 auf-
geführt ist. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass die Schweizer Konformitätsbe-
wertungsstellen die Produkte weiterhin gestützt auf die gleichwertigen Schweizer
Rechtsvorschriften prüfen können und dass ihre auf der Grundlage dieser Rechtsvor-
schriften ausgestellten Konformitätsbewertungen von der EU auch künftig anerkannt
werden. Entsprechende Änderungen wurden auch in Artikel 9 Absatz 1 sowie in Ar-
tikel 11 Absatz 1 des MRA vorgenommen.
Artikel 1 Absatz 3 des Änderungsprotokolls zu Artikel 9 des MRA (Durchführung des
Abkommens)
Artikel 9 Absatz 1, der auf die Rechts- und Verwaltungsvorschriften nach Anhang 1
verweist, muss analog zu Artikel 3 des MRA angepasst werden, damit das Schweizer
Recht durch diesen Artikel weiterhin abgedeckt ist, auch wenn es nicht mehr in An-
hang 1 aufgeführt ist (s. dazu Erläuterungen zu den Anpassungen von Art. 3 des MRA
oben).
Artikel 1 Absatz 4 des Änderungsprotokolls zu Artikel 10 des MRA (Gemischter Aus-
schuss)
Der aktuelle Artikel 10, der die Funktionsweise und Kompetenzen des für die Durch-
führung des MRA zuständigen Gemischten Ausschusses regelt, wird für alle Binnen-
marktabkommen vereinheitlicht. Ein neuer Artikel 10 wird den bestehenden Artikel
ersetzen. Die Kompetenz zur Aktualisierung von Anhang 1 des MRA, der die sekto-
riellen Kapitel enthält, ist neu in Artikel 5 des Institutionellen Protokolls festgehalten
406 / 931
(s. Ziff. 2.4.6.1 zu Art. 5). Der Gemischte Ausschuss fasst seine Beschlüsse weiterhin
einvernehmlich.
Artikel 1 Absatz 5 des Änderungsprotokolls zu Artikel 11 des MRA (Anerkennung,
Rücknahme der Anerkennung, Änderung des Tätigkeitsbereichs und Aussetzung der
Anerkennung von Konformitätsbewertungsstellen)
Artikel 11 Absatz 1, der auf die Gesetzgebung nach Anhang 1 verweist, muss analog
zu den Artikeln 3 und 9 des MRA angepasst werden, damit das Schweizer Recht durch
diesen Artikel weiterhin abgedeckt ist, auch wenn es nicht mehr in Anhang 1 aufge-
führt ist (s. dazu Erläuterungen zu den Anpassungen von Art. 3 und 9 des MRA oben).
Artikel 1 Absatz 6 des Änderungsprotokolls zu Artikel 12 des MRA (Informationsaus-
tausch)
Artikel 12 wird aufgehoben.
Absatz 1
dieses Artikels,
der einen Austausch von Infor-
mationen zwischen den Vertragsparteien über die Umsetzung und Anwendung der im
Abkommen aufgeführten Vorschriften vorsieht, wird durch die Bestimmungen von
Artikel 8 des Institutionellen Protokolls (
Grundsatz der wirksamen und harmonischen
Anwendung
) ersetzt (s. Ziff. 2.1.6.3.2). In
Artikel 12
Absatz 2
ist geregelt, dass sich
die Vertragsparteien neue Vorschriften gegenseitig schriftlich notifizieren. Dieser Ab-
satz wird ersetzt durch das Verfahren zur Integration von Rechtsakten in das Abkom-
men, das in Artikel 5 des Institutionellen Protokolls (
Integration von Rechtsakten der
Union
) geregelt ist (s. Ziff. 2.1.6.2.2).
Artikel 12
Absatz 2a,
der von den Vertragspar-
teien verlangt, sich Änderungen bei ihren jeweiligen benennenden Behörden gegen-
seitig schriftlich zu notifizieren, wird durch Artikel 1 der allgemeinen Bestimmungen
in Anhang 1 ersetzt. Gemäss diesem neuen Artikel gelten für die Schweiz die gleichen
Rechte und Pflichten wie für die EU-Mitgliedstaaten (s.
Artikel 2 Absatz 1 des Ände-
rungsprotokolls zu Artikel 1 der allgemeinen Bestimmungen in Anhang 1 des MRA
unten). Die in den sektoriellen Kapiteln von Anhang 1 aufgeführten Rechtsakte sehen
vor, dass sich die Mitgliedstaaten gegenseitig hinsichtlich ihrer benennenden Behör-
den informieren. Gemäss dem bisherigen
Absatz 3
können sich die Behörden einer
Vertragspartei direkt an die im Gebiet der anderen Vertragspartei ansässigen Wirt-
schaftsakteure wenden, um Informationen einzuholen. Dieser Absatz wird ersetzt
durch Artikel 4 der allgemeinen Bestimmungen in Anhang 1 (s.
Artikel 2 Absatz 1 des
Änderungsprotokolls zu Artikel 4 der allgemeinen Bestimmungen in Anhang 1 des
MRA
unten). Gemäss dem bisherigen
Absatz 4
müssen sich die Vertragsparteien ge-
genseitig über in ihrem jeweiligen Gebiet getroffene Schutzmassnahmen unterrichten.
Dieser Absatz wird durch Artikel 1 der allgemeinen Bestimmungen in Anhang 1 er-
setzt, der regelt, dass für die Schweiz die gleichen Rechte und Pflichten gelten wie für
die EU-Mitgliedstaaten (s.
Artikel 2 Absatz 1 des Änderungsprotokolls zu Artikel 1
der allgemeinen Bestimmungen in Anhang 1 des MRA
unten). Die in den sektoriellen
Kapiteln von Anhang 1 aufgeführten EU-Rechtsakte sehen vor, dass sich die Mit-
gliedstaaten gegenseitig über in ihrem jeweiligen Gebiet getroffene Schutzmassnah-
men informieren.
Artikel 1 Absatz 7 des Änderungsprotokolls zu Artikel 13 des MRA (Vertraulichkeit)
407 / 931
Der bisherige Titel von Artikel 13 lautet «Vertraulichkeit». Er wird in «Berufsge-
heimnis» geändert. Zudem wird ein zweiter Absatz zu diesem Thema hinzugefügt.
Artikel 1 Absatz 8 des Änderungsprotokolls zu Artikel 13bis des MRA (Verschlusssa-
chen und sensible Informationen)
Ein neuer Artikel 13
bis
wird eingefügt, gemäss dem als Verschlusssache eingestufte
Informationen oder als Verschlusssache eingestuftes Material, die von den Vertrags-
parteien im Rahmen des MRA bereitgestellt oder zwischen ihnen ausgetauscht wer-
den, unter Einhaltung des Abkommens vom 28. April 2008
384
zwischen der Schwei-
zerischen
Eidgenossenschaft
und
der
Europäischen
Union
über
die
Sicherheitsverfahren für den Austausch von Verschlusssachen und dessen Sicher-
heitsvorkehrungen behandelt und geschützt werden. Gemäss Artikel 13
bis
legt der Ge-
mischte Ausschuss in einem spezifisch für diesen Aspekt gefällten Beschluss die Mo-
dalitäten fest, um einen angemessenen Schutz von sensiblen Informationen zu
gewährleisten.
Artikel 1 Absatz 9 des Änderungsprotokolls zu Artikel 17 des MRA (Räumlicher Gel-
tungsbereich)
Der Artikel zum räumlichen Geltungsbereich wird in allen Abkommen des Pakets
Schweiz–EU gleich ausgestaltet. Entsprechend wird auch Artikel 17 des MRA ange-
passt (s. Ziff. 2.1.6.7).
Artikel 2 des Änderungsprotokolls mit den Änderungen in Anhang 1 des MRA
In Anhang 1 des MRA werden im Anschluss an die Auflistung der Kapitel unter dem
Titel «Allgemeine Bestimmungen» vier Artikel zur Teilnahme der Schweiz an der
Umsetzung des EU-Rechts im Geltungsbereich des Abkommens eingefügt. Diese
Bestimmungen gewährleisten die Zusammenarbeit zwischen den Behörden der EU
und der Schweiz, womit die Wirtschaftsakteure beidseits der Grenzen von gewissen
Pflichten entbunden werden. Es handelt sich um die vier folgenden neuen Artikel:
Artikel 2 Absatz 1 des Änderungsprotokolls zu Artikel 1 der allgemeinen Bestimmun-
gen in Anhang 1 des MRA
Artikel 1 legt den Grundsatz fest, wonach die Rechte und Pflichten der EU-
Mitgliedstaaten, die in den in Anhang 1 integrierten EU-Rechtsakten vorgesehen sind,
in den in den Geltungsbereich des Abkommens fallenden Bereichen auch für die
Schweiz gelten, sofern in technischen Anpassungen nichts anderes vereinbart wird
(s. Ziff. 2.1.6.7). Dank dieser Bestimmung werden die Schweizer Behörden in den
unter das MRA fallenden Bereichen gleich behandelt wie die Behörden der EU-
Mitgliedstaaten. Somit können sie im Bereich der Marktüberwachung gleichermassen
an den EU-Verfahren für den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit teil-
nehmen wie die Behörden der EU-Mitgliedstaaten. Dies gewährleistet eine einheitli-
che Rechtsdurchsetzung und für die Konsumenten die Konformität der Produkte auf
dem Gebiet beider Vertragsparteien.
384
SR
0.514.126.81
408 / 931
Die Regelung in Artikel 1 ist unter vollständiger Einhaltung des Institutionellen Pro-
tokolls zum MRA anzuwenden. In diesem Zusammenhang ist v.a. zu beachten, dass
im MRA gemäss Artikel 5 Absatz 2 des Institutionellen Protokolls das Äquivalenz-
prinzip gilt. D.h. die Schweiz muss die in Anhang 1 MRA aufgeführten Rechtsakte
der EU nicht als solche anwenden, sondern mit ihrem nationalen Recht die gleichen
Ergebnisse erzielen.
Darüber hinaus ist im Kontext von Artikel 1 auch der Zwei-Pfeiler-Ansatz gemäss
Artikel 8 Absatz 2 und 4 des Institutionellen Protokolls wichtig: Gemäss diesem
Grundsatz sind die Schweizer Behörden für die Überwachung der korrekten Anwen-
dung der Abkommen in der Schweiz zuständig (Art. 8 Abs. 2 Institutionelles Proto-
koll). EU-Institutionen verfügen nur dann über Überwachungskompetenzen in Bezug
auf die Schweiz, wenn ein Abkommen dies explizit vorsieht (Art. 8 Abs. 4 Institutio-
nelles Protokoll). Im MRA sind keine Überwachungskompetenzen von EU-
Institutionen in Bezug auf die Schweiz explizit vorgesehen. Das bedeutet, wenn ein
in den Anhang 1 integrierter EU-Rechtsakt eine Überwachung der EU-
Mitgliedstaaten durch eine EU-Institution, wie insb. die EU-Kommission, vorsieht
(beispielswiese gestützt auf an die EU verpflichtend einzureichende Berichte), gilt
diese nicht auch für die Schweiz. Entsprechend sind bezüglich der ins Abkommen zu
übernehmenden EU-Rechtsakte keine technischen Anpassungen erforderlich, um dies
klarzustellen.
Artikel 2 Absatz 1 des Änderungsprotokolls zu Artikel 2 der allgemeinen Bestimmun-
gen in Anhang 1 des MRA
Artikel 2 regelt den Informationsaustausch zwischen den Vertragsparteien. Sieht das
EU-Recht einen Austausch von Informationen zwischen den zuständigen Behörden
der EU-Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission vor, so wird diese Infor-
mation direkt den zuständigen Schweizer Behörden übermittelt. Findet der Informa-
tionsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten selbst statt (und nicht zwischen ihren
Behörden), so erfolgt dieser Austausch in Fällen, in denen die Schweiz betroffen ist,
durch den Gemischten Ausschuss, der als für die Durchführung des MRA zwischen
den Vertragsparteien zuständige Stelle fungiert.
Artikel 2 Absatz 1 des Änderungsprotokolls zu Artikel 3 der allgemeinen Bestimmun-
gen in Anhang 1 des MRA
Sehen sektorielle Rechtsvorschriften die Bereitstellung von Informationen oder die
Übermittlung von Daten mithilfe digitaler Werkzeuge vor, können die Schweizer Be-
hörden und die Wirtschaftsakteure in der Schweiz diese Informationen oder Daten
entweder direkt in den digitalen Werkzeugen oder über die entsprechende Schweizer
Schnittstelle bereitstellen. Die Modalitäten dafür sind im jeweiligen sektoriellen Ka-
pitel von Anhang 1 festgelegt.
Artikel 2 Absatz 1 des Änderungsprotokolls zu Artikel 4 der allgemeinen Bestimmun-
gen in Anhang 1 des MRA
409 / 931
Gemäss Artikel 4 dürfen Aufgaben, die laut Gesetz von Wirtschaftsakteuren (Herstel-
lern, Importeuren, Beauftragten, Dienstleistenden) oder anderen Personen oder Ein-
richtungen mit Niederlassung in der EU – bzw. in der Schweiz – erfüllt werden müs-
sen, von Wirtschaftsakteuren, Personen oder Einrichtungen wahrgenommen werden,
die entweder in der EU oder in der Schweiz niedergelassen sind. Diese Bestimmung
stellt beispielsweise sicher, dass in den Produktbereichen, in denen dies erforderlich
ist, ein Schweizer Hersteller auf einen Bevollmächtigten in der EU verzichten kann
und die Produkte nicht mit den Koordinaten dieses Bevollmächtigten in der EU neu
kennzeichnen muss. Das Gleiche gilt umgekehrt auch für Hersteller aus der EU.
Die in Anhang 1 des MRA unter dem Titel «Allgemeine Bestimmungen» in den Ar-
tikeln 2–4 verankerten Grundsätze waren in gewissen sektoriellen Kapiteln des MRA
bereits teilweise enthalten. Neu handelt es sich dabei um horizontale Bestimmungen,
die somit auch in Zukunft gewährleistet sind. Angesichts dieser neuen allgemeinen
Bestimmungen
werden
die
sektoriellen
Kapitel
entsprechend
angepasst
(s. Ziff. 2.4.6.2).
Artikel 2, Absatz 2 bis 6 des Änderungsprotokolls zu Änderungen in Anhang 1 des
MRA
Mit den Absätzen 2 bis 6 werden einige kleinere Änderungen des Anhangs 1 des
MRA, die von geringer praktischer Bedeutung sind, vorgenommen.
Artikel 3 des Änderungsprotokolls zum Inkrafttreten
Diese Bestimmung regelt das Verfahren zur Ratifizierung und das Inkrafttreten des
Änderungsprotokolls. Das Inkrafttreten des Änderungsprotokolls ist an das Inkrafttre-
ten des Teils «Stabilisierung» des Pakets Schweiz–EU geknüpft.
2.4.6.3
Technische Anpassungen der sektoriellen Kapitel in
Anhang 1
Die 20 sektoriellen Kapitel in Anhang 1 des MRA werden auf der Grundlage der
neuen institutionellen Bestimmungen angepasst. Im Rahmen der technischen Arbei-
ten wird einerseits die Liste der Schweizer Rechtsakte in Abschnitt I (Rechts- und
Verwaltungsvorschriften) der sektoriellen Kapitel gestrichen (s. Erläuterungen in
Ziff. 2.4.6.2 zu Art. 3) und andererseits werden die Abschnitte II (Konformitätsbe-
wertungsstellen), III (Benennende Behörde), IV (Besondere Grundsätze für die Be-
nennung der Konformitätsbewertungsstellen) und V (Zusätzliche Bestimmungen) an
die neuen institutionellen Bestimmungen angepasst, die im Institutionellen Protokoll
und in den allgemeinen Bestimmungen von Anhang 1 enthalten sind (s. Erläuterungen
in Ziff. 2.4.6.2
Artikel 2, Absatz 1 des Änderungsprotokolls zu den allgemeinen Best-
immungen in Anhang 1 des MRA
). Diese Anpassungen technischer Natur werden
durch den für die Durchführung des Abkommens zuständigen Gemischten Ausschuss
vorgenommen und gelten ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Institutionellen Pro-
tokolls und des Änderungsprotokolls zum MRA.
410 / 931
2.4.7
Grundzüge des Umsetzungserlasses
Für die Umsetzung des Institutionellen Protokolls und des Änderungsprotokolls zum
MRA bedarf es keiner Anpassung Schweizer Rechts.
2.4.8
Auswirkungen des Paketelements
2.4.8.1
Auswirkungen auf den Bund
2.4.8.1.1
Finanzielle Auswirkungen
Um die dynamische Rechtsübernahme mittels Äquivalenzmethode fristgerecht si-
cherzustellen, wird das SECO ein elektronisches System einrichten, mit dem sich die
Entwicklungen des EU-Rechts und somit entsprechend auch des Schweizer Rechts
bereits ab ihrer Erarbeitung mitverfolgen lassen (s. Ziff. 2.4.8.1.2 oben). Für die Ein-
richtung dieses elektronischen Monitoringsystems ist ein Budget von 250 000 Fran-
ken erforderlich.
Zudem regelt der Anhang zum Institutionellen Protokoll betreffend die Anwendung
von Artikel 13 des Protokolls (finanzielle Beteiligung) die Modalitäten der finanziel-
len Beteiligung der Schweiz an der EudraGMDP-Datenbank der EU (s. Ziff. 2.4.6.1
zu Art. 13), was einem Betrag 5000 Franken pro Jahr entspricht.
2.4.8.1.2
Personelle Auswirkungen
Durch das Institutionelle Protokoll und das Änderungsprotokoll fallen im Zusammen-
hang mit der Durchführung des MRA keine bereits bestehenden Aufgaben weg. Die
dynamische Rechtsübernahme (s. Ziff. 2.1.6.2) bedeutet im Gegenteil, dass die
Schweiz die Entwicklungen der EU-Gesetzgebung in den vom Abkommen abgedeck-
ten Bereichen aktiver verfolgen muss. Die Sachverständigen der Schweiz werden in
den unter das Abkommen fallenden Bereichen weiterhin an den Ausschüssen und Ar-
beitsgruppen teilnehmen, wie sie dies bereits heute teilweise informell tun. Die aus-
gehandelte Mitwirkung beim Decision Shaping (s. Ziff. 2.1.6.2.1) erfordert aber ein
systematisches und koordiniertes Vorgehen. Dazu ist eine vertiefte Analyse der Texte
in einer frühen Phase nötig, d. h. ab ihrer Erarbeitung durch die Europäische Kom-
mission und während des gesamten Verfahrens bis zu ihrer Verabschiedung. Nur so
können die neuen Möglichkeiten, die sich aus den für das MRA ausgehandelten insti-
tutionellen Bestimmungen ergeben, im Interesse der Schweizer Wirtschaft optimal
genutzt werden. Es geht also nicht nur darum, sich bei einer neuen Gesetzgebung auf
die Angleichung des Schweizer Rechts vorzubereiten, sondern auch darum, im Sinne
der Schweizer Interessen und der hiesigen Wirtschaft so weit wie möglich auf den
Rechtsetzungsprozess der EU-Einfluss zu nehmen. So will die Schweiz beispiels-
weise aktiv eingreifen, um eine Überregulierung oder Regulierungen, die für Schwei-
zer Unternehmen oder Behörden schwer umzusetzen sind, zu verhindern. Dazu wird
es oft innert kürzester Zeit notwendig sein, Stellung zu nehmen bzw. auf Rechtset-
zungsvorhaben der EU zu reagieren.
Das MRA deckt 20 Produktbereiche ab und betrifft 13 Bundesgesetze sowie 51 Ver-
ordnungen, die in die Zuständigkeit von 12 verschiedenen Ämtern und Verwaltungs-
einheiten des Bundes fallen. Diese bleiben in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich
411 / 931
dafür verantwortlich, in Ausschüssen und Arbeitsgruppen der EU mitzuwirken und
die Anpassung der Schweizer Rechtsvorschriften innert nützlicher Frist sicherzustel-
len. Parallel dazu wird das SECO als das für die Durchführung und das ordnungsge-
mässe Funktionieren des MRA verantwortliche Amt in ständiger Verbindung mit der
Schweizer Mission in Brüssel die systematische Überwachung der Rechtsvorschriften
und die Koordination zwischen allen vom MRA abgedeckten Bereichen gewährleis-
ten müssen. Dabei geht es darum, die dynamische Rechtsübernahme sicherzustellen.
Bei der Äquivalenzmethode ist dazu eine parallele Anpassung der Schweizer Rechts-
vorschriften erforderlich, da die Rechtsvorschriften der EU allein durch die Aufnahme
ins MRA in der Schweiz noch nicht zur Anwendung kommen. Das SECO muss die
betreffenden Ämter und Verwaltungseinheiten bei der Überarbeitung der Schweizer
Rechtsvorschriften unterstützen und sicherstellen, dass die sektoriellen Kapitel in An-
hang 1 des Abkommens rechtzeitig angepasst werden. Dafür wird im SECO eine zu-
sätzliche Vollzeitstelle benötigt.
Da die Sachverständigen der Schweiz im Rahmen des
Decision Shaping
keinen Zu-
gang zu den Arbeiten haben, die in den Zuständigkeitsbereich des EU-Rates und des
EU-Parlaments fallen, wird der Schweizer Mission bei der Europäischen Union in
Brüssel eine Schlüsselrolle zukommen, wenn es darum geht, die Entwicklungen vor
Ort mitzuverfolgen und insbesondere bei Vertreterinnen und Vertretern der EU-
Mitgliedstaaten und des EU-Parlaments Informationen zu erhalten, auf die die
Schweiz im Rahmen des
Decision Shaping
keinen Zugriff hat. Die Schweizer Mission
muss stets den Überblick haben und die Entwicklungen des EU-Rechts in allen Be-
reichen des MRA systematisch mitverfolgen, um dem SECO regelmässig Bericht er-
statten zu können. Dazu wird bei der Schweizer Mission in Brüssel eine zusätzliche
Vollzeitstelle benötigt, die vom SECO finanziert wird.
Der Bundesrat wird den ausgewiesenen Ressourcenbedarf zu gegebener Zeit überprü-
fen und darauf achten, dass ein allfälliger Mehrbedarf an Personalaufwand innerhalb
des Eigenbereichs des Bundes kompensiert wird.
2.4.8.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf
urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete
Die technischen Rechtsvorschriften im Geltungsbereich des MRA fallen grossmehr-
heitlich in den Zuständigkeitsbereich des Bundes. Weder das Institutionelle Protokoll
noch das Änderungsprotokoll hat Auswirkungen auf die Kantone und Gemeinden so-
wie auf städtische Zentren, Agglomerationen und Berggebiete.
2.4.8.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
Dank der institutionellen Elemente, die im Rahmen des Stabilisierungsteils des Pakets
Schweiz–EU in das MRA aufgenommen werden, kann das MRA weiterhin rechts-
wirksam funktionieren. Die ausgehandelten Bestimmungen gewährleisten zudem ei-
nen stabilen Rechtsrahmen zwischen der Schweiz und der EU, der den Wirtschafts-
standort Schweiz für Investitionen attraktiver macht.
412 / 931
Als Binnenmarktabkommen hat das MRA sowohl Auswirkungen auf den Aussenhan-
del der Schweiz (Aus- und Einfuhren) als auch auf ihre Wirtschaft und ihre verschie-
denen Akteure. Es garantiert der Schweizer Exportindustrie in den vom Abkommen
abgedeckten Bereichen einen erweiterten Zugang zum EU-Binnenmarkt. Doppelt
durchgeführte Konformitätsbewertungen sowie die Herstellung unterschiedlicher
Produktserien für die beiden Märkte werden dadurch vermieden. Dadurch können
Schweizer Hersteller nicht nur Geld sparen, sondern sich auch auf die Grossserienfer-
tigung konzentrieren und so die Kosten optimal verteilen.
Das MRA verringert für die Unternehmen auch den Verwaltungsaufwand, da es be-
stimmte Pflichten für die Wirtschaftsakteure aufhebt. So sind im EU-Recht und im
Schweizer Recht die Pflichten für die verschiedenen Wirtschaftsakteure für die ge-
samte Produktions- und Vertriebskette geregelt, um die vollständige Rückverfolgbar-
keit der Produkte von der Herstellung bis zum Inverkehrbringen zu gewährleisten. Bei
Produkten aus Drittländern verlangt die EU unter anderem, dass der in der EU ansäs-
sige Importeur (und zusätzlich in manchen Fällen ein Bevollmächtigter) die Verant-
wortung für die Konformität der Produkte übernimmt. Hinzu kommt die Pflicht, die
Koordinaten dieser Akteure auf den Produkten oder deren Verpackung anzugeben
(Kennzeichnung). Dank dem MRA ist es für einen in der Schweiz ansässigen Wirt-
schaftsakteur beispielsweise nicht notwendig, für den Export seiner Produkte in die
EU einen Wirtschaftsakteur in der EU zu benennen und seine Produkte mit dessen
Koordinaten neu zu kennzeichnen. Das MRA gewährleistet durchgehende Produkti-
ons- und Vertriebsketten zwischen der Schweiz und der EU.
Diese Erleichterungen sorgen dafür, dass Schweizer Exporte auf dem EU-Markt at-
traktiver werden. Die erhöhte Nachfrage nach Schweizer Produkten kurbelt im Ge-
genzug die Herstellung dieser Produkte an und stärkt entsprechend den Handel zwi-
schen der Schweiz und der EU (sog. Handelsschaffung).
Mehrere Studien
385
haben gezeigt, dass seit dem Inkrafttreten des MRA im Jahr 2002
sowohl das Export- als auch das Importvolumen der unter das Abkommen fallenden
Produkte stetig gestiegen ist und dass dieser Anstieg höher ausfiel als beim Handel
mit anderen Produkten. Diese positive Entwicklung des Handels ist einerseits auf die
Ausweitung des sektoriellen Geltungsbereichs des Abkommens im Laufe der Jahre
385
Die Effekte des MRA wurden im Auftrag des SECO in den Studien von BAK Economics
und Ecoplan zum Effekt des Wegfalls der Bilateralen I untersucht. Die Studien sowie ein
Synthesebericht sind abrufbar unter: www.seco.admin.ch > Aussenwirtschaft & Wirt-
schaftliche Zusammenarbeit > Wirtschaftsbeziehungen Europäische Union (EU) > Wirt-
schaftliche Bedeutung der Bilateralen I > Volkswirtschaftliche Auswirkungen eines Weg-
falls der Bilateralen I. Den Effekt empirisch untersucht hatte die
Konjunkturforschungsstelle KOF 2015 (Hälg, Florian [2015], «Das bilaterale Abkommen
über den Abbau technischer Handelshemmnisse und der schweizerische Aussenhandel» in
«Der bilaterale Weg – eine ökonomische Bestandesaufnahme», KOF Studie 58. Abrufbar
unter: www.research-collection.ethz.ch/bitstream/handle/20.500.11850/112229/eth-49559-
01.pdf).
Im Auftrag des SECO hat Ecoplan 2025 seine Studie von 2015 aktualisiert. Die Studie ist
abrufbar unter: www.seco.admin.ch > Aussenwirtschaft & Wirtschaftliche Zusammenar-
beit > Wirtschaftsbeziehungen Europäische Union (EU) > Wirtschaftliche Bedeutung der
Bilateralen I
413 / 931
zurückzuführen (von 15 Sektoren bei Abschluss des Abkommens auf heute 20), an-
dererseits aber auch auf den Abbau technischer Handelshemmnisse, administrative
Entlastungen und Kosteneinsparungen, die das Abkommen mit sich bringt. Die ge-
samtwirtschaftlichen Auswirkungen des MRA wurden in der Studie von Ecoplan
(2025)
386
anhand einer Simulation des Wegfalls der Abkommen der Bilateralen I ge-
schätzt. Der Wegfall der Bilateralen I hätte gemäss dieser Studie bis im Jahr 2045
einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von –4,9 Prozent zur Folge. Das
MRA ist nach dem Freizügigkeitsabkommen (FZA) aus einer volkswirtschaftlichen
Perspektive das wichtigste Abkommen.
Aufgrund des erleichterten Zugangs zum EU-Markt, den das MRA den in der Schweiz
ansässigen Unternehmen ermöglicht, erhöht es die Attraktivität der Schweiz als Pro-
duktionsstandort. Wenn grosse ausländische Unternehmen ihren europäischen Haupt-
sitz in der Schweiz ansiedeln, tun sie dies unter anderem im Wissen, dass sie die Er-
leichterungen des Abkommens in Anspruch nehmen und ihre Produktion gleichzeitig
auf beiden Märkten absetzen können. Somit verleiht das MRA ausländischen Investi-
tionen in der Schweiz neue Impulse.
Darüber hinaus trägt das MRA auch zur Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen
in der Schweiz bei. Einerseits könnten sich einige Schweizer Unternehmen ohne die
Erleichterungen des MRA dazu veranlasst sehen, sich in der EU niederzulassen oder
einen Teil ihrer Tätigkeiten dorthin zu verlagern, um weiterhin am Binnenmarkt teil-
nehmen zu können und gegenüber ihrer Konkurrenz aus der EU wettbewerbsfähig zu
bleiben. Andererseits werden neue Arbeitsplätze in der Schweiz geschaffen, wenn
grosse Unternehmen entscheiden, sich in der Schweiz niederzulassen, um von hier aus
beide Märkte zu bedienen.
Schliesslich trägt das MRA durch erleichterte Importe aus der EU auch zu einem brei-
teren Produktangebot für die Konsumentinnen und Konsumenten bei. Denn ange-
sichts der geringen Grösse des Schweizer Marktes ist es für ausländische Hersteller
aus der EU oder aus Drittländern aufgrund der unverhältnismässig hohen Kosten we-
niger interessant, Produkte extra für den Schweizer Markt herzustellen und zertifizie-
ren zu lassen. Dank der vertraglich vorgesehenen Zusammenarbeit zwischen den
Marktüberwachungsbehörden der Schweiz und der EU (z. B. im Bereich Medizinpro-
dukte) trägt das MRA zudem zu einer anhaltend hohen Produktsicherheit für die
Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten bei. Mit unilateralen Massnahmen
wäre dies nicht möglich.
Ohne das MRA könnte die Schweizer Export- und Importindustrie nicht mehr von
den oben erwähnten Erleichterungen profitieren. Die Produktauswahl für die Schwei-
zer Konsumentinnen und Konsumenten wäre eingeschränkt, was Preissteigerungen
und das Phänomen der Hochpreisinsel Schweiz begünstigen würde.
386
Abrufbar unter: www.seco.admin.ch > Aussenwirtschaft & Wirtschaftliche Zusammenar-
beit > Wirtschaftsbeziehungen Europäische Union (EU) > Wirtschaftliche Bedeutung der
Bilateralen I > Volkswirtschaftliche Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen I
414 / 931
Eine von Infras im Jahr 2025 durchgeführte Studie
387
zeigt, dass die Nicht-Aktuali-
sierung des MRA im Bereich der Medizinprodukte seit 2021 für die Schweizer Her-
steller Zusatzkosten verursacht hat, insbesondere da sie einen Bevollmächtigten in der
EU benennen und die Produkte mit den Koordinaten dieses Bevollmächtigten neu
kennzeichnen müssen. Hersteller, die die Konformität ihrer Produkte bisher in der
Schweiz bewerten liessen, müssen diese Bewertung momentan zusätzlich auch in der
EU durchführen lassen. Die entsprechenden Kosten variieren stark, und zwar abhän-
gig von verschiedenen Faktoren wie etwa der Grösse des Unternehmens und seiner
Fähigkeit, diese Kosten auf das gesamte Produktionsvolumen zu verteilen. So fallen
die wiederkehrenden Zusatzkosten für grosse Unternehmen, die bereits Tochtergesell-
schaften in der EU haben und diese als Bevollmächtigte benennen können, geringer
aus als für kleine und mittlere Unternehmen, die für die Benennung eines Bevollmäch-
tigten auf externe Dienstleister angewiesen sind. Solche Kosten sind bei Standortent-
scheidungen ein wichtiger Faktor. Ein Drittel der befragten Hersteller gab an, auf-
grund der Nicht-Aktualisierung des MRA eine Verlagerung ihrer Produktion in
Erwägung gezogen zu haben; einige Unternehmen haben diesen Schritt tatsächlich
vollzogen. Die Studie zeigt ausserdem, dass trotz unilateraler Massnahmen zur Er-
leichterung des Handels die Einfuhren inzwischen in ähnlichem Ausmass von Han-
delshemmnissen betroffen sind wie die Ausfuhren. Bei der Verwaltungseffizienz wa-
ren ebenfalls Einbussen zu verzeichnen; so musste Swissmedic eine eigene
schweizerische Datenbank für Medizinprodukte entwickeln und die Marktüberwa-
chung ohne Zusammenarbeit mit der EU organisieren. Dies führte zu einem signifi-
kanten Anstieg der Personalkosten bei Swissmedic.
2.4.8.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
Das Institutionelle Protokoll und das Änderungsprotokoll zum MRA haben abgesehen
von den in Ziffer 2.4.8.3 oben erwähnten Auswirkungen auf die Konsumentinnen und
Konsumenten nur begrenzt Auswirkungen auf die Gesellschaft. Durch die Aktualisie-
rung des MRA lassen sich neue Handelshemmnisse verhindern, wie sie bei einer
Nicht-Aktualisierung einzelner Kapitel des MRA entstehen würden. Dies wiederum
trägt zur Versorgungssicherheit in der Schweiz bei. Die fehlende Aktualisierung im
Bereich Medizinprodukte beispielsweise hat aufgrund der höheren Einfuhrkosten zu
einer gewissen Marktkonsolidierung und zu einer Portfoliobereinigung geführt. Be-
stimmte Medizinprodukte waren zeitweise nicht verfügbar, weshalb die Patientinnen
und Patienten auf Ersatzprodukte zurückgreifen mussten.
2.4.8.5
Auswirkungen auf die Umwelt
Das Institutionelle Protokoll und das Änderungsprotokoll haben keine Auswirkungen
auf die Umwelt.
387
Infras (2025) Vertiefungsstudie MRA – Fallbeispiel Medizinprodukte. Studie im Auftrag
des SECO. Die Studie ist abrufbar unter: www.seco.admin.ch > Aussenwirtschaft & Wirt-
schaftliche Zusammenarbeit > Wirtschaftsbeziehungen > Technische Handelshemm-
nisse>Staatsvertragliche Vereinbarungen (Mutual Recognition Agreements – MRA) >
MRA Schweiz-EU.
415 / 931
2.4.9
Rechtliche Aspekte des Paketelements
Dieser Abschnitt behandelt das Änderungsprotokoll zum MRA. Ausführungen zum
Institutionellen Protokoll zum MRA finden sich in Ziffer 2.1.9, es sei denn, es wird
nachstehend ausdrücklich auf das Institutionelle Protokoll Bezug genommen.
2.4.9.1
Verfassungsmässigkeit der Protokolle
Das Änderungsprotokoll zum MRA stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 der Bundes-
verfassung
388
(BV), wonach die auswärtigen Angelegenheiten Sache des Bundes sind.
Artikel 184 Absatz 2 BV ermächtigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu un-
terzeichnen und zu ratifizieren. Laut Artikel 166 Absatz 2 BV genehmigt die Bundes-
versammlung die völkerrechtlichen Verträge, sofern für deren Abschluss nicht auf-
grund von Gesetz oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (Art. 24
Abs. 2 Parlamentsgesetz vom 13.12.2002
389
[ParlG] und Art. 7
a
Abs. 1 Regierungs-
und Verwaltungsorganisationsgesetz vom 21.3.1997
390
[RVOG]). Das Änderungs-
protokoll fällt gestützt auf Artikel 14 des Bundesgesetzes über die technischen Han-
delshemmnisse
391
(THG) grundsätzlich in die Zuständigkeit des Bundesrates. Da es
allerdings mit den anderen Abkommen des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–
EU zusammenhängt (diese Abkommen können nur alle zusammen in Kraft treten,
s. Ziff. 2.1.6.6), unterliegt es dennoch der Genehmigung durch die Bundesversamm-
lung.
2.4.9.2
Verfassungsmässigkeit der Umsetzungsgesetzgebung
Die Umsetzung des Institutionellen Protokolls und des Änderungsprotokolls zum
MRA erfordert keine Änderungen der Bundes- oder der kantonalen Gesetzgebung und
auch keine Begleitmassnahmen.
2.4.9.3
Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen
der Schweiz
Das Änderungsprotokoll ist mit den internationalen Verpflichtungen der Schweiz ver-
einbar.
Auch mit dem revidierten EFTA-Übereinkommen vom 21. Juni 2001
392
ist das Än-
derungsprotokoll vereinbar. Das Änderungsprotokoll findet nur im Verhältnis zwi-
schen der Schweiz und der EU und ihren Mitgliedstaaten, nicht aber im Verhältnis zu
den EFTA/EWR-Staaten (Norwegen, Island und Liechtenstein) Anwendung. Zwi-
schen der Schweiz und den EFTA/EWR-Staaten gelten im Bereich des MRA daher
weiterhin die im Anhang I des EFTA-Übereinkommens enthaltenen Bestimmungen,
die mit dem geltenden MRA übereinstimmen.
388
SR
101
389
SR
171.10
390
SR
172.010
391
SR
946.51
392
SR
0.632.31
416 / 931
2.4.9.4
Erlassform
Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV unterliegen völkerrechtliche Ver-
träge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige rechtsetzende Bestimmungen
enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Nach Ar-
tikel 22 Absatz 4 ParlG sind unter rechtsetzenden Normen jene Bestimmungen zu ver-
stehen, die in unmittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten auf-
erlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen. Als wichtig gelten
Bestimmungen, die auf der Grundlage von Artikel 164 Absatz 1 BV in der Form eines
Bundesgesetzes erlassen werden müssten. Sowohl das Institutionelle Protokoll als
auch das Änderungsprotokoll zum MRA enthalten wichtige rechtsetzende Bestim-
mungen. Der Bundesbeschluss über die Genehmigung dieser Protokolle unterliegt ge-
stützt auf Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV folglich dem fakultativen Re-
ferendum (s. auch Varianten in Ziff. 4.1).
2.4.9.5
Vorläufige Anwendung
Für das Änderungsprotokoll ist keine vorläufige Anwendung vorgesehen.
2.4.9.6
Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass
Das Änderungsprotokoll bedarf weder einer Umsetzungsgesetzgebung noch Begleit-
massnahmen.
2.4.9.7
Datenschutz
Das Institutionelle Protokoll und das Änderungsprotokoll werfen keine besonderen
Fragen im Zusammenhang mit dem Datenschutz auf. Die Daten, die die Schweizer
Behörden im Rahmen der für die verschiedenen Produktebereiche des MRA geplan-
ten Zusammenarbeit unter Umständen bekanntgeben müssen, werden unter Einhal-
tung des für den Datenschutz geltenden Schweizer Rechtsrahmens bearbeitet. Weitere
Erklärungen hierzu finden sich in Ziffer 2.1.9.7.
417 / 931
2.5
Landverkehr
2.5.1
Zusammenfassung
Als Verkehrsknotenpunkt auf der Nord-Süd-Achse in Europa hat die Schweiz stark in
eine gut funktionierende Verkehrsinfrastruktur investiert und verfolgt eine strategi-
sche Politik der Verlagerung von der Strasse auf die Schiene. Der Zugang zum EU-
Markt für den Strassen- und Schienenverkehr ist von Bedeutung für die Schweizer
Wirtschaft und die Versorgung des Landes. Entsprechend wichtig ist es, dass die
Schweizer Besonderheiten sowie der Zugang der Schweiz zum EU-Markt langfristig
abgesichert werden.
Ziel des Abkommens vom 21. Juni 1999
393
zwischen der Schweizerischen Eidgenos-
senschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Güter- und Personenverkehr
auf Schiene und Strasse (Landverkehrsabkommen; LandVA) ist es, einerseits den Zu-
gang der Vertragsparteien zum Markt für Güter- und Personenverkehrs auf Strasse
und Schiene zu liberalisieren und andererseits die Bedingungen für eine abgestimmte
Verkehrspolitik zwischen der Schweiz und der EU festzulegen. Somit ist es ein we-
sentlicher Bestandteil für die Umsetzung der Schweizer Verkehrspolitik. Das
LandVA trägt dem Wunsch Rechnung, bestimmte Errungenschaften der Schweizer
Verkehrspolitik abzusichern.
Im Zuge der Verhandlungen mit der EU wurde das LandVA in mehreren Punkten
angepasst und ergänzt, um das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU im Ver-
kehrsbereich zu stärken, weiterzuentwickeln und zukunftstauglich zu machen. Zum
einen zielten die Verhandlungen darauf ab, die neuen institutionellen Elemente in das
LandVA als eines der Binnenmarktabkommen aufzunehmen und Regeln über staatli-
che Beihilfen einzuführen. Zum anderen wurde das LandVA punktuell aktualisiert,
insbesondere um Massnahmen zum Schutz des nationalen öffentlichen Verkehrs im
Kontext der Öffnung des Markts für den internationalen Schienenpersonenverkehr
festzulegen. Dazu wurden neue Ausnahmen für die Schweiz im LandVA verankert
und Präzisierungen vorgenommen. Die Einführung verschiedener wichtiger Ausnah-
men sichert die Errungenschaften des Systems des öffentlichen Verkehrs in der
Schweiz (Service public). Es handelt sich insbesondere um den Vorrang des Schwei-
zer Taktfahrplans, der Verpflichtung zur Tarifintegration für EU-Bahnunternehmen
und der langfristigen Absicherung der Trassenreservierungen, einschliesslich des Gü-
terverkehrs. Letzterer Punkt war nicht im Mandat aufgeführt.
Der Geltungsbereich und die Ziele des LandVA wurden nicht geändert, sondern nur
präzisiert, und die bestehenden Ausnahmen (wie das Sonntags- und Nachtfahrverbot,
das Verbot der Kabotage oder die Gewichtsgrenze von 40 Tonnen für den Schwerver-
kehr) wurden beibehalten. Zudem konnte die Schweiz weitere Ausnahmen aushan-
deln, insbesondere die rechtliche Absicherung der Schweizer Instrumente zur Tras-
senplanung und -sicherung.
Schliesslich schlug die Schweiz im Rahmen der Verhandlungen vor, einige Bestim-
mungen des LandVA anzupassen, über die die Gespräche mit der EU in den letzten
393
SR
0.740.72
418 / 931
Jahren blockiert gewesen waren. So wurden die Bestimmungen zur leistungsabhängi-
gen Schwerverkehrsabgabe (LSVA) geändert, um langfristig mehr Flexibilität zu er-
möglichen, und eine Rechtsgrundlage für eine zukünftige Beteiligung der Schweiz an
der Eisenbahnagentur der Europäischen Union (ERA) wurde in das LandVA aufge-
nommen. Diese Punkte gehen über das Mandat hinaus.
Für die Umsetzung des Verhandlungsergebnisses sind geringfügige Anpassungen des
Eisenbahn- und des Personenbeförderungsgesetzes notwendig.
Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt und in Teilen
übertroffen (s. Ziff. 5.3). Er beantragt im Rahmen des Stabilisierungsteils des Pakets
Schweiz–EU die Genehmigung des Änderungs- und des Institutionellen Protokolls
sowie des Beihilfeprotokolls zum Landverkehrsabkommen und der dazugehörenden
Umsetzungsgesetzgebung.
2.5.2
Ausgangslage
Das 1999 unterzeichnete und am 1. Juni 2002 in Kraft getretene LandVA ermöglicht
die Entwicklung einer zwischen der Schweiz und der EU abgestimmten Verkehrspo-
litik und zielt darauf ab, den Zugang der Vertragsparteien zu den Märkten für Güter-
und Personenverkehr auf Strasse und Schiene zu liberalisieren (Art. 1 Abs. 1
LandVA). Diese Öffnung ist in Etappen erfolgt: Das LandVA hat schrittweise – und
seit dem 1. Januar 2005 vollständig – das Abkommen vom 2. Mai 1992
394
zwischen
der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Wirtschaftsgemein-
schaft über den Güterverkehr auf Strasse und Schiene ersetzt.
Das LandVA ist ein wichtiges Instrument für die Umsetzung der Verkehrspolitik und
der Verkehrsverlagerung von der Strasse auf die Schiene auf nationaler Ebene. Es
ermöglicht der Schweiz nicht nur, die Zusammenarbeit mit der EU im Verkehrssektor
langfristig zu sichern, sondern auch ihre Verlagerungspolitik im europäischen Kon-
text zu verankern. Mit dem Abschluss dieses Abkommens hat die EU nämlich die
Ziele und Instrumente der schweizerischen Verkehrspolitik anerkannt.
Das LandVA ermöglicht es den Vertragsparteien, sich in Bezug auf technische Stan-
dards, Zulassungsvorschriften für Fahrzeuge, Sozialvorschriften und Transportvor-
schriften für gefährliche Güter abzustimmen. Zudem sieht es wichtige Ausnahmen für
die Schweiz vor. Seit 1999 hat die Schweiz ihr innerstaatliches Recht stark angepasst,
damit es dem in das LandVA integrierten EU-Recht gleichwertig ist.
Im Bereich
grenzüberschreitender Strassenverkehr
haben die schweizerischen Ver-
kehrsunternehmen Zugang zum EU-Markt sowie das Recht erhalten, Kabotagefahrten
zwischen EU-Mitgliedstaaten durchzuführen (z. B. um Güter von Deutschland nach
Frankreich zu transportieren) (grosse Kabotage). Die Beförderung zwischen zwei
Punkten auf dem Gebiet eines EU-Mitgliedstaats mit einem in der Schweiz zugelas-
senen Fahrzeug ist weiterhin verboten (kleine Kabotage). Dasselbe gilt für einen
Transport zwischen zwei Punkten in der Schweiz, der von einem Transportunterneh-
men aus der EU durchgeführt wird (z. B. sind Beförderungen von Zürich nach
394
SR
0.740.71
419 / 931
Lausanne durch ein deutsches Verkehrsunternehmen untersagt). Auch auf internatio-
nalen Buslinien dürfen keine Passagiere auf Teilstrecken innerhalb der Schweiz be-
fördert werden (Kabotageverbot).
Im Bereich
grenzüberschreitender Eisenbahnverkehr
wurde mit dem Inkrafttreten des
LandVA der Güterverkehrsmarkt liberalisiert. Diese Öffnung hat sich positiv auf die
Wettbewerbsfähigkeit des Schienengüterverkehrs ausgewirkt. Die EU-Vorschriften
zur Öffnung des Markts für den grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehr hat
die Schweiz bislang nicht übernommen. Grenzüberschreitende Personenverkehrsleis-
tungen im Bahnverkehr sind ausschliesslich in Kooperation zwischen einem schwei-
zerischen und einem ausländischen Eisenbahnverkehrsunternehmen möglich. Anders
als beim Strassenverkehr sieht das LandVA für den Bahnverkehr kein ausdrückliches
Kabotageverbot vor.
Der grenzüberschreitende Schienenpersonenverkehr wurde in der EU im Jahr 2010
im Rahmen des dritten Eisenbahnpakets liberalisiert. Die vollständige Marktöffnung
(auf internationaler und nationaler Ebene) wurde schliesslich 2016 mit dem vierten
Eisenbahnpaket erreicht. Eine Öffnung des nationalen Schienenpersonenverkehrs
stand aufgrund des Geltungsbereichs des LandVA nie zur Diskussion. Dies bedeutet,
dass auch die im Rahmen der nationalen Marktöffnung des 4. EU-Eisenbahnpakets
beschlossenen strengeren Governance-Vorschriften für die schweizerischen Eisen-
bahnunternehmen nicht gelten.
In der Schweiz stand die Möglichkeit einer Öffnung des Markts für den grenzüber-
schreitenden Schienenpersonenverkehr im LandVA zur Debatte.
395
Angesichts der
politischen Dimension dieser Frage wurde der Bundesrat mit der Motion 18.4105
«Kooperationsmodell anstelle der Öffnung des internationalen Schienenpersonenver-
kehrs», die von der Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen des Ständerates
eingereicht wurde, beauftragt, eine allfällige Öffnung des Markts für den grenzüber-
schreitenden Schienenpersonenverkehr nicht in eigener Kompetenz zu beschliessen,
sondern dem Parlament in geeigneter Form zum Entscheid vorzulegen. Die Motion
wurde am 4. Juni 2019 angenommen. Da der Entscheid über die Öffnung des Markts
für den grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehr dem Parlament mit der vor-
liegenden Botschaft unterbreitet wird, beantragt der Bundesrat die Abschreibung der
Motion (s. Ziff. 1.5).
Im Rahmen der exploratorischen Gespräche, die den Verhandlungen vorausgingen,
kamen die Schweiz und die EU überein, die Frage der gegenseitigen Öffnung des
Markts für den grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehr unter besonderer Be-
rücksichtigung des LandVA (Art. 1 Abs. 1) und der Richtlinie 2012/34/EU
396
zu be-
handeln. Die Schweiz bestand allerdings darauf, dass eine solche Marktöffnung kon-
trolliert erfolgen soll. Daher vereinbarten die Schweiz und die EU Ausnahmen zur
395 Vgl. Bericht zum internationalen Personenverkehr (Bahn/Bus). Bericht des Bundesrates
vom 18. Okt. 2017 in Erfüllung der Postulate 14.3673 und 15.3707.
396 Richtlinie 2012/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Novem-
ber 2012 zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums (Neufassung),
Fassung gemäss Art. 1 Abs. 18 Bst. b Ziff. i des ÄP-LandVA.
420 / 931
Absicherung bestimmter schweizerischen Besonderheiten im Landverkehr. Diese um-
fassen die Möglichkeit, Eisenbahnverkehrsunternehmen, die grenzüberschreitende
Personenverkehrsdienste erbringen, zu verpflichten, sich an der Tarifintegration im
öffentlichen Verkehr zu beteiligen, die Möglichkeit, dem Personenverkehr gemäss
dem Taktfahrplan Vorrang einzuräumen, sowie die Einhaltung der schweizerischen
Lohn- und Arbeitsbedingungen. Diese neuen Ausnahmen, die von der EU akzeptiert
wurden, unterliegen nicht der dynamischen Rechtsübernahme. Somit müssen künftige
Entwicklungen im EU-Recht, die diese Ausnahmen betreffen, von der Schweiz nicht
berücksichtigt werden.
Das
Common Understanding
sieht auch vor, dass die folgenden wesentlichen Aus-
nahmen für die Schweiz beibehalten und von der dynamischen Rechtsübernahme aus-
geschlossen werden: die 40-Tonnen-Limite für Lastwagen, das Verbot von Strassen-
transporten mit Start und Ziel in der Schweiz durch im Ausland registrierte Fahrzeuge
(Verbot der kleinen Kabotage), das Nacht- und Sonntagsfahrverbot für Lastwagen,
der Ausschluss von Erhöhungen der Strassenkapazität durch die Alpen sowie die
LSVA.
Die Schweiz und die Europäische Kommission haben sich ausserdem darauf geeinigt,
dass der Geltungsbereich des LandVA nicht geändert wird: Das LandVA ist weiterhin
nur auf den grenzüberschreitenden Verkehr anwendbar, der rein nationale Verkehr
bleibt davon unberührt.
2.5.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
Das Hauptziel der Verhandlungen über das LandVA bestand darin, den gegenseitigen
Marktzugang für die Vertragsparteien langfristig zu erhalten und zu gewährleisten,
die Interoperabilität auf Strasse und Schiene zu verbessern, die bestehenden Ausnah-
men für die Schweiz abzusichern sowie neue Ausnahmen auszuhandeln, um die Aus-
wirkungen der Marktöffnung für den internationalen Schienenpersonenverkehr abzu-
federn.
Das
Common Understanding
zwischen der Schweiz und der EU sowie das Verhand-
lungsmandat vom 8. März 2024 legten den Rahmen für die Verhandlungen fest.
Da es sich beim LandVA um ein Binnenmarktabkommen handelt, konzentrierten sich
die Verhandlungen auf die Aufnahme der neuen institutionellen Elemente in das
LandVA, insbesondere die Pflicht zur dynamischen Übernahme von EU-Rechtsakten,
die in den Geltungsbereich des LandVA fallen. Diese Pflicht beinhaltet insbesondere,
dass die Schweiz die EU-Rechtsakte zur Öffnung des Markts für den grenzüberschrei-
tenden Schienenpersonenverkehr berücksichtigen muss. Das bedeutet, dass Eisen-
bahnverkehrsunternehmen aus EU-Mitgliedstaaten eigenständig grenzüberschrei-
tende Eisenbahnverbindungen in die Schweiz und umgekehrt Schweizer
Eisenbahnverkehrsunternehmen eigenständig grenzüberschreitende Eisenbahnver-
bindungen in die EU anbieten können. Gemäss aktuell geltendem LandVA sind solche
Verkehrsdienste nur in Kooperation zwischen einem Schweizer und einem EU-
Eisenbahnverkehrsunternehmen möglich.
421 / 931
Im Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 wird die Notwendigkeit unterstrichen,
vor diesem Hintergrund die schweizerischen Besonderheiten im Schienenverkehr
(Tarifintegration und Taktfahrplan) sowie die Anforderungen im Zusammenhang mit
der in Artikel 84 der Bundesverfassung
397
vorgesehenen Verkehrsverlagerung von
der Strasse auf die Schiene abzusichern. Zudem sieht das Verhandlungsmandat vor,
dass beim grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehr parallel zur Öffnung des
Markts das Kooperationsmodell und die Zuständigkeit der Schweiz für die Zuweisung
der Zugtrassen in ihrem eigenen Gebiet beibehalten werden. Die Vorschriften für den
grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehr dürfen die Qualität des öffentlichen
Verkehrs in der Schweiz nicht verschlechtern. Schliesslich hat der Bundesrat auch
klargestellt, dass der reine Binnenverkehr (inländischer Fern-, Regional- und Nahver-
kehr) sowie das Recht, in den Genehmigungen und Konzessionen für Transportunter-
nehmen nichtdiskriminierende Bestimmungen über Sozialstandards einzuschliessen,
unberührt bleiben müssen.
Gleichzeitig hat die Schweiz zugestimmt, ein Kontrollsystem für die staatlichen Bei-
hilfen in das LandVA aufzunehmen. Die im Protokoll über staatliche Beihilfen vor-
gesehenen Pflichten gelten nur für Beihilfen, die Unternehmen für Tätigkeiten ge-
währt werden, die unter den in Artikel 2 LandVA festgelegten Geltungsbereich des
Abkommens fallen (s. Ziff. 2.2.5.3 und 2.5.6.4). Auf den rein inländischen Schienen-
verkehr finden diese Pflichten daher keine Anwendung.
Die Verhandlungen über das LandVA starteten am 20. März 2024 und wurden am
5. Dezember 2024 nach 14 Verhandlungsrunden materiell abgeschlossen. Neben dem
Institutionellen Protokoll und dem Protokoll über staatliche Beihilfen (über die sepa-
rat verhandelt wurde) gingen aus den Verhandlungen zum Landverkehr zusätzlich ein
Änderungsprotokoll und eine Gemeinsame Erklärung der Vertragsparteien hervor.
Die Ziele, die sich die Schweiz im Verhandlungsmandat gesetzt hatte, wurden voll-
umfänglich erreicht, insbesondere mit dem Erhalt der bestehenden Ausnahmen und
der Schaffung der neuen Ausnahmen zur Absicherung der schweizerischen Besonder-
heiten im Rahmen des grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehrs. Insbeson-
dere konnte die Schweiz die Anerkennung ihrer Instrumente für die Planung der Ka-
pazität der Eisenbahninfrastruktur, die über das
Common Understanding
und das
Verhandlungsmandat hinausgeht, sowie eine Ausnahme bei der Ausschreibungs-
pflicht für den grenzüberschreitenden Regionalverkehr auf der Schiene und weitere
Anpassungen bei der LSVA und der Zusammenarbeit mit der ERA erreichen.
Die Konferenz der kantonalen Direktoren des öffentlichen Verkehrs (KöV) war Teil
der Schweizer Verhandlungsdelegation und somit bei allen Fragen eng eingebunden.
2.5.4
Vorverfahren
Bereits parallel zu den exploratorischen Gesprächen mit der EU, die zum
Common
Understanding
geführt haben, haben diverse Kontakte mit verschiedenen Akteuren
stattgefunden, um deren Anliegen berücksichtigen zu können.
397
SR
101
422 / 931
Nach Veröffentlichung des Entwurfs des Verhandlungsmandats fanden Gespräche
mit Vertreterinnen und Vertretern der ÖV-Branche und den Sozialpartnern statt. Unter
Leitung des Vorstehers des UVEK wurde zwei Mal ein Runder Tisch mit diesen Akt-
euren durchgeführt.
Gegenstand der Gespräche war im Hinblick auf das definitive Verhandlungsmandat
die Frage, welche Massnahmen auf Schweizer Seite bei einer Marktöffnung des in-
ternationalen Schienenpersonenverkehrs auf organisatorischer und rechtlicher Ebene
zu treffen sind, um allfällige negative Folgen im öffentlichen Verkehr und auf den
Lohnschutz abzufedern. Zudem wurde diskutiert, welche Auswirkungen und welchen
Anpassungsbedarf die Einführung von Regeln über staatliche Beihilfen im Bereich
Landverkehr hätte. Insgesamt sollte analysiert werden, welche Abfederungsmassnah-
men in der Schweiz ergriffen und welche Interessen in die Verhandlungen mit der EU
eingebracht werden sollen. Ausgangspunkt waren das
Common Understanding
und
das vom Bundesamt für Verkehr (BAV) präsentierte Umsetzungskonzept.
Während den Verhandlungen hat das BAV mehrere Austausche mit einzelnen Akteu-
ren wie den Kantonen, den Gewerkschaften und Personalverbänden des öffentlichen
Verkehrs, dem Verband öffentlicher Verkehr (VöV), den Schweizerischen Bundes-
bahnen (SBB), der Schweizerischen Südostbahn (SOB) und der Bern-Lötschberg-
Simplon-Bahn (BLS), der RailCom, der Trassenvergabestelle und der Alliance Swiss
Pass (ASP) zu spezifischen Fragen geführt.
2.5.5
Grundzüge der Protokolle
Das LandVA wurde durch zwei Zusatzprotokolle und ein Änderungsprotokoll er-
gänzt.
Mit dem Institutionellen Protokoll (IP-LandVA; s. Ziff. 2.1) werden die neuen insti-
tutionellen Elemente in den Funktionsmechanismus des LandVA integriert. Eine
grosse Bedeutung kommt im LandVA der Auflistung der bestehenden und der neu
verhandelten Ausnahmen zu. Diese unterliegen explizit nicht der dynamischen
Rechtsübernahme.
Das Änderungsprotokoll (ÄP-LandVA) enthält die Anpassungen, die am Inhalt des
LandVA sowie an seinen Anhängen vorgenommen werden. Diese Änderungen be-
treffen hauptsächlich die Öffnung des Markts für den grenzüberschreitenden Schie-
nenpersonenverkehr (einschliesslich der neuen diesbezüglichen Ausnahmen) und die
neuen institutionellen Elemente sowie den grenzüberschreitenden Güterverkehr mit
einer geringfügigen Anpassung des gesetzlichen Rahmens der LSVA.
Zum ÄP-LandVA gehört auch eine Gemeinsame Erklärung der Vertragsparteien. Sie
enthält Willensbekundungen beider Seiten und Präzisierungen zu verschiedenen
Punkten: der Zusammenarbeit mit der ERA, der Möglichkeit für Eisenbahnverkehrs-
unternehmen, grenzüberschreitende Verkehrsdienste im Rahmen einer Kooperation
anzubieten, der Notwendigkeit, dass operative Entscheidungen, zum Beispiel bei Ver-
spätungen, bei den Infrastrukturbetreiberinnen verbleiben, sowie der Rolle der Tras-
senvergabestellen.
423 / 931
Ziel des Protokolls über staatliche Beihilfen (Beihilfeprotokoll-LandVA; s. Ziff. 2.2)
ist es, das LandVA mit Regeln über staatliche Beihilfen zu ergänzen. Die in diesem
Protokoll vorgesehenen Pflichten gelten nur für Beihilfen, die Unternehmen für Tä-
tigkeiten gewährt werden, die unter den Geltungsbereich des LandVA fallen. Auf den
rein inländischen Verkehr (Service public) finden diese Pflichten daher keine Anwen-
dung.
2.5.6
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der Protokolle
2.5.6.1
Institutionelles Protokoll
Mit dem IP-LandVA (s. Ziff. 2.1) werden neue institutionelle Mechanismen in das
LandVA aufgenommen.
Das IP-LandVA führt zu einigen Anpassungen an den Aktualisierungsmechanismen
des LandVA, insbesondere in Titel 5 (Allgemeine und Schlussbestimmungen), sowie
zur Aufhebung gewisser Bestimmungen des LandVA. Nach Artikel 2 Absatz 2 des
IP-LandVA werden die Artikel 49 Absätze 1 und 2, 50, 52 Absätze 1–4 und 6, 54 und
55 Absatz 2 sowie Anhang 1 Einleitungssatz LandVA aufgehoben. Die Aufhebung
des Einleitungssatzes des Anhangs 1 ist terminologisch begründet und ist aufgrund
der klaren Formulierung des Äquivalenzprinzips in Artikel 5 Absatz 2 des IP-LandVA
redundant geworden.
Gemäss Artikel 5 Absatz 2 des IP-LandVA erlässt die Schweiz in ihrer Gesetzgebung
Bestimmungen oder behält sie bei, die das Erreichen der Ziele ermöglichen, die mit
den in das LandVA integrierten Rechtsakten der EU verfolgt werden. Die Schweiz
und die EU müssen nicht zwingend über identische Regeln verfügen. Es genügt, wenn
die Regeln einander in ihren Wirkungen und ihrer Tragweite entsprechen (Äquiva-
lenzprinzip). Das Landverkehrsabkommen funktionierte bereits bisher nach der Äqui-
valenzmethode. Aufgrund der neu eingeführten dynamischen Rechtsübernahme ist
die Äquivalenz präziser formuliert und das Vorgehen zur Integration von EU-
Rechtsakten ins LandVA wird in der Praxis vereinfacht ablaufen (s. Ziff.2.1).
Wurde bisher ein neuer Rechtsakt von der EU verabschiedet, so erliess die Schweiz
eine entsprechende Gesetzgebung auf Gesetzes- oder Verordnungsstufe, die dann von
den beiden Vertragsparteien im Gemischten Ausschuss auf Äquivalenz geprüft
wurde. Ein EU-Rechtsakt konnte also erst dann in das LandVA integriert werden,
wenn die Äquivalenz des Schweizer Rechts mit dem jeweiligen Rechtsakt durch den
Gemischten Ausschuss festgestellt wurde. Damit wurde hinsichtlich aller in Anhang
1 enthaltenen EU-Rechtsakte die Äquivalenz des Schweizer Rechts bestätigt.
Diese Phase der Prüfung durch den Gemischten Ausschuss wird künftig nicht mehr
notwendig sein. Sobald ein EU-Rechtsakt verabschiedet wird, der in den Geltungsbe-
reich des LandVA fällt, muss die Schweiz ihre Gesetzgebung anpassen. Damit ändert
sich das Verfahren zur Integration der EU-Rechtsakte ins LandVA, nicht aber das
Äquivalenzprinzip. Die Schweiz hat eine Verpflichtung zur Schaffung äquivalenten
Rechts im Geltungsbereich des Abkommens (ausser im Bereich der vereinbarten Aus-
nahmen, vgl. unten), der Gemischte Ausschuss wird aber nicht mehr vorgängig beur-
teilen, ob die Schweiz die Bestimmungen äquivalent umgesetzt hat, damit dieser
424 / 931
Rechtsakt in den Anhang 1 des LandVA aufgenommen werden kann.
Nota bene
kann
so in Zukunft auf die Prüfung und Bestätigung des Schweizer Rechts auf seine Äqui-
valenz verzichtet werden. Das bedeutet auch, dass die Integration eines Rechtsaktes
aufgrund der Äquivalenzprüfung nicht mehr blockiert werden kann, wie dies in der
Vergangenheit seitens EU teilweise der Fall war.
Die Pflicht der Vertragsparteien, EU-Rechtsakte in das LandVA aufzunehmen, gilt
nicht, wenn der Rechtsakt nicht in den Geltungsbereich des LandVA fällt oder wenn
er einer Ausnahme nach Artikel 5 Absatz 7 des IP-LandVA unterliegt. Dabei handelt
es sich zum einen um die Ausnahmen, die bereits im LandVA aufgeführt waren, um
die besonderen Errungenschaften der Schweiz im Bereich des Strassen- und Schie-
nenverkehrs abzusichern, und zum anderen um die neuen Ausnahmen im Zusammen-
hang mit der Öffnung des Markts für den grenzüberschreitenden Schienenpersonen-
verkehr, die eingeführt wurden, um das schweizerische Verkehrssystem
aufrechtzuerhalten.
–
Artikel 7 Absatz 3 LandVA: höchstzulässiges Gewicht für Sattelkraftfahr-
zeuge und für Lastzüge, das dem in der EU zum Zeitpunkt der Unterzeich-
nung des LandVA geltenden Höchstgewicht entspricht (40 Tonnen seit dem
1.1.2005);
–
Artikel 14 und 20 LandVA: Verbot von Strassentransporten zwischen zwei
im selben Hoheitsgebiet liegenden Orten (Verbot der kleinen Kabotage);
–
Artikel 15 LandVA: Nacht- und Sonntagsfahrverbot für Lastwagen;
–
Artikel 24a LandVA: Ausnahmen von der dynamischen Rechtsübernahme
im Zusammenhang mit den Besonderheiten des öffentlichen Verkehrs in
der Schweiz (neu in das LandVA aufgenommene Bestimmung, s. unten);
–
Artikel 32a LandVA: Ausschluss von Erhöhungen der Strassenkapazität
(neu in das LandVA aufgenommene Bestimmung, s. unten);
–
Artikel 40 und 42 LandVA: LSVA.
2.5.6.2
Änderungsprotokoll
Das ÄP-LandVA enthält die Anpassungen, die am LandVA selbst sowie an dessen
Anhängen vorgenommen werden.
Präambel
In der Präambel bekräftigen die Vertragsparteien insbesondere die Bedeutung des
LandVA und der Förderung des Güter- und Personenverkehrs auf Strasse und
Schiene. Zudem erkennen sie ihre jeweilige Verlagerungspolitik an. In Bezug auf den
Eisenbahnverkehr wollen die Vertragsparteien ein Verkehrssystem von hoher Qualität
aufrechterhalten, das leistungsfähig, attraktiv und zuverlässig ist, und tragen der
Wichtigkeit neuer grenzüberschreitender Schienenpersonenverkehrsdienste Rech-
nung. In der Präambel wird ausserdem die Möglichkeit erwähnt, die internationalen
425 / 931
Kooperationen fortzusetzen, welche auch mit der Marktöffnung weiterhin möglich
bleiben.
Artikel 1 Absatz 1 des ÄP-LandVA zu Artikel 2 Absatz 2 LandVA (Geltungsbereich)
Das LandVA gilt für den grenzüberschreitenden Strassen- und Schienenverkehr
(Art. 2 LandVA). Dieser Geltungsbereich wird nicht angepasst. Die Vertragsparteien
kamen jedoch überein, in Artikel 2 Absatz 2 LandVA ergänzende Präzisierungen in
Bezug auf den Schienenpersonenverkehr vorzunehmen.
Artikel 2 Absatz 2 erster Satz LandVA wurde nicht geändert. Das LandVA gilt für
den grenzüberschreitenden Schienengüter- und -personenverkehr sowie den grenz-
überschreitenden kombinierten Verkehr.
Innerhalb der Kategorie Schienenpersonenverkehr fallen sowohl der regionale grenz-
überschreitende Verkehr als auch der internationale Fernverkehr grundsätzlich unter
den Geltungsbereich des LandVA. Wo keine explizite Ausnahme formuliert ist, sind
diese Verkehre mit «internationalem Schienenpersonenverkehr» mitgemeint.
Es wurde ein zweiter Satz eingefügt, der klarstellt, dass das LandVA nicht für den
rein inländischen Schienenpersonenverkehr im Schweizer Fern-, Regional- und Nah-
verkehr gilt. Der rein nationale Schienengüterverkehr fällt ebenfalls nicht in den Gel-
tungsbereich des Abkommens, auch wenn dies nicht ausdrücklich erwähnt wird.
Diese Abgrenzung ist bereits in Artikel 2 Absatz 2 erster Satz LandVA enthalten.
Artikel 2 Absatz 2 dritter Satz LandVA soll die vorherige Formulierung präzisieren.
Es ist vorgesehen, dass das LandVA nicht für Eisenbahnunternehmen gilt, die nur
Verkehrsdienste auf eigenständigen örtlichen und regionalen Netzen für Verkehrs-
dienste auf Eisenbahninfrastrukturen oder auf Netzen betreiben, die ausschliesslich
für die Durchführung von Schienenverkehrsdiensten im Stadt- oder Vorortverkehr be-
stimmt sind, auch wenn diese grenzüberschreitend sind. Für solche lokalen Systeme
ist keine Interoperabilität erforderlich, weshalb eine Unterstellung unter das LandVA
nicht zweckmässig wäre. Diese Formulierung stellt keine Änderung gegenüber der
aktuellen Situation dar. Sie soll für Klarheit sorgen, da die bisherige Formulierung
nicht präzise genug war. Unternehmen, welche auf abgeschlossenen Tramnetzwerken
oder nichtinteroperablen Schmalspurnetzen verkehren, fallen somit explizit nicht un-
ter das LandVA, auch nicht, wenn sie grenzüberschreitend tätig sind.
Artikel 1 Absatz 2 des ÄP-LandVA zu Artikel 3 Absatz 2 LandVA (Begriffsbestimmun-
gen)
Artikel 3 Absatz 2 LandVA enthält verschiedene Begriffsbestimmungen in Bezug auf
den Schienenverkehr. Artikel 1 Absatz 2 des ÄP-LandVA führt den Begriff «grenz-
überschreitender Schienenpersonenverkehr» neu ein.
Gemäss dieser Definition, die teilweise auf der Definition des grenzüberschreitenden
Personenverkehrsdiensts in Artikel 3 Absatz 5 der Richtlinie 2012/34/EU beruht, ist
der grenzüberschreitende Schienenpersonenverkehr als ein Personenverkehrsdienst
zu verstehen, bei dem der Zug die Grenze zwischen den Vertragsparteien überquert.
426 / 931
Dies schliesst das Recht ein, Fahrgäste an jedem Bahnhof auf der grenzüberschreiten-
den Strecke aufzunehmen und an einem anderen abzusetzen, auch wenn diese Bahn-
höfe im Gebiet der anderen Vertragspartei liegen, sofern der Hauptzweck des Ver-
kehrsdienstes die grenzüberschreitende Beförderung ist. Auch wenn in der EU der
Hauptzweck des internationalen Verkehrs als Kriterium aufgrund der nationalen
Marktöffnung in der Zwischenzeit aus der Definition ausgeklammert wurde, bleibt
dieses Kriterium im Verhältnis mit der Schweiz für beide Vertragsparteien relevant,
da die Schweiz aufgrund des LandVA – im Gegensatz zu den EU-Mitgliedstaaten –
nicht verpflichtet ist, den nationalen Schienenverkehrsmarkt zu öffnen.
Artikel 1 Absätze 3–5 des ÄP-LandVA zu den Artikeln 7 (Abs. 1 und 2; Technische
Normen), 9 (Abs. 1 und 4; Güterverkehr zwischen den Gebieten der Vertragsparteien)
und 17 (Abs. 3; Für die Verkehrsunternehmer geltende Bedingungen) LandVA
Diese Artikel wurden angepasst und umformuliert, um dem in Artikel 5 Absatz 2 des
IP-LandVA vorgesehenen Mechanismus zur Übernahme von EU-Rechtsakten Rech-
nung zu tragen, wonach das gleiche Ergebnis erzielt werden muss.
Artikel 1 Absatz 6 des ÄP-LandVA zu Artikel 24 LandVA (Zugangsrechte zum Eisen-
bahnfahrweg und Transitrechte)
Artikel 1 Absatz 6 des ÄP-LandVA
enthält Anpassungen von Artikel 24 LandVA
hinsichtlich der Transitrechte und der Zugangsrechte zum Fahrweg
.
Nach Artikel 24 Absatz 1 LandVA haben die Eisenbahnverkehrsunternehmen einer
Vertragspartei einerseits für das Erbringen von grenzüberschreitenden Verkehrsdiens-
ten das Transitrecht und das Zugangsrecht zum Fahrweg der anderen Vertragspartei
unter den Bedingungen des EU-Rechts, auf das in Anhang 1 Abschnitt 4 LandVA
verwiesen wird.
Andererseits sieht ein neuer Absatz 1a für Eisenbahnverkehrsunternehmen einer Ver-
tragspartei das Recht vor, Fahrgäste an jedem Bahnhof auf der grenzüberschreitenden
Strecke aufzunehmen und an einem anderen abzusetzen, sofern der Hauptzweck in
der Beförderung von Fahrgästen vom Gebiet einer Vertragspartei in das Gebiet der
anderen Vertragspartei besteht (Möglichkeit zur Kabotage im Nebenzweck). Es wird
präzisiert, dass die zuständigen Behörden der Vertragsparteien, wie zum Beispiel ein
Schweizer Kanton, oder die betroffenen Eisenbahnunternehmen das BAV im Rahmen
des Prozesses zur Konzessionserteilung ersuchen können, zu bestimmen, ob der
Hauptzweck des Verkehrsdienstes in der Beförderung von Fahrgästen vom Gebiet ei-
ner Vertragspartei in das Gebiet der anderen Vertragspartei besteht. Dieser Haupt-
zweck ist so zu verstehen, dass der grössere Teil der Einnahmen aus der grenzüber-
schreitenden Beförderung der Passagiere resultiert und nicht aus den Beförderungen
innerhalb der anderen Vertragspartei (Kabotage). Eine Verbindung, die primär darauf
abzielt, Passagiere innerhalb der Schweiz zu befördern, jedoch auch über die Grenze
ins benachbarte Ausland führt, würde dieses Kriterium daher nicht erfüllen und
könnte nicht eigenständig durch ein EU-Eisenbahnverkehrsunternehmen angeboten
werden. Dasselbe gilt umgekehrt sinngemäss für Schweizer Eisenbahnverkehrsunter-
nehmen, die Verbindungen in EU-Mitgliedstaaten anbieten wollen (zur Prüfung des
Hauptzweckes durch die RailCom s. Ziff. 2.5.7.1.1).
427 / 931
Damit soll sichergestellt werden, dass solche grenzüberschreitenden Angebote mit
Zwischenhalten nicht primär dazu genutzt werden, den nationalen Markt zu bedienen.
Indem im LandVA festgehalten wird, unter welchen Bedingungen der Marktzugang
im internationalen Schienenpersonenverkehr erfolgt, wird verhindert, dass die künf-
tige Weiterentwicklung des EU-Rechts die Schweiz in diesem Bereich verpflichtet.
Sollte sich ein Widerspruch zu Artikel 24 ergeben, wäre in einer Einzelfallanalyse zu
prüfen, ob die Übernahme mit dem Geltungsbereich und dem Ziel des LandVA ver-
einbar wäre. Ein Beispiel dafür ist das Kriterium des Hauptzwecks, welches zwischen
EU-Mitgliedstaaten seit der nationalen Marktöffnung in der EU nicht mehr gilt, im
Verhältnis zwischen der EU und der Schweiz aber angewendet werden wird.
Zusätzlich zum Hauptzweck gibt es gemäss Richtlinie 2012/34/UE, welche die Rah-
menbedingungen des internationalen Marktzugangs definiert, die Möglichkeit zu prü-
fen, ob durch ein neues Angebot das bestehende bestellte Angebot wirtschaftlich ge-
fährdet sein könnte (Art. 11 Richtlinie 2012/34/EU). Dies wäre gemäss EU-Recht ein
Grund, das neue Angebot nicht zu ermöglichen. Das Schweizer Recht sieht dies be-
reits heute in Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe b Personenbeförderungsgesetz vom 20.
März 2009
398
(PBG) vor (2. Punkt).
Artikel 1 Absatz 7 des ÄP-LandVA zu Artikel 24a LandVA (Ausnahmen von der dyna-
mischen Rechtsübernahme betreffend den Eisenbahnverkehr)
Zur Absicherung der Qualität und der Besonderheiten des schweizerischen Eisen-
bahnverkehrssystems und zur Gewährleistung, dass die Errungenschaften der
Schweiz im öffentlichen Verkehr im Rahmen der Öffnung des Markts für den grenz-
überschreitenden Schienenpersonenverkehr nicht gefährdet werden, haben die Ver-
tragsparteien einige Ausnahmen von der dynamischen Übernahme der EU-Rechtsakte
durch die Schweiz im Bereich des grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehrs
vereinbart (vgl. Art. 5 Abs. 7 des IP-LandVA).
Folgende Ausnahmen von der dynamischen Rechtsübernahme für die Schweiz sind
in Artikel 24
a
LandVA festgehalten:
–
Absatz 1: Die Schweiz hat die Möglichkeit, Eisenbahnverkehrsunterneh-
men, die grenzüberschreitende Personenverkehrsdienste erbringen, zu ver-
pflichten, sich an der
Tarifintegration
im öffentlichen Verkehr zu beteili-
gen. Das bedeutet, dass Fahrgäste, die die Netze verschiedener öffentlicher
Verkehrsunternehmen benutzen müssen, nur einen einzigen Fahrausweis
benötigen. Wenn im Rahmen der Öffnung des Markts für den grenzüber-
schreitenden Schienenpersonenverkehr ein Eisenbahnverkehrsunternehmen
aus einem EU-Mitgliedstaat einen Dienst in der Schweiz (mit der Möglich-
keit, Fahrgäste an Bahnhöfen auf Schweizer Gebiet aufzunehmen und ab-
zusetzen) als Nebenleistung anbietet, ist es notwendig, dieses Verkehrsun-
ternehmen zur Teilnahme am Tarifintegrationssystem verpflichten zu
können, damit das Funktionieren des öffentlichen Verkehrssystems der
Schweiz weiterhin gewährleistet wird. In der Praxis bedeutet dies, dass das
Eisenbahnverkehrsunternehmen, das einen grenzüberschreitenden Dienst in
398
SR
745.1
428 / 931
der Schweiz betreibt, sich der ASP anschliesst und die Tarife der ASP an-
erkennt, beispielsweise die Abonnemente wie das Generalabonnement oder
das Halbtax (gemäss Art. 16 ff. PBG). Für Fahrgäste in der Schweiz heisst
das, dass sie ihr Schweizer Abonnement oder ihren Fahrausweis verwenden
können, auch dann, wenn sie einen von einem Eisenbahnverkehrsunterneh-
men eines EU-Mitgliedstaats auf Schweizer Gebiet betriebenen Dienst mit
Ein- und Aussteigen in der Schweiz (Kabotage) nutzen. Damit wird verhin-
dert, dass Unternehmen für Verbindungen, die eine Reise innerhalb der
Schweiz ermöglichen, eigene Tickets einführen, die bei anderen Unterneh-
men nicht anerkannt werden. Das System lässt Spartickets oder andere zug-
gebundene Tickets zu. In diesen Fällen kann das Unternehmen die Preise
bis zu einem gewissen Grad selber festlegen, unter den von der Branche
festgelegten Bedingungen, so, wie dies Schweizer Eisenbahnverkehrsunter-
nehmen mit Spartickets bereits heute tun. Als Teil der ASP haben ausländi-
sche Eisenbahnverkehrsunternehmen gleiche Rechte und Pflichten wie
Schweizer Eisenbahnverkehrsunternehmen.
–
Absatz 2: Auch für die
Schweizer Instrumente für die Kapazitätssicherung
(Netznutzungskonzept (NNK) / Netznutzungspläne (NNP))
wurde eine Aus-
nahme definiert. Diese Ausnahme ist für die Schweiz wichtig. Damit ist
klar, dass die Priorität des vertakteten Personenverkehrs im Sinne der in
NNK und NNP gesicherten Kapazitäten des Personenverkehrs gilt. Der
Schienengüterverkehr hat ebenfalls weiterhin im gleichen Masse die Kapa-
zitäten zur Verfügung, die in den oben erwähnten Schweizer Kapazitätssi-
cherungsinstrumenten festgelegt sind. Die Marktöffnung des internationa-
len Schienenpersonenverkehrs schränkt diese Grundsätze nicht ein.
Unternehmen aus der EU, die grenzüberschreitende Schienenpersonenver-
kehrsdienste in der Schweiz planen und betreiben, werden in den bestehen-
den schweizerischen Konsultationsverfahren im Rahmen der schweizeri-
schen Instrumente zur Kapazitätsbewirtschaftung als interessierte Kreise
behandelt. Das heisst, sie werden gleich behandelt wie schweizerische Un-
ternehmen und können ihre Interessen in Bezug auf die Planung grenzüber-
schreitender Kapazitäten gleichzeitig einbringen.
–
Absatz 3: Die Schweiz hat die Möglichkeit,
dem Personenverkehr gemäss
dem Taktfahrplan
, der für den Schienenverkehr im ganzen Gebiet der
Schweiz anwendbar ist,
Vorrang einzuräumen
. Dieses Kriterium gilt diskri-
minierungsfrei für die Vergabe von Bahntrassen an Eisenbahnverkehrsun-
ternehmen der Vertragsparteien, die bezüglich Zugfrequenz vergleichbare
Anträge einreichen. Schweizer Eisenbahnverkehrsunternehmen, die im
Taktverkehr fahren, können weiterhin vertaktete Trassen nutzen, um ge-
meinsam mit Kooperationspartnern eine Verbindung anzubieten, die im
Ausland fortgesetzt wird.
–
Die Gewährleistung eines ausreichenden Angebots an öffentlichem Ver-
kehr ist in der Schweiz gemäss Artikel 81
a
BV Aufgabe des Bundes und
der Kantone. Der Taktfahrplan ist ein zentrales Element, mit dem die öf-
fentliche Hand diesem Auftrag nachkommt: Damit wird in der ganzen
429 / 931
Schweiz auf eine kundenfreundliche und zuverlässige Art und Weise die
Erschliessung mit dem öffentlichen Verkehr und eine optimale Nutzung der
Infrastruktur garantiert. Die Takte einzelner Linien sind aufeinander abge-
stimmt, wodurch gute Umsteigebeziehungen zwischen den Linien resultie-
ren und attraktive Reiseketten entstehen. Bund und Kantone haben denn
auch in den letzten Jahrzehnten viele Investitionen getätigt, um den Takt-
fahrplan zu ermöglichen – und sie investieren in Zukunft so viel wie noch
nie, um dieses Angebot weiter ausbauen zu können. Aufgrund der aktuellen
infrastrukturell bedingten Engpässe und des prognostizierten Mobilitäts-
wachstums sind zum einen diese Investitionen erforderlich, zum anderen
müssen die damit geschaffenen Kapazitäten auch möglichst effizient ge-
nutzt werden, um die prognostizierte Mobilitätsnachfrage bewältigen zu
können. Entsprechend werden die Ausbauten im Schweizer Eisenbahnnetz
langfristig geplant: Die künftig erforderlichen Kapazitäten werden ermittelt
und die dazu erforderlichen minimalen Kapazitäten je Verkehrsart (Perso-
nenfernverkehr, regionaler Personenverkehr und Güterverkehr) werden mit
dem NNK und den NNP wie bisher gesichert.
–
Mithilfe der Bestellungen des Regionalen Personenverkehrs sowie der
Fernverkehrskonzession, die nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht
enthält, Angebote regelmässig zu fahren, können Bund und Kantone sicher-
stellen, dass die erforderlichen Verkehre auf diesen geplanten Kapazitäten
denn auch gefahren werden.
–
Die Ausnahme im LandVA, dem vertakteten Verkehr bei der Trassen-
vergabe innerhalb der Kapazitäten für den Personenverkehr Vorrang ein-
räumen zu können, ist ein wichtiges Instrument, um das Ziel, ein ausrei-
chendes Angebot an öffentlichem Verkehr in der Schweiz zu gewährleisten,
erreichen zu können. Damit kann ausgeschlossen werden, dass ausschliess-
lich gewinnorientierte Anbieter einzelne Trassen aus dem Taktfahrplan be-
setzen und so Lücken in den Takt reissen könnten, falls ein Angebot wirt-
schaftlich nicht erfolgreich ist und deshalb eingestellt wird oder regelmässig
mit Verspätung an der Grenze der Schweiz ankommt. Die potentiell nega-
tiven Auswirkungen auf den Schweizer öffentlichen Verkehr können so ver-
mieden werden. Das Kriterium der Frequenz entscheidet, welches Unter-
nehmen berücksichtigt wird, wenn auf der gleichen Strecke mehrere
Unternehmen ein Angebot im Takt anbieten möchten. Möchte ein Unter-
nehmen das Angebot von morgens früh bis abends spät anbieten, ein weite-
res zwar auch ein regelmässiges Angebot, aber nicht in der gleich hohen
Frequenz, so wird demjenigen Unternehmen Vorrang eingeräumt, welches
mehr vertaktete Verkehre auf dieser Strecke über den ganzen Tag anbietet.
Das Unternehmen, welches die tiefere Frequenz anbieten möchte, hat kei-
nen Anspruch, einen Teil des gleichen vertakteten Verkehres zu fahren. Bei
einem ausländischen Unternehmen käme zusätzlich die Bedingung des
Hauptzwecks dazu: Es kann in der Schweiz ausschliesslich Verkehre eigen-
ständig anbieten, welche die grenzüberschreitendende Beförderung als
Hauptzweck haben (vgl. Artikel 24 Absatz 1
a
).
430 / 931
–
Grenzüberschreitende Angebote von Eisenbahnverkehrsunternehmen aus
EU-Mitgliedstaaten können somit ausserhalb der in den Kapazitätssiche-
rungsinstrumenten gesicherten Kapazitäten für den vertakteten Verkehr ent-
stehen. Das heisst, es wird sich um zusätzliche Angebote zum Taktfahrplan
handeln. Um diese zu ermöglichen, erhalten Anträge für den internationalen
Schienenpersonenverkehr (sowohl von ausländischen als auch von Schwei-
zer Eisenbahnverkehrsunternehmen) für Trassen im jährlichen Fahrplan-
und Trassenbestellverfahren bei den Restkapazitäten in der Schweiz Priori-
tät. Die Zuteilung der Restkapazitäten, bestehend aus freien und freigeblie-
benen Kapazitäten, erfolgt, nachdem alle Verkehre (des Personen- wie des
Güterverkehrs), für die im NNP Kapazitäten gesichert sind, zugeteilt wur-
den. Die Zuteilung in Restkapazitäten erfolgt jeweils für ein Jahr.
–
Absatz 4: Die Schweiz hat das Recht, in den Genehmigungen und Konzes-
sionen, die Verkehrsunternehmen erteilt werden, nichtdiskriminierende
Bestimmungen über
Sozialstandards
(wie orts- und branchenspezifische
Lohn- und Arbeitsbedingungen) einzuschliessen. Um ein allfälliges Sozial-
dumping zu vermeiden, müssen Eisenbahnverkehrsunternehmen aus EU-
Mitgliedstaaten ebenfalls die schweizerischen Lohn- und Arbeitsbedingun-
gen einhalten, wenn sie auf schweizerischem Gebiet tätig sind. Vor diesem
Hintergrund erarbeitet das BAV unter Einbezug der Sozialpartner eine Wei-
sung zu den Sozialstandards (s. Ziff. 2.5.7.2).
–
Absatz 5: Die Ausnahme in Bezug auf die
Vorschriften für die Vergabe von
gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen für grenzüberschreitende Schie-
nenpersonenverkehrsdienste im Regional-, Stadt- und Vorortverkehr
sieht
vor, dass die Schweiz einen öffentlichen Dienstleistungsauftrag für denje-
nigen Teil eines grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehrsdienstes
im Regional-, Stadt- und Vorortverkehr, der auf Schweizer Gebiet durchge-
führt wird, weiterhin direkt (d. h. ohne Ausschreibung) vergeben kann. Im
Gegensatz zu den EU-Mitgliedstaaten wären in der Schweiz Ausschreibun-
gen nicht obligatorisch. Der öffentliche Dienstleistungsauftrag kann direkt
entweder an den Betreiber vergeben werden, der den öffentlichen Dienst-
leistungsauftrag im Gebiet der EU erhalten hat, oder an den Betreiber, der
mit dem Eisenbahnverkehrsunternehmen kooperiert, das den öffentlichen
Dienstleistungsauftrag für den Betrieb der Linie im Gebiet der EU erhalten
hat. Die in der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007
399
vorgesehene Ausschrei-
bungspflicht gilt in dieser Situation nicht. Die übrigen Bestimmungen der
Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 finden mit Ausnahme von Artikel 5
a
An-
wendung. Das Vergabeverfahren ist von den zuständigen Behörden im Vo-
raus zu vereinbaren. Diese Ausnahme ist für die Schweiz wichtig, denn in
der EU müssen in Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 auch
regionale grenzüberschreitende Schienenpersonenverkehre seit 2024 im
399
Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Ok-
tober 2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Strasse, Fassung ge-
mäss Art. 1 Abs. 18 Bst. c ÄP-LandVA.
431 / 931
Regelfall ausgeschrieben werden. Dieser Absatz des neuen Artikels 24
a
be-
trifft nicht den Strassenverkehr. Das heisst, für die Vergabe von öffentlichen
Dienstleistungsaufträgen für grenzüberschreitende Personenverkehrs-
dienste mit Bussen gelten die Vorschriften der Verordnung (EG)
Nr. 1370/2007. Die Ausnahme von der Ausschreibungspflicht wird auch im
Beihilfeprotokoll-LandVA gespiegelt (s. Ziff. 2.5.6.4).
Artikel 1 Absatz 8 des ÄP-LandVA zu Artikel 29a LandVA (Beteiligung an der Eisen-
bahnagentur der Europäischen Union)
Auf der Grundlage von Artikel 1 Absatz 8 des ÄP-LandVA wird auf Vorschlag der
Schweiz ein neuer Artikel 29a in das LandVA eingefügt. Mit dieser neuen Bestim-
mung erhält die Schweiz das Recht, sich nach Massgabe von Artikel 75 der Verord-
nung (EU) 2016/796400 an der Arbeit der ERA zu beteiligen, einschliesslich ange-
messenem Zugang zu Datenbanken und Registern. Will die Schweiz künftig von
diesem Recht Gebrauch machen, muss in einer Vereinbarung mit der Agentur insbe-
sondere Art und Umfang der Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der Agentur
im Einzelnen geregelt werden. Diese Vereinbarung würde insbesondere auch Bestim-
mungen zu Finanzbeiträgen und Personalfragen enthalten. Sie kann zudem eine Ver-
tretung der Schweiz ohne Stimmrecht im Verwaltungsrat vorsehen.
Es wird klargestellt, dass die ERA in der Schweiz keine Durchführungsbefugnis hat
und dass die Bestimmungen der Verordnung (EU) 2016/796, die solche Befugnisse
vorsehen, nicht in Anhang 1 LandVA integriert werden. Sollten die Parteien in Zu-
kunft entscheiden, dass der ERA solche Kompetenzen gegeben werden (wie z.B. die
Ausstellung von Fahrzeugzulassungen oder Sicherheitsbescheinigungen für Eisen-
bahnverkehrsunternehmen auch für die Schweiz), müsste der Artikel 29a LandVA
entsprechend angepasst werden.
Am 20. Mai 2015 hatte der Bundesrat ein Verhandlungsmandat verabschiedet, um die
notwendigen Änderungen am LandVA für eine Teilnahme der Schweiz an der ERA
vorzunehmen. Aufgrund der ungeklärten institutionellen Fragen wurden die Gesprä-
che nicht abgeschlossen und es wurden Übergangsmassnahmen auf der Grundlage des
Beschlusses Nr. 2/2019401 vom 13. Dezember 2019 des Landverkehrsausschusses
Gemeinschaft/Schweiz zu den Übergangsmassnahmen zur Aufrechterhaltung eines
reibungslosen Eisenbahnverkehrs zwischen der Schweiz und der Europäischen Union
angewendet. Seitdem wurde dieser Beschluss immer wieder um ein weiteres Jahr ver-
längert. Die EU entschied jedes Jahr aufs Neue, ob sie den Beschluss verlängern sollte,
was die Planungssicherheit für die Unternehmen und die Eisenbahnindustrie der
Schweiz beeinträchtigte. In der Gemeinsamen Erklärung haben die Vertragsparteien
vereinbart, den Beschluss im Intervall von drei Jahren zu verlängern (s. Ziff. 2.5.6.3:
Gemeinsame Erklärung).
Artikel 1 Absatz 9 des ÄP-LandVA zu Artikel 32a LandVA (Ausschluss von Erhöhun-
gen der Strassenkapazität)
400
Verordnung (EU) 2016/796 des Europäischen Parlaments und des Rates vom
11. Mai 2016 über die Eisenbahnagentur der Europäischen Union, Fassung gemäss Art. 1
Abs. 8 ÄP-LandVA.
401
SR
0.740.726
432 / 931
Mit Artikel 1 Absatz 9 des ÄP-LandVA
wird ein neuer Artikel 32
a
ins LandVA ein-
gefügt. Diese Bestimmung betrifft den Ausschluss von Erhöhungen der Strassenka-
pazität, der eine Ausnahme von der dynamischen Rechtsübernahme darstellt (vgl.
Art. 5 Abs. 7 des IP-LandVA).
Mit dieser Ausnahme soll sichergestellt werden, dass neue Infrastrukturen zum Zweck
der Strassensicherheit wie der Bau einer zweiten Strassenröhre durch den Gotthard
nicht als Erhöhung der Strassenkapazität erachtet werden. In der Bestimmung wird
festgehalten, dass die Begrenzung der Strassenkapazität nicht als einseitige mengen-
mässige Beschränkung gilt. Diese Präzisierung steht im Zusammenhang mit Arti-
kel 32 LandVA, der die Grundsätze festlegt, die in der Verkehrspolitik zu beachten
sind. Einer dieser Grundsätze ist die Nichteinführung einseitiger mengenmässiger Be-
schränkungen.
Diese Ausnahme steht im Einklang mit Artikel 84 Absatz 3 der Bundesverfassung
(Eidgenössische Volksinitiative zum Schutze des Alpengebietes vor dem Transitver-
kehr) und der Beschränkung, die im Bundesgesetz vom 17. Juni 1994
402
über den
Strassentransitverkehr im Alpengebiet (Sanierung des Gotthard-Strassentunnels) vor-
gesehen ist. Die Vereinbarkeit dieser Massnahme mit dem LandVA war von der EU
bestätigt worden (Briefwechsel zwischen dem damaligen Verkehrskommissar bzw.
der damaligen Verkehrskommissarin der EU und der damaligen Bundesrätin Doris
Leuthard vom 11.3.2014 und 16.12.2015).
Artikel 1 Absätze 10 und 11 des ÄP-LandVA zu den Artikeln 40 (Massnahmen seitens
der Schweiz) und 42 (Überprüfung der Gebühren) LandVA
Diese Bestimmungen sehen eine Änderung der Artikel 40 und 42 LandVA in Bezug
auf die Gebührenregelung für Kraftfahrzeuge vor. Sie wurden auf Initiative der
Schweiz angepasst. In den Jahren zuvor hatte sich die EU geweigert, diese Bestim-
mungen anzupassen. Eine Anpassung war notwendig, da immer weniger Möglichkei-
ten offenstehen, die Abgabetarife nach Fahrzeugtyp zu differenzieren (Zuwachs der
Anzahl der Fahrzeuge, die nicht in der Formulierung in Art. 40 Abs. 2 enthalten sind).
Die LSVA ist eines der wichtigsten Instrumente der Schweizer Verlagerungspolitik.
Der Schwerverkehr auf der Strasse begleicht im Sinne des Verursacherprinzips die
von ihm verursachten externen Kosten. Es entsteht der notwendige Anreiz, so viele
Güter wie möglich von der Strasse auf die Schiene zu verlagern.
Die bisherigen Artikel 40 und 42 des LandVA enthalten Formulierungen, welche eine
Berücksichtigung von technologischen Entwicklungen bei Schwerverkehrsfahrzeu-
gen auf der Strasse für die langfristige Weiterentwicklung der LSVA verhindern. Dies
betrifft insbesondere den expliziten Verweis auf die EURO-Emissionsnormen als für
die Einteilung in Abgabekategorien massgebende Kriterien gemäss Artikel 40 Absatz
2 LandVA. Eine Berücksichtigung des CO2-Ausstosses von Fahrzeugen ist beispiels-
402
SR
725.14
433 / 931
weise heute nicht möglich, während die EU ihrerseits eine solche Differenzierung be-
reits 2022 mit der revidierten Eurovignetten-Richtlinie
403
eingeführt hat. Genauso we-
nig wäre heute eine Ausgestaltung der LSVA mit mehr oder weniger als drei Abga-
bekategorien möglich, da Artikel 40 Absatz 2 LandVA die Anzahl Abgabekategorien
bereits verbindlich festlegt. Ohne Anpassung würden die Verlagerungswirkung der
LSVA über die Zeit nachlassen und die Einnahmen sinken. Um die Ziele der Schwei-
zer Verlagerungspolitik auch langfristig weiterverfolgen zu können, bedarf es mehr
Flexibilität.
Die revidierten Artikel 40 und 42 LandVA sind bewusst technologieoffen formuliert.
Sie ermöglichen es der Schweiz in Zukunft, die Kriterien, nach denen die Fahrzeuge
in die Abgabekategorien der LSVA eingeteilt werden, an die technologischen Ent-
wicklungen in der Fahrzeugindustrie anzupassen. Mit der neuen Formulierung von
Artikel 40 Absatz 2 können emissionsbasierte Kriterien (bspw. CO2-Emissionen des
Fahrzeugs) eingeführt werden. Verbrauchsbasierte Kriterien (bspw. Energieeffizienz)
können künftig mit einem Beschluss des Gemischten Ausschusses des Landverkehrs-
abkommens für die Differenzierung der Abgabekategorien eingeführt werden.
Sollte die Möglichkeit der Weiterentwicklung der LSVA zu Anpassungen der
Schweizer Gesetzgebung (primär der Verordnung vom 27. März 2024
404
über die
Schwerverkehrsabgabe (Schwerverkehrsabgabeverordnung; SVAV) sowie allenfalls
des Bundesgesetz vom 19. Dezember 1997
405
über eine leistungsabhängige Schwer-
verkehrsabgabe (Schwerverkehrsabgabegesetz; SVAG)) führen, so unterstünden
diese Anpassungen weiterhin den nationalen Gesetzgebungsprozessen der Schweiz.
Der Bundesrat hat am 28. Mai 2025 die Botschaft zur Weiterentwicklung der LSVA
zuhanden des Parlaments verabschiedet, die unabhängig von der Anpassung der Arti-
kel 40 und 42 LandVA ist.
Weiter wurden in Artikel 40, 42 und in Anhang 10 diverse überholte Übergangsbe-
stimmungen entfernt, welche heute und in Zukunft nicht mehr relevant sind. Gleich-
zeitig bleiben mehrere Regelungen in diesen beiden Artikeln unverändert.
Artikel 1 Absatz 12 des ÄP-LandVA zu Artikel 46 Absatz 1 LandVA (Einseitige
Schutzmassnahmen)
Aufgrund der Änderung von Artikel 40 LandVA müssen auch die Verweise auf diese
Bestimmung in Artikel 46 Absatz 1 LandVA angepasst werden.
Artikel 1 Absatz 13 des ÄP-LandVA zu Artikel 51 LandVA (Gemischter Ausschuss)
Artikel 51 LandVA, mit dem der Gemischte Ausschuss des LandVA eingesetzt wird,
wird aufgrund der neuen Mechanismen, die durch das IP-LandVA eingeführt wurden,
403
Richtlinie 1999/62/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 1999
über die Erhebung von Gebühren für die Benützung bestimmter Verkehrswege durch
schwere Nutzfahrzeuge, ABl. L 187 vom 20. Juli 1999, S. 42; zuletzt geändert durch
Richtlinie (EU) 2022/362, ABl. L 69 vom 4.3.2022, S. 1.
404
SR
641.811
405
SR
641.81
434 / 931
angepasst. Die im IP-LandVA (s. Ziff. 2.1.6.7) vorgesehenen Anpassungen zielen da-
rauf ab, die Bestimmungen über die Zuständigkeiten des Gemischten Ausschusses,
die in den bilateralen Abkommen dieses Pakets enthalten sind, so weit wie möglich
zu harmonisieren. Am Inhalt der Bestimmung ändert sich jedoch nichts. Damit entfällt
die bisherige Bezeichnung des Gemischten Ausschusses als «Gemischter Landver-
kehrsausschuss Gemeinschaft/Schweiz».
Artikel 1 Absatz 14 des ÄP-LandVA zu Artikel 53 LandVA (Berufsgeheimnis)
Die Überschrift von Artikel 53 LandVA wird angepasst. Der Begriff «Vertraulich-
keit» wird durch den Begriff «Berufsgeheimnis» ersetzt, der dem Inhalt dieser Be-
stimmung besser entspricht.
Artikel 1 Absatz 15 des ÄP-LandVA zu Artikel 53a LandVA (Verschlusssachen und
vertrauliche, nicht als Verschlusssache eingestufte Informationen)
Nach Artikel 53 wird ein neuer Artikel 53a in das LandVA eingefügt, der den Um-
gang mit vertraulichen Informationen betrifft. Der neue Artikel 53a sieht vor, dass die
Vertragsparteien etwaige Verschlusssachen gemäss dem Abkommen vom 28. Ap-
ril 2008 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen
Union über die Sicherheitsverfahren für den Austausch von Verschlusssachen austau-
schen. Ausserdem wird mit diesem Artikel der Gemischte Ausschuss beauftragt, in
einem zu diesem Zweck gefassten Beschluss Handlungsanweisungen zum Schutz der
sensiblen Informationen festzulegen.
Artikel 1 Absatz 16 des ÄP-LandVA zu Artikel 55 LandVA (Revision)
Artikel 1 Absatz 16 des ÄP-LandVA sieht eine Anpassung von Artikel 55 LandVA
in Bezug auf die Revision des LandVA vor. Diese Anpassungen des Wortlauts hängen
mit den Änderungen durch das IP-LandVA und den Änderungen in Artikel 51
LandVA zusammen.
Artikel 1 Absatz 17 des ÄP-LandVA zu Artikel 57 LandVA (Räumlicher Geltungsbe-
reich)
Mit Artikel 1 Absatz 17 des ÄP-LandVA wird der Wortlaut von Artikel 57 LandVA
zum räumlichen Geltungsbereich angepasst. Der Verweis auf den Vertrag zur Grün-
dung der Europäischen Gemeinschaft wird durch den Verweis auf den Vertrag über
die Europäische Union und den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen
Union ersetzt.
Artikel 1 Absatz 18 des ÄP-LandVA zu Anhang 1 LandVA (Anwendbare Bestimmun-
gen)
Gemäss Artikel 1 Absatz 18 des ÄP-LandVA werden zwei einleitende Absätze in An-
hang 1 LandVA eingefügt, die den bestehenden Einleitungssatz ersetzen (s. dazu auch
die Erläuterungen in Ziff. 2.3.1.1).
Nach Absatz 1 muss die Schweiz zu den im Anhang 1 LandVA aufgeführten EU-
Rechtsakten äquivalentes schweizerisches Recht schaffen (s. den Verweis auf Art. 5
des IP-LandVA), soweit diese Rechtsakte in den Geltungsbereich des Abkommens
fallen. So muss die Schweiz beispielsweise kein äquivalentes Recht für rein nationale
435 / 931
Verkehre schaffen, auch wenn Bestimmungen der in Anhang 1 aufgeführten EU-
Rechtsakte in den EU-Mitgliedstaaten auf rein nationale Verkehre zur Anwendung
gelangen. Gleich verhält es sich bei den Ausnahmen: Bestimmungen der in Anhang 1
aufgeführten EU-Rechtsakte, die in den Anwendungsbereich einer Ausnahme nach
Artikel 5 Absatz 7 des IP-LandVA fallen, unterliegen nicht der dynamischen Rechts-
übernahme. Folglich muss die Schweiz für solche Bestimmungen kein äquivalentes
Recht schaffen (s. letzter Teilsatz von Absatz 1). Aufgrund der Regelung in Absatz 1
ist es nicht erforderlich, technische Anpassungen betreffend den Geltungsbereich des
LandVA und die Ausnahmen von der dynamischen Rechtsübernahme bei den im An-
hang 1 LandVA aufgeführten EU-Rechtsakten vorzunehmen.
Sofern in technischen Anpassungen nichts anderes bestimmt ist, gelten gemäss Ab-
satz 2 die Rechte und Pflichten der EU-Mitgliedstaaten, die in den in Anhang 1
LandVA aufgeführten EU-Rechtsakten vorgesehen sind, auch für die Schweiz, unter
Einhaltung des IP-LandVA (s. Ziff. 2.1.6.7). Damit wird sichergestellt, dass die
Schweiz die gleichen Rechte wie die EU-Mitgliedstaaten hat und nicht als «Drittstaat»
schlechter gestellt werden kann. Diese Regelung kommt naturgemäss ausserhalb des
Geltungsbereichs des Abkommens nicht zur Anwendung. So gelten beispielsweise
Rechte und Verpflichtungen für rein nationale Verkehre in den im Anhang 1 aufge-
führten EU-Rechtsakten für die Schweiz nicht.
Die Regelung in Absatz 2 ist unter vollständiger Einhaltung des IP-LandVA anzu-
wenden. Nach dem in Artikel 5 Absatz 2 des IP-LandVA festgelegten Äquivalenz-
prinzip (gleiches Ergebnis – auch wenn die Schweiz unter Umständen einen unter-
schiedlichen Ansatz für das Erreichen eines Ziels wählt) muss die Schweiz die in
Anhang 1 LandVA aufgeführten Rechtsakte nicht als solche anwenden, sondern die
gleichen Ergebnisse erzielen. Die Schweiz hat in der Vergangenheit teilweise andere
Massnahmen getroffen, um das von den EU-Rechtsakten vorgegebene Ziel zu errei-
chen. Die Europäische Kommission hat diese Massnahmen vor der Integration der
EU-Rechtsakte in den Anhang 1 LandVA geprüft und die Umsetzung der Schweiz als
äquivalent bestätigt. Auch wenn diese Prüfung in Zukunft entfällt, gilt weiterhin der
Grundsatz, dass die Schweiz im Hinblick auf die Erreichung der in den EU-
Rechtsakten vorgegebenen Ziele über einen gewissen Spielraum verfügt. Daher sind
bei den in Anhang 1 aufgeführten EU-Rechtsakten keine technischen Anpassungen
erforderlich, wenn die Schweiz Massnahmen trifft, die von den Massnahmen im EU-
Recht abweichen, aber dessen Ziele erreichen.
Darüber hinaus ist im Kontext der technischen Anpassungen und dem hier erläuterten
Absatz 2 auch der Zwei-Pfeiler-Ansatz gemäss Artikel 8 Absatz 2 und 4 des IP-
LandVA relevant für die Anwendung der in den Anhang 1 LandVA integrierten EU-
Rechtsakte wichtig: Grundsätzlich ist jede Vertragspartei auf ihrem Territorium für
die Anwendung der Abkommen zuständig (Art. 8 Abs. 2 IP-LandVA). Zudem haben
EU-Institutionen nur dann Überwachungskompetenzen in Bezug auf die Schweiz,
wenn das Abkommen dies explizit vorsieht (Art. 8 Abs. 4 IP-LandVA). Im Landver-
kehrsabkommen sind keine Überwachungskompetenzen von EU-Institutionen in Be-
zug auf die Schweiz explizit vorgesehen. Das bedeutet, wenn ein in den Anhang inte-
grierter EU-Rechtsakt eine Überwachung der EU-Mitgliedstaaten durch die EU-
436 / 931
Institutionen vorsieht (beispielswiese gestützt auf an die EU verpflichtend einzu-
reichende Berichte), gilt dies nicht für die Schweiz. Entsprechend sind keine techni-
schen Anpassungen erforderlich, um diese Unterschiede bei der Umsetzung im Detail
darzustellen. Dennoch können entsprechende Informationen im Gemischten Aus-
schuss des LandVA ausgetauscht werden (Art. 8 Abs. 1 IP-LandVA). Das ist heute
schon Praxis.
Aufgrund dieser Rechtslage haben die Vertragsparteien weitgehend darauf verzichtet,
technische Anpassungen aufzunehmen. Bereits gefasste Beschlüsse des Gemischten
Ausschusses, die Hinweise zur Anwendung bestimmter EU-Rechtsakte enthalten,
wurden aus Gründen der Transparenz als technische Anpassungen aufgenommen.
So werden gemäss Artikel 1 Absatz 18 Buchstabe b Ziffern iii bis viii des ÄP-LandVA
bei den folgenden Rechtsakten Verweise auf bestehende Beschlüsse des Gemischten
Ausschusses des LandVA respektive deren Inhalt eingefügt: Richtlinien
2007/59/EG
406,
(EU) 2016/797
407,
(EU) 2016/798
408
und Durchführungsverordnun-
gen (EU) 2018/545
409
, (EU) 2018/763
410
, (EU) 2019/250
411
. Gemäss Artikel 1 Ab-
satz 18 Buchstabe b Ziffer ii des ÄP-LandVA werden bestimmte EU-Rechtsakte, die
in Anhang 1 LandVA aufgeführt sind, aus diesem Anhang gestrichen, da sie in der
EU aufgehoben wurden.
Gemäss Artikel 1 Absatz 18 Buchstabe b Ziffer i des ÄP-LandVA werden die folgen-
den Rechtsakte in Anhang 1 Abschnitt 4 LandVA eingefügt:
406
Richtlinie 2007/59/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007
über die Zertifizierung von Triebfahrzeugführern, die Lokomotiven und Züge im Eisen-
bahnsystem in der Gemeinschaft führen, Fassung gemäss Art. 1 Abs. 18 Bst. b Ziff. iii ÄP-
LandVA.
407
Richtlinie (EU) 2016/797 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016
über die Interoperabilität des Eisenbahnsystems in der Europäischen Union (Neufassung),
Fassung gemäss Art. 1 Abs. 18 Bst. b Ziff. iv des Änderungsprotokolls zum LandVA.
408
Richtlinie (EU) 2016/798 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016
über Eisenbahnsicherheit (Neufassung), Fassung gemäss Art. 1 Abs. 18 Bst. b Ziff. v ÄP-
LandVA.
409
Durchführungsverordnung (EU) 2018/545 der Kommission vom 4. April 2018 über die
praktischen Modalitäten für die Genehmigung für das Inverkehrbringen von Schienenfahr-
zeugen und die Genehmigung von Schienenfahrzeugtypen gemäss der Richtlinie
(EU) 2016/797 des Europäischen Parlaments und des Rates, Fassung gemäss Art. 1
Abs. 18 Bst. b Ziff. vi ÄP-LandVA.
410
Durchführungsverordnung (EU) 2018/763 der Kommission vom 9. April 2018 über die
praktischen Festlegungen für die Erteilung von einheitlichen Sicherheitsbescheinigungen
an Eisenbahnunternehmen gemäss der Richtlinie (EU) 2016/798 des Europäischen Parla-
ments und des Rates und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 653/2007 der Kommis-
sion, Fassung gemäss Art. 1 Abs. 18 Bst. b Ziff. vii ÄP-LandVA.
411
Durchführungsverordnung (EU) 2019/250 der Kommission vom 12. Februar 2019 über die
Muster der EG-Erklärungen und -Bescheinigungen für Eisenbahn-Interoperabilitätskom-
ponenten und -Teilsysteme, das Muster der Typenkonformitätserklärung für Schienenfahr-
zeuge und über die EG-Prüfverfahren für Teilsysteme gemäss der Richtlinie
(EU) 2016/797 des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Ver-
ordnung (EU) Nr. 201/2011 der Kommission, Fassung gemäss Art. 1 Abs. 18 Bst. b
Ziff. viii ÄP-LandVA.
437 / 931
Richtlinie 2012/34/EU zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahn-
raums: Diese Richtlinie ist eine Neufassung der ersten Eisenbahnpakete (hauptsäch-
lich 1. und 3. Paket). Sie enthält unter anderem das Element der Marktöffnung aus
dem dritten Eisenbahnpaket. Die Aufnahme dieser Richtlinie in das LandVA bedeu-
tet, dass im Rahmen der in den Absätzen 1–4 des neuen Artikels 24a LandVA vorge-
sehenen Ausnahmen Verkehrsunternehmen aus der EU eigenständig einen grenzüber-
schreitenden Dienst in der Schweiz anbieten können, sofern der Hauptzweck
weiterhin die grenzüberschreitende Personenbeförderung ist, und umgekehrt Schwei-
zer Eisenbahnverkehrsunternehmen Zugang zum Markt der EU-Mitgliedstaaten ha-
ben. Kooperationen bleiben jedoch gemäss der Gemeinsamen Erklärung der Vertrags-
parteien weiterhin möglich.
Delegierter Beschluss (EU) 2017/2075
412:
Dieser Delegierte Beschluss steht in direk-
tem Zusammenhang mit der Richtlinie 2012/34/EU und wurde von der Schweiz äqui-
valent umgesetzt.
Durchführungsverordnung (EU) 2016/545
413
über Verfahren und Kriterien in Bezug
auf Rahmenverträge für die Zuweisung von Fahrwegkapazität: Diese Durchführungs-
verordnung steht in direktem Zusammenhang mit der Richtlinie 2012/34/EU und
wurde von der Schweiz äquivalent umgesetzt.
Verordnung (EU) Nr. 913/2010
414
zur Schaffung eines europäischen Schienennetzes
für einen wettbewerbsfähigen Güterverkehr: Die Schweiz hat diese Verordnung vor
Jahren umgesetzt, deren Äquivalenz wurde jedoch nie festgestellt, weshalb sie bis an-
hin nicht in den Anhang 1 integriert werden konnte.
Gemäss Artikel 1 Absatz 18 Buchstabe c des ÄP-LandVA wird folgender Rechtsakt
in Anhang 1 Abschnitt 5 LandVA eingefügt:
Die Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf
Schiene und Strasse (PSO-Verordnung) steht in engem Zusammenhang mit der in der
Richtlinie 2012/34/EU vorgesehenen Öffnung des Markts für den grenzüberschrei-
tenden Schienenpersonenverkehr. In der Verordnung wird festgelegt, unter welchen
Bedingungen die zuständigen Behörden den Betreibern eines öffentlichen Dienstes
eine Ausgleichsleistung für die ihnen durch die Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen
Verpflichtungen verursachten Kosten und/oder ausschliessliche Rechte im Gegenzug
für die Erfüllung solcher Verpflichtungen gewähren, wenn sie ihnen gemeinwirt-
schaftliche Verpflichtungen auferlegen oder entsprechende Aufträge vergeben. Für
den grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehr wird die Verordnung (EG)
412
Delegierter Beschluss (EU) 2017/2075 der Kommission vom 4. September 2017 zur Erset-
zung des Anhangs VII der Richtlinie 2012/34/EU des Europäischen Parlaments und des Ra-
tes zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums, Fassung gemäss Art. 1
Abs. 18 Bst. b Ziff. i ÄP-LandVA.
413
Durchführungsverordnung (EU) 2016/545 der Kommission vom 7. April 2016 über Verfah-
ren und Kriterien in Bezug auf Rahmenverträge für die Zuweisung von Fahrwegkapazität,
Fassung gemäss Art. 1 Abs. 18 Bst. b Ziff. i ÄP-LandVA.
414
Verordnung (EU) Nr. 913/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Sep-
tember 2010 zur Schaffung eines europäischen Schienennetzes für einen wettbewerbsfähi-
gen Güterverkehr, Fassung gemäss Art. 1 Abs. 18 Bst. b Ziff. i ÄP-LandVA.
438 / 931
Nr. 1370/2007 unter den im neuen Artikel 24a Absatz 5 LandVA festgelegten Bedin-
gungen, mit Ausnahme der Artikel 5 und 5a, die die Vergabe öffentlicher Dienstleis-
tungsaufträge beziehungsweise das Eisenbahn-Rollmaterial betreffen, übernommen.
Die Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 gilt auch für den grenzüberschreitenden Perso-
nenverkehr mit Bussen. Mit dieser Übernahme in das LandVA wird die Verordnung
jedoch für nationale Bestellverfahren keine Anwendung finden, da ausschliesslich na-
tionale Verkehre nicht unter das LandVA fallen.
Artikel 1 Absatz 19 des ÄP-LandVA zu Anhang 10 LandVA (Anwendungsmodalitä-
ten für die Gebühren gemäss Artikel 40)
Aufgrund der Änderung von Artikel 40 LandVA ist eine Anpassung von Anhang 10
erforderlich.
Artikel 2 des ÄP-LandVA
In dieser Bestimmung wird das Verfahren für die Ratifikation und das Inkrafttreten
des ÄP-LandVA festgelegt. Das Inkrafttreten des ÄP-LandVA ist an das Inkrafttreten
des Stabilisierungsteils des Pakets geknüpft.
2.5.6.3
Gemeinsame Erklärung
In einer Gemeinsamen Erklärung drücken die Vertragsparteien ihr gemeinsames Ver-
ständnis in unterschiedlichen Bereichen aus.
Im ersten Absatz bekräftigen sie, dass die EU unabhängige nationale Trassenverga-
bestellen anerkennt, wie dies auch im LandVA vorgesehen ist (Art. 27 Abs. 1
LandVA). Die EU bestätigt damit, dass sie keine Absicht hat, die Trassenvergabe in
Zukunft zu zentralisieren. Ausserdem besagt Artikel 27 Absatz 1 LandVA bereits
heute explizit, dass jede Vertragspartei ihre Trassenvergabestelle benennt. Sollte die
EU das ändern wollen, bräuchte es eine Anpassung des LandVA, womit beide Par-
teien einverstanden sein müssten.
Ebenfalls wird in dieser Gemeinsamen Erklärung festgestellt, dass die operativen Ab-
läufe bei den Infrastrukturbetreiberinnen sind und auch in Zukunft bleiben. Im Fall
von verspäteten Zügen, die Richtung Schweiz fahren, ist es an der Infrastrukturbetrei-
berin zu entscheiden, ob kurzfristig eine alternative Trasse zur Verfügung gestellt
werden kann, oder ob der Zug an der Grenze gewendet werden muss. Mit dieser Zu-
ständigkeit kann die hohe Qualität auf dem Schweizer Netz gewährleistet werden und
Verspätungen werden nicht importiert. Der nationale Taktfahrplan wird somit nicht
eingeschränkt. Die bisherige Praxis bei Zugverspätungen kann demnach beibehalten
werden.
In einem zweiten Absatz bestätigen beide Seiten, dass Kooperationen zwischen
Schweizer und EU-Eisenbahnverkehrsunternehmen erlaubt sind und dass deren An-
gebote auch im Taktfahrplan verkehren dürfen. Die EU bekräftigt damit, dass sie nicht
beabsichtigt, an dieser Situation in Zukunft etwas zu ändern. Auch hier kann die bis-
herige Praxis demnach beibehalten werden.
Gemäss dem dritten Absatz streben beide Seiten an, die Übergangsmassnahmen des
Beschlusses Nr. 2/2019 zur Zusammenarbeit mit der ERA und zur Aufrechterhaltung
eines reibungslosen Eisenbahnverkehrs zwischen der Schweiz und der EU künftig im
439 / 931
Intervall von drei Jahren (statt wie anhin jährlich) zu verlängern. Dies wirkt sich po-
sitiv auf die Rechtssicherheit der verschiedenen Akteure in der Schweiz sowie in der
EU aus.
2.5.6.4
Protokoll über staatliche Beihilfen
Das Beihilfeprotokoll-LandVA wird in Ziffer 2.2 dieser Vernehmlassungsvorlage nä-
her erläutert. Die völkerrechtlichen Beihilfebestimmungen regeln einerseits das direkt
anwendbare materielle Beihilfeverbot mit diversen ebenfalls direkt anwendbaren
Ausnahmen, andererseits die Grundpfeiler des Überwachungsverfahrens. Im Folgen-
den werden nur die spezifischen Aspekte des Beihilfeprotokolls mit Bezug zum
LandVA erläutert.
Die im Beihilfeprotokoll-LandVA vorgesehenen Pflichten gelten nur für Beihilfen,
die Unternehmen für Tätigkeiten gewährt werden, die unter den in Artikel 2 LandVA
festgelegten Geltungsbereich des Abkommens fallen (s. Ziff. 2.2.5.3). Auf den rein
inländischen Landverkehr finden diese Pflichten daher keine Anwendung.
Das Beihilfeprotokoll-LandVAsieht Ausnahmen vom grundsätzlichen Verbot der Ge-
währung von Beihilfen durch die Schweiz vor. Dies sind zum einen die Ausnahmen
nach Artikel 3 Absätze 2 und 3 des Protokolls. Für den Landverkehr ist vor allem
Artikel 3 Absatz 2 Buchstabe c des Protokolls von Bedeutung, der vorsieht, dass Bei-
hilfen, die den Erfordernissen der Koordinierung des Verkehrs oder der Abgeltung
bestimmter, mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes zusammenhängender Leistun-
gen entsprechen, zulässig sind. Letztere Bestimmung entspricht Artikel 93 des Ver-
trags über die Arbeitsweise der EU (AEUV). Zum anderen sieht Anhang I des Proto-
kolls über staatliche Beihilfen ein Ausnahmesystem vor. So wurde gemäss Artikel 3
Absatz 2 Buchstabe d des Protokolls in Anhang I ein Abschnitt A eingefügt, aus dem
die Beihilfen ersichtlich sind, die die Vertragsparteien als mit dem Binnenmarkt ver-
einbar ansehen. Zudem wurde gemäss Artikel 3 Absatz 3 Buchstabe e des Protokolls
ein Abschnitt B in Anhang I aufgenommen, der die Beihilfen nennt, die von den Ver-
tragsparteien als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können. Gegen-
wärtig enthalten diese beiden Abschnitte keine Beihilfen. Der Gemischte Ausschuss
des LandVA kann sie in Zukunft aber ergänzen. Des Weiteren sieht Artikel 3 Absatz 4
des Protokolls über staatliche Beihilfen vor, dass Beihilfen, die nach Anhang I Ab-
schnitt C gewährt werden, als mit dem Binnenmarkt vereinbar gelten und von der No-
tifizierungspflicht befreit werden. Abschnitt C (Gruppenfreistellungen) enthält einen
Verweis auf die Kapitel I und III der Verordnung (EU) Nr. 651/2014 zur Feststellung
der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Binnenmarkt sowie auf
Artikel 9 der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007, die mit dem Änderungsprotokoll in
Anhang 1 LandVA aufgenommen wird. Demnach gilt eine gemäss dieser Verordnung
gewährte Ausgleichsleistung für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen beim Betrieb
öffentlicher Personenverkehrsdienste als mit dem Binnenmarkt vereinbar. Diese Aus-
gleichsleistungen sind zudem von der Pflicht zur vorherigen Anmeldung freigestellt.
Der erwähnte Artikel 9 findet jedoch nur gemäss neuem Artikel 24
a
Absatz 5 LandVA
Anwendung (s. Ziff. 2.5.6.2). Das bedeutet, eine Abgeltung, die die übrigen Voraus-
setzungen der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 erfüllt, ist auch dann mit dem Binnen-
440 / 931
markt vereinbar und von der vorgängigen Anmeldung freigestellt, wenn keine Aus-
schreibung durchgeführt wird. Auch im Landverkehr gilt gemäss Artikel 3 Absatz 6
des Beihilfeprotokolls die in Abschnitt D festgehaltene De-minimis-Schwelle für Bei-
hilfen.
Anhang II des Beihilfeprotokolls-LandVAlistet in Abschnitt A Punkt 1 die in der EU
im Rahmen des Protokolls anwendbaren Rechtsakte auf. In Abschnitt A Punkt 2 wird
anschliessend festgehalten, dass die Schweiz ein Überwachungssystem errichtet und
beibehält, das dem in der EU gemäss den unter Buchstabe a genannten Rechtsakten
angewendeten System gleichwertig ist. Für den Landverkehr relevant ist auch hier die
erwähnte Verordnung (EG) Nr. 1370/2007.
Aktuell sind keine Beihilfen zu Gunsten des Personen- und Güterverkehrs bekannt,
die in den Geltungsbereich des LandVA fallen. Die Förderung des Service public
(d. h. des inländischen bzw. regionalen Personenverkehrs) und des Schienengüterver-
kehrs (national sowie alpenquerend) kann auch unter Einhaltung der Pflichten im Pro-
tokoll über staatliche Beihilfen weitergeführt werden. Die Finanzierung der Eisen-
bahninfrastruktur (Betrieb, Substanzerhalt und Ausbau) ist von den Beihilferegeln
nicht erfasst. Und schliesslich sind im Strassengüterverkehr keine konkreten staatli-
chen Unterstützungsmassnahmen bekannt.
Eine abschliessende Beurteilung der bestehenden Beihilferegelungen im Landverkehr
und deren Vereinbarkeit mit dem Beihilfeprotokoll wird durch die Schweizer Über-
wachungsbehörde und bei allfälligen Beschwerden gegen zukünftige Umsetzungsbei-
hilfen durch die Schweizer Gerichte erfolgen (s. Erläuterungen zum 6. Kapitel VE-
BHÜG in Ziff. 2.2.7).
2.5.7
Grundzüge des Umsetzungserlasses
Die Änderungen, welche am LandVA vorgenommen werden, verlangen gesetzliche
Anpassungen des EBG sowie des PBG. Die Anpassungen dienen einerseits der Um-
setzung von sich unmittelbar aus dem LandVA ergebenden Verpflichtungen der
Schweiz (namentlich Art. 1 Abs. 6 und 7 des ÄP-LandVA) sowie andererseits der
Umsetzung von in Anhang 1 des LandVA aufgenommenen Rechtsakten der EU (Art.
1 Abs. 18 des ÄP-LandVA).
Die Umsetzung des Protokolls über staatliche Beihilfen durch das neue Beihilfeüber-
wachungsgesetz (BHÜG) wird in Ziffer 2.2 erläutert (s. insb. Ziff. 2.2.6 und 2.2.7). In
Bezug auf die Sozialstandards sind Begleitmassnahmen vorgesehen.
2.5.7.1
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des
Umsetzungserlasses
2.5.7.1.1
Eisenbahngesetz (EBG)
Art. 9b Abs. 4 letzter Satz
Gemäss Artikel 24
a
Absatz 3 LandVA (Art. 1 Abs. 7
ÄP-LandVA
, s. Ziff. 2.5.6.2)
geniessen in der Schweiz Anträge für grenzüberschreitenden Schienenpersonenver-
kehr sowohl von EU- als auch von Schweizer Eisenbahnverkehrsunternehmen für
441 / 931
Trassen im jährlichen Fahrplan- und Trassenbestellverfahren bei den Restkapazitäten
(bestehend aus freien und freigebliebenen Kapazitäten des Personen- wie des Güter-
verkehrs)
Priorität. Artikel 9
b
Absatz 4 EBG hält heute für die freie Kapazität, d.h.
nicht im NNP gesicherte Kapazität, den Grundsatz fest, wonach der vertaktete Perso-
nenverkehr bei der Trassenzuteilung Vorrang hat. Der Bundesrat kann schon heute
Ausnahmen von dieser Priorität unter Berücksichtigung volkswirtschaftlicher und
raumplanerischer Anliegen vorsehen. Die vorgeschlagene Ergänzung («sowie völker-
rechtlicher Verpflichtungen») schafft die ausdrückliche Grundlage und bildet die Ver-
bindung zwischen der neu im LandVA verankerten Prioritätenordnung und der Kom-
petenz des Bundesrates, von diesem Grundsatz ausnahmsweise abzusehen. Für die
freigebliebene Kapazität, d.h. im NNP gesicherte, aber nicht bestellte Kapazität, kennt
das EBG hingegen bereits heute keine Prioritätenordnung. Es liegt deshalb in der
Kompetenz des Bundesrates als Verordnungsgeber, eine allfällige Prioritätenordnung
auf Verordnungsstufe vorzusehen, um der Verpflichtung aus dem LandVA nachzu-
kommen.
Art. 40a
ter
Abs. 2
bis
Der neue Artikel 24 Absatz 1
a
LandVA (Art. 1 Abs. 6 ÄP-LandVA) gewährt EU-
Eisenbahnverkehrsunternehmen das Recht, im Rahmen von grenzüberschreitenden
Angeboten auch innerhalb der Schweiz mehrere Haltestellen zu bedienen (s. Ziff.
2.5.6.2). Dies unter der Voraussetzung, dass der Hauptzweck dieses Angebots in der
Beförderung von Personen zwischen dem Gebiet eines EU-Mitgliedstaates und der
Schweiz liegt. Zuständigen Schweizer Behörden sowie betroffenen Eisenbahnver-
kehrsunternehmen soll das Recht zukommen, den Hauptzweck eines solchen Ange-
bots auf ihren Antrag hin überprüfen zu lassen. Die Überprüfung hat durch die zustän-
dige Schweizer Regulierungsbehörde zu erfolgen. Kommt diese zum Schluss, dass
das Erfordernis des Hauptzwecks nicht erfüllt ist, so kann einem Eisenbahnverkehrs-
unternehmen mit Sitz in einem EU-Mitgliedstaates der Netzzugang in der Schweiz
verweigert werden.
Mit dem neuen Absatz 2
bis
erhält die RailCom als zuständige Regulierungsbehörde
der Schweiz die dafür notwendigen Kompetenzen. Die RailCom wird dabei aus-
schliesslich auf Antrag des BAV, eines betroffenen Kantons als Besteller oder eines
betroffenen Eisenbahnverkehrsunternehmens tätig. Ein Eisenbahnverkehrsunterneh-
men ist typischerweise dann betroffen, wenn es ein bestehendes, konzessioniertes
(und allenfalls bestelltes) Angebot des nationalen Verkehrs betreibt, mit welchem das
grenzüberschreitende Angebot eines EU-Eisenbahnverkehrsunternehmens in Kon-
kurrenz tritt. Der Antrag zur Beurteilung kann bspw. im Rahmen der Konzessionser-
teilung für das neue grenzüberschreitende Angebot gestellt werden. Erfolgt der Antrag
in der Anhörung des Konzessionsverfahrens, so hat das BAV den Antrag an die zu-
ständige RailCom weiterzuleiten. Der Antrag kann jedoch auch während einer bereits
laufenden Konzession gestellt werden, sollte sich namentlich die Sachlage so geändert
haben, dass der notwendige Hauptzweck angezweifelt werden kann. Die Beurtei-
lungskriterien für die Erfüllung des Hauptzweckes sind vom Bundesrat auf Verord-
442 / 931
nungsstufe (voraussichtlich in der Eisenbahn-Netzzugangsverordnung vom 25. No-
vember 1998
415
) zu definieren. Die EU hatte die Bewertungskriterien in der Durch-
führungsverordnung (EU) Nr. 869/2014
416
festgelegt (Art. 8). Diese Durchführungs-
verordnung wurde in der Zwischenzeit aufgehoben, weil die Prüfung des
Hauptzwecks aufgrund der Marktöffnung für den inländischen Schienenpersonenver-
kehr obsolet wurde. Nichtsdestotrotz kann die Verordnung der Schweiz als Orientie-
rungshilfe dienen. So sah sie namentlich die Distanz und die gewählten Haltepunkte
des Angebots, die Vermarktung des Angebots, das verwendete Rollmaterial sowie den
Anteil der grenzüberschreitenden Beförderung am Umsatz oder den Passagierzahlen
des Angebots im Vergleich zum Anteil der Binnenbeförderung als relevante Kriterien
vor.
Art. 40a
quater
Stellt die RailCom fest, dass der Hauptzweck eines grenzüberschreitenden Angebots
nicht erfüllt ist, so kann dem EU-Eisenbahnverkehrsunternehmen nach Artikel 24 Ab-
satz 1
a
LandVA (Art 1 Abs. 6 ÄP-LandVA) der Netzzugang verweigert werden. Als
weitere Folge davon wird dem EU-Eisenbahnverkehrsunternehmen für sein Angebot
die dafür erforderliche Konzession nicht erteilt bzw. eine allfällig bereits erteilte Kon-
zession entzogen (vgl. Erläuterungen zu Art. 9 Abs. 2
ter
und 3
bis
PBG). Damit das
BAV als Konzessionsbehörde die notwendigen Schritte vornehmen kann, hat die Rail-
Com das BAV über den Eingang eines Antrages sowie über ihren Entscheid zu infor-
mieren.
2.5.7.1.2
Personenbeförderungsgesetz (PBG)
Art. 9a
Besondere Voraussetzungen für konzessionierte,
grenzüberschreitende Angebote
Aufgrund von Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe b geniessen bestehende, konzessionierte
oder bewilligte Angebote sowohl des Fernverkehrs (s. Ziff. 1) als auch des bestellen
Regionalverkehrs (s. Ziff. 2) einen erheblichen Schutz vor Konkurrenz durch neue
Angebote. Für bestehende Angebote dürfen keine volkswirtschaftlich nachteiligen
Wettbewerbsverhältnisse entstehen. So dürfen namentlich Angebote des Fernverkehrs
nicht existenziell gefährdet und bestellte Angebote des Regionalverkehrs lediglich er-
gänzt werden. Mit der Aufnahme des neuen Artikels 24 Absatz 1
a
des LandVA wird
die Marktöffnung im Bereich des grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehrs
vollzogen. Angebote des grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehrs im Sinne
von Artikel 3 Absatz 2 LandVA sowohl von Eisenbahnverkehrsunternehmen mit Sitz
in einem EU-Mitgliedstaat als auch von Eisenbahnverkehrsunternehmen mit Sitz in
der Schweiz unterstehen dadurch nicht diesem grundsätzlich mit der Konzession oder
Bewilligung verbundenen Konkurrenzschutz. Sie dürfen sich insbesondere gegensei-
tig konkurrenzieren. Dies ist Kern der angestrebten Marktöffnung und Gegenstand
415
SR
742.122
416
Durchführungsverordnung (EU) Nr. 869/2014 der Kommission vom 11. August 2014 über
neue Schienenpersonenverkehrsdienste, ABl. L 239 vom 12.8.2014, S. 1.
443 / 931
des neuen Artikel 9a Absatz 1. Der nationale öffentliche Verkehr ist davon nicht be-
troffen, er geniesst weiterhin den oben erwähnten Konkurrenzschutz. Geschützt bleibt
somit auch der vertaktete Fernverkehr auf der nationalen Teilstrecke, der in Koopera-
tion mit einem ausländischen Eisenbahnverkehrsunernehmen ins Ausland weiterge-
führt wird.
Wird einem Eisenbahnverkehrsunernehmen der Netzzugang aufgrund des Entscheids
der RailCom nach Artikel 40
a
ter
Absatz 2
bis
EBG verweigert, so wird das BAV als
Konzessionsbehörde dem Unternehmen die Konzession nach Absatz 2
nicht erteilen.
Gleiches hat dann zu gelten, wenn ein Angebot eines Eisenbahnverkehrsunterneh-
mens eines EU-Mitgliedstaates den Hauptzweck nicht mehr erfüllt. In diesem Fall
entzieht das BAV nach dem entsprechenden Entscheid der RailCom die bestehende
Konzession. Vorbehalten bleibt eine allfällige Beschwerde gegen den Entscheid der
RailCom ans Bundesverwaltungsgericht, wobei einer Beschwerde gegen einen Ent-
scheid der RailCom gemäss Artikel 40
a
octies
Absatz 2 nicht automatisch aufschiebende
Wirkung zukommt.
Art. 31c Abs. 1 und 1
bis
Die Besteller von öffentlichem Verkehr (Bund und Kantone) erstellen bereits heute
eine Ausschreibungsplanung für Angebote des regionalen Personenverkehrs auf der
Schiene und Strasse. Die Ausschreibungsplanung umfasst die gemeinsam ausge-
schriebenen Angebote, die mit oder ohne Bundesbeteiligung bestellt werden. Auf-
grund der Umsetzung der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 (insb. Art. 7 Abs. 2) sollen
bestimmte Angaben betreffend geplante Ausschreibungen ein Jahr im Voraus trans-
parent veröffentlicht werden. Es wird deshalb vorgeschlagen, dafür das bestehende
Instrument der Ausschreibungsplanung zu nutzen und künftig auf sämtliche grenz-
überschreitende Angebote auszuweiten. Neu sollen deshalb Angebote mit Abschnit-
ten in Nachbarstaaten, welche weder gemeinsam zwischen Bund und Kantonen aus-
geschrieben
noch
gemeinsam
bestellt
werden,
ebenfalls
in
die
Ausschreibungsplanung aufgenommen werden. Darunter fällt namentlich der Orts-
verkehr. Absatz 1
hält aufgrund dieser Änderung neu nur noch den Grundsatz fest,
wonach die Besteller eine Ausschreibungsplanung zu erstellen haben.
Im neuen Absatz 1
bis
wird sodann konkretisiert, welche Ausschreibungen von Ange-
boten in die Ausschreibungsplanung aufzunehmen sind. Nebst den bisherigen Ange-
boten (Bst. a und b) sind dies sämtliche grenzüberschreitenden Angebote, welche von
den Kantonen und/oder Gemeinden bestellt werden.
Die Federführung für die Ausschreibungsplanung bleibt dabei weiterhin bei den Kan-
tonen.
Art. 31d
Veröffentlichung bestellter Angebote mit Linienabschnitten in
Nachbarstaaten
Diese neue Bestimmung ist ebenfalls direkt auf die Verordnung (EG) Nr. 1370/2007
(Art. 7 Abs. 3) zurückzuführen. Ziel dieser jährlichen Übersicht ist die Erhöhung der
Transparenz über die finanziell abgegoltenen, grenzüberschreitenden Leistungen. Das
BAV publiziert bereits heute eine jährliche Übersicht der Abgeltungen im regionalen
444 / 931
Personenverkehr, abrufbar auf der BAV-Website unter: Regionaler Personenverkehr
- Bestellverfahren). Darunter fallen auch grenzüberschreitende Angebote. Neu sollen
aber auch sämtliche Abgeltungen von grenzüberschreitenden Leistungen, welche
ohne Bundesbeteiligung bestellt werden, in diese Übersicht mitaufgenommen werden.
Damit das BAV eine vollständige Übersicht publizieren kann, werden die Kantone
verpflichtet, diesem die notwendigen Angaben zu liefern. Der Bundesrat wird die zu
liefernden Angaben voraussichtlich auf Verordnungsstufe (Verordnung vom 16. Ok-
tober 2024
417
über die Abgeltung und die Rechnungslegung im regionalen Personen-
verkehr) festlegen, wobei die Bezeichnung der bestellten Linien und der Transportun-
ternehmen sowie die Höhe der Abgabe und die Laufzeit der Bestellung von Relevanz
sein werden.
Art. 32a Abs. 1bis
Der neue Artikel 24
a
Absatz 5 des Landverkehrsabkommens schliesst die Möglich-
keit einer gemeinsamen Ausschreibung öffentlicher Personenverkehrsdienste zwi-
schen der Schweiz und einer Behörde eines EU-Mitgliedstaats nicht aus (s. Ziff.
2.5.6.2). Eine solche Ausschreibung unterliegt in diesem Fall den Anforderungen der
Verordnung (EG) Nr. 1370/2007, die neu in Anhang 1 des Abkommens aufgenommen
wird und die Anforderungen an die Vergabe von grenzüberschreitenden Personenver-
kehrsdiensten festlegt. Es wird darauf verzichtet, die zu beachtenden Vorgaben im
Schweizer Recht in eigenständigen Bestimmungen abzubilden. Mit dem neuen Absatz
1bis
wird jedoch klargestellt, dass bei solchen gemeinsamen Ausschreibungen die
Vorgaben des Völkerrechts zu beachten sind. Diese Formulierung gewährleistet, dass
auch bei gemeinsamen Ausschreibungen mit dem EFTA-Staat Liechtenstein das mas-
sgebliche Völkerrecht zu berücksichtigen ist. Der Unterschied zu Absatz 1 liegt darin,
dass die Besteller im Anwendungsfall von Absatz 1 die Ausschreibung eines Ange-
bots mit Linienabschnitten in einem Nachbarstaat jeweils nur bis zur Grenze vorneh-
men und deshalb das Verfahren für den Schweizer Abschnitt mit demjenigen für den
Abschnitt im Nachbarstaat koordinieren sollen. Absatz 1 stellt dabei, im Gegensatz
zu Absatz 1bis, keinen eigentlichen Fall dar, in welchem das Völkerrecht (Landver-
kehrsabkommen) Anwendung findet.
Art. 35 Abs. 1
Es handelt sich hierbei lediglich um eine formale Anpassung: Der neue Artikel 9
a
Absatz 2 PBG
führt neu das Eisenbahngesetz vom 20. Dezember 1957
418
(EBG) erst-
malig im PBG ein, weshalb im vorliegenden Artikel künftig die Abkürzung (EBG)
verwendet werden kann.
2.5.7.2
Begleitmassnahmen ohne Gesetzesanpassungen
Gemäss dem
Common Understanding
und dem Verhandlungsmandat müssen die So-
zialstandards bei einer Öffnung des Markts für den grenzüberschreitenden Schienen-
personenverkehr gewährleistet sein. Dieser Grundsatz konnte im neuen Artikel 24
a
Absatz 4 LandVA (s. oben) festgeschrieben werden.
417
SR
745.16
418
SR
742.101
445 / 931
Das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation
(UVEK) hat im Auftrag des Bundesrats in der Konsultationsphase unter Einbezug der
Sozialpartner zwei technische Gespräche unter der Leitung des BAV und abschlies-
send einen Runden Tisch unter dem Vorsitz des Departementsvorstehers durchge-
führt. Dabei wurde das Umsetzungskonzept für die Schweiz diskutiert. Als wichtiger
Teil des Umsetzungskonzepts hat das UVEK vorgeschlagen, dass das BAV unter Ein-
bezug der Sozialpartner eine Weisung erarbeiten soll. Diese soll als Grundlage für die
Prüfung im Rahmen von Konzessionsverfahren dienen, ob Unternehmen, welche
grenzüberschreitenden Schienenpersonenfernverkehr erbringen, die branchenübli-
chen Arbeitsbedingungen einhalten.
Am 19. Juni 2024 hat der Bundesrat das UVEK (BAV) formell beauftragt, eine Richt-
linie bzw. Weisung zu den Sozialstandards im internationalen Schienenpersonenver-
kehr zu erarbeiten und die Sozialpartner bei der Erarbeitung in geeigneter Weise mit-
einzubeziehen.
Diese Weisung soll dem BAV bei der Prüfung von Konzessions- und Bewilligungs-
gesuchen als Massstab der Branchenüblichkeit der Sozialstandards dienen. Ein Un-
ternehmen, das in der Schweiz regelmässigen und gewerbsmässigen Personentrans-
port anbietet, benötigt nach Artikel 9 PBG eine Konzession oder eine Bewilligung.
Voraussetzung zur Erlangung einer Konzession oder einer Bewilligung nach Artikel
9 PBG für ein Angebot in der Schweiz ist gemäss Absatz 2 unter anderem, dass das
Unternehmen nachweist, dass es die arbeitsrechtlichen Vorschriften einhält und die
Arbeitsbedingungen der Branche gewährleistet (Bst. e). Zu den arbeitsrechtlichen
Vorschriften und den Arbeitsbedingungen gehören unter anderem die Einhaltung des
Bundesgesetzes vom 8. Oktober 1971
419
über die Arbeit in Unternehmen des öffent-
lichen Verkehrs (Arbeitszeitgesetzes; AZG) sowie das Gewähren branchenüblicher
Löhne. Diese Voraussetzungen muss das Unternehmen für den Streckenabschnitt in
der Schweiz erfüllen. Aktuell erbringen in der Schweiz nur die SBB grenzüberschrei-
tenden Personenfernverkehr auf der Schiene. Daher wird der Gesamtarbeitsvertrag
(GAV) der SBB als Ausgangspunkt der Festlegung der Branchenüblichkeit herange-
zogen werden, aber nicht abschliessend massgeblich sein.
Das BAV benötigt eine objektive Beurteilungsgrundlage mit Kriterien und Schwel-
lenwerten zur Prüfung der Frage, ob Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe e PBG zum Zeit-
punkt des Einreichens eines Gesuches für eine Konzession oder eine Bewilligung für
das Angebot auf dem Schweizer Territorium eingehalten wird (und auch während des
Betriebs eingehalten wird).
Die Weisung des BAV hat damit explizit nicht zum Zweck, einen möglichen GAV zu
ersetzen. Ob die Sozialpartner gemeinsam einen GAV abschliessen oder nicht und ob
dieser von der Weisung des BAV abweicht, liegt in der Verantwortung der Sozial-
partner.
Die Weisung soll ausschliesslich die Kriterien und Schwellenwerte für die Branche
des nicht bestellten internationalen Schienenpersonenverkehrs festhalten. Sie deckt
damit explizit nicht den grenzüberschreitenden bestellten sowie den rein nationalen
Schienenpersonenverkehr in der Schweiz ab.
419
SR
822.21
446 / 931
Ausserdem sieht die Weisung unter Einbezug der Sozialpartner ein Monitoring der
Arbeitsbedingungen nach der Marktöffnung vor. Bei Bedarf kann der Bundesrat Mas-
snahmen ergreifen.
Die interessierten Gewerkschaften und Personalverbände wurden eng in die Erarbei-
tung dieser Weisung einbezogen. Die Weisung wird zusammen mit der vorliegenden
Vorlage in Kraft treten.
2.5.7.3
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
Die proaktive Begleitung im Meinungsbildungs- und Rechtsetzungsprozess der EU
der für das LandVA relevanten Rechtsakte, deren zeitnahe Umsetzung im Schweizer
Recht sowie deren Anwendung wird insbesondere für die Verwaltung mit einem er-
höhten Ressourcenaufwand verbunden sein. Gleichzeitig senkt diese aufwändige Vor-
arbeit den späteren Aufwand bei der Umsetzung ins Schweizer Recht. Insgesamt
dürfte für die Verwaltung (BAV, Bundesamt für Strassen (ASTRA)) ein Mehrauf-
wand aufgrund der stärkeren Mitspracherechte (
Decision Shaping
) resultieren.
Demgegenüber besteht eine Gewähr, dass das für die Umsetzung der schweizerischen
Verkehrspolitik sowie für den Marktzugang der Schweizer Transportwirtschaft wich-
tige Abkommen weiterentwickelt werden kann und die Schweiz Anliegen bei der EU-
Rechtsentwicklung frühzeitig einbringen kann. Vor diesem Hintergrund kann von ei-
nem günstigen Kosten-Nutzen-Verhältnis ausgegangen werden.
2.5.7.4
Umsetzungsfragen
Auf Ebene des Bundes ist die Schaffung äquivalenten Schweizer Rechts zu den mit-
tels ÄP-LandVA ins LandVA integrierten Rechtsakten anzugehen. Diese haben keine
Anpassungen auf Gesetzesebene zur Folge. Es werden aber diverse Anpassungen auf
Verordnungsebene erforderlich sein.
Gemäss Abklärungen mit den Kantonen sind keine Anpassungen auf kantonaler Ge-
setzes- oder Verordnungsstufe erforderlich.
2.5.8
Auswirkungen des Paketelements
Mit den in den Verhandlungen vereinbarten Änderungen des LandVA kann der Zu-
gang der Vertragsparteien zu ihren jeweiligen Märkten erhalten, die Harmonisierung
der einschlägigen Vorschriften und Verfahren im Landverkehr fortgesetzt und eine
zwischen der Schweiz und der EU abgestimmte Verkehrspolitik gewährleistet wer-
den. Damit wird das Risiko einer Erosion des LandVA beseitigt, die Rechtssicherheit
und damit die Investitionssicherheit der Schweizer Eisenbahnverkehrsunternehmen,
die im europäischen Transportmarkt tätig sind, steigt.
2.5.8.1
Auswirkungen auf den Bund
Die Schweiz wird bei der Ausarbeitung neuer Rechtsakte der EU frühzeitig einbezo-
gen. Durch einen systematischen und direkten Einbezug kann die Schweiz ihre An-
liegen besser einbringen. Insbesondere im Bereich der technischen Sicherheit und In-
teroperabilität
bei
der
Eisenbahn
und
in
den
europäischen
Schienengüterverkehrskorridoren sowie im Strassenverkehr hat die Schweiz damit die
447 / 931
Möglichkeit, auf Lösungen hinzuwirken, die in ihrem Interesse liegen. Die Umset-
zung der Schweizer Verkehrspolitik wird so unterstützt. Damit verbunden ist eine en-
gere Begleitung der EU-Rechtsentwicklung als bisher und eine zeitnahe Umsetzung
der EU-Regelwerke.
Die Möglichkeit, bestellten Personenverkehr auf der Schiene in der Schweiz weiterhin
direkt zu vergeben und nicht nach EU-Recht auszuschreiben, schützt die Besteller des
öffentlichen Verkehrs vor allfälligen negativen Auswirkungen der dynamischen
Rechtsübernahme im Bereich Landverkehr.
Die Ausstellung neuer Konzessionen und Genehmigungen sowie die Prüfung von Ge-
suchen im Rahmen der Öffnung des Markts für den grenzüberschreitenden Schienen-
personenverkehr könnte zu einer leichten Zunahme des Arbeitsaufwands für das BAV
führen. Mit der Prüfung des Hauptzwecks erhält die RailCom neue Zuständigkeiten,
die mit bestehenden Ressourcen wahrgenommen werden können (Art. 40
a
ter
Abs. 2
bis
EBG
;
s. Ziff. 2.5.7.1.1).
Die vorgenommenen Anpassungen bei der LSVA führen zu keinen direkten finanzi-
ellen Auswirkungen für Bund, Kantone oder die Branche. Durch den grösseren Spiel-
raum in der Ausgestaltung der LSVA eröffnen sie jedoch die Möglichkeit für eine
künftig besser differenzierte Abgabe, welche positive Auswirkungen auf die Verlage-
rung und die Deckung der externen Kosten hat.
Eine Anpassung des LandVA für eine künftige Weiterentwicklung der LSVA ist in
absehbarer Zeit nicht mehr erforderlich. Gleiches gilt für eine engere Zusammenarbeit
mit der ERA. Damit können in beiden Fällen Aufwände betreffend erneute Verhand-
lungen und Arbeiten an separaten Botschaften ans Parlament vermieden werden.
Die Auswirkungen der neu geregelten Überwachung der staatlichen Beihilfen werden
in Ziffer 2.2.9.1 beschrieben. Die voraussichtlichen sektorspezifischen Tätigkeiten
können mit bestehenden Ressourcen bewältigt werden.
2.5.8.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf
urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete
Die Kantone waren bei den Verhandlungen direkt involviert. Wichtige Entscheide
wurden mit ihnen abgestimmt. Im Eisenbahnbereich sind die Auswirkungen auf die
Kantone gering. Abgeschlossene Netze wie Schmalspurnetze oder Tramnetze und die
ausschliesslich darauf verkehrenden Unternehmen sind vom LandVA nach wie vor
nicht erfasst. Auf den übrigen Netzen sind im grenzüberschreitenden regionalen
Schienenpersonenverkehr Direktvergaben auf Schweizer Boden weiterhin möglich
und dürften auch die Regel bleiben. Bei diesen Direktvergaben gelten unverändert die
Regelungen des Personenbeförderungsgesetzes. Insbesondere städtische Gebiete und
Tourismusregionen in Berggebieten könnten von ergänzenden Angeboten im interna-
tionalen Schienenpersonenverkehr profitieren.
Die Vergabe und Bestellung von grenzüberschreitenden regionalen oder lokalen Bus-
linien des öffentlichen Verkehrs orientieren sich am EU-Recht, wobei die für die
Schweiz relevanten Regelungen im Schweizer Recht, insbesondere im Personenbe-
förderungsgesetz, weitgehend abgebildet sind.
448 / 931
Die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 wird für die Kantone auch eine
zusätzliche geringfügige administrative Begleitung erfordern (Art. 31
c
Abs. 1 und 1
bis
sowie Art. 31
d
PBG; s. Ziff. 2.5.7.1.2).
2.5.8.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
Insgesamt ist eine Stabilisierung der Beziehungen im Landverkehr und eine Weiter-
entwicklung des LandVA im Interesse der Schweizer Volkswirtschaft. Insbesondere
der Transportsektor kann bei einer laufenden Weiterentwicklung des LandVA weiter-
hin vom Zugang zum Europäischen Markt profitieren. Dieser Zugang und die damit
verbundenen Transportdienstleitungen sind für die Versorgung der Schweiz wichtig.
Obwohl Prognosen zur Entwicklung des Personenverkehrs schwierig sind, insbeson-
dere da das konkret entstehende Verkehrsangebot derzeit nicht bekannt ist, kann die
Wettbewerbsfähigkeit im Bereich des grenzüberschreitenden Schienenpersonenver-
kehrs insofern gestärkt werden, als mit einer Marktöffnung neue Anbieter die beste-
henden Angebote ergänzen könnten. Dies führt durch den Wettbewerbsdruck wiede-
rum zu einer allgemeinen Verbesserung der Angebote.
Die Schweiz und die EU haben vereinbart, gerechte Wettbewerbsbedingungen
(level
playing field)
zwischen Schweizer Eisenbahnverkehrsunternehmen und Eisenbahn-
verkehrsunternehmen der EU durch die Einführung von Regeln über staatliche Bei-
hilfen in den vom LandVA abgedeckten Bereichen des Landverkehrs zu gewährleis-
ten.
Es ist fraglich, ob die SBB als einzige Transportunternehmung, die in der Schweiz
einen gesetzlich verankerten Zugang zur Bundestresorerie hat, möglicherweise von
einer Begünstigung im Sinne der Beihilfedefinition profitiert. Allerdings sind die Zin-
sen für die Tresoreriedarlehen marktkonform. In der Praxis wird ebenfalls von Bedeu-
tung sein, ob beziehungsweise wie genau die SBB grenzüberschreitend und somit im
Geltungsbereich des LandVA tätig wird. Auch auf dem privaten Kreditmarkt profitiert
die SBB von der Bonität der Eidgenossenschaft. Dies gilt jedoch auch für ausländi-
sche Staatsbahnen.
Das Nebeneinander von subventionierten und eigenwirtschaftlich zu betreibenden
Geschäftsfeldern ist generell herausfordernd. Aus diesem Grund wurden entspre-
chende Verrechnungsgrundsätze festgelegt, um das Risiko von Quersubventionierung
innerhalb der Eisenbahnunternehmen zu reduzieren (z.B. Spartentrennung gemäss
Art. 50 EBG, Rechnungslegung gemäss Art. 35 ff. PBG und Artikel 60 der Verord-
nung über die Abgeltung und die Rechnungslegung im regionalen Personenver-
kehr
420
, Spartenrechnung gemäss neuem Art. 13 Abs. 6 Gütertransportgesetz
421
). Eine
organisatorische Trennung der verschiedenen Geschäftsfelder nach Tätigkeiten inner-
halb und ausserhalb des Geltungsbereichs des LandVA unter dem Dach eines Eisen-
bahnunternehmens könnte die erforderliche Transparenz schaffen und allfällige Ab-
grenzungsprobleme im Zusammenhang mit der Beihilfeüberwachung entschärfen.
Für Markttätigkeiten innerhalb des EU-Binnenmarkts könnte sich ein Schweizer Ei-
senbahnverkehrsunternehmen allenfalls gezwungen sehen, die organisatorischen und
420
SR
745.16
421
BBl
2025 1103
449 / 931
buchhalterischen Voraussetzungen zu schaffen, um die beihilferechtlichen Risiken zu
minimieren. Dies wäre mit zusätzlichem Aufwand für diese Unternehmen verbunden.
Das nationale und internationale Geschäft beispielsweise der SBB im Schienengüter-
verkehr ist organisatorisch und buchhalterisch in SBB Cargo und SBB Cargo Interna-
tional aufgeteilt, was den Rahmen von allfälligen bestehenden Beihilfenregelungen
im Geltungsbereich des Beihilfeprotokolls einschränkt. Die nationale Tätigkeit von
SBB Cargo ist von den Vorschriften zu den staatlichen Beihilfen nicht betroffen, da
dieses Unternehmen nicht im Geltungsbereich des LandVA tätig ist.
Das LandVA legt die Grundlage für eine künftige engere Zusammenarbeit des BAV
mit der ERA. Dies kann bei Zulassungsprozessen für grenzüberschreitende Angebote
oder für international eingesetztes Rollmaterial zu geringeren administrativen Auf-
wänden führen und so die nationalen Akteure entlasten.
2.5.8.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
Die Öffnung des Markts für den grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehr
kann für die Nutzenden die Vorteile zusätzlicher Bahnangebote, günstigerer Preise
sowie eines Innovations- und Qualitätswettbewerbs zugunsten der Fahrgäste mit sich
bringen. Der nationale öffentliche Verkehr kann mit den vorgesehenen Massnahmen
vor negativen Auswirkungen wirksam geschützt werden.
Dank der Lohnschutzmassnahmen (z.B. Weisung zu den Sozialstandards) sind keine
grossen Auswirkungen auf die Arbeitnehmenden zu erwarten. Dies umso weniger, als
das Eisenbahnverkehrsunternehmen bei der Einreichung eines Konzessionsgesuchs
schon heute nachweisen muss, dass es «die arbeitsrechtlichen Vorschriften einhält und
die Arbeitsbedingungen der Branche gewährleistet» (Art. 9 Abs. 2 Bst. e PBG). Diese
Regelung wird durch eine Bestimmung im ÄP-LandVA zum LandVA abgesichert
(vgl. Art. 24
a
Abs. 5 LandVA).
2.5.8.5
Auswirkungen auf die Umwelt
Die zwischen der Schweiz und der EU abgestimmte Verkehrspolitik, wie sie durch
das LandVA garantiert wird, ist Teil einer nachhaltigen und umweltfreundlichen Mo-
bilität. Eine Weiterführung der mit der EU koordinierten Verkehrspolitik im Bereich
des Güterverkehrs unterstützt den verfassungsmässigen Verlagerungsauftrag, der in
erster Linie mit dem Ziel entstanden ist, die Bevölkerung und die Umwelt vor den
negativen Folgen des Transitverkehrs, unter anderem auf die Luftqualität und die
Lärmbelastung, zu schützen. Das Verhandlungsresultat schafft unter anderem eine
Grundlage, um die LSVA als wichtiges Instrument zur Verlagerung künftig weiter-
entwickeln zu können, ohne eine Anpassung des LandVA vorzunehmen.
Das dank einer Öffnung des Markts für den grenzüberschreitenden Schienenperso-
nenverkehr vergrösserte Bahnangebot kann auch dazu führen, dass weniger Menschen
mit dem Flugzeug oder dem Auto reisen.
2.5.8.6
Andere Auswirkungen
Es sind keine anderen Auswirkungen zu erwarten.
450 / 931
2.5.9
Rechtliche Aspekte des Paketelements
Dieser Abschnitt behandelt das ÄP-LandVA. Ausführungen zum IP-LandVA bzw.
zum Beihilfeprotokoll-LandVA finden sich in den Ziffern 2.1.9 bzw. Ziffern 2.2.11,
es sei denn, es wird nachstehend ausdrücklich auf diese Protokolle Bezug genommen
.
2.5.9.1
Verfassungsmässigkeit der Protokolle
Das ÄP-LandVA stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 BV, wonach der Bund für die
auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV ermächtigt den
Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Die Bun-
desversammlung ist nach Artikel 166 Absatz 2 BV für die Genehmigung völkerrecht-
licher Verträge zuständig, sofern für deren Abschluss nicht aufgrund von Gesetz oder
völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (Art. 24 Abs. 2 ParlG; Art. 7
a
Abs. 1 RVOG).
Beim ÄP-LandVA handelt es sich nicht um einen Vertrag, für dessen selbstständigen
Abschluss der Bundesrat aufgrund eines Gesetzes oder eines von der Bundesver-
sammlung genehmigten völkerrechtlichen Vertrags ermächtigt ist. Insbesondere geht
das ÄP-LandVA über die in Artikel 9a Abs. 6 des Eisenbahngesetzes vorgesehenen
Anwendungsbereiche hinaus, in denen der Bundesrat Abkommen zur Gewährung des
Netzzugangs abschliessen kann. Es handelt sich auch nicht um einen völkerrechtli-
chen Vertrag von beschränkter Tragweite nach Artikel 7
a
Absatz 2 RVOG. Zudem
erfordert die Umsetzung des ÄP-LandVA die Anpassung von Bundesgesetzen. Das
ÄP-LandVA ist folglich der Bundesversammlung zur Genehmigung zu unterbreiten.
Die Verfassungsmässigkeit des IP-LandVA wird in Ziffer 2.1.8.1 erläutert.
Die Verfassungsmässigkeit des Beihilfeprotokolls-LandVA wird in Ziffer 2.2.11.1 er-
läutert.
2.5.9.2
Verfassungsmässigkeit Umsetzungsgesetzgebung und
Begleitmassnahmen
Gemäss Artikel 87 BV ist die Gesetzgebung über den Eisenbahnverkehr Sache des
Bundes. Die regel- und gewerbsmässige Personenbeförderung (Personenbeförde-
rungsregal des Bundes) wird als Teil des Post- und Fernmeldewesens gemäss Artikel
92 Absatz 1 BV verstanden. Die diesbezügliche Gesetzgebung ist ebenfalls Sache des
Bundes.
Die vorgeschlagenen Anpassungen bewegen sich alle innerhalb der dargelegten Ge-
setzgebungskompetenz des Bundes.
Die Überwachung staatlicher Beihilfen im Landverkehr wird im neu zu schaffenden
Beihilfeüberwachungsgesetz (BHÜG) geregelt.
Die Kompetenzgrundlagen für das
Beihilfeüberwachungsgesetz sind in Kapitel 2.2.10 erläutert.
2.5.9.3
Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen
der Schweiz
Die drei Protokolle sind mit den internationalen Verpflichtungen der Schweiz verein-
bar.
451 / 931
Auch mit dem revidierten Übereinkommen zur Errichtung der Europäischen Freihan-
delsassoziation
422
(EFTA-Übereinkommen) sind die drei Protokolle vereinbar. Die
Protokolle finden nur im Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU und ihren Mit-
gliedstaaten, nicht aber im Verhältnis zu den EFTA-Staaten Anwendung. Zwischen
der Schweiz und den EFTA-Staaten gelten im Bereich des Landverkehrs daher wei-
terhin die im Anhang P des EFTA-Übereinkommens enthaltenen Bestimmungen, die
mit dem geltenden LandVA weitgehend übereinstimmen.
Um weiterhin möglichst einheitliche Regeln zwischen den EU- und EFTA-
Mitgliedstaaten zu gewährleisten, wird eine Anpassung des Anhangs P des EFTA-
Übereinkommens an die im Rahmen des Pakets Schweiz-EU vorgenommen Ände-
rungen des Landverkehrsabkommens zu prüfen sein.
Die drei Protokolle sind ebenfalls mit den bilateralen Strassenverkehrsabkommen
zwischen der Schweiz und zahlreichen Staaten sowie mit dem Übereinkommen über
den internationalen Eisenbahnverkehr in der Fassung des Änderungsprotokolls vom
3. Juni 1999 (COTIF)
423
vereinbar.
2.5.9.4
Erlassform
Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV unterliegen völkerrechtliche Ver-
träge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige rechtsetzende Bestimmungen
enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Nach Ar-
tikel 22 Absatz 4 ParlG sind unter rechtsetzenden Normen jene Bestimmungen zu
verstehen, die in unmittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten
auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen. Als wichtig gelten Best-
immungen, die auf der Grundlage von Artikel 164 Absatz 1 BV in der Form eines
Bundesgesetzes erlassen werden müssten.
Die drei Protokolle enthalten wichtige rechtsetzende Bestimmungen. Das Änderungs-
protokoll und das Beihilfeprotokoll erfordern zudem für die Umsetzung die Anpas-
sung von Bundesgesetzen bzw. den Erlass eines Bundesgesetzes. Der Bundesbe-
schluss über die Genehmigung der drei Protokolle ist deshalb dem fakultativen
Referendum nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV zu unterstellen (s.
aber die Varianten in Ziff. 4.1).
2.5.9.5
Vorläufige Anwendung
Es ist keine vorläufige Anwendung vorgesehen.
2.5.9.6
Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass
Es sind keine besonderen rechtlichen Aspekte des Umsetzungserlasses hervorzuhe-
ben.
422
SR
0.632.31
423
SR
0.742.403.12
452 / 931
2.5.9.7
Datenschutz
Der Datenschutz ist von der Vorlage nicht betroffen. Die Erläuterungen betreffend
das Schiedsgericht unter Ziffer 2.1.8.6 gelten auch für das Schiedsgericht gemäss An-
lage des IP-LandVA.
453 / 931
2.6
Luftverkehr
2.6.1
Zusammenfassung
Die Schweiz ist ein global stark vernetztes Land mitten in Europa und braucht ein
stabiles und konkurrenzfähiges Luftfahrtsystem, um u.a. die Anbindung mit Europa
und der ganzen Welt zu gewährleisten. Dieses System ist auf gute Rahmenbedingun-
gen angewiesen.
Das Abkommen vom 21. Juni 1999
424
zwischen der Schweizerischen Eidgenossen-
schaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Luftverkehr (Luftverkehrsab-
kommen / «LuftVA»), welches am 1. Juni 2002 in Kraft trat, schafft hierfür optimale
Bedingungen.
Das Luftverkehrsabkommen sorgt für ein hohes Sicherheitsniveau und regelt die
Schweizer Teilnahme an der europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA), die in
der Ausarbeitung der europäischen Flugsicherheitsbestimmungen (
Safety
) federfüh-
rend ist. Die Schweiz trat der EASA 2006 bei. Auch sichert das Luftverkehrsabkom-
men die Teilnahme der Schweiz am einheitlichen europäischen Luftraum (
Single Eu-
ropean Sky
), der die Modernisierung des europäischen Flugsicherungssystems
bezweckt, sowie die Teilnahme an den einheitlichen Luftsicherheitsregeln (
Security
).
Dank des Luftverkehrsabkommens ist zudem der gegenseitige Zugang der Schweizer
und EU-Luftfahrtunternehmen zum liberalisieren Luftverkehrsmarkt zwischen der
Schweiz und der EU gewährleitstet. Dieser Marktzugang ist für die schweizerische
Luftfahrtbranche sowie Konsumentinnen und Konsumenten von hervorgehobener
Bedeutung. Im Jahr 2024 flogen gut 34 Millionen aller knapp 58 Millionen Passagie-
rinnen und Passagiere an Schweizer Flughäfen in die EU oder kamen von dort (rund
60 %). Im Rahmen der Verhandlungen einigten sich die Schweiz und die EU auf eine
Aktualisierung des Luftverkehrsabkommens mittels dreier Protokolle.
Das Änderungsprotokoll zum LuftVA (ÄP-LuftVA) sieht insbesondere den Aus-
tausch von Verkehrsrechten für Inlandsflüge auf dem Gebiet der jeweils anderen Ver-
tragspartei vor (sog. Kabotagerechte), womit der bisherige Marktzugang ergänzt und
den Luftfahrtunternehmen neue Möglichkeiten bei ihrer Routenplanung eröffnet wird.
Mit dem Institutionellen Protokoll zum Luftverkehrsabkommen (IP-LuftVA) werden
die institutionellen Elemente in das Luftverkehrsabkommen integriert (siehe Ziffer
2.1). Durch die im IP-LuftVA vorgesehene Absicherung der schweizerischen Mit-
spracherechte ist sichergestellt, dass die Schweiz systematisch ihre Interessen gegen-
über der EU bestmöglich vertreten kann.
Das Protokoll über staatliche Beihilfen zum LuftVA (Beihilfeprotokoll-LuftVA) führt
zu einer verbindlichen Überwachung von staatlichen Beihilfen. Es ermöglicht, Wett-
bewerbsverzerrungen zu verringern und sorgt für gleiche Bedingungen für Unterneh-
men aus der Schweiz und der EU
(siehe Ziffer 2.6.6.3).
424
SR
0.748.127.192.68
454 / 931
Des Weiteren wird das unter Ziffer 2.8 erläuterte EU-Programmabkommen die
Schweizer Industrie zu einer vollwertigen und freiwilligen Teilnahme am Programm
für die Forschung zum Flugverkehrsmanagementsystem für den einheitlichen europä-
ischen Luftraum (SESAR 3,
Single European Sky Air Traffic Management Research
)
berechtigen. Diese Teilnahme ermöglicht es der Schweizer Luftfahrtindustrie über die
hierfür vorgesehenen Fördertöpfe von Horizon Europe in die Entwicklung von inno-
vativen Technologien und Verfahren im Bereich der Zivilluftfahrt zu investieren.
Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt. Er beantragt
im Rahmen des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU die Genehmigung des
Änderungsprotokolls-LuftVA, des IP-LuftVA sowie des Beihilfeprotokolls-LuftVA.
2.6.2
Ausgangslage
Das Luftverkehrsabkommen regelt seit 2002 den gegenseitigen Zugang der Schweizer
und EU-Luftfahrtunternehmen zum liberalisierten Luftverkehrsmarkt zwischen der
Schweiz und der EU. Die Relevanz dieses Marktzugangs ist durch Zahlen belegbar.
Im Jahr 2024 flogen gut 34 Millionen aller knapp 58 Millionen Passagiere an Schwei-
zer Flughäfen in die EU bzw. kamen von dort (rund 60 %). Dank des Luftverkehrsab-
kommens sind Schweizer Luftfahrtunternehmen den Wettbewerbern aus der EU
gleichgestellt.
Das Luftverkehrsabkommen besteht aus einem Hauptteil und einem Anhang.
Der Anhang wird seit Inkrafttreten des LuftVA regelmässig aktualisiert, um für die
Parteien, die Wirtschaftsteilnehmenden und Privatpersonen einheitliche Wettbe-
werbsbedingungen zu garantieren. So wird insbesondere auch ein gleichwertiges Si-
cherheitsniveau im Bereich der Zivilluftfahrt gewährleistet. Die Aktualisierung des
Anhangs des Luftverkehrsabkommens funktioniert in konstruktiver Zusammenarbeit
mit der EU. Das Luftverkehrsabkommen umfasst einen Grossteil der für die Zivilluft-
fahrt relevanten europäischen Vorschriften. Diese europäischen Vorschriften sind
mehrheitlich Umsetzungsvorgaben zu global geltenden Standards der Internationalen
Zivilluftfahrtorganisation (ICAO).
Aufgrund der regelmässigen Aktualisierung des Luftverkehrsabkommens ist der An-
passungsbedarf im Bereich Luftfahrt im Rahmen des Paketes Schweiz-EU vergleichs-
weise gering.
Im Bereich der Verkehrsrechte sind Schweizer sowie EU-Luftfahrtunternehmen bis-
her auf Grund fehlender Kabotagerechte in ihrer Routenplanung leicht eingeschränkt.
Konkret verfügen Schweizer Luftfahrtunternehmen zurzeit nicht über Verkehrsrechte
für Flüge innerhalb von EU-Staaten, während EU-Luftfahrtunternehmen nicht über
Rechte für Inlandflüge in der Schweiz verfügen. Um die Flexibilität der Luftfahrtun-
ternehmen beider Vertragsparteien zu erhöhen, ist der Austausch der Kabotagerechte
notwendig. Beide Parteien verhandelten bereits bis 2012 über einen Austausch der
Kabotagerechte. Jedoch knüpfte die EU den Austausch der Kabotagerechte an eine
Einigung über die institutionellen Elemente (siehe Ziffer 2.1). Deshalb war die EU
bisher nicht mit einer Implementierung der Kabotagerechte einverstanden.
455 / 931
Die Schweiz hat dank ihres ausgewiesenen Fachwissens im Bereich Luftfahrt seit In-
krafttreten des Luftverkehrsabkommens regelmässig ihre Interessen in den relevanten
EU-Gremien
eingebracht.
Infolge
der
Schweizer
Mitarbeit
im
EU-
Rechtssetzungsprozess ist es z.B. gelungen, einen in der Schweiz entwickelten Bewil-
ligungsprozess zum Betrieb komplexer Drohnen als europaweiten Standard festzule-
gen. Eine aktive Mitgestaltungsmöglichkeit erlaubt es der Schweiz, die Kohärenz zwi-
schen globalen, europäischen und nationalen Luftfahrtregeln zu erhöhen. Allerdings
ist der Miteinbezug der Schweiz im Bereich Luftverkehr bisher nicht vollumfänglich
abgesichert gewesen.
Bis Ende 2024 konnte die Schweizer Luftfahrtindustrie nur als Drittpartei (sog.
Associated Partner
) an den Forschungsprojekten von SESAR 3 teilnehmen. Sie
konnte weder Projekte koordinieren noch konnte sie sich an der Leitung und strategi-
schen Steuerung von SESAR 3 beteiligen. Die Teilnahme der Schweizer
Associated
Partners
wurde durch die Schweiz selber finanziert.
2.6.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
In den Verhandlungen im Bereich Luftverkehr war es das Ziel der Schweiz, ihre Teil-
nahme am liberalisierten Luftverkehrsmarkt der EU unter Beibehaltung des hohen Si-
cherheitsniveaus weiterhin zu gewährleisten und die Mitsprache bei zukunftsträchti-
gen Themen im Bereich der Luftfahrt abzusichern.
Konkret hatte sich die Schweiz im Verhandlungsmandat den Austausch der Kabota-
gerechte, die Möglichkeit einer vollwertigen freiwilligen Teilnahme der Schweizer
Industrie an SESAR 3 sowie eine möglichst weitgehende Kohärenz der Regeln im
Bereich Luftverkehr angestrebt. Letzteres Ziel bezog sich insbesondere auf die Absi-
cherung der Schweizer Mitspracherechte in den relevanten Gremien der EU. Dies er-
möglicht es der Schweiz, sich systematisch insbesondere auch bei neuen Themen für
eine Kohärenz der Regeln im Bereich Luftverkehr auf globalem, europäischem und
nationalem Niveau einzusetzen.
Für die EU war es von Bedeutung, die in Ziffern 2.1 und 2.2 erläuterten institutionel-
len Elementen und Beihilfeüberwachung in das Luftverkehrsabkommen zu integrie-
ren.
Insgesamt fanden fünf Verhandlungsrunden im Bereich Luftverkehr statt. Die
Schweiz hat alle ihre Verhandlungsziele im Bereich Luftverkehr erreicht.
2.6.4
Vorverfahren
Das Bundesamt für Zivilluftfahrt (BAZL) hat die Schweizer Landesflughäfen sowie
die grössten Schweizer Luftfahrtunternehmen im Rahmen der bewährten Informati-
onskanäle informiert. Der Luftverkehr wurde nicht in den Sondierungsgesprächen
zwischen der Schweiz und der EU angesprochen.
Zudem hat das BAZL geprüft, ob im Bereich Luftverkehr eine Regulierungsfolgeab-
schätzung durchzuführen ist. Das BAZL kam zum Ergebnis, dass die Auswirkungen
des ÄP-LuftVA, des IP-LuftVA sowie des Beihilfeprotokolls-LuftVA keiner Regu-
lierungsfolgeabschätzung bedürfen. Dies ist insbesondere darauf zurückzuführen,
456 / 931
dass die Schweiz bereits heute weitgehend am EU-Luftverkehrsbinnenmarkt teil-
nimmt und das Luftverkehrsabkommen regelmässig aktualisiert wird. Insbesondere
regelt das LuftVA (Art. 13 und 14) bereits heute die staatlichen Beihilfen im Luftver-
kehr, auch wenn hier neue Verfahren anwendbar werden (siehe Ziffer 2.2).
2.6.5
Grundzüge der Protokolle
Das Luftverkehrsabkommen wird durch ein ÄP-LuftVA aktualisiert und durch das IP-
LuftVA sowie das Beihilfeprotokoll-LuftVA ergänzt. Die Vorschriften des Luftver-
kehrsabkommens, welche den gleichen Sachverhalt wie das ÄP-LuftVA regeln, wer-
den aufgehoben oder ersetzt. Die Vorschriften des Luftverkehrsabkommens, welche
den gleichen Sachverhalt wie das IP-LuftVA und das Beihilfeprotokoll-LuftVA re-
geln, werden aufgehoben.
Ein Teil der Vorschriften im ÄP-LuftVA sowie ein Grossteil der Vorschriften des IP-
LuftVA sowie des Beihilfeprotokoll-LuftVA werden in mehreren Abkommen des Pa-
ketes Schweiz-EU integriert. Dementsprechend werden diese Vorschriften unter den
horizontalen Ziffern 2.1 und 2.2 erläutert. Im Folgenden sind nur diejenigen Vor-
schriften der erwähnten Protokolle erläutert, welche erwähnenswerte luftverkehrsspe-
zifische Aspekte beinhalten.
Die vollwertige Teilnahme der Schweizer Industrie an SESAR 3 wird durch das EU-
Programmabkommen, auf welches unter Ziffer 2.8 eingegangen wird, gewährleistet.
Die Auswirkungen der Möglichkeit einer Teilnahme an SESAR 3 durch Schweizer
Unternehmen sind unter Ziffer 2.6.9.3.1 erläutert.
2.6.6
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der Protokolle
2.6.6.1
Institutionelles Protokoll
Bezüglich des IP-LuftVA sind im Bereich Luftverkehr insbesondere die Mitsprache-
rechte der Schweiz von Bedeutung. Zwar ist die Schweiz bereits heute im Bereich
Luftverkehr oft in den EU-Rechtssetzungsprozess involviert. Die Schweiz nimmt im
Bereich Luftverkehr schon heute an Sitzungen von Ausschüssen und Expertengrup-
pen auf Stufe Europäische Kommission teil und kann so an der Erarbeitung von EU-
Rechtsakten mitwirken. Jedoch ist die Teilnahme an allen relevanten Gremien nicht
vollumfänglich abgesichert.
Diese Mitwirkung der Schweiz in den Ausschüssen und den Expertengruppen wurde
in Artikel 4 Absatz 2 und 3 des IP-LuftVA abgesichert (siehe Ziffer 2.1.6.1.2).
Neu erweitert das IP-LuftVA in Artikel 4 Absatz 4 die Teilnahme der Schweizer Ex-
pertinnen und Experten in verschiedenen Gremien der Europäischen Kommission –
sofern dies nötig ist, um das ordnungsgemässe Funktionieren des Luftverkehrsabkom-
mens zu gewährleisten. Dadurch wird sichergestellt, dass die Schweiz ihre Interessen
bestmöglich vertreten kann.
457 / 931
Das Luftverkehrsabkommen ist ein Integrationsabkommen, das heisst, die ins Ab-
kommen integrierten EU-Rechtsakte sind Bestandteil der schweizerischen Rechtsord-
nung, unter Berücksichtigung allfälliger Anpassungen, die der Gemischte Ausschuss
beschliesst (Art. 5 Abs. 2 und 4 IP-LuftVA).
Beim Luftverkehrsabkommen handelt es sich um ein bilaterales Abkommen in einem
Bereich betreffend den Binnenmarkt, an dem die Schweiz teilnimmt (Art. 3 Abs. 2
IP-LuftVA). Entsprechend können die Vertragsparteien zur Behebung eines mögli-
chen Ungleichgewichts verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen ergreifen (s.
Ziff. 2.1.6.4.3), entweder im Rahmen des Luftverkehrsabkommens selbst oder im
Rahmen eines anderen Abkommens in den Bereichen betreffend den Binnenmarkt, an
denen die Schweiz teilnimmt (Art. 11 Abs. 1 IP-LuftVA).
2.6.6.2
Änderungsprotokoll
Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe a des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 2 des Luft-
verkehrsabkommens (Anwendungsbereich)
Die Bestimmung hebt den Teilsatz «wie im Anhang aufgeführt» in Artikel 2 des Luft-
verkehrsabkommens auf. Im Verlaufe der Verhandlungen zeigte sich, dass der bisher
in Artikel 2 enthaltene Teilsatz «wie im Anhang aufgeführt» missverständlich sein
könnte. Der Anhang ist Gegenstand regelmässiger Aktualisierungen. Artikel 2 Luft-
verkehrsabkommen gewährleistet weiterhin, dass diejenigen Bestimmungen, die in
der EU sektorübergreifend gelten, für die Schweiz nur Anwendung finden, soweit der
Luftverkehr oder unmittelbar damit zusammenhängende Angelegenheiten im Bereich
der Zivilluftfahrt betroffen sind. Diese Einschränkung ist insofern erforderlich, als
einzelne Bestimmungen, insbesondere gewisse im Anhang des Luftverkehrsabkom-
mens integrierte EU-Rechtsakte, in der EU horizontal und nicht nur im Bereich der
Zivilluftfahrt gelten.
Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe b des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 15 Ab-
satz 3 des Luftverkehrsabkommens (Verkehrsrechte)
Der Austausch von Kabotagerechten wird ab der ersten Flugperiode nach Inkrafttreten
des ÄP-LuftVA erfolgen. Durch diesen Austausch können von nun an schweizerische
Luftfahrtunternehmen gewerbsmässige Inlandflüge (inkl. Passagiere, Fracht und/oder
Post) in einzelnen EU-Staaten und EU-Luftfahrtunternehmen gewerbsmässige In-
landflüge (inkl. Passagiere, Fracht und/oder Post) in der Schweiz durchführen. Damit
ist der Liberalisierungsprozess der Verkehrsrechte abgeschlossen und Schweizer- so-
wie EU-Luftfahrtunternehmen verfügen über die gleichen Verkehrsrechte im EU-
Luftverkehrsmarkt. Der Austausch der Kabotagerechte hat positive Auswirkungen auf
Schweizer Unternehmen, die damit neue Möglichkeiten für Flugdienstleistungen er-
halten. Diese sind unter Ziffer 2.6.9.3 dargelegt.
Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe d des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 21 des
Luftverkehrsabkommens (Gemischter Ausschuss)
Das ÄP-LuftVA sieht eine geringfügige Aktualisierung der bereits heute im Luftver-
kehrsabkommen vorhandenen Bestimmung über den Gemischten Ausschuss des Luft-
verkehrsabkommens (GA des LuftVA) vor. Im Rahmen des Pakets Schweiz-EU er-
folgt, so weit als sinnvoll, eine Vereinheitlichung der GA-Bestimmungen in allen
458 / 931
betroffenen Abkommen (siehe Ziffer 2.1.6.7). Aufgabe des GA des LuftVA ist es
weiterhin, das ordnungsgemässe Funktionieren sowie die wirksame Verwaltung und
Umsetzung des Luftverkehrsabkommens sicherzustellen. Das Luftverkehrsabkom-
men wird regelmässig mittels Beschlusses des GA des LuftVA aktualisiert. Zudem
hat der GA des LuftVA die Möglichkeit, Empfehlungen an die Vertragsparteien in
Angelegenheiten, welche das Luftverkehrsabkommens betreffen, abzugeben. Wie
bislang, wird sich der GA des LuftVA auch künftig in der Regel mindestens einmal
pro Jahr treffen und beiden Parteien als effiziente Kommunikationsplattform dienen,
welche das gute Funktionieren des Luftverkehrsabkommens seit über 20 Jahren ge-
währleistet.
Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe e des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 28a des
Luftverkehrsabkommens (Verschlusssachen)
Der neu geschaffene Artikel 28a des Luftverkehrsabkommens verweist auf beste-
hende Vorschriften zur Geheimhaltung von Verschlusssachen. Dieser Informations-
austausch ist insbesondere im Bereich der Luftsicherheit (
Security
) relevant.
Artikel 1 Absatz 2 des Änderungsprotokolls
Das Änderungsprotokoll-LuftVA sieht, soweit sinnvoll, die Angleichung gewisser
heute schon bestehender Bestimmungen im LuftVA-Anhang an Bestimmungen vor,
die neu in den Anhängen anderen Abkommen des Pakets Schweiz-EU aufgenommen
werden sollen. So wird in Anhang A LuftVA über Vorrechte und Immunitäten der
neu verhandelte Standarttext betreffend Privilegien und Immunitäten aufgenommen,
der auch in den anderen Abkommen des Pakets Schweiz-EU integriert wird, die eine
Agenturbeteiligung der Schweiz vorsehen. Ebenso wird die aktuelle Bestimmung im
zweiten Spiegelstrich des LuftVA-Anhangs an die entsprechende Bestimmung zu den
Rechten und Pflichten angeglichen, die neu in den Anhängen aller Binnenmarktab-
kommen und des Gesundheitsabkommens enthalten sein wird. Diese Regelung ist für
das LuftVA von zentraler Bedeutung: Sie stellt sicher, dass die Schweiz bzw. ihre
Wirtschaftsteilnehmenden die gleichen Rechte wie die EU-Mitgliedstaaten bzw. de-
ren Wirtschaftsteilnehmende hat und nicht als «Drittstaat» schlechter gestellt werden
kann (s. zu den abkommensübergreifend vereinheitlichten Bestimmungen Ziff.
2.1.5.7).
Artikel 2 des Änderungsprotokolls
Das Änderungsprotokoll-LuftVA gehört zum Stabilisierungsteil des Pakets Schweiz–
EU. Es tritt am ersten Tag des zweiten Monats nach der Notifizierung des Abschlusses
der internen Verfahren zur Genehmigung aller völkerrechtlichen Instrumente des Sta-
bilisierungsteils in Kraft.
2.6.6.3
Protokoll über die staatlichen Beihilfen
Das Luftverkehrsabkommen sieht bereits heute einen Beihilfeüberwachungsmecha-
nismus vor. Allfällige staatliche Unterstützungsmassnahmen im Bereich Luftfahrt
werden bei der Wettbewerbskommission (WEKO) auf ihre Vereinbarkeit mit den bei-
hilferechtlichen Bestimmungen des Luftverkehrsabkommens überprüft. Die beihilfe-
gewährende Behörde hat das Resultat der Stellungnahme der WEKO zu berücksich-
tigen. Die Stellungnahme der WEKO ist jedoch nicht verbindlich. Es besteht bislang
459 / 931
keine Beschwerdemöglichkeit der WEKO bei der Feststellung der Unzulässigkeit ei-
ner geplanten oder gewährten Beihilfe.
In Bezug auf die staatlichen Beihilfen wird die Schweiz neu einen verbindlichen Über-
wachungsmechanismus schaffen, der in die zwei bestehenden Binnenmarktabkom-
men, namentlich das LuftVA und das LandVA, sowie in das Stromabkommen aufge-
nommen wird. Die entsprechenden Regeln sind im Beihilfeprotokoll-LuftVA
festgehalten und werden in Ziffer 2.2 im Detail erläutert.
Die bisherigen Beihilfebestimmungen in den Artikeln 13 und 14 des LuftVA werden
durch das Beihilfeprotokoll-LuftVA aufgehoben. Zudem wird im Beihilfeprotokoll-
LuftVA festgehalten, dass Artikel 12 Absatz 2 des LuftVA für die Zwecke des Bei-
hilfeprotokolls-LuftVA keine Anwendung findet, weil im Artikel 3 Absatz 5 des Bei-
hilfeprotokolls-LuftVA eine entsprechende Ausnahme für Beihilfen an Unternehmen,
die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind
oder den Charakter eines Finanzmonopols haben, eigens vorgesehen ist (siehe Zif-
fer 2.2.5.2).
Wie unter Ziffer 2.2.5.3 beschrieben, gilt grundsätzlich ein Beihilfeverbot mit ver-
schiedenen Legal- und Ermessensausnahmen, welche auch im Luftverkehr zur An-
wendung kommen. Für den Luftverkehr ist dabei insbesondere Artikel 3 Absatz 3
Buchstabe b des Protokolls wichtig, der Beihilfen zur Behebung einer beträchtlichen
Störung im Wirtschaftsleben (wie z. B. der Covid-19 Pandemie) erlaubt. Anhang I des
Protokolls über staatliche Beihilfen sieht ein System von Ausnahmen und Präzisie-
rungen vor, wonach die Vertragsparteien weitere Beihilfen oder Beihilfekategorien
bestimmen können, die unter die Legal- oder Ermessensausnahmen fallen. So wurde
gemäss Artikel 3 Absatz 2 Buchstabe d des Protokolls in Anhang I ein Abschnitt A
eingefügt, aus dem die Beihilfen ersichtlich sind, die die Vertragsparteien als mit dem
Binnenmarkt vereinbar ansehen. Zudem wurde gemäss Artikel 3 Absatz 3 Buch-
stabe e des Protokolls ein Abschnitt B in Anhang I aufgenommen, der die Beihilfen
nennt, die von den Vertragsparteien als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen
werden können. Gegenwärtig enthalten diese beiden Abschnitte keine Beihilfen. Der
Gemischte Ausschuss des Luftverkehrsabkommens kann sie in Zukunft aber ergän-
zen.
Des Weiteren sieht Artikel 3 Absatz 4 des Protokolls über staatliche Beihilfen vor,
dass Beihilfen, die nach Anhang I Abschnitt C gewährt werden, als mit dem Binnen-
markt vereinbar gelten und von der Notifizierungspflicht befreit werden. Abschnitt C
(Gruppenfreistellungen) enthält einen Verweis auf die Kapitel I und III der Verord-
nung (EU) Nr. 651/2014 zur Feststellung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von
Beihilfen mit dem Binnenmarkt. Für den Luftverkehr bedeutet dies insbesondere, dass
unter gewissen Umständen Beihilfen für Regionalflughäfen möglich sind.
2.6.7
Grundzüge des Umsetzungserlasses
Wie in Ziffer 2.6.6.2 beschrieben, wird mit Artikel 1 Absatz 2 des Änderungsproto-
kolls zum Luftverkehrsabkommen dessen Artikel 15 Absatz 3 so angepasst, dass
460 / 931
schweizerische und europäische Luftfahrtunternehmen Kabotageflüge, das heisst ge-
werbliche Inlandsflüge, durchführen dürfen. Diese Änderung ist mit Artikel 32 des
Luftfahrtgesetzes
425
(LFG) vereinbar.
2.6.7.1
Umsetzungsgesetzgebung
Für die Umsetzung in der Schweiz muss die Zollverordnung
426
(ZV) dahingehend
angepasst werden, dass darin die gemäss dem bilateralen Abkommen zwischen der
Schweiz und der EU zugelassenen Kabotageflüge ebenfalls berücksichtigt werden.
Auf diese Weise kann die zollfreie vorübergehende Verwendung von ausländischen
Luftfahrzeugen für Binnentransporte, die nach dem Luftfahrtrecht zu sogenannten
«gewerblichen» Zwecken durchgeführt werden, vorbehaltlich der Einhaltung der
Zollformalitäten und unter der Voraussetzung, dass der Staat des Luftfahrtunterneh-
mens Gegenrecht gewährt, bewilligt werden.
Die Umsetzung des Protokolls über staatliche Beihilfen durch das neue Beihilfeüber-
wachungsgesetz (BHÜG) wird in Ziffer 2.2 erläutert (s. insb. Ziff. 2.2.6 und 2.2.7).
Der bestehende Überwachungsmechanismus im Luftverkehr wird durch die im
BHÜG für die Bereiche Luftverkehr, Landverkehr und Strom einheitlich geregelte
Beihilfeüberwachung abgelöst. Entsprechend wird Artikel 103 LFG angepasst um neu
auf Artikel 3 des Beihilfeprotokolls-LuftVA für die verhandelte Übergangsphase
(fünf Jahre) zu verweisen. Danach wird Artikel 103 LFG aufgehoben, da die Bestim-
mungen nach VE-BHÜG in Kraft treten (Siehe Ziffern 2.2.8.4 und 2.2.9).
2.6.7.2
Begleitmassnahmen mit Gesetzesanpassungen
Die Vorlage bedarf keiner Begleitmassnahmen mit Gesetzesanpassungen im Bereich
Luftverkehr.
2.6.7.3
Begleitmassnahmen ohne Gesetzesanpassungen
Die Vorlage bedarf keiner Begleitmassnahmen ohne Gesetzesanpassungen im Be-
reich Luftverkehr.
2.6.7.4
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
Die vorgeschlagene Änderung basiert auf Reziprozität und ist somit ausgewogen.
2.6.7.5
Umsetzungsfragen
Das BAZG und die ESTV wurden konsultiert. Die Umsetzungsarbeiten werden eng
aufeinander abgestimmt.
425
SR
748.0
426
SR
631.01
461 / 931
2.6.8
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des
Umsetzungserlasses
Wie in Ziffer 2.6.7.1 erwähnt, schafft die vorgeschlagene Änderung eine Ausnahme
vom allgemeinen Verbot der zollfreien vorübergehenden Verwendung von ausländi-
schen Beförderungsmitteln für Binnentransporte zu gewerblichen Zwecken, wie in
Artikel 34 Absatz 1 ZV vorgesehen.
Ein neuer Absatz soll Artikel 34 ZV ergänzen. Dieser Absatz betrifft Luftfahrtunter-
nehmen, welche Binnentransporte, die im Rahmen der vorübergehenden Verwendung
durchgeführt werden können, betreiben. Diese neuen Vorteile kommen Luftfahrtun-
ternehmen mit Verkehrsrechten zum Betrieb einer Luftverkehrslinie, das heisst eines
Fluges, bei dem im Sinne von Artikel 100 der Luftfahrtverordnung
427
(LFV) gegen
Entgelt Fluggäste, Fracht und/oder Post befördert werden, zugute.
2.6.9
Auswirkungen des Paketelements
2.6.9.1
Auswirkungen auf den Bund
Das ÄP-LuftVA hat keine Auswirkungen auf den Ressourcenbedarf des Bundes. Das
IP-LuftVA sieht unter anderem die vollumfängliche Absicherung der Schweizer Mit-
spracherechte bei der Erarbeitung von EU-Rechtsakten im Anwendungsbereich des
Luftverkehrsabkommens in allen relevanten Gremien vor. Der dadurch entstehende
Aufwand kann mit den bestehenden Ressourcen bewältigt werden.
Es ist nicht zu erwarten, dass Entlastungen für den Ressourcenbedarf des Bundes
durch das ÄP-LuftVA und das IP-LuftVA entstehen. Dies ist darauf zurückzuführen,
dass der zusätzliche sektorspezifische Anpassungsbedarf im Bereich Luftverkehr im
Rahmen des Pakets Schweiz-EU vergleichsweise gering ist. Die bestehenden Pro-
zesse betr. GA des LuftVA und zur Aktualisierung des Anhangs zum LuftVA funkti-
onieren und benötigen keine zusätzlichen Ressourcen.
Die Auswirkungen der neu geregelten Überwachung der staatlichen Beihilfen auf den
Ressourcenbedarf des Bundes werden unter Ziffern 2.2.10.1 beschrieben. Die voraus-
sichtlichen sektorspezifischen Tätigkeiten im Bereich Luftverkehr können mit beste-
henden Ressourcen bewältigt werden.
Die durch das EU-Programmabkommen ermöglichte Teilnahme von Schweizer Un-
ternehmen am Forschungsprogramm SESAR 3 hat ebenfalls keinen Ressourcenbedarf
des Bundes zur Folge.
2.6.9.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf
urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete
Theoretisch könnten Kantone von der Beihilfeüberwachung in Bezug auf Regional-
flughäfen betroffen sein. Im EU-Beihilferecht sind gemäss Leitlinien für staatliche
427
SR
748.01
462 / 931
Beihilfen für Flughäfen und Luftverkehrsgesellschaften
428
mögliche Betriebsbeihil-
fen für Regionalflughäfen mindestens bis April 2027 erlaubt. Dieses Datum wurde
bereits mehrmals verschoben und ist Gegenstand einer laufenden Überprüfung der
Europäischen Kommission. Auch die sogenannte Gruppenfreistellungsverordnung
(siehe 2.6.6.3) sieht die Möglichkeit von Betriebsbeihilfen vor (für Flugplätze bis
200'000 Passagiere pro Jahr). Allfällige bestehende Beihilferegelungen, die Betriebs-
beihilfen für Regionalflughäfen vorsehen, werden nach Ablauf der Übergangsfrist
durch die Schweizer Überwachungsbehörde überprüft.
2.6.9.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
Die Aktualisierung des Luftverkehrsabkommens bringt Rechtssicherheit und wirkt
dem Risiko entgegen, dass bei einer fehlenden Aktualisierung langfristig ein Wegfall
des Luftverkehrsabkommens drohen würde.
2.6.9.3.1
Auswirkungen auf die Unternehmen
Das Luftverkehrsabkommen regelt den gegenseitigen Zugang der Schweizer und EU-
Luftfahrtunternehmen zum liberalisierten Luftverkehrsmarkt. Dank ihm sind Schwei-
zer Luftfahrtunternehmen ihren EU-Mitbewerbern gleichgestellt. Davon profitieren
auch die Schweizer Landesflughäfen. Daneben können auch Herstellerbetriebe, Kom-
ponentenhersteller und Unterhaltsbetriebe ihre Aufgaben dank dem gegenseitigen Zu-
gang zum liberalisierten Luftverkehrsmarkt unter gleichen Wettbewerbsbedingungen
wie EU-Unternehmen erfüllen.
Das Luftverkehrsabkommen ermöglicht es schweizerischen Luftfahrtunternehmen,
Flughäfen in der EU grundsätzlich uneingeschränkt anzufliegen. Ebenso können EU-
Luftfahrtunternehmen Flughäfen in der Schweiz grundsätzlich uneingeschränkt an-
fliegen.
Mit dem Austausch der Kabotagerechte eröffnet sich für Schweizer Luftfahrtunter-
nehmen ein Markt für gewerbsmässige Inlandsflüge in den Mitgliedsstaaten, während
EU-Unternehmen fortan in der Schweiz gewerbsmässige Inlandflüge durchführen
können (zum Beispiel auf der Strecke Genf–Lugano). Die Unternehmen gewinnen
damit an Flexibilität bei der Erstellung ihrer Flugpläne sowie der Erschliessung neuer
Routen. Dabei ist zu bemerken, dass die Umsetzung solcher Flüge einzig in Folge
ausreichender Nachfrage und dem entsprechenden Angebot der Unternehmen zu
Stande kommt. Aus der Gewährung der Kabotagerechte entstehen keine neuen Pflich-
ten für Unternehmen oder zusätzliche Regulierungskosten.
Die Absicherung der Schweizer Mitspracherechte stärkt den Wirtschaftsstandort
Schweiz für die innovative Luftfahrtindustrie und unterstützt eine vielseitige sowie
stabile Anbindung der Schweiz sowohl für Tourismus und Geschäftsreisen als auch
für den Export sowie Import von Luftfracht und -post.
428
Mitteilung der Kommission vom 4.4.2014; Leitlinien für staatliche Beihilfe für Flughäfen
und Luftverkehrsgesellschaften (2014/C 99/03).
463 / 931
Mit Blick auf das Schweizer Flugsicherungssystem ist festzuhalten, dass mit der voll-
wertigen Teilnahme der Schweizer Industrie an SESAR 3 einem wichtigen Anliegen
der Schweiz entsprochen wurde. Das Forschungsprogramm SESAR 3 hat die Moder-
nisierung der europäischen Flugsicherung sowie die Förderung und Marktintegration
von neuen, richtungsweisenden Technologien (u.a. Digitalisierung, Künstliche Intel-
ligenz, Integration von Drohnen in den Luftraum) zum Ziel. Die Teilnahme an
SESAR 3 ermöglicht Schweizer Unternehmen die Innovationen im Bereich des Flug-
verkehrsmanagements mitzugestalten und von den relevanten Fördermitteln der EU
zu profitieren. Diese Mittel werden von der EU durch Teile des Budgets von Horizon
Europe gespiesen. Konkret beläuft sich der Haushaltsrahmen von SESAR 3 für die
Jahre 2021-2027 auf insgesamt 1.8 Milliarden Euro. Die Schweiz wird im Rahmen
des EU-Programmabkommens einen horizontalen Beitrag für Horizon Europe zahlen,
jedoch keinen separaten Beitrag für SESAR 3 leisten.
2.6.9.3.2
Auswirkungen auf weitere Akteure
Es ist davon auszugehen, dass eine fehlende Aktualisierung langfristig zu weniger
Direktverbindungen in die Schweiz führen würde
429
. Neben diesem reduzierten An-
gebot für Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten könnten ohne Luftverkehrs-
abkommen aufgrund der fehlenden Konkurrenz auf gewissen Strecken auch die Flug-
preise steigen.
2.6.9.3.3
Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft
Ecoplan (2025, S. 96) rechnet für den Fall eines Wegfalls des Luftverkehrsabkom-
mens mit einem Rückgang des BIP um 0.21 % im Jahr 2045. Für den Luftfahrtsektor
der Schweiz wird im gleichen Szenario mit einer realen Umsatzeinbusse von 8.5 %
gerechnet. Diese Effekte resultieren aus höheren Zeitkosten für Warte- und Umstei-
gevorgänge aufgrund einer Reduktion der direkten Flugverbindungen.
Die Reduktion der direkten Verbindungen wäre laut Ecoplan insbesondere darauf zu-
rückzuführen, dass bei Wegfall des Luftverkehrsabkommens mit der EU die einzelnen
Luftverkehrsabkommen zwischen der Schweiz und den EU-Mitgliedsstaaten massge-
bend wären. Diese wurden zuletzt vor Inkrafttreten des Luftverkehrsabkommens mit
der EU aktualisiert und müssten neu verhandelt werden, da sie restriktivere Verkehrs-
rechte vorsehen. Laut Ecoplan ist es schwierig einzuschätzen, inwieweit die Schweiz
bei einem Wegfall des Luftverkehrsabkommens mit der EU vorteilhafte Konditionen
in den einzelnen Abkommen mit den Mitgliedsstaaten der EU aushandeln könnte.
Die durch das Luftverkehrsabkommen ermöglichten Direktverbindungen haben auch
für die Luftfracht eine grosse Bedeutung, da ein Grossteil der Güter am Luftfracht-
standort Schweiz auf Passagierflügen transportiert wird. Der Luftfracht kommt für die
Wertschöpfungsketten gewisser Branchen ein hoher Stellenwert zu (z.B. Pharma-In-
dustrie, Chemie, Maschinenbau) zu. Die zusätzlichen Frachtkosten bei einem Wegfall
von Direktverbindungen sind aus heutiger Perspektive nicht quantifizierbar, weshalb
sie in den erwähnten Berechnungen nicht berücksichtigt wurden.
429
Ecoplan (2025): «Volkswirtschaftliche Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen I».
Grundlagen für die Wirtschaftspolitik Nr. 56. Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Bern,
Schweiz, S.53.
464 / 931
Grundsätzlich bewirkt eine verbindliche Beihilfeüberwachung in der Schweiz eine
wettbewerbsfreundlichere Ausgestaltung der geplanten Beihilfen. Auch in der Luft-
fahrt ist damit zu rechnen, dass stark wettbewerbsverzerrende Beihilfen angepasst
oder zurückgezogen werden.
Die Überwachung der staatlichen Beihilfen in der EU im Bereich Luftverkehr ist im
Interesse der Schweiz, da in der EU angesiedelte Unternehmen dadurch keinen Wett-
bewerbsvorteil durch unzulässige staatliche Beihilfen erlangen.
2.6.9.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
Es werden keine nennenswerten Auswirkungen auf die Gesellschaft erwartet.
2.6.9.5
Auswirkungen auf die Umwelt
Das seit Jahren gut funktionierende Luftverkehrsabkommen trägt dazu bei, dass es
mehr Flugverbindungen aus der und in die Schweiz gibt. Diese Flugverbindungen
führen zu Lärm- und Schadstoffemissionen mit entsprechenden Auswirkungen auf die
Umwelt und die direkt betroffene Bevölkerung. Ein Anstieg der Flugbewegungen in
der Schweiz als direkte Konsequenz des ÄP-LuftVA, des IP-LuftVA, sowie des Bei-
hilfeprotokolls-LuftVA ist nicht zu erwarten. Der Austausch der Kabotagerechte
dürfte nicht zu einer relevanten Erhöhung der Anzahl Flugbewegungen in der Schweiz
führen. Deshalb werden von den Anpassungen des Luftverkehrsabkommens keine
nennenswerten zusätzlichen negativen Auswirkungen auf die Umwelt erwartet.
Gleichzeitig ist die Aktualisierung des Anhangs des Luftverkehrsabkommens bedeu-
tend für einen zielgerichteten Umweltschutz im Bereich Luftverkehr. Durch die re-
gelmässige Aktualisierung des Anhangs können gleiche Wettbewerbsbedingungen in
der Schweiz und der EU auch für umweltrelevante Märkte (z.B. nachhaltiger Flug-
treibstoff) geschaffen werden.
Im Rahmen von SESAR 3 sollen unter anderem auch umweltwirksame Ineffizienzen
im Flugverkehrsmanagement adressiert werden. Das Forschungs- und Innovations-
programm strebt eine digitale Transformation im Flugverkehrsmanagement an und
entwickelt technologische und operationelle Lösungen, welche die durch den Luftver-
kehr verursachte Klimawirkung insgesamt verringert.
2.6.9.6
Andere Auswirkungen
Es werden keine anderen Auswirkungen erwartet.
2.6.10
Rechtliche Aspekte des Paketelements
Dieser Abschnitt behandelt das ÄP-LuftVA. Ausführungen zum IP-LuftVA bezie-
hungsweise zum Beihilfeprotokoll-LuftVA befinden sich unter den Ziffern 2.1.9 be-
ziehungsweise 2.2.10, es sei denn es wird nachstehend ausdrücklich auf diese Proto-
kolle Bezug genommen.
465 / 931
2.6.10.1
Verfassungsmässigkeit der Protokolle
Das Änderungsprotokoll-LuftVA stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 der Bundesver-
fassung (BV), wonach der Bund für die auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist.
Artikel 184 Absatz 2 BV ermächtigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu un-
terzeichnen und zu ratifizieren. Die Bundesversammlung ist nach Artikel 166 Ab-
satz 2 BV für die Genehmigung völkerrechtlicher Verträge zuständig, sofern für deren
Abschluss nicht aufgrund von Gesetz oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat
zuständig ist (Art. 24 Abs. 2 ParlG; Art. 7a Abs. 1 RVOG).
Es ist nicht abschliessend geklärt, ob der Austausch von Kabotagerechten (Art. 1, Abs.
2 des Änderungsprotokolls LuftVA) in den Anwendungsbereich von Art. 3a Abs. 1
Bst. a LFG fällt. Unabhängig von der Antwort auf diese Frage wird das Änderungs-
protokoll aufgrund des Zusammenhangs mit den anderen Abkommen des Stabilisie-
rungspakets (gegenseitig bedingtes Inkrafttreten, Ziff. 2.1.6.6) der Bundesversamm-
lung zur Genehmigung unterbreitet.
Die Verfassungsmässigkeit des IP-LuftVA wird unter Ziffer 2.1.8.1 erläutert.
Die Verfassungsmässigkeit des Beihilfeprotokolls-LuftVA wird unter Ziffer 2.2.11.1
erläutert.
2.6.10.2
Verfassungsmässigkeit der Umsetzungsgesetzgebung und
Begleitmassnahmen
Durch das Beihilfeprotokoll-LuftVA werden die Artikel 13 und 14 des Luftverkehrs-
abkommens aufgehoben. Bis zum Inkrafttreten des Beihilfeüberwachungsgesetzes
bedarf es deshalb einer Änderung von Artikel 103 des Luftfahrtgesetzes (siehe Ziffer
2.6.7). Die Änderung von Artikel 103 LFG stützt sich auf Artikel 87 BV.
Die Kompetenzgrundlagen für das Beihilfeüberwachungsgesetz sind unter der Ziffer
2.2 erläutert.
Durch das ÄP-LuftVA ergeben sich einzig Anpassungen betreffend innerschweizeri-
sche Flüge in der Zollverordnung. Diese Änderungen lassen sich auf Artikel 133 BV
und das Zollgesetz vom 18. März 2005
430
stützen und sind unter der Ziffer 2.6.7 er-
läutert.
2.6.10.3
Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der
Schweiz
Im Bereich der Luftfahrt ist die Schweiz durch zahlreiche internationale Verpflich-
tungen gebunden. Das Übereinkommen über die internationale Zivilluftfahrt
431
, ab-
geschlossen in Chicago am 7. Dezember 1944 (Übereinkommen von Chicago), ist die
regulatorische Grundlage der internationalen Zivilluftfahrt und besteht aus einem
Haupttext sowie 19, meist technischen, Anhängen. Die bilateralen Luftverkehrsab-
kommen zwischen der Schweiz und einem Grossteil aller Staaten regeln insbesondere
430
SR
631.0
431
SR
0.748.0
466 / 931
die Verkehrsrechte zwischen der Schweiz und diesen Staaten. Vor Inkrafttreten des
Luftverkehrsabkommens im Jahr 2002 hatte die Schweiz bilaterale Luftverkehrsab-
kommen mit einigen EU-Staaten abgeschlossen. Anhang Q des Übereinkommens zur
Errichtung der Europäischen Freihandelsassoziation
432
(EFTA), der sich am Luftver-
kehrsabkommen zwischen der Schweiz und der EU orientiert und am gleichen Tag in
Kraft getreten ist, regelt die Beziehungen im Bereich Luftverkehr zwischen den
EFTA-Mitgliedstaaten.
Das ÄP-LuftVA, das IP-LuftVA sowie das Beihilfeprotokoll-LuftVA sind mit dem
Haupttext des Übereinkommens von Chicago vereinbar. Bzgl. der technischen An-
hänge des Übereinkommens von Chicago darf die Schweiz, falls nötig, völkerrecht-
lich erlaubte Abweichungen anmelden.
Die Protokolle sind ebenfalls mit den bilateralen Luftverkehrsabkommen zwischen
der Schweiz und einem Grossteil aller Staaten vereinbar. Im Falle der einzelnen bila-
teralen Abkommen zwischen der Schweiz und einigen EU-Staaten sieht Artikel 16
des Luftverkehrsabkommens bereits heute vor, dass die Bestimmungen des relevanten
Kapitels des Luftverkehrsabkommens denjenigen der einzelnen bilateralen Abkom-
men mit den EU-Staaten vorgehen. Dies bedeutet insbesondere, dass der Austausch
der Kabotagerechte gewährleistet ist, obwohl dieser in der Regel nicht in den Bestim-
mungen der einzelnen bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und einigen EU-
Staaten vorgesehen ist.
Auch mit dem revidierten EFTA-Übereinkommen vom 21. Juni 2001 sind die Proto-
kolle vereinbar. Die Protokolle finden nur im Verhältnis zwischen der Schweiz und
der EU und ihren Mitgliedstaaten, nicht aber im Verhältnis zu den EFTA-Staaten An-
wendung. Zwischen der Schweiz und den EFTA-Staaten gelten im Bereich der Zivil-
luftfahrt daher weiterhin die im Anhang Q des EFTA-Übereinkommens enthaltenen
Bestimmungen, die mit dem geltenden LuftVA weitgehend übereinstimmen.
Um weiterhin möglichst einheitliche Regeln zwischen den EU- und EFTA-
Mitgliedstaaten zu gewährleisten, wird eine Anpassung des Anhangs Q des EFTA-
Übereinkommens an im Rahmen des Pakets Schweiz-EU vorgenommen Änderungen
des Luftverkehrsabkommens zu prüfen sein.
2.6.10.4
Erlassform
Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 der BV unterliegen völkerrechtliche
Verträge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige rechtsetzende Bestimmun-
gen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Nach
Artikel 22 Absatz 4 des Parlamentsgesetzes
433
(ParlG) sind unter rechtsetzenden Nor-
men jene Bestimmungen zu verstehen, die in unmittelbar verbindlicher und generell-
abstrakter Weise Pflichten auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festle-
gen. Als wichtig gelten Bestimmungen, die auf der Grundlage von Artikel 164 Ab-
satz 1 BV in der Form eines Bundesgesetzes erlassen werden müssten.
432
SR
0.632.31
433
SR
171.10
467 / 931
Das ÄP-LuftVA, das IP-LuftVA sowie das Beihilfeprotokoll-LuftVA enthalten wich-
tige rechtsetzende Bestimmungen. Das Beihilfeprotokoll-LuftVA erfordert zudem für
seine Umsetzung den Erlass und die Anpassung von Bundesgesetzen. Der Bundesbe-
schluss über die Genehmigung des Vertrages ist deshalb dem fakultativen Referen-
dum nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV zu unterstellen (siehe aber
die Varianten in Ziff. 4.1).
2.6.10.5
Vorläufige Anwendung
Im Rahmen der Assoziierung der Schweiz an Horizon Europe sind Schweizer Unter-
nehmen bereits ab 2025 berechtigt, als sogenannte
beneficiaries
an Projekten von
SESAR 3 teilzunehmen. Die Möglichkeit der vorläufigen Teilnahme an SESAR 3
ergibt sich aus dem EU-Programmabkommen, welches unter Ziffer 2.8 genauer er-
läutert ist.
2.6.10.6
Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass
Es gibt keine besonderen rechtlichen Aspekte zum Umsetzungserlass.
2.6.10.7
Datenschutz
Der Datenschutz ist von der Vorlage nicht betroffen.
468 / 931
2.7
Landwirtschaft
2.7.1
Zusammenfassung
Die EU ist bei den Agrarerzeugnissen die wichtigste Handelspartnerin der Schweiz:
Im Jahr 2023 gingen die Hälfte der Exporte in die EU, drei Viertel (74 %) der Importe
stammten aus der EU. Der jährliche Handel umfasst Agrarprodukte und Lebensmittel
im Wert von über 16 Milliarden Franken.
Der Handel mit diesen Produkten ist Gegenstand des Abkommens zwischen der
Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den
Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen vom 21. Juni 1999
434
(nachstehend
Landwirtschaftsabkommen
). Das Landwirtschaftsabkommen war als eines der Ab-
kommen, welches die Beteiligung am EU-Binnenmarkt ermöglicht, ebenfalls Gegen-
stand der Verhandlungen zum Paket (Schweiz–EU), die im März 2024 mit der EU
aufgenommen wurden. Gemäss Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 bestand das
Ziel darin, die Integration der institutionellen Elemente in das Landwirtschaftsabkom-
men (s. Ziff. 2.1) und die Erweiterung des Landwirtschaftsabkommens im Bereich der
Lebensmittelsicherheit zur Errichtung eines gemeinsamen Lebensmittelsicherheits-
raums, der alle pflanzengesundheitsrelevanten, veterinär- und lebensmittelrechtlichen
Aspekte entlang der Lebensmittelkette umfasst und den Marktzugang durch einen um-
fassenden Abbau nichttarifärer Handelshemmnisse weiter erleichtert (s. Ziff. 2.12 Le-
bensmittelsicherheit).
Das Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 hielt gleichzeitig fest, dass die Souverä-
nität der Schweizer Agrarpolitik unberührt und eine Harmonisierung der Agrarpolitik
ausgeschlossen bleiben müsse. Zudem galt es gemäss Verhandlungsmandat, die Zölle,
einschliesslich der Zollkontingente und deren Verwaltungsmethode, beizubehalten.
Diese Ziele wurden vollumfänglich erreicht.
Im Verlauf der Verhandlungen sind die Parteien übereingekommen, das Landwirt-
schaftsabkommen in zwei Teile zu gliedern: Einen sogenannten Agrarteil und einen
Lebensmittelsicherheitsteil, der durch ein Protokoll zum Landwirtschaftsabkommen
zur Errichtung eines gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums (nachstehend
Pro-
tokoll zur Lebensmittelsicherheit
) geregelt wird (s. Ziff. 2.12)
.
In den Verhandlungen wurde erreicht, dass die institutionellen Elemente, insbeson-
dere die dynamische Rechtsübernahme, auf den Agrarteil nicht anwendbar sind. Es
soll aber auch für den Agrarteil künftig ein Streitschlichtungsmechanismus mit einem
Schiedsgericht zur Verfügung stehen. Dabei ist jedoch keine Rolle für den Gerichts-
hof der Europäischen Union (EuGH) vorgesehen. Zudem sind im Agrarteil des Land-
wirtschaftsabkommens keine Ausgleichsmassnahmen im Falle einer Verletzung eines
anderen Abkommens möglich, welches die Beteilung am EU-Binnenmarkt regelt.
An den bestehenden Anhängen des Agrarteils des Landwirtschaftsabkommens wur-
den keine Änderungen vorgenommen. Sie werden auch in Zukunft weiterfunktionie-
434
SR
0.916.026.81
469 / 931
ren und aktualisiert werden wie bisher. Dies beinhaltet die gegenseitigen Zollzuge-
ständnisse sowie den Käsefreihandel, den Handel mit Weinbauerzeugnissen und Spi-
rituosen inkl. die gegenseitige Anerkennung der Wein- und Spirituosenbezeichnun-
gen,
die
landwirtschaftlichen
Erzeugnisse
und
Lebensmittel
aus
biologischem/ökologischem Landbau, die Anerkennung der Kontrolle der Konformi-
tät mit den Vermarktungsnormen für frisches Obst und Gemüse sowie den Schutz von
Ursprungsbezeichnungen und geografischen Angaben für Agrarerzeugnisse und Le-
bensmittel.
Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt und in Teilen
übertroffen (s. Ziff. 5.3). Er beantragt im Rahmen des Stabilisierungsteils des Pakets
Schweiz–EU die Genehmigung des Änderungsprotokolls zum Landwirtschaftsab-
kommen, welches die Anpassungen an dessen Agrarteil enthält.
2.7.2
Ausgangslage
Zwischen der Schweiz und der EU werden jedes Jahr Agrarprodukte und Lebensmittel
im Wert von über 16 Milliarden Franken gehandelt. Die EU ist auch bei den Agrarer-
zeugnissen die wichtigste Handelspartnerin der Schweiz: Im Jahr 2023 gingen die
Hälfte der Exporte in die EU, drei Viertel (74 %) der Importe stammten aus der EU
435
.
Der Handel mit diesen Produkten ist Gegenstand des Landwirtschaftsabkommens, das
Teil der Bilateralen I ist. Das Landwirtschaftsabkommen sieht gegenseitige Zollkon-
zessionen für ausgewählte Produkte (Anhänge 1 und 2) sowie die vollständige Libe-
ralisierung des Käsehandels (Anhang 3) vor. Es vereinfacht den Handel mit Agrarer-
zeugnissen zudem durch den Abbau oder die Aufhebung von nichttarifären
Handelshemmnissen, die durch unterschiedliche Produktvorschriften und Zulas-
sungsbestimmungen entstehen. Hierzu erkennen die Schweiz und die EU ihre Rechts-
vorschriften in den Bereichen Pflanzengesundheit (Anhang 4), Futtermittel (An-
hang 5), Saatgut (Anhang 6), Weinbauerzeugnisse und Spirituosen (Anhänge 7 und
8), biologische Landwirtschaft (Anhang 9), Vermarktungsnormen für Früchte und
Gemüse (Anhang 10) sowie Tiere und tierische Produkte (Anhang 11) als gleichwer-
tig an. Damit können beispielsweise Schweizer Bioprodukte ohne zusätzliche Zertifi-
kate und Kontrollen in die EU exportiert werden. Das Abkommen sieht ausserdem
den gegenseitigen Schutz von geschützten Ursprungsbezeichnungen und geschützten
geografischen Angaben für landwirtschaftliche Erzeugnisse und Lebensmittel inklu-
sive Wein und Spirituosen vor (Anhänge 7, 8 und 12).
Das Landwirtschaftsabkommen war Teil der Paketverhandlungen zwischen der
Schweiz und der EU, die im März 2024 aufgenommen wurden.
2.7.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
Im Rahmen der exploratorischen Gespräche (s. Ziff. 1.3.1) kamen die Parteien zum
Schluss, dass die neuen institutionellen Elemente auch im Landwirtschaftsabkommen
verankert werden sollten. Zudem vereinbarten sie Verhandlungen zur Erweiterung des
435
Quelle BAZG und Berechnungen BLW.
470 / 931
Landwirtschaftsabkommens im Bereich Lebensmittelsicherheit zur Ausdehnung der
bestehenden Zusammenarbeit auf die ganze Lebensmittelkette (s. Ziff. 2.12).
436
Diese Zielsetzungen wurden in das Schweizer Verhandlungsmandat vom 8. März
2024 aufgenommen. Für die Landwirtschaft hielt das Verhandlungsmandat explizit
fest, dass eine Harmonisierung der Agrarpolitiken der Schweiz und der EU ausge-
schlossen ist und die Souveränität in der Agrarpolitik sowie die bestehende Regelung
betreffend Zölle, einschliesslich der Zollkontingente und deren Verwaltungsmethode,
von den Verhandlungen unberührt bleiben.
Die Verhandlungen zum Landwirtschaftsabkommen (inkl. Erweiterung im Bereich
der Lebensmittelsicherheit) wurden in der Verhandlungsgruppe «Landwirtschaft und
Lebensmittelsicherheit» geführt. Die erste Verhandlungsrunde fand am 21. März
2024 statt. Insgesamt haben elf formelle Verhandlungsrunden stattgefunden. Diese
Verhandlungsrunden wurden durch informellen Austausch und mit Treffen auf tech-
nischer Ebene ergänzt. Am 20. Dezember 2024 konnten die Verhandlungen materiell
abgeschlossen werden.
Im Verlauf der Verhandlungen einigten sich die Schweiz und die EU darauf, das
Landwirtschaftsabkommen in einen Agrarteil und in einen Lebensmittelsicherheitsteil
aufzuteilen. Im Agrarteil sollen fortan die bestehenden Anhänge 1-3, 7-10 und 12 ver-
bleiben. Die Schweiz konnte erreichen, dass die EU auf eine vollständige Integration
der neuen institutionellen Bestimmungen in den Agrarteil des Landwirtschaftsabkom-
mens verzichtete. Insbesondere wurde im Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens
von der Einführung der dynamischen Rechtsübernahme (s. Ziff. 2.1) abgesehen. Ähn-
lich wie in rund 30 Freihandelsabkommen, welche die Schweiz mit unterschiedlichen
Partnern abgeschlossen hat,
437
wird neu auch im Agrarteil die Möglichkeit geschaf-
fen, im Streitfall ein Schiedsgericht anzurufen, wenn keine Einigung im Gemischten
Ausschuss für Landwirtschaft möglich ist. Eine Rolle für den Europäischen Gerichts-
hof (EuGH) ist in diesem Streitbeilegungsmechanismus nicht vorgesehen.
Das Verhandlungsergebnis erfüllt das Schweizer Verhandlungsmandat. Mit dem Ver-
zicht auf die vollständige Integration der institutionellen Bestimmungen in den Agr-
arteil des Landwirtschaftsabkommens hat die Schweiz sogar mehr erreicht als in ihren
Verhandlungszielen ursprünglich vorgesehen.
Die entsprechenden Änderungen und Ergänzungen des Agrarteils des Landwirt-
schaftsabkommens wurden in einem Änderungsprotokoll zum Landwirtschaftsab-
kommen (nachstehende
Änderungsprotokoll
) festgehalten. Diesem beigefügt ist im
Anhang ein Protokoll zum Schiedsgericht.
2.7.4
Vorverfahren
Die aussenpolitischen Kommissionen (APK), weitere interessierte Kommissionen des
Parlaments sowie die Kantone (KdK), die Sozialpartner und die Wirtschaft haben im
Rahmen der Ausarbeitung des Verhandlungsmandats Stellung genommen. In diesem
436
Siehe dazu
Common Understanding
, Ziffer 1 und 3.
437
Siehe bspw. FHA Schweiz- Japan, SR.
0.946.294.632
471 / 931
Rahmen hat unter anderem auch der Schweizer Bauernverband eine Stellungnahme
abgegeben. Der Bundesrat hat die insbesondere vom Schweizer Bauernverband im
Rahmen dieser Konsultation gewünschten Präzisierungen unter anderem zur Beibe-
haltung der Zolltarife einschliesslich der Zollkontingente und Bewirtschaftungsme-
thoden sowie zur Beibehaltung der Souveränität der Schweiz in der Agrarpolitik ins
Schweizer Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 aufgenommen (s. Ziff. 1.3.1), das
mit dem Verhandlungsergebnis vollständig erfüllt werden konnte.
2.7.5
Grundzüge des Protokolls
Mit dem Änderungsprotokoll soll einerseits der neuen Situation Rechnung getragen
werden, dass die Inhalte der Anhänge 4, 5, 6 und 11 des Landwirtschaftsabkommens
in Zukunft im Protokoll zur Lebensmittelsicherheit geregelt werden. Andererseits
werden einzelne Artikel im Agrarteil modernisiert, darunter der Artikel zur Streitbei-
legung. An den bestehenden Anhängen 1–3, 7–10 und 12 des Landwirtschaftsabkom-
mens wurden keine Änderungen vorgenommen. Diese Anhänge werden auch in Zu-
kunft nicht der dynamischen Rechtsübernahme unterstellt sein und damit
weiterfunktionieren wie bisher.
Der Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens umfasst demnach künftig:
–
Die Anhänge 1-3: gegenseitige Zollzugeständnisse und Käsefreihandel.
–
Die Anhänge 7 und 8: Erleichterung des Handels mit Wein und Spirituosen
durch zwischen den Parteien vereinbarte Regeln und Zusammenarbeit so-
wie gegenseitiger Schutz der Bezeichnungen von Wein und Spirituosen der
jeweils anderen Partei.
–
Den Anhang 9: Gegenseitige Anerkennung der Äquivalenz der Rechtsvor-
schriften im Biobereich und dadurch Erleichterung des Handels (freier Ver-
kehr, keine Kontrollbescheinigungen).
–
Den Anhang 10: Anerkennung der durch die Schweiz durchgeführten Kon-
trollen zur Einhaltung der EU-Vermarktungsnormen für frisches Obst und
Gemüse, das in die EU exportiert oder reexportiert wird.
–
Den Anhang 12: Gegenseitige Anerkennung von geschützten Ursprungsbe-
zeichnungen (GUB) oder geschützten geografischen Angaben (GGA) für
landwirtschaftliche Produkte und Lebensmittel.
Das Änderungsprotokoll enthält neben der Präambel vier Artikel, wobei Artikel 1 die
inhaltlichen Änderungen des Landwirtschaftsabkommens umfasst. Dem Änderungs-
protokoll angehängt ist das für den Agrarteil angepasste Protokoll zum Schiedsge-
richt.
2.7.6
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Protokolls
Präambel des Änderungsprotokolls
472 / 931
Die Präambel beschreibt die Gründe, die zur Änderung des Landwirtschaftsabkom-
mens mittels eines Änderungsprotokolls geführt haben. Einerseits umfassen einige
Bestimmungen des bisherigen Landwirtschaftsabkommens Bereiche, die neu im Pro-
tokoll zur Lebensmittelsicherheit geregelt werden. Andererseits wurden auch institu-
tionelle Bestimmungen angepasst, insbesondere zur Streitschlichtung und zum Ge-
mischten Ausschuss für Landwirtschaft, um die Wirksamkeit und Effizienz des
Landwirtschaftsabkommens zu verbessern und die Kohärenz mit dem neu geschaffe-
nen gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraum zu gewährleisten.
Die Präambel bekräftigt, dass das Landwirtschaftsabkommen auf Gleichheit, Gegen-
seitigkeit und dem allgemeinen Gleichgewicht der Vorteile, Rechte und Pflichten der
Vertragsparteien in den unter das Abkommen fallenden Bereichen beruhen soll. Sie
betont, dass die beiden Parteien in der Ausgestaltung ihrer Agrarpolitiken souverän
bleiben.
Die Präambel weist darauf hin, dass zwischen dem Landwirtschaftsabkommen und
den sechs anderen Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Schweiz,
die am 21. Juni 1999 unterzeichnet wurden, ein unmittelbarer Zusammenhang besteht.
Unter dem Landwirtschaftsabkommen bilden das Änderungsprotokoll sowie das Pro-
tokoll zur Lebensmittelsicherheit, welches den gemeinsamen Lebensmittelsicher-
heitsraum schafft, eine Einheit.
Artikel 1 des Änderungsprotokolls betreffend die Änderungen des Landwirtschaftsab-
kommens und seiner Anhänge
Artikel 1 ist der eigentliche Kern des Änderungsprotokolls. Er enthält die modifizier-
ten Artikel zur Streitschlichtung, eine Anpassung des Artikels zum Gemischten Aus-
schuss für Landwirtschaft, einen neuen Artikel zum Umgang mit vertraulichen Infor-
mationen sowie die Änderungen, die aufgrund der Errichtung des gemeinsamen
Lebensmittelsicherheitsraums im Hauptteil des Abkommens nötig sind.
Artikel 1 Ziffer 1 des Änderungsprotokolls betreffend Terminologie
Die Terminologie im gesamten Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens wird dahin-
gehend angepasst, dass anstelle von Europäischer Gemeinschaft oder Gemeinschaft
von Europäischer Union gesprochen wird.
Artikel 1 Ziffer 2 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 5 (Abbau technischer
Handelshemmnisse für landwirtschaftliche Erzeugnisse) des Landwirtschaftsabkom-
mens
In Artikel 5 des Landwirtschaftsabkommens wird die Aufzählung der bisherigen An-
hänge 4 (Pflanzengesundheit), 5 (Futtermittel), 6 (Saatgut) und 11 (Veterinärabkom-
men) gelöscht, weil diese ins Protokoll zur Lebensmittelsicherheit überführt werden.
Artikel 1 Ziffer 3 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 6 (Gemischter Ausschuss
für Landwirtschaft) des Landwirtschaftsabkommens
473 / 931
Artikel 6 des Landwirtschaftsabkommens regelt den Gemischten Ausschuss für Land-
wirtschaft. Die Bestimmungen über die Zuständigkeiten des Gemischten Ausschus-
ses, die in den betreffenden bilateralen Abkommen enthalten sind, wurden vereinheit-
licht. Entsprechend wird auch der Artikel zum Gemischten Ausschuss für
Landwirtschaft aktualisiert. Materiell sind die Änderungen im Wortlaut gering, und
auch auf die Praxis des Gemischten Ausschusses für Landwirtschaft hat die neue For-
mulierung von Artikel 6 keine Auswirkungen.
Artikel 1 Ziffern 4 und 5 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 7 (Ausschliess-
lichkeitsprinzip), Artikel 7a (Verfahren bei Auslegungs- oder Anwendungsschwierig-
keiten) und Artikel 7b (Ausgleichsmassnahmen) des Landwirtschaftsabkommens
In den Artikeln 7, 7a und 7b des Landwirtschaftsabkommens wird das neue Streitbei-
legungsverfahren geregelt. Zunächst verpflichtet Artikel 7 die Parteien dazu, sich zur
Beilegung allfälliger Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung des Land-
wirtschaftsabkommens ausschliesslich dieses Streitbeilegungsverfahrens zu bedienen
(s. Ziff. 2.1.6.4.1). Das ist eine übliche Verpflichtung, um etwaiges
forum shopping
zu unterbinden.
Die Parteien müssen wie bisher in einem ersten Schritt versuchen, einen Streitfall im
Gemischten Ausschuss für Landwirtschaft beizulegen (Art. 7a Abs. 1). Neu können
die Parteien ein Schiedsgericht anrufen, wenn der Gemischte Ausschuss für Landwirt-
schaft die Uneinigkeit nicht binnen drei Monaten einer für beide Parteien akzeptablen
Lösung zuführt (Art. 7a Abs. 2). Die Modalitäten des Schiedsverfahrens sind im Pro-
tokoll zum Schiedsgericht geregelt, das dem Änderungsprotokoll angehängt ist (s.
nachfolgend). Im Schiedsverfahren im Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens ist
keine Rolle für den EuGH vorgesehen. Der Grund dafür liegt darin, dass die im Agr-
arteil des Landwirtschaftsabkommens verbleibenden Anhänge nicht der dynamischen
Rechtsübernahme unterliegen und dem EuGH folglich keine Rolle zukommt mit
Blick auf die einheitliche Auslegung des EU-Rechts. In Artikel 7a Absatz 4 wird zu-
dem festgehalten, dass Schiedsgerichtsverfahren nach Artikel 7a Absatz 2 die in den
Anhängen 1, 2 und 3 des Landwirtschaftsabkommens festgelegten Zollkonzessionen
und deren Verwaltung nicht berühren dürfen. Damit wird explizit festgehalten, dass
diese Anhänge und ihre Verwaltung nicht im Rahmen eines allfälligen Streitbeile-
gungsverfahrens geändert werden können. Darüber hinaus hält Artikel 7b fest, dass
allfällige Ausgleichsmassnahmen im Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens nur
im Falle einer Verletzung des Landwirtschaftsabkommens (Agrarteil und Lebensmit-
telsicherheitsteil) möglich sind, nicht jedoch im Falle einer Verletzung eines anderen
Binnenmarktabkommens. Auch damit unterscheidet sich die Lösung im Agrarteil des
Landwirtschaftsabkommens von den anderen Abkommen, welche die Beteiligung am
EU-Binnenmarkt regeln.
Artikel 1 Ziffern 6 und 7 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 9 (Berufsgeheim-
nis) und Artikel 9a (Verschlusssachen und vertrauliche, nicht als Verschlusssache
eingestufte Informationen) des Landwirtschaftsabkommens
474 / 931
Artikel 9a sieht vor, dass die Vertragsparteien etwaige Verschlusssachen gemäss dem
am 28. April 2008 geschlossenen Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidge-
nossenschaft und der Europäischen Union über die Sicherheitsverfahren für den Aus-
tausch von Verschlusssachen
438
austauschen. Artikel 9a beauftragt den Gemischten
Ausschuss ausserdem, in einem speziell zu diesem Zweck gefassten Beschluss Mo-
dalitäten festzulegen, um einen angemessenen Schutz sensibler Informationen, die
nicht als Verschlusssache eingestuft sind, zu gewährleisten. Zudem wird der Titel von
Artikel 9 des Landwirtschaftsabkommens (bestehender Artikel zur Vertraulichkeit) in
«Berufsgeheimnis» geändert.
Artikel 1 Ziffer 8 des Änderungsprotokolls betreffend Terminologie
Um Klarheit in Bezug auf die Zuständigkeiten der beiden für das Landwirtschaftsab-
kommen zuständigen Gemischten Ausschüsse (s. Ziff. 2.12.8 zum Gemischten Aus-
schuss für Lebensmittelsicherheit) zu schaffen, wird der Begriff «Ausschuss» in den
Artikeln 11, 12 und 13 des Landwirtschaftsabkommens durch «Gemischter Aus-
schuss für Landwirtschaft» ersetzt.
Artikel 1 Ziffer 9 des Änderungsprotokolls zu Artikel 15 (Anhänge, Anlagen und Pro-
tokoll) des Landwirtschaftsabkommens
Gemäss dem angepassten Artikel 15 des Landwirtschaftsabkommens wird neben den
Anhängen 1-3, 7-10 und 12 sowie deren Anlagen auch das für den Agrarteil des Land-
wirtschaftsabkommens angepasste Protokoll zum Schiedsgericht Teil des Landwirt-
schaftsabkommens sein. Dieses wird dem Landwirtschaftsabkommen als Protokoll
hinzugefügt.
Artikel 1 Ziffer 10 des Änderungsprotokolls zu Artikel 16 (Räumlicher Geltungsbe-
reich) des Landwirtschaftsabkommens
Der Artikel zum räumlichen Anwendungsbereich wird über alle Abkommen des Pa-
kets (Schweiz–EU) gleich ausgestaltet. Entsprechend wird auch Artikel 16 des Land-
wirtschaftsabkommens angepasst (s. Ziff. 2.1.6.7).
Artikel 1 Ziffer 11 des Änderungsprotokolls zu Artikel 17 (Inkrafttreten und Geltungs-
dauer) des Landwirtschaftsabkommens
Ein neuer Absatz 5 in Artikel 17 des Landwirtschaftsabkommens stellt klar, dass im
Falle einer Kündigung des Abkommens durch eine der Parteien gemäss Artikel 17
Absatz 3 auch das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit auf denselben Zeitpunkt aus-
ser Kraft tritt. Gleichzeitig hält der neue Absatz 6 fest, dass Rechte und Pflichten, die
Einzelpersonen und Wirtschaftsteilnehmerinnen und Wirtschaftsteilnehmer bereits
durch das Abkommen erworben haben, auch dann bestehen bleiben, wenn das Land-
wirtschaftsabkommen nicht mehr in Kraft ist und die Vertragsparteien einvernehmlich
festlegen müssen, wie mit Rechten zu verfahren ist, die gerade erworben werden.
438
SR
0.514.126.81
475 / 931
Artikel 1 Ziffer 12 des Änderungsprotokolls zur Aufhebung der Anhänge 4, 5, 6 und
11 des Landwirtschaftsabkommens
Gemäss Artikel 1 Ziffer 12 werden die Anhänge 4, 5, 6 und 11 mit Inkrafttreten des
Protokolls zur Lebensmittelsicherheit aufgehoben. Sollte das Protokoll zur Lebens-
mittelsicherheit nicht in Kraft treten, würden diese Anhänge unverändert im Land-
wirtschaftsabkommen verbleiben. Wie ihr Weiterfunktionieren gewährleistet werden
könnte, wäre allerdings unklar, da die neuen institutionellen Bestimmungen, welche
eine regelmässige Aktualisierung dieser Anhänge sicherstellen, auf diese Anhänge
nicht anwendbar wären.
Artikel 1 Ziffer 13 des Änderungsprotokolls betreffend das Schiedsgerichtsprotokoll
Gemäss Artikel 1 Ziffer 13 wird der Anhang des Änderungsprotokolls, welcher das
für den Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens angepasste Protokoll zum Schieds-
gericht enthält, dem Landwirtschaftsabkommen als Protokoll hinzugefügt.
Artikel 2 des Änderungsprotokolls zur übergangsweisen Anwendung der Anhänge 4,
5, 6 und 11 des Landwirtschaftsabkommens
Artikel 2 des Änderungsprotokolls nimmt Bezug zur Übergangsregelung, die in Arti-
kel 32 des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit stipuliert ist. Er stellt klar, dass die
Anhänge 4, 5, 6 und 11 des Landwirtschafsabkommens während dem Übergangszeit-
raum von maximal 24 Monaten nach Inkraftsetzung des Protokolls zur Lebensmittel-
sicherheit ihre Gültigkeit behalten. Zudem hält der Artikel fest, dass das genaue End-
datum dieses Übergangszeitraums durch Beschluss des Gemischten Ausschusses für
Landwirtschaft festgelegt wird nach Notifizierung durch den Gemischten Ausschuss
für Lebensmittelsicherheit.
Artikel 3 des Änderungsprotokolls zum Inkrafttreten
Das Änderungsprotokoll ist Teil des Stabilisierungsteils des Pakets (Schweiz–EU). Es
tritt am ersten Tag des zweiten Monats nach der Notifizierung des Abschlusses der
internen Verfahren zur Genehmigung aller völkerrechtlichen Instrumente des Stabili-
sierungsteils des Pakets (Schweiz–EU) in Kraft.
Schiedsgerichtsprotokoll
Das Schiedsgerichtsprotokoll zum Landwirtschaftsabkommen beruht auf den
Schiedsregeln, welche für die Binnenmarktabkommen gelten. Diesbezüglich kann mit
der nachfolgenden Präzisierung auf die Erläuterungen unter Ziffer 2.1.6.4.2 verwiesen
werden. Nicht enthalten sind im Schiedsgerichtsprotokoll zum Agrarteil des Land-
wirtschaftsabkommens sämtliche Bestimmungen, die den Einbezug des EuGH betref-
fen.
2.7.7
Grundzüge des Umsetzungserlasses
An den bestehenden Anhängen 1–3, 7–10 und 12 wurden keine Änderungen vorge-
nommen. Diese werden weiterhin nicht der dynamischen Rechtsübernahme unterlie-
476 / 931
gen und damit weiterfunktionieren wir bisher. Ein Umsetzungserlass zum Änderungs-
protokoll ist damit nicht nötig. Die aufgrund des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit
nötigen Anpassungen im Lebensmittelrecht werden in Ziffer 2.12.7 dargelegt.
2.7.8
Auswirkungen des Paketelements
Mit dem Änderungsprotokoll soll im Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens dem
neu geschaffenen gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraum Rechnung getragen so-
wie teilweise institutionelle Bestimmungen modernisiert werden. Das Änderungspro-
tokoll führt zu keinen Änderungen an den bestehenden Anhängen 1–3, 7–10 und 12
des Landwirtschaftsabkommens. Es sind keine relevanten Auswirkungen auf die Kan-
tone, die Volkswirtschaft, die Gesellschaft oder die Umwelt zu erwarten.
Die Schweiz wird in der Ausgestaltung ihrer Agrarpolitik weiterhin eigenständig blei-
ben. Auch der bestehende Grenzschutz (inkl. Zölle und Kontingente) bleibt erhalten.
Allfällige Ausgleichsmassnahmen im Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens sind
nur im Falle einer Verletzung des Landwirtschaftsabkommens (inkl. Lebensmittelsi-
cherheit) möglich, nicht jedoch im Falle einer Verletzung eines anderen Binnenmarkt-
abkommens. Allfällige Ausgleichsmassnahmen müssen zudem verhältnismässig sein.
Damit erhöht sich die Rechtssicherheit für die Schweiz.
Der Bundesrat wird den Ressourcenbedarf zu gegebener Zeit überprüfen und darauf
achten, dass ein allfälliger Mehrbedarf an Personalaufwand innerhalb des Eigenbe-
reichs des Bundes kompensiert wird.
Die Auswirkungen des Lebensmittelsicherheitsprotokolls werden in Ziffer 2.12.9 dar-
gelegt.
2.7.9
Rechtliche Aspekte des Paketelements
2.7.9.1
Verfassungsmässigkeit des Protokolls
Das Änderungsprotokoll stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 BV, wonach der Bund für
die auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV ermächtigt
den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Die
Bundesversammlung ist nach Artikel 166 Absatz 2 BV für die Genehmigung völker-
rechtlicher Verträge zuständig, sofern für deren Abschluss nicht aufgrund von Gesetz
oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (Art. 24 Abs. 2 ParlG;
Art. 7a Abs. 1 RVOG). Beim Änderungsprotokoll handelt es sich nicht um einen völ-
kerrechtlichen Vertrag, für dessen selbstständigen Abschluss der Bundesrat aufgrund
eines Gesetzes oder eines von der Bundesversammlung genehmigten völkerrechtli-
chen Vertrags ermächtigt ist. Insbesondere geht das Änderungsprotokoll durch die
Aufnahme institutioneller Bestimmungen zur Streitbeilegung über den in Artikel 177a
LWG vorgesehenen Anwendungsbereich hinaus, wonach der Bundesrat Vereinbarun-
gen im Agrarbereich mit der Ausnahme von Agrarhandelsverträgen abschliessen
kann. Es handelt sich auch nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag von beschränkter
Tragweite nach Artikel 7a Absatz 2 RVOG. Das Änderungsprotokoll ist folglich der
Bundesversammlung zur Genehmigung zu unterbreiten
.
477 / 931
2.7.9.2
Verfassungsmässigkeit der Umsetzungsgesetzgebung und
Begleitmassnahmen
Es sind keine Umsetzungsgesetzgebung oder Begleitmassnahmen nötig.
2.7.9.3
Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen
der Schweiz
Das Änderungsprotokoll ist mit den internationalen Verpflichtungen der Schweiz ver-
einbar. Vorgesehen ist, dass auch das Zusatzabkommen vom 27. September 2007
439
zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, dem Fürstentum Liechtenstein und
der Europäischen Gemeinschaft über die Einbeziehung des Fürstentums Liechtenstein
in das Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europä-
ischen Gemeinschaft über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen entspre-
chend angepasst wird. Allenfalls erforderliche Anpassungen der Anhänge des Über-
einkommens zur Errichtung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) vom 4.
Januar 1960
440
werden geprüft und zu einem späteren Zeitpunkt vorgenommen. Im
Übrigen wird auf die Erläuterungen in Ziffer 3.1.3 verwiesen.
2.7.9.4
Erlassform
Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 der Bundesverfassung (BV) unterlie-
gen völkerrechtliche Verträge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige recht-
setzende Bestimmungen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesge-
setzen erfordert. Nach Artikel 22 Absatz 4 des ParlG sind unter rechtsetzenden
Normen jene Bestimmungen zu verstehen, die in unmittelbar verbindlicher und gene-
rell-abstrakter Weise Pflichten auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten
festlegen. Als wichtig gelten Bestimmungen, die auf der Grundlage von Artikel 164
Absatz 1 BV in der Form eines Bundesgesetzes erlassen werden müssten. Das Ände-
rungsprotokoll führt ein neues Streitschlichtungsverfahren mit der Möglichkeit ein,
einen Streitfall einem paritätisch zusammengesetzten Schiedsgericht zum Entscheid
vorzulegen. Die entsprechenden Anpassungen sind als wichtige rechtsetzende Best-
immungen zu gewichten. Der Bundesbeschluss über die Genehmigung des Ände-
rungsprotokolls ist deshalb dem fakultativen Referendum nach Artikel 141 Absatz 1
Buchstabe d Ziffer 3 BV zu unterstellen.
2.7.9.5
Vorläufige Anwendung
Eine vorläufige Anwendung des Änderungsprotokolls ist nicht vorgesehen.
2.7.9.6
Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass
Es ist kein Umsetzungserlass nötig.
439
SR
0.916.026.812
440
SR
0.632.31
478 / 931
2.7.9.7
Datenschutz
Der Datenschutz ist von der Vorlage nicht betroffen. Die Erläuterungen betreffend
das Schiedsgericht unter Ziffer 2.1.8.6 gelten auch für das Schiedsgericht des Agrar-
teils des Landwirtschaftsabkommens.
479 / 931
2.8
Programme
2.8.1
Zusammenfassung
Die Teilnahme an den Programmen der EU ist für die Schweiz von grosser strategi-
scher Bedeutung. Sie ermöglicht die gemeinsame Entwicklung von Lösungen für
grenzüberschreitende Herausforderungen und bietet der Schweiz die Chance, von in
der EU entwickelten Technologien und Strategien zu profitieren. Von besonderer
Wichtigkeit für die Schweiz sind die Programme in Bildung, Forschung und Innova-
tion (BFI). Die Schweiz gehört in diesen Bereichen zu den weltweit führenden Län-
dern. Ihre hohe Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit basiert auf bestens ausgebil-
deten Personen, exzellenten Bildungs- und Forschungsinstitutionen sowie
internationalen Netzwerken und Kooperationen. Der Schweizer BFI-Raum ist mit
dem europäischen Bildungs-, Forschungs- und Innovationsraum eng verzahnt. Dieser
ist wiederum massgeblich von den EU-Programmen in diesem Bereich geprägt: Die
unter den Namen Erasmus+ und Horizon Europe bekannten Programme sind heute
dank stetig steigender Budgets, inhaltlicher Erweiterungen und internationaler Öff-
nung die weltweit grössten und bedeutendsten Instrumente zur Bildungs-, For-
schungs- und Innovationszusammenarbeit und kennen in dieser Form keine vergleich-
baren Alternativen.
Die EU beschliesst ihre Programme jeweils für eine Programmgeneration, welche der
Laufzeit des übergeordneten, mehrjährigen Finanzrahmens der EU entspricht. Jede
Programmgeneration dauert somit in der Regel sieben Jahre. Dieser Mechanismus
impliziert, dass an den Programmen assoziierte Nicht-EU-Staaten ihre Teilnahme
ebenfalls alle sieben Jahre erneuern müssen. Seit 2021 ist ein transversales Programm-
abkommen Grundvoraussetzung für eine Assoziierung an die EU-Programme. Dieses
definiert die allgemeinen Teilnahmebedingungen in einem zeitlichen unbefristet gül-
tigen horizontalen Teil. Die Assoziierung an einzelne Programme wird durch Proto-
kolle geregelt, welche dem transversalen Teil des Abkommens angehängt werden und
auf die Laufzeit der jeweiligen Programme beschränkt sind. Dies ermöglicht es der
Schweiz bei jeder Programmgeneration neu zu beurteilen, an welchen Programmen
sie weiterhin oder neu teilnehmen möchte. Die entsprechenden Finanzmittel werden
bei den eidgenössischen Räten beantragt.
Im Rahmen des Pakets Schweiz-EU wurde das Abkommen über die Teilnahme der
Schweiz an den Programmen der Union, das EU-Programmabkommen (EUPA) in-
klusive der Protokolle für die Teilnahme an der aktuellen Programmgeneration 2021-
2027 verhandelt. Dies umfasst die Teilnahme an den Forschungsprogrammen und -
initiativen Horizon Europe, dem Euratom-Programm, dem Versuchsreaktor ITER und
dem Programm Digital Europe, zusammengefasst als «Horizon-Paket 2021–2027»,
sowie am Bildungsprogramm Erasmus+. Hinzu kommt die Teilnahme am EU-
Gesundheitsprogramm «EU4Health» (s. Ziff. 2.13). Insgesamt sind die ausgehandel-
ten Teilnahmebedingungen vergleichbar mit jenen anderer assoziierter Drittstaaten,
wie das Vereinigte Königreich, Neuseeland oder Kanada. Für die Teilnahme am Eu-
ratom-Programm, ITER und Erasmus+ konnten bis Ende 2027 Rabatte ausgehandelt
werden. Für das Horizon-Paket ist eine rückwirkende provisorische Assoziierung per
1.1.2025 vorgesehen, mit der Ausnahme von ITER per 1.1.2026. Für Erasmus+ wurde
eine Assoziierung ab dem 1.1.2027 ausgehandelt.
480 / 931
Für die Finanzierung der Teilnahme am «Horizon-Paket 2021–2027» legte der Bun-
desrat dem Parlament am 20. Mai 2020 eine Finanzierungsbotschaft zur Schweizer
Beteiligung als assoziierter Staat an den Programmen und Initiativen der EU im Be-
reich Forschung und Innovation für die Jahre 2021–2027 vor.
441
Das Parlament hat den
entsprechenden Bundesbeschluss am 16. Dezember 2020 verabschiedet und insge-
samt 6,2 Milliarden Franken bereitgestellt.
442
Die Pflichtbeiträge für die Teilnahme in
den Jahren 2025-2027 werden sich auf rund 1,9 Milliarden Franken belaufen.
Die Finanzierung für eine Teilnahme an Erasmus+ im Jahr 2027 wird hingegen im
Rahmen der vorliegenden Botschaft beantragt, wobei sich der Pflichtbeitrag auf rund
172 Millionen Franken beläuft.
Der Bundesrat ist der Ansicht, dass der Abschluss des EUPA und damit die Möglich-
keit, sich sowohl in der laufenden Programmgeneration als auch in der Zukunft an
EU-Programme zu assoziieren, von grossem Interesse für die Schweiz ist. Eine syste-
matischere und umfassende Beteiligung an Erasmus+ und am Horizon-Paket als as-
soziierter Staat bietet dabei den grössten Mehrwert für den BFI-Standort Schweiz und
ist von hoher Bedeutung für dessen Weiterentwicklung. Sie entspricht auch der inter-
nationalen Strategie des Bundesrates in diesem Bereich. Das EUPA schafft die Rah-
menbedingungen für das internationale Engagement der BFI-Akteure und stärkt damit
die Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität der Schweiz weiter.
Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt. Er beantragt
im Rahmen des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU die Genehmigung des
EUPA.
2.8.2
Ausgangslage
Schweizer Teilnahme an den Programmen der EU
Die EU-Programme dienen der Implementierung und Förderung von Aktivitäten in
Bereichen wie Bildung, Forschung, Kultur, etc. Sie stärken den Austausch mit ande-
ren europäischen Ländern und ermöglichen den Auf- und Ausbau von Netzwerken.
Einige dieser Programme erlauben auch die Teilnahme von Nicht-EU-Staaten.
Die EU-Programme werden jeweils für eine Programmgeneration beschlossen, wel-
che der Laufzeit des übergeordneten, mehrjährigen Finanzrahmens (Multiannual Fi-
nancial Framework MFF) der EU entspricht. Jede Programmgeneration dauert somit
in der Regel sieben Jahre. Dieser Mechanismus impliziert, dass an den Programmen
assoziierte Nicht-EU-Staaten ihre Teilnahme alle sieben Jahre erneuern müssen. Dies
gilt selbst für die Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR-Staaten).
443
Die Teilnahme der Schweiz an den Bildungs- und Forschungsprogrammen war Teil
der Bilateralen Abkommen I (Forschung) bzw. II (Bildung) und wurde auf einzelne
Abkommen abgestützt. Aus diesen Gründen musste die Schweiz bisher für jede Pro-
grammgeneration und jedes Programm einen neuen, eigenständigen Vertrag aushan-
deln und abschliessen.
441
BBl
2020
4845
442
BBl
2021
73
443
Der Grundsatz ihrer Beteiligung an EU-Programmen ist zwar im EWR-Vertrag festgehal-
ten, für die Assoziierung an die Programmgenerationen muss aber jeweils das Protokoll 31
des EWR-Vertrags aktualisiert werden.
481 / 931
Die Europäische Kommission assoziiert seit 2020 Staaten wie die Schweiz nicht mehr
nach diesem Modell an ihre Programme, und schuf daher in den Gesetzesgrundlagen
für die Programme ab 2021 ein einheitliches System für die Assoziierung von Dritt-
staaten. Die Schweiz muss sich entsprechend mittels eines Programmabkommens an
die Programme assoziieren.
In dieser neuen Form des
EU-Programmabkommens (EUPA)
werden sämtliche trans-
versalen, für alle Programme geltenden Regelungen in einem
zeitlich unbefristeten
horizontalen Teil
abgefasst. Dazu gehören unter anderem:
–
der Mechanismus für die Berechnung der Pflichtbeiträge sowie allfällige
Anpassungs- und Korrekturmechanismen bei Budgetänderungen oder
Über- und Unterperformance des assoziierten Staates,
–
die Überprüfung der Mittelverwendung inklusive Audits,
–
die Mitwirkung der Schweiz in relevanten Gremien der EU,
–
die Etablierung eines Gemischten Ausschusses für sämtliche EU-
Programme, der die Protokolle zu diesem Abkommen (siehe unten) in Kraft
setzen und anpassen kann, und der das Funktionieren des Abkommens in-
klusive der Protokolle sicherstellen soll,
–
die Regelung von Suspendierungs- und Terminierungsmodalitäten des
EUPA.
Die Assoziierung an der jeweiligen Programmgeneration erfolgt auf der Basis von
Protokollen
, die dem EUPA als integraler Bestandteil angehängt sind.
EU-Programme für Bildung, Forschung und Innovation: Allgemeine Ausgangslage
und Bedeutung einer Assoziierung
Die Schweiz zählt in den Bereichen Bildung, Forschung und Innovation (BFI) zu den
weltweit führenden Ländern. Sie stützt ihre hohe Wettbewerbs- und Innovationsfä-
higkeit auf bestens ausgebildete Personen, exzellente Bildungs- und Forschungsinsti-
tutionen sowie internationale Netzwerke und Kooperationen. Der Schweizer BFI-
Bereich ist insbesondere mit dem europäischen Bildungs-, Forschungs- und Innovati-
onsraum eng verzahnt. Entsprechend will der Bundesrat mit seiner internationalen
Strategie im Bereich Bildung, Forschung und Innovation optimale Rahmenbedingun-
gen für eine internationale Betätigung der Schweizer BFI-Akteure schaffen und die
Attraktivität des Standorts Schweiz weiter stärken. Eine besondere Rolle kommt dabei
der Kooperation im Rahmen der Förderprogramme der Europäischen Union zu.
Die jeweils mehrjährigen Programme der EU in den Bereichen Bildung sowie For-
schung und Innovation haben sich seit den 1980er-Jahren zu den zentralen europäi-
schen Instrumenten zur Förderung von internationaler Mobilität und Kooperation in
der Bildung und Forschung sowie von technologischer Entwicklung und Innovation
entwickelt. Die unter den Namen Erasmus+ und Horizon Europe bekannten Pro-
gramme sind heute dank stetig steigender Budgets, inhaltlicher Erweiterungen und
482 / 931
internationaler Öffnung die weltweit grössten und bedeutendsten Instrumente zur Bil-
dungszusammenarbeit sowie zur Unterstützung kompetitiver Forschungs- und Inno-
vationsprojekte. Sie kennen in dieser Form keine vergleichbaren Alternativen.
Die Programme Horizon Europe und Erasmus+ sind formal getrennt, stellen jedoch
Förderinstrumente entlang der gleichen Wertschöpfungskette von Bildung, Forschung
und Innovation dar. Aus diesem Grund weisen die von den Programmen geförderten
Aktivitäten untereinander vielfältige Synergien auf: Internationale Austausch- und
Mobilitätserfahrungen auf individueller Ebene während der Aus- und Weiterbildung
fördern die Entstehung von persönlichen und institutionellen Netzwerken. Diese bil-
den wiederum die Grundlage für Kooperationen in Bildung und Forschung, sowohl
auf institutioneller als auch auf persönlicher Ebene, und finden ihre Fortsetzung in
Mobilitätserfahrungen von Forschenden. Etablierte Kooperationsbeziehungen zwi-
schen Institutionen in Bildung und Forschung erleichtern umgekehrt den weiteren
Austausch von Lernenden, Lehrenden und Forschenden. Klassenaustausche während
der obligatorischen Schule, eine individuelle Lernmobilität während der Ausbildung,
die Entwicklung von gemeinsamen Bildungsangeboten zwischen Hochschulen sowie
langjährige Forschungskooperationen sind Beispiele für aufeinander aufbauende Ak-
tivitäten, welche durch die EU-Programme gefördert werden.
Die Schweiz nimmt seit den 1980er-Jahren in unterschiedlichem Umfang an den EU-
Programmen in Bildung, Forschung und Innovation sowie an weiteren, damit verbun-
denen Programmen und Initiativen (ITER, Euratom Programm, Programm Digital Eu-
rope DEP) teil – projektweise als sogenannter «nicht assoziierter Drittstaat», als teil-
assoziierter oder als assoziierter Staat. Eine systematische und umfassende
Beteiligung in Form einer Assoziierung an Erasmus+ und das Horizon-Paket bietet
dabei den grössten Mehrwert für den Schweizer BFI-Raum und ist von strategischer
Bedeutung für seine Weiterentwicklung. Sie ist daher ein wesentlicher Bestandteil der
nationalen Förderpolitik für Mobilität und Kooperation in der Bildung, Forschung und
Innovation. Die folgenden Kapitel erläutern im Detail die Ausgangslage, die Bedeu-
tung einer Assoziierung sowie die zu ihrer Realisierung erforderlichen Massnahmen
und Entscheide.
2.8.2.1
Kontext: die Europäische Bildungs-, Forschungs- und
Innovationspolitik
2.8.2.1.1
Europäische Programme und Initiativen für Forschung und
Innovation
Die europäische Union kennt verschiedene Programme und Initiativen zur Förderung
von Forschung und Innovation. Diese haben ihren Ursprung in der länderübergreifen-
den Finanzierung von Forschungs- und Innovationsprojekten, welche bis in die
1950er Jahre zurückreicht. Seit 1984 sind die mehrjährigen Rahmenprogramme das
zentrale Instrument der EU zur Förderung von Forschung, technologischer Entwick-
lung und Innovation. Aktuell läuft das neunte Rahmenprogramm, Horizon Europe,
mit einer siebenjährigen Laufzeit von 2021-2027. Es wird durch verschiedene andere
Forschungsprogramme und Initiativen ergänzt, namentlich das Euratom-Programm,
ITER und das Programm Digital Europe (s. Ziff. 2.8.2.2.1).
483 / 931
2.8.2.1.2
Europäische Bildungsprogramme
In der EU liegt die Bildungspolitik in erster Linie in der Kompetenz der Mitgliedstaa-
ten. Der EU kommt eine unterstützende und koordinierende Rolle zu. Das Thema
“Bildung” wurde 2017 in die politische Agenda der EU aufgenommen – als Schlüssel
zum Zusammenhalt der Gesellschaften und zur Erhaltung der europäischen Wettbe-
werbsfähigkeit.
444
Die Weiterentwicklung des europäischen Bildungsraums bis 2030
ist dabei als übergeordnetes politisches Ziel definiert.
Auch im Bereich der ausserschulischen Jugendarbeit hat die EU eine subsidiäre Rolle.
Die Hauptzuständigkeit liegt bei den EU-Mitgliedstaaten. Den Rahmen für die Zu-
sammenarbeit bildet die EU-Jugendstrategie. Für die Periode 2019–2027 legt sie den
Akzent auf die drei Schwerpunktbereiche “Beteiligung, Begegnung, Befähigung”.
Die vorgesehenen Massnahmen sollen die wirtschaftliche, soziale, kulturelle und po-
litische Teilhabe junger Menschen fördern sowie den Austausch von kulturellen Er-
fahrungen sowie die Vermittlung von persönlichen und beruflichen Kompetenzen er-
möglichen.
445
Die EU arbeitet im Bildungsbereich seit den 1980er Jahren mit mehrjährigen Förder-
programmen. Ausgehend von den bekannten Erasmus-Programmen in der Hochschul-
bildung hat sie nach und nach auch Programme in den Bereichen Schulbildung, Be-
rufsbildung, Erwachsenenbildung sowie im ausserschulischen Jugendbereich etabliert
und weiterentwickelt. Anfangs separat geführt, wurden die einzelnen Programme ab
2014 zu einem umfassenden Bildungsprogramm namens Erasmus+ zusammenge-
fasst. Es ist mittlerweile das Hauptinstrument zur Umsetzung der internationalen Bil-
dungszusammenarbeit in Europa. Auch Erasmus+ folgt einem siebenjährigen Zyk-
lus.
446
2.8.2.2
Die Bestandteile der aktuellen Programmgeneration: das
Horizon-Paket 2021-2027 und Erasmus+
2.8.2.2.1
Bestandteile des Horizon-Pakets 2021-2027
Die Schweiz hat im Rahmen der Verhandlungen mit der EU zum Paket Schweiz–EU
eine Teilnahme am aktuellen Rahmenprogramm Horizon Europe, dem Euratom-Pro-
gramm, der Forschungsinfrastruktur ITER und am Programm Digital Europe (DEP)
verhandelt. Diese Programme und Initiativen werden in der Schweiz unter dem Be-
griff „Horizon-Paket 2021-2027“ zusammengefasst. Für eine ausführliche Beschrei-
bung der Bestandteile des Horizon-Pakets sei auf die entsprechende Finanzierungs-
botschaft
447
verwiesen, im Folgenden wird nur ein kurzer Überblick gegeben.
444
Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates vom 14. Dezember 2017,
www.consilium.europa.eu > Startseite > Presse > Pressemitteilungen > 14.12.2017.
445
Entschliessung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mit-
gliedstaaten zu einem Rahmen für die jugendpolitische Zusammenarbeit in Europa: die
EU-Jugendstrategie 2019-2027, ABl. C 456 vom 18. 12. 2018, S. 1.
446
Abrufbar unter: www.erasmus-plus.ec.europa.eu > Programmleitfaden.
447
BBl
2020
4845
484 / 931
Horizon Europe:
Das neunte Forschungs- und Innovationsrahmenprogramm der EU
läuft von 2021 bis 2027 und hat ein Gesamtbudget von 95,5 Milliarden Euro
448
. Es
umfasst eine Vielzahl an Förderinstrumenten, die praktisch die gesamte Wertschöp-
fungskette abdecken – von der Grundlagenforschung bis hin zu angewandter For-
schung, technologischer Entwicklung, Innovation und Markteinführung.
Euratom-Programm:
Das Programm der Europäischen Atomgemeinschaft für For-
schungs- und Ausbildungsmassnahmen im Nuklearbereich ergänzt Horizon Europe
und fördert nukleare Forschung und Innovation. Es hat eine Laufzeit von fünf Jahren
mit einem Budget von 1,38 Milliarden Euro
449
für den Zeitraum 2021 bis 2025 und
wird anschliessend auf die Jahre 2026 und 2027 (Budget von 598 Mio. Euro
450
) aus-
gedehnt.
ITER:
Die Forschungsinfrastruktur ITER ist das weltweit grösste Projekt für einen
experimentellen thermonuklearen Reaktor. Die ITER-Organisation wurde 2007 von
der EU, China, Indien, Japan, Russland, Südkorea und den USA gegründet und ist für
den Bau und den Betrieb des Reaktors in Cadarache, Frankreich, verantwortlich. Die
EU koordiniert ihren Beitrag via „Fusion for Energy“, einem gemeinsamen Unterneh-
men der Europäischen Atomenergiegemeinschaft, dem die an das Euratom-Programm
assoziierten Staaten beitreten können. Voraussichtlich wird der Bau von ITER im Jahr
2042 abgeschlossen, wobei erste wissenschaftliche Resultate 2030 erwartet werden.
Programm Digital Europe (DEP):
Mit einem Budget von 8,1 Milliarden Euro
451
stärkt das DEP die digitalen Kapazitäten Europas und ergänzt Horizon Europe durch
die Umsetzung konkreter Digitalisierungsvorhaben, welche die digitale Souveränität,
das Wirtschaftswachstum und die gesellschaftliche Tragweite der Digitalisierung un-
terstreichen. Es wurde 2021 neu eingeführt und hat ebenfalls eine siebenjährige Lauf-
zeit.
2.8.2.2.2
Aufbau und Funktionsweise des Erasmus+ Programms
Aufbau des Programms Erasmus+
Im Rahmen der aktuellen Programmgeneration 2021-2027 umfasst Erasmus+ Aktivi-
täten, die in drei Leitaktionen gegliedert und jeweils für alle Bildungsbereiche (Hoch-
schulbildung, Berufsbildung, Schulbildung, Erwachsenenbildung) sowie im ausser-
schulischen Jugendbereich und im Sport vorgesehen sind.
Leitaktion 1: Lernmobilität von Einzelpersonen
: Ziel ist, das länderübergreifende Ler-
nen zu unterstützen und die Mobilität von Lernenden und des Personals von Instituti-
onen und Organisationen aller Bildungsbereiche sowie im ausserschulischen Jugend-
bereich und im Sport zu fördern. Zu den Aktivitäten gehören unter anderem
448
Abrufbar unter www.research-and-innovation.ec.europa.eu > Funding > Funding opportu-
nities > Funding programmes and open calls.
449
Abrufbar unter www.research-and-innovation.ec.europa.eu > Funding > Funding opportu-
nities > Funding programmes and open calls > Horizon Europe > Euratom Research and
Training Programme.
450
Abrufbar unter www.eur-lex.europa.eu, COM/2025/60 final.
451
Abrufbar unter www.digital-strategy.ec.europa.eu > Activities > Funding for Digital in the
2021-2027 Multiannual Financial Framework > The Digital Europe Programme.
485 / 931
individuelle Bildungsaufenthalte bei Partnerinstitutionen im Ausland, Arbeitserfah-
rungen in Unternehmen, Freiwilligentätigkeit, Gruppenaustausche, Weiterbildungen
und Lehrtätigkeiten an Partnerinstitutionen.
Leitaktion 2: Kooperationen zwischen Institutionen und Organisationen
: Ziel ist die
Stärkung der europäischen Zusammenarbeit mittels Kooperationen zwischen Bil-
dungsinstitutionen aller Bildungsbereiche, lokalen oder regionalen Behörden, Sozial-
partnern oder Jugendorganisationen. Die geförderten Aktivitäten umfassen beispiels-
weise Klassenaustauschprojekte, Studienseminare, ausserschulische Kooperationen
und die Entwicklung von gemeinsamen Bildungsangeboten und -innovationen. In die-
sem Rahmen werden auch langfristige Partnerschaften für Zusammenarbeit, Innova-
tion und Exzellenz unterstützt, unter anderem die Initiative «Europäische Hochschu-
len» (European Universities Initiative, EUI).
Leitaktion 3: Unterstützung der Politikentwicklung und der politischen Zusammenar-
beit:
Die Angebote unterstützen die politische Zusammenarbeit auf Ebene der Pro-
grammländer und leisten damit einen Beitrag zur Umsetzung und Weiterentwicklung
europäischer, grenzüberschreitender Strategien in den Bereichen allgemeine und be-
rufliche Bildung, Jugend und Sport.
Transversale Prioritäten
: Für die laufende Programmgeneration 2021–2027 wurden
neben den drei Leitaktionen vier transversale Prioritäten definiert, die in allen Pro-
grammbereichen gefördert werden sollen: Inklusion und Vielfalt, digitaler Wandel,
Umwelt und Bekämpfung des Klimawandels sowie Teilhabe am demokratischen Le-
ben, gemeinsame Werte und bürgerschaftliches Engagement.
Für das Programm Erasmus+ 2021-2027 setzt die EU ein Budget von 26,27 Milliarden
Euro ein. Dies entspricht ungefähr einer Verdoppelung der Mittel im Vergleich zum
Vorgängerprogramm (2014–2020), wobei der weitaus grösste Teil der Mittel für För-
deraktivitäten im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung eingesetzt wer-
den.
452
Nationale Agentur zur Umsetzung der Austausch- und Mobilitätsaktivitäten
Die Umsetzung der Programmaktivitäten von Erasmus+ erfolgt sowohl zentral durch
die Europäische Kommission als auch dezentral durch nationale Agenturen in den
Programmländern. Für die nationalen Agenturen legt die Europäische Kommission
Mindestanforderungen fest, die für die Verwaltung und Durchführung des Programms
erfüllt sein müssen (interne Kontrollsysteme, Kommunikation und Dissemination von
Programmresultaten, Verwaltung und Zuteilung der Fördermittel sowie IT-Systeme)
und im Rahmen der sogenannten
Ex-Ante-Konformitätsbewertung
von der zuständi-
gen nationalen Behörde geprüft werden (siehe Ziffer 2.8.7.5.2).
453
452
Verordnung (EU) 2021/817 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai
2021 zur Einrichtung von Erasmus+, dem Programm der Union für allgemeine und beruf-
liche Bildung, Jugend und Sport, und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1288/2013,
ABl. L 189 vom 28.5.2021, Art. 17.
453
Verordnung (EU) 2021/817 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai
2021 zur Einrichtung von Erasmus+, dem Programm der Union für allgemeine und beruf-
liche Bildung, Jugend und Sport, und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1288/2013,
Artikel 26, Absatz 3.
486 / 931
Die Schweiz verfügt mit Movetia bereits über eine Agentur für Austausch und Mobi-
lität in der Bildung, welche bei einer Assoziierung die Rolle der nationalen Agentur
übernehmen würde.
Nationale Begleitmassnahmen
Um die Aktivitäten von Erasmus+ zu unterstützen, werden zudem eine Reihe von
Be-
gleitmassnahmen
auf Ebene der Programmländer umgesetzt. Dabei handelt es sich
einerseits um Informationsbüros, die bereichsübergreifende Leistungen erbringen,
beispielsweise zu den Themen Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung oder Jugend,
um die Wirkung und Nutzung von Erasmus+ auf nationaler Ebene zu verstärken. An-
dererseits werden seitens der zuständigen Generaldirektion der EU verschiedene Platt-
formen, Instrumente und Netzwerke zur Verfügung gestellt, an denen sich Programm-
länder beteiligen können mit dem Ziel, die Vernetzung der Akteure und den
Wissenstransfer zu fördern.
2.8.2.3
Bisherige Teilnahme der Schweiz an EU-Programmen und -
Initiativen im Bereich Bildung, Forschung und Innovation
2.8.2.3.1
Die Teilnahme der Schweiz an den EU-Programmen für
Forschung und Innovation
Die Schweiz blickt auf eine lange Tradition der Forschungszusammenarbeit mit der
EU zurück. Seit der Einführung der Rahmenprogramme hat sie in verschiedenen For-
men (als Drittstaat, teilassoziierter Staat oder assoziierter Staat) daran teilgenommen.
Die Schweiz zählt bis und mit dem 8. Rahmenprogramm für Forschung und Innova-
tion (Horizon 2020, dem Vorgängerprogramm von Horizon Europe) zu den erfolg-
reichsten europäischen Ländern, gemessen an Erfolgsquote, eingeworbenen Förder-
mitteln
und
der
Anzahl
koordinierter
Projekte.
454
Während
der
letzten
Programmgeneration verzeichnete die Schweiz durchschnittlich 710 Beteiligungen
pro Jahr, verbunden mit jährlichen Förderbeiträgen in Höhe von 435 Millionen Fran-
ken. Die EU-Rahmenprogramme sind nach dem Schweizerischen Nationalfonds
(SNF) die zweitwichtigste öffentliche Förderquelle für Forschung und Innovation in
der Schweiz, womit sie eine wertvolle Ergänzung zu den nationalen Fördermassnah-
men darstellen.
Schweizer Teilnahme am «Horizon-Paket 2021-2027»
Vor dem Hintergrund der bedeutenden Rolle der EU-Programme im Bereich For-
schung und Innovation verfolgt die Schweiz das Ziel, ihre Assoziierung im Rahmen
des Horizon-Pakets 2021–2027 fortzusetzen. Das Parlament hat entsprechend am 16.
Dezember 2020 die Mittel dafür bereitgestellt. Am 12. März 2021 wurde ein formelles
Gesuch zur Assoziierung der Schweiz am gesamten Horizon-Paket an die Europäi-
sche Kommission übermittelt. In ihrer Antwort machte die Europäische Kommission
die Aufnahme informeller Assoziierungsgespräche von Fortschritten beim Entwurf
454
Abrufbar unter: www.sbfi.admin.ch > Forschung und Innovation > Internationale For-
schungs- und Innovationszusammenarbeit > EU-Rahmenprogramme > Zahlen und Fakten
zur Schweizer Beteiligung > Beteiligung der Schweiz an EU-Programmen und -Initiativen
für Forschung und Innovation: Zahlen und Fakten 2023.
487 / 931
für ein institutionelles Rahmenabkommen sowie dem Abschluss eines zeitlich unbe-
schränkt gültigen Abkommens, welches die allgemeinen Regeln für die Programmbe-
teiligungen der Schweiz aufstellt, abhängig.
Nach dem Entscheid des Bundesrates, den Entwurf für ein institutionelles Rahmen-
abkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen, informierte die Europäische Kommis-
sion die Schweiz am 12. Juli 2021, dass die Schweiz bis auf Weiteres für alle Aus-
schreibungen von Horizon Europe sowie für verwandte Programme und Initiativen
als nicht-assoziierter Drittstaat gelte. Die Kommission betonte zudem, dass ohne Klä-
rung der institutionellen Fragen zwischen der EU und der Schweiz keine weiteren
Schritte in den Sondierungsgesprächen oder Verhandlungen zur Assoziierung erfol-
gen würden. Die Frage der Assoziierung der Schweiz am Horizon-Paket wurde dabei
im Gesamtzusammenhang der bilateralen Beziehungen betrachtet.
Schweizer Übergangsmassnahmen für das Horizon-Paket 2021–2027
Im Status eines nicht assoziierten Drittstaats können Schweizer Akteure in Forschung
und Innovation an etwa zwei Dritteln der Ausschreibungen des Horizon-Pakets teil-
nehmen, wobei sie keine Finanzierung durch die EU erhalten. Um die Auswirkungen
des Drittstaat-Status gezielt abzufedern, hat der Bundesrat für die Ausschreibungen
von 2021 bis 2024 jährlich Übergangsmassnahmen beschlossen. Diese beliefen sich
insgesamt auf rund 2,5 Milliarden Schweizer Franken. Einerseits wurde damit der
Budgetanteil von Schweizer Forschenden bei den noch zugänglichen Ausschreibun-
gen finanziert, andererseits wurden nationale Ersatzausschreibungen für nicht-zu-
gängliche Teile des Programms angeboten. Die projektweise Finanzierung war bereits
in der Finanzierungsbotschaft vorgesehen gewesen. Finanziert wurden die Über-
gangsmassnahmen aus den im Rahmen des Bundesbeschlusses über die Teilnahme
am Horizon-Paket 2021-2027 bereitgestellten Mitteln. Auf die Budgetierung des
Pflichtbeitrags wurde ab 2024 verzichtet und es wurden nur noch die Mittel für die
Übergangsmassnahmen eingestellt. Ab dem Voranschlag 2026 ist vorgesehen, dass
der Bundesrat erneut einen Pflichtbeitrag budgetiert.
2.8.2.3.2
Die indirekte Teilnahme der Schweiz an den europäischen
Bildungsprogrammen seit 2014
Die Schweiz beteiligt sich seit 1992 mit wechselndem Beteiligungsstatus an den EU-
Bildungsprogrammen. Eine vollumfängliche Assoziierung bestand in den Jahren
1992-1994 und 2011-2013. Dazwischen und seit 2014 beteiligte sich die Schweiz in-
direkt als Drittstaat und daher mit eingeschränktem Zugang zu den Programmaktivi-
täten.
Nach Annahme der Masseneinwanderungsinitiative 2014 wurden die bereits aufge-
nommenen Verhandlungen zu einer Assoziierung an das Programm Erasmus+ 2014-
2020 vonseiten der EU vorzeitig beendet. Infolgedessen entschied sich der Bundesrat
ab 2014 alternativ für jährliche Übergangslösungen. Seit 2018 wird die sogenannte
«Schweizer Lösung» (auch bekannt als «Schweizer Programm zu Erasmus+», «Über-
gangslösung für Erasmus+», Swiss European Mobility Programme für den Hoch-
schulbereich) in Form eines von der Schweiz direkt finanzierten, mit Erasmus+ kom-
patiblen Förderprogramms von Movetia umgesetzt und seit 2021 über die BFI-
488 / 931
Botschaften finanziert. Eine Assoziierung an die von 2021-2027 laufende Programm-
generation von Erasmus+ konnte 2021 nicht realisiert werden. Die Europäische Kom-
mission vertrat, wie im Bereich Forschung und Innovation, die Haltung, dass ohne
Klärung der institutionellen Fragen zwischen der EU und der Schweiz keine weiteren
Schritte zu einer Assoziierung erfolgen könnten.
Über die «Schweizer Lösung» entwickelte die Schweiz die internationale Zusammen-
arbeit und Mobilität in der Bildung weiter. Die Beteiligungszahlen konnten laufend
ausgebaut werden, im Jahr 2024 konnten Mobilitäten von über 16 400 Personen über
alle Programme (inkl. Länder ausserhalb Europas) gefördert werden. 2017 waren dies
rund 11 200 Personen. Das Wachstum fällt jedoch heute im Vergleich zu anderen, an
Erasmus+ assoziierten Ländern niedriger aus. Zudem kann sich die Schweiz nur ein-
geschränkt an Aktivitäten und Massnahmen von Erasmus+ beteiligen.
«Schweizer Lösung»
Die im Rahmen der «Schweizer Lösung» geförderten Aktivitäten stehen allen Institu-
tionen sämtlicher Bildungsbereiche offen. Sie orientieren sich weitgehend an den
Hauptschwerpunkten von Erasmus+ und sind mit diesen kompatibel. Die Zusammen-
arbeit von Schweizer Institutionen mit Partnern aus Erasmus+-Programmländern ist
somit in gewissen Bereichen möglich. Jedoch ist der Zugang zu den Aktivitäten und
Mitteln der Erasmus+-Förderinstrumente für Schweizer Institutionen und Organisati-
onen im Vergleich zu solchen aus Erasmus+-Programmländern stark eingeschränkt.
Die «Schweizer Lösung» berücksichtigt dies und bietet, wo möglich, parallele Ersatz-
massnahmen. Es werden folgende Kategorien des Zugangs unterschieden:
–
Offener Zugang:
Schweizer Akteure haben uneingeschränkten Zugang zu
Aktivitäten und Mitteln des Erasmus+-Förderinstruments und können Mit-
tel bei der EU-Kommission beantragen.
–
Eingeschränkter Zugang:
Schweizer Akteure können zwar teilnehmen, ha-
ben aber im Unterschied zu Institutionen aus Erasmus+-Programmländern
weniger Rechte und erhalten nur in Einzelfällen eine finanzielle Unterstüt-
zung durch Erasmus+-Mittel. In der Regel werden sie deshalb direkt mit
Schweizer Mitteln unterstützt.
–
Blockierter Zugang, parallele Ersatzmassnahmen:
Schweizer Akteure ha-
ben keinen Zugang zu Aktivitäten und Mitteln des Erasmus+-Förderinstru-
ments. Die «Schweizer Lösung» bietet parallele Ersatzmassnahmen, die di-
rekt mit Schweizer Mitteln finanziert werden.
–
Blockierter Zugang, keine parallelen Massnahmen:
Schweizer Akteure ha-
ben keinen Zugang zu Aktivitäten und Mitteln des Erasmus+-Förderinstru-
ments. Die «Schweizer Lösung» bietet keine parallelen Ersatzmassnahmen.
Wie die Übersicht im Anhang 2.8 (1) aufzeigt, hat die Schweiz vollen oder einge-
schränkten Zugang nur zu rund einem Drittel der im Rahmen von Erasmus+ insgesamt
möglichen Aktivitäten. Zu den restlichen Aktivitäten ist der Zugang für Schweizer
Institutionen und Organisationen blockiert. Dies gilt insbesondere für die Mobilität
489 / 931
von Einzelpersonen. Für einen Drittel dieser Aktivitäten mit blockiertem Zugang wer-
den Ersatzmassnahmen geboten. Diese umfassen Aktivitäten, die auf die Förderin-
strumente von Erasmus+ gestützt sind, jedoch werden sie vollumfänglich mit Schwei-
zer Mitteln finanziert, d.h. die Schweiz finanziert dabei – im Unterschied zu
Erasmus+-Programmländern – sowohl eingehende als auch ausgehende Mobilität.
Die Zusammenarbeit von Organisationen und Institutionen ist nur teilweise möglich,
ebenso die politische Zusammenarbeit.
Begleitmassnahmen im Rahmen der «Schweizer Lösung»
Auch im Rahmen der «Schweizer Lösung» werden nationale Begleitmassnahmen um-
gesetzt, um die optimale Wirkung und Nutzung der Förderaktivitäten zu unterstützen.
Für diejenigen Massnahmen, zu denen die Schweiz keinen Zugang zum Netzwerk auf
EU-Ebene hat, werden autonome, parallele Massnahmen angeboten. Ein wesentlicher
Teil der Begleitmassnahmen wird von der nationalen Agentur Movetia umgesetzt.
Dazu gehören beispielsweise Promotionstätigkeiten, Vernetzungsaktivitäten, vorbe-
reitende Besuche sowie Massnahmen zur Qualitätssicherung und Akkreditierung der
antragstellenden Institutionen und Organisationen. Zu den Begleitmassnahmen, die
durch andere Akteure verantwortet werden, gehören spezialisierte Durchführungs-
und Kontaktstellen, Netzwerke und Initiativen. Diese unterstützen die nationalen Ak-
teure, die Informationsverbreitung und die Vernetzung an der Schnittstelle zwischen
Schweizer und EU-Aktivitäten sowie auf nationaler Ebene. Dazu zählen das Schwei-
zer Informations- und Verbindungsbüro
SwissCore
in Brüssel, das Informationsnetz
zum Bildungswesen in Europa
Eurydice
, das Informationsnetzwerk
Eurodesk
zum
Thema Auslandsaufenthalte für junge Menschen,
Euroguidance
, welches die Interna-
tionalisierung in der Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung unterstützt, sowie die
Beteiligung an der Organisation
Academic Cooperation Association (ACA
), welche
die Internationalisierung in der Hochschulbildung fördert.
2.8.2.4
Die Bedeutung einer Assoziierung der Schweiz an den BFI-
Programmen der EU
2.8.2.4.1
Dringlichkeit einer Assoziierung am Horizon-Paket 2021-
2027
Einer Assoziierung der Schweiz am «Horizon-Paket 2021–2027» ist für die nationale
Forschungslandschaft aber auch für die Wirtschaft von hoher Bedeutung. In den letz-
ten Jahren gab es mehrere öffentliche Aussprachen und Stellungnahmen von Vertre-
terinnen und Vertretern der Schweizer Forschungs- und Innovationslandschaft, die
eine Assoziierung der Schweiz an das Horizon-Paket forderten. Darüber hinaus wur-
den zwischen 2021 und 2024 zahlreiche parlamentarische Vorstösse und Standesini-
tiativen eingereicht, die dasselbe Ziel verfolgten (s. Ziff. 1.5).
Positive Auswirkungen der Assoziierung
Eine Assoziierung an das Horizon-Paket bringt mehrere wichtige positive Auswirkun-
gen, darunter den Zugang zu exzellenter Wissenschaft, Innovation und Vernetzung,
die Förderung der internationalen Zusammenarbeit und Intensivierung des Wettbe-
werbs sowie die Reduktion der administrativen Mehrbelastung, die durch den Status
der Nichtassoziierung entstanden ist.
490 / 931
Durch die Assoziierung erhalten Akteure in Forschung und Innovation in der Schweiz
wieder ungehinderten Zugang zu sämtlichen Programmbereichen, insbesondere den
Einzelprojekten, darunter die Ausschreibungen des Europäischen Forschungsrats
(ERC), der themenoffene Spitzenforschung fördert, des Europäischen Innovationsrats
(EIC), der Innovationen und neue Technologien unterstützt, sowie die meisten Marie-
Skłodowska-Curie-Aktionen (MSCA), welche internationale Programme zur Förde-
rung des wissenschaftlichen Nachwuchses anbieten.
Die Auswirkungen einer Assoziierung und insbesondere der Teilnahme an Einzelpro-
jekten wurden in einer vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation,
SBFI, in Auftrag gegebenen Kurzstudie untersucht, bei welcher die wissenschaftliche
Literatur und Förderdaten für die Jahre 2018 und 2019 analysiert sowie Fachgesprä-
che geführt wurden.
455
Daraus wurden fünf Effekte identifiziert, die zeigen, wie eine Assoziierung das
Schweizer Forschungs- und Innovationssystem stärkt und zur Sicherung des Wohl-
stands und der Wettbewerbsfähigkeit beiträgt:
1.
Intensivierung des Wettbewerbs:
Wettbewerb fördert die Qualität von
Forschungs- und Innovationsprojekten, da eine stärkere Konkurrenz um
Fördermittel
besteht.
Durch
eine
Assoziierung
an
die
EU-
Rahmenprogramme kann die Schweiz von einem intensiveren und interna-
tionalen Wettbewerb profitieren.
2.
Reputationseffekt:
Die international renommierten Einzelförderungen bie-
ten den Geförderten Vorteile wie bessere Chancen auf Beförderungen oder
neue Stellen, erhöhte Sichtbarkeit und die Gewinnung von Kooperations-
partnern. Dies gilt auch für ihre Institutionen, welche vom guten Ruf ihrer
Forschenden profitieren können. KMU und Start-ups können gegenüber In-
vestoren und Kunden ihre Seriosität und Innovationskraft signalisieren.
3.
Brain-Gain
-Effekt:
Mit einer Assoziierung und dem Zugang zum renom-
mierten ERC kann die Schweiz exzellente Forschende anwerben.
4.
Leverage
-Effekt:
Einzelförderungen unterstützen Forschende, KMU und
Start-ups dabei, zusätzliche öffentliche (
Leverage
) und private (
Crowding-
in
)
Fördermittel zu erhalten.
5.
Vernetzungseffekt:
Die EU-Rahmenprogramme fördern die Vernetzung
von Forschenden, KMU und Start-ups, was sowohl die persönliche Karri-
ere- und Geschäftsentwicklung als auch den Wissensaustausch und die Wis-
sensdiffusion stärkt. Diese Vernetzung hat positive Auswirkungen auf Pro-
duktivität und Wachstum.
455
Abrufbar unter: www.sbfi.admin.ch > Forschung und Innovation > Internationale For-
schungs- und Innovationszusammenarbeit > EU-Rahmenprogramme > Zahlen und Fakten
zur Schweizer Beteiligung > Einzelförderung der EU-Rahmenprogramme für Forschung
und Innovation: Auswirkungen der Schweizer Beteiligung.
491 / 931
Im Status eines nicht assoziierten Drittlandes ist der Schweiz ein erheblicher admi-
nistrativer Aufwand entstanden. Die Mittelverwaltung und die finanztechnische Prü-
fung der Projekte müssen im Rahmen der Übergangsmassnahmen durch das SBFI
übernommen werden, was zusätzliche Mittel und Personalressourcen erfordert. Im
Falle einer Assoziierung entfallen diese administrativen Mehrbelastungen für die Aus-
schreibungen ab dem Zeitpunkt der Assoziierung. Die bereits eingegangenen Projekt-
verpflichtungen im Drittland-Status müssen jedoch vom SBFI und seinen Partneror-
ganisationen bis zum Ende der Projekte, das heisst bis circa 2035, weiter begleitet
werden. Die wissenschaftliche Evaluation von Projekten, die finanztechnische Prü-
fung sowie die Auszahlung der Mittel werden bei einer Assoziierung wieder direkt
durch die Europäische Kommission erfolgen, was den administrativen Aufwand für
die Schweiz deutlich reduzieren würde. Zudem kann die Europäische Kommission
dank ihrer umfassenden Prüfkapazitäten von Skaleneffekten profitieren, was die Effi-
zienz weiter steigert und die administrativen Kosten senkt.
Im assoziierten Status können Akteure in Forschung und Innovation in der Schweiz
auch wieder vollwertige Partner in Verbundprojekten werden und die bedeutsame
Rolle der Projektleitung übernehmen, in welcher sie massgeblich zur Gestaltung und
Durchführung von Forschungs- und Innovationsprojekten beitragen können.
Dringlichkeit der Assoziierung
Das Jahr 2025 ist für die Beteiligung an Horizon Europe von besonderer Bedeutung,
da es den Beginn des neuen strategischen Plans für die Jahre 2025-2027
456
markiert.
Dieser Plan legt die strategischen Leitlinien für die letzten drei Jahre von Horizon
Europe fest und zielt darauf ab, die Investitionen in Forschung und Innovation auf
globale Herausforderungen wie Klimawandel, Verlust der biologischen Vielfalt und
digitaler Wandel auszurichten. Durch eine provisorische Assoziierung ab 2025 bzw.
eine vorläufige Anwendung des EUPA
457
können Teilnehmende in der Schweiz früh-
zeitig von den neuen Prioritäten und Fördermöglichkeiten profitieren und ihre For-
schungsstrategien entsprechend ausrichten. Dies bietet Planungssicherheit und er-
möglicht eine optimale Vorbereitung auf die kommenden Programmjahre.
Die Dringlichkeit einer Assoziierung ergibt sich auch dadurch, dass die Ausschrei-
bungen des Jahres 2025 bereits angelaufen sind. Mit einer Assoziierung zu einem spä-
teren Zeitpunkt riskiert die Schweiz, von zentralen Initiativen ausgeschlossen zu wer-
den und damit wertvolle Möglichkeiten zur Teilnahme an wegweisenden Projekten,
insbesondere im digitalen Bereich, zu verspielen. Die baldmöglichste Assoziierung
ist entscheidend, um weiterhin aktiv im internationalen Wettbewerb um Forschungs-
förderung und in Innovationsprojekte mitwirken zu können.
Die Assoziierung ermöglicht auch die Teilnahme an zahlreichen Aktivitäten im Rah-
men der Forschungsinfrastruktur ITER und des Programms Digital Europe (DEP), die
456
Abrufbar unter: www.research-and-innovation.ec.europa.eu > Funding > Funding opportu-
nities > Funding programmes and open calls > Horizon Europe > Strategic plan.
457
Die vorläufige Anwendung des EUPA wird mit der Ratifizierung, spätestens aber 2028 be-
endet. Bei einer Ratifizierung tritt das Abkommen (inkl. Protokolle) definitiv in Kraft. Ein
bestehendes Abkommen ist auch Voraussetzung für den Abschluss weiterer Protokolle zur
Teilnahme an zukünftigen Programmgenerationen.
492 / 931
für nicht assoziierte Drittländer nicht zugänglich sind. Für Schweizer Kompetenzzen-
tren im Bereich Fusionsforschung (z. B. das Swiss Plasma Center) ist die fehlende
Anbindung an europäische Initiativen wie ITER gravierend. Ebenso können Schwei-
zer Firmen nicht mehr von attraktiven Dienstleistungsverträgen für den Bau von ITER
profitieren, welche wiederum für die Weiterentwicklung der entsprechenden Techno-
logien und des technologischen Know-hows in der Schweiz wichtig sind
Für Forschungszwecke in Bereichen wie Gesundheit und Klima werden immer grös-
sere und stärkere digitale Infrastrukturen und Plattformen benötigt. Die Kosten für die
Entwicklung, die Beschaffung und den Betrieb solcher Infrastrukturen steigen laufend
und sind für ein einzelnes Land allein kaum tragbar. Eine Bündelung von nationalen
Ressourcen und Kapazitäten, wie im Rahmen des DEP vorgesehen, ist deshalb unab-
dingbar.
Zudem gibt es Bereiche wie die Quantentechnologie oder Raumfahrt, die von der EU
als strategisch wichtig eingestuft werden, und für nicht assoziierte Länder grundsätz-
lich nicht zugänglich sind. Voraussetzung für den Zugang sind die Assoziierung sowie
gegebenenfalls das Bestehen eines zusätzlichen Assessments. In diesen Bereichen hat
die Schweiz oft eine weltweit führende Rolle oder verfügt über einzigartiges
Know-
how
. Der Ausschluss der Schweiz bedeutet, dass langjährige Forschungsarbeiten und
die Zusammenarbeit mit europäischen Partnern nicht mehr weitergeführt werden
konnten, und nur ein erschwerter Zugang zu entsprechenden Forschungsergebnissen
besteht.
458
Die Schweiz riskiert damit, ihre Spitzenstellung zu verlieren.
Die Assoziierung an die laufende Programmgeneration ist auch ein entscheidender
Schritt für die Beteiligung an zukünftigen EU-Programmen, insbesondere dem Nach-
folgeprogramm von Horizon Europe. Damit verschafft sich die Schweiz eine stärkere
Ausgangslage für zukünftige Verhandlungen, da sie als aktive und zuverlässige Part-
nerin im bestehenden Horizon-Paket anerkannt wird.
Es ist von grosser Bedeutung, dass die Schweiz ihre Spitzenposition im Bereich For-
schung und Innovation beibehält. Je länger die Phase der Nicht-Assoziierung dauert,
desto grösser die Gefahr, dass hochqualifizierte Forschende und innovative Unterneh-
men, die im benachbarten Ausland attraktivere Bedingungen vorfinden, abwandern.
Langfristig könnte dies nicht nur den Verlust der führenden Position der Schweiz im
globalen Forschungs- und Innovationssektor bedeuten, sondern auch die Attraktivität
des Standorts Schweiz für zukünftige Talente und Investitionen mindern.
2.8.2.4.2
Bedeutung einer Assoziierung an Erasmus+
Ziele der Schweizer Bildungspolitik im Rahmen der internationalen Bildungszusam-
menarbeit
Internationale Mobilitätsaktivitäten für Studierende, Berufslernende, Lernende ande-
rer Bildungsbereiche sowie für ausbildende Personen bieten insbesondere jungen
Menschen die Chance, sich arbeitsmarktrelevante Kompetenzen anzueignen, sich per-
458
Abrufbar unter: www.sbfi.admin.ch > Forschung und Innovation > Internationale For-
schungs- und Innovationszusammenarbeit > EU-Rahmenprogramme > Horizon-Paket
2021–2027.
493 / 931
sönlich weiterzuentwickeln und zu lernen, sich in neuen und fremden Situationen zu-
rechtzufinden und zu bewähren. Internationale Kooperationen zwischen Einrichtun-
gen aller Bildungsbereiche, angefangen von der Primarstufe, über die Berufsbildung
bis hin zur höheren Berufsbildung und Hochschulbildung stellen eine wichtige Grund-
lage für den Aufbau und die Weiterentwicklung von internationalen Netzwerken dar.
Dadurch ermöglichen sie den Austausch von Wissen und Erfahrungen, die Entwick-
lung von neuen Strategien bis hin zu gemeinsamen Bildungsangeboten. Somit trägt
die Förderung von Mobilität und Kooperationen zur Exzellenz des Bildungsraums
Schweiz im Sinne von hoher Qualität und internationaler Wettbewerbsfähigkeit bei
und ist dadurch auch Teil der internationalen BFI-Strategie des Bundesrates.
Bund und Kantone orientieren sich im Rahmen ihrer Strategie zu Austausch und Mo-
bilität an der Vision, dass alle jungen Menschen im Verlauf ihrer Ausbildung mindes-
tens einmal an einem länger dauernden Austausch teilnehmen.
459
Gemeinsam setzen
sie sich dafür ein, dass Austausch und Mobilität als Teil des Bildungscurriculums an-
erkannt und höhere Beteiligungszahlen und bessere Qualität erreicht werden. Aus-
tausch und Mobilität sollen in der Bildung und in der Arbeitswelt verankert und ziel-
gerichtete Angebote etabliert werden. Stabile Partnerschaften sollen aufgebaut und
die Zusammenarbeit mit Dritten auf nationaler und internationaler Ebene intensiviert
werden. Bund und Kantone haben die Bedeutung von Austausch und Mobilität auch
in den gemeinsamen bildungspolitischen Zielen unterstrichen.
460
Im Zuge dessen
wurde in der 2023 revidierten Verordnung über die Anerkennung von gymnasialen
Maturitätszeugnissen die Schaffung von Voraussetzungen für die Teilnahme an Aus-
tausch- und Mobilitätsaktivitäten als Mindestanforderung definiert, damit ein kanto-
nales oder kantonal anerkanntes gymnasiales Maturitätszeugnis schweizerisch aner-
kannt wird.
461
Vor diesem Hintergrund erachtet der Bundesrat die Teilnahme der Schweiz an Eras-
mus+ als strategisches Ziel, um in einem Umfeld starker internationaler Konkurrenz
die Internationalisierung der Schweizer Bildungsakteure zu fördern und weiterzuent-
wickeln.
Bedeutung der Schweizer Beteiligung am Programm Erasmus+
Erasmus+ ist ein einzigartiges Instrument zur Förderung der internationalen Bildungs-
zusammenarbeit. Es kennt weltweit keine Alternative hinsichtlich Umfang, Vielfalt
der Beteiligungs- und Kooperationsmöglichkeiten und Internationalität. Im Gegensatz
dazu ist die aktuelle «Schweizer Lösung» klar begrenzt. So ist im Bereich der Mobi-
lität der Zugang zu den meisten Aktivitäten blockiert. Trotz parallelen Ersatzmass-
nahmen kann die Schweiz nicht dieselben Vorteile geniessen wie die Erasmus+-Pro-
grammländer und muss sowohl eingehende als auch ausgehende Mobilität mit
eigenen Mitteln finanzieren. Sie ist zudem vollumfänglich von der Bereitschaft der
459
Abrufbar unter: www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > Bund und Kan-
tone genehmigen gemeinsame Strategie für Austausch und Mobilität.
460
Abrufbar unter: www.sbfi.admin.ch > Bildung > Bildungsraum Schweiz > Bildungszu-
sammenarbeit Bund – Kantone > Gemeinsame Grundlagen > Erklärung 2023 zu den ge-
meinsamen bildungspolitischen Zielen für den Bildungsraum Schweiz.
461
Art. 22 Abs. 2 Verordnung über die Anerkennung von gymnasialen Maturitätszeugnissen
(Maturitätsanerkennungsverordnung, MAV) vom 28. Juni 2023, SR
413.11
.
494 / 931
europäischen Partner abhängig, ausserhalb von Erasmus+ separate Lernmobilität zu
organisieren. Bei den Kooperationsprojekten zur Entwicklung der Qualität und Inno-
vation in der Bildung können Schweizer Institutionen keine Projekte initiieren und
koordinieren. Hinzu kommt die erschwerte und nicht vollständig gleichberechtigte
Beteiligung an internationalen Netzwerken, der permanent das Risiko eines systema-
tischen Ausschlusses aus strategisch relevanten EU-Initiativen, wie der European
Universities Initiative, beinhaltet.
Die finanziellen Mittel für Förderaktivitäten erlauben bei aktueller Mittelausstattung
kaum Wachstum in den geförderten Mobilitäten und Aktivitäten – die Erreichung der
politisch gesetzten Ziele bleibt damit in weiter Ferne. Zwar verdoppelte sich das
Budget für die «Schweizer Lösung» von über 29 Millionen Franken im Jahr 2014 auf
knapp 58 Millionen Franken im Jahr 2027. Allerdings lag das Niveau im Jahr 2014
wesentlich unter dem Budget, das die Schweiz im Falle einer vollumfänglichen As-
soziierung hätte beitragen müssen. Zudem hat sich in derselben Periode seit 2014 das
entsprechende Budget von Erasmus+ praktisch verdreifacht. Diese immer grösser
werdende Kluft kann dazu führen, dass die Schweiz ohne Assoziierung mittel- bis
langfristig den Anschluss bei der Förderung der internationalen Mobilität in der Bil-
dung und an die europäische Bildungszusammenarbeit verliert, mit entsprechenden
Konsequenzen für die Attraktivität und Leistungsfähigkeit ihres Bildungssystems.
Somit ermöglicht einzig die Assoziierung an Erasmus+ der Schweiz einen uneinge-
schränkten und rechtlich gesicherten Zugang zu allen Mobilitäts- und Kooperations-
aktivitäten sowie zu Massnahmen zur Unterstützung der Politikentwicklung im Be-
reich Bildung, Jugend und Sport. Sie schafft nicht nur kurzfristige Vorteile aufgrund
von verstärkter Mobilität für Einzelpersonen und erweiterter Kooperationsmöglich-
keiten für Bildungsakteure, sondern trägt auch wesentlich zum Aufbau und zur Wei-
terentwicklung langfristiger, strukturierter internationaler Netzwerke mit Schweizer
Beteiligung bei. Damit kann die Grundlage für eine langfristige Förderung der Inno-
vationskraft des Schweizer Bildungsraums und die Stärkung des Wissenstransfers ge-
legt werden. Die Assoziierung ist somit der Schlüssel für die Erhaltung und Stärkung
der Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität der Schweiz und damit ihrer Position als
führende Bildungs- und Wissenschaftsnation in Europa und darüber hinaus (siehe An-
hang 2.8 (2) für einen Vergleich der «Schweizer Lösung» mit einer Assoziierung an
Erasmus+).
Internationale Lernmobilität von Einzelpersonen
Die internationale Lernmobilität hat durch die grenzüberschreitende Vernetzung von
Wirtschafts-, Forschungs- und Bildungsräumen stetig an Bedeutung gewonnen und
umfasst somit alle Bildungsbereiche einschliesslich den ausserschulischen Jugendbe-
reich und den Sport. Die Grundlagen für den Erwerb und Aufbau von internationalen
Kompetenzen werden bereits in der schulischen Bildung und der ausserschulischen
Jugendarbeit geschaffen: Frühe Mobilitäts- und Austauscherfahrungen (z.B. interna-
tionale Klassen- oder Jugendaustausche) motivieren dazu, entsprechende Aktivitäten
bei der beruflichen oder akademischen Ausbildung (z.B. Berufspraktika oder Studi-
ensemester im Ausland) zu wiederholen. Im Bereich der Berufsbildung ist der Aufbau
von internationalen Kompetenzen und Netzwerken insbesondere für die Berufsleute
in Wirtschaftssektoren relevant, die stark von technologischem Wandel und globaler
495 / 931
Vernetzung betroffen sind. Beispielsweise profitieren Lernende in der Maschinen-,
Elektro- und Metall-Industrie, in der ICT-Branche und im kaufmännischen Bereich
besonders davon, erste internationale Arbeitserfahrungen zu sammeln und so ihre
Sprach- und Fachkompetenzen erweitern zu können. Auch später in der Erwachsenen-
und Weiterbildung bleibt die Lernmobilität relevant, um arbeitsmarktbezogene Kom-
petenzen anzueignen. Auch für den Bereich des Sports bietet internationale Lernmo-
bilität einen wichtigen Mehrwert: Beispielsweise können Personen, die in Organisa-
tionen des Breitensports tätig sind, durch einen Auslandaufenthalt ihre Kompetenzen
und Qualifikationen verbessern und neue Methoden erwerben.
Die Mobilität von Ler-
nenden aller Bildungsbereiche
erlaubt Studierenden, Berufslernenden und anderen
Lernenden den Erwerb von interkulturellen, sprachlichen, persönlichen sowie erwei-
terten fachlichen und methodischen Kompetenzen, welche im heutigen internationa-
len Umfeld unabdingbar sind. Der positive Einfluss von Mobilität auf interkulturelle
und sprachliche Kompetenzen ist denn auch durch diverse nationale und internatio-
nale Studien für verschiedene Bildungsstufen belegt.
462
Auch bei der Entwicklung von
Selbst- und Sozialkompetenzen zeigen Auslandaufenthalte bedeutende Effekte.
463
Ei-
nige Studien deuten zudem auf einen Zusammenhang zwischen Auslandsaufenthalten
von Studierenden und positiven wirtschaftlichen Effekten bei der akademischen und
beruflichen Laufbahn hin.
464
Auslanderfahrungen während der Aus- und Weiterbil-
dung fördern vor allem bei jungen Menschen unter anderem den Aufbau von persön-
lichen internationalen Netzwerken, die für die spätere berufliche Tätigkeit von Be-
deutung sind.
Durch internationale Lernmobilitätsaktivitäten erwerben auch ausbildende Personen
(Lehrkräfte, Dozierende, Ausbildner und andere Bildungsverantwortliche) wichtige
Zusatzkompetenzen, die für ihre Tätigkeiten als Multiplikatoren und Motivatoren im
Bildungssystem wichtig sind. Zudem wird so ein Fundament für die längerfristige in-
ternationale Vernetzung und Kooperation der Institutionen und Organisationen ge-
schaffen: Aktivitäten auf individueller Ebene führen zu verschiedenen Folgeaktivitä-
ten auf institutioneller Ebene – von gemeinsamen Veröffentlichungen bis hin zu
strukturierten institutionellen Kooperationen.
465
Erasmus+ bietet für alle Zielgruppen und Bildungsbereiche die bisher vielfältigsten
Möglichkeiten für Mobilitätsaktivitäten. Die höheren Fördermittel haben seit 2014
462
Vgl. hierzu: Heinzmann S., Paul S., Hilbe R. und Schallhart N.: Sprachaustausch auf der
Primarstufe, Einfluss auf die Sprachlernmotivation und die produktiven Sprachkompeten-
zen, Freiburg: Institut für Mehrsprachigkeit (2019); Moore, I., Torgerson C., and Beck-
mann N.: Systematic Review Measuring the Efficacy of Study Abroad in Undergraduate
Language Learners on Linguistic Proficiency Gains. Review of Education (2021), Bd. 9,
Nr. 3, S. 1–26.
463
Vgl. hierzu: Zimmermann J.T., Greischel H., Preuss J.S., Kercher J. und Kittel R.: Teilstu-
die 1: Aussercurriculare Bildungseffekte von Auslandaufenthalten, Abschlussbericht,
DAAD-Wirkungsstudie interkulturelle Kompetenz und Werteorientierung durch Individu-
almobilität und Erasmus+ (2018).
464
Vgl. hierzu: Netz N., Cordua F.: Does studying abroad influence graduate‘s wages? A lit-
erature review, in: Journal of International Students (2021), Bd. 11 Nr. 4, S. 768-789; Mes-
ser Dolores, Wolter Stefan: Are student exchange programs worth it? Studies in Higher ed-
ucation (2007).
465
Siehe hierzu: ”Driving Impact of Erasmus+ Outgoing Academic Staff Mobility: Current
Landscape and Pathways for the Future“, vgl.: www.aca-secretariat.be > publications > all
publications > 2024.
496 / 931
praktisch zu einer Verdoppelung der absolvierten Lernmobilitäten auf europäischer
Ebene geführt. Die Nachbarländer verfügen dank ihrer Programmteilnahme heute im
Vergleich zur Schweiz über eine deutlich erhöhte Mobilitätsquote. Eine Assoziierung
ermöglicht es auch der Schweiz, längerfristig das vorhandene Potential für Lernmo-
bilitäten voll auszuschöpfen. Dies gilt insbesondere für Bereiche, in denen Nachhol-
bedarf besteht (Berufsbildung, Schulbildung, gymnasialer Bereich, Weiterbildung,
Jugend, Sport).
Gewisse Schwerpunkte von Erasmus+ sind zudem für Schweizer Zielgruppen wichtig
– so zum Beispiel die verstärkte aussereuropäische Dimension des Programms. Eine
Assoziierung sichert somit nicht nur Opportunitäten für Lernmobilität in Europa, son-
dern auch im aussereuropäischen Raum, was angesichts der globalen wirtschaftlichen
Verflechtungen der Schweiz essenziell ist.
Internationale Kooperationen
Die Qualität und Attraktivität des Schweizer Bildungsraums hängt auch von der ste-
tigen Verbesserung und Weiterentwicklung der Bildungsangebote ab. Vernetzung,
Austausch und Zusammenarbeit mit internationalen Partnern sind für die Institutionen
und Organisationen in der Bildung eine wichtige Basis, um neue Entwicklungen auf-
zunehmen, gemeinsame Bildungsangebote und Bildungsinnovationen zu entwickeln
sowie neue Methoden zu integrieren. Solche etablierten Partnerschaften begünstigen
ihrerseits wiederum die Durchführung von internationalen Lernmobilitätsaktivitäten.
Ein Schwerpunkt der institutionellen Kooperationen ist die Exzellenzförderung, wel-
che auch Ziel der Schweizer BFI-Politik ist: Die zwei Schlüsselinitiativen «European
Universities Initiative» (EUI) und «Centres of Vocational Excellence» (CoVE) be-
zwecken die Förderung der Vernetzung von Akteuren auf regionaler und internatio-
naler Ebene in der Hochschulbildung und in der Berufsbildung. In der Schweiz ist
insbesondere das Interesse an den europäischen Hochschulallianzen im Rahmen der
EUI, an denen die Schweiz seit 2022 mit Einschränkungen teilnehmen kann, gross.
Die Bewerbungen von Schweizer Hochschulen sind im europäischen Vergleich sehr
erfolgreich: Inzwischen sind bereits 12 Schweizer Hochschulen – sowohl Universitä-
ten als auch Fachhochschulen - Teil einer europäischen Hochschulallianz. Neben den
Bildungsinstitutionen im engeren Sinn profitieren auch ausbildende Unternehmen,
Organisationen der Arbeitswelt und andere in der Bildung aktive Organisationen. Bei-
spielsweise arbeiten einzelne Schweizer Branchenverbände mit ihren europäischen
Partnern zusammen, um gemeinsame grenzüberschreitende Qualifikationsstandards
oder technologische Innovationen für die Ausbildung zu entwickeln.
Institutionelle Kooperationen erhöhen auch die internationale Sichtbarkeit des
Schweizer Bildungssystems, indem Schweizer Projektpartner spezifische Expertise –
zum Beispiel in der dualen Berufsbildung – einbringen und dadurch die Stärken des
Schweizer Bildungssystems und seine Bildungsabschlüsse international besser be-
kannt machen.
Bei einer Assoziierung an Erasmus+ bestehen, im Unterschied zur «Schweizer Lö-
sung» (s. Ziff. 2.8.2.3.2 und Anhang 2.8. (1)), umfangreiche und nicht eingeschränkte
Beteiligungsmöglichkeiten an Kooperationsprojekten für Schweizer Akteure. So kön-
nen diese den vollen Nutzen aus den Kooperationen ziehen und sind als Projektpartner
497 / 931
attraktiver. Der den Programmländern vorbehaltene Zugang zu neuen Aktivitäten und
Pilotinitiativen ist im Fall einer Assoziierung ebenfalls gesichert. Die bisherigen dop-
pelten Bewilligungsverfahren für die selbstfinanzierte Teilnahme an EU-Projekten im
Rahmen der «Schweizer Lösung» fallen weg.
Teilnahme an Prozessen zur Unterstützung der Politikentwicklung und der politischen
Zusammenarbeit sowie am europäischen strategischen Bildungsdialog
Die internationale Zusammenarbeit ist auch für die Akteure und Entscheidungsträger,
die für die Steuerung des Schweizer Bildungsraums zuständig sind, von zunehmender
Bedeutung (u.a. Bildungsbehörden, Sozialpartner, Berufs- und Branchenverbände,
bildungsstufenspezifische Fachkonferenzen). Internationale wirtschaftliche, gesell-
schaftliche und ökologische Entwicklungen prägen die bildungspolitischen Heraus-
forderungen auf nationaler Ebene mit. Um eine effiziente und effektive Bildungspo-
litik zu gewährleisten, gilt es deshalb, Erfahrungen sowie gute Ansätze und Ideen in
Bildungsthemen grenzüberschreitend auszutauschen, mit gleichgesinnten Partnern
neue Strategien zu entwickeln und zu erproben. Für die Schweiz ist es zudem von
strategischer Bedeutung, aktiv am europäischen Bildungsdialog teilzunehmen, ihre
bildungspolitischen Interessen international zu vertreten und den europäischen Bil-
dungsraum mitzugestalten. Das Lern- und Synergiepotential internationaler Zusam-
menarbeit ist bei systemischen Herausforderungen wie der Digitalisierung und der
grünen Transition besonders gross.
Erasmus+ sieht zwei verschiedene, miteinander verknüpfte Möglichkeiten für diese
Zusammenarbeit auf der politisch-systemischen Ebene vor: einerseits Projekte, wel-
che den politischen Dialog, die Zusammenarbeit und die Politikentwicklung unter-
stützen. Diese sollen zur Entwicklung neuer Strategien und Innovationen zur Weiter-
entwicklung der Bildung beitragen. Beispiele hierfür sind Pilotversuche für neue
Politikansätze, vergleichende Studien zur Erarbeitung von Entscheidgrundlagen oder
Massnahmen zur Verbesserung der Vergleichbarkeit von Qualifikationen. Bei einer
Assoziierung stehen solche Kooperationen auch Schweizer Akteuren offen.
Andererseits stellen die Programmgremien, Fachgremien und Netzwerke auf EU-
Ebene einen Kanal für Dialog, Erfahrungsaustausch und Mitgestaltung des europäi-
schen Bildungskontextes dar. Eine besondere Rolle hat dabei das Programmkomitee
Erasmus+, in welchem die wichtigsten Entscheide zur Ausgestaltung der Programm-
aktivitäten getroffen und strategische Leitplanken definiert werden. Der Zugang der
Schweiz zu diesen Gremien ist bis anhin eingeschränkt oder gar nicht möglich. Die
Schweiz muss sich aktuell hauptsächlich über bilaterale Kontakte einbringen, was auf-
wändig ist und keine Sicherheit bietet, dass ihre Anliegen auch berücksichtigt werden.
Eine Assoziierung eröffnet Schweizer Vertreterinnen und Vertretern auch hier den
vollen Zugang. Sie erhalten damit die Möglichkeit, am europäischen bildungspoliti-
schen Dialog zu partizipieren, die strategische Ausrichtung des Programms mitzuge-
stalten und die Sichtbarkeit der Schweizer Bildung auf europäischer Ebene zu verbes-
sern.
Transversale Themen
Die im Rahmen von Erasmus+ definierten transversalen Prioritäten (s. Ziff. 2.8.2.2.2)
entsprechen in hohem Masse den im Rahmen der BFI-Botschaft 2025–2028 gesetzten
498 / 931
transversalen Themen:
Digitalisierung, nachhaltige Entwicklung, Chancengerechtig-
keit, nationale und internationale Zusammenarbeit
. Diese Themen sind für den BFI-
Bereich von zentraler Bedeutung und müssen systematisch und langfristig in der BFI-
Politik berücksichtigt werden:
Mit Blick auf die Herausforderungen der
Digitalisierung
in der Bildung ermöglicht
eine Assoziierung an Erasmus+ den Schweizer Akteuren, vom Wissenstransfer bei
der Entwicklung, Anwendung und Nutzbarmachung von neuen Technologien zu pro-
fitieren und somit mit der Geschwindigkeit der digitalen Transformation im Bildungs-
bereich im europäischen Raum Schritt zu halten. Eine Assoziierung würde ebenfalls
ideale Rahmenbedingungen schaffen, um den Erwerb von Kompetenzen zu fördern,
die für die Gestaltung einer
nachhaltigen Entwicklung
notwendig sind. Die institutio-
nellen Kooperationen können einen wichtigen Beitrag zur Stärkung des BFI-Standorts
Schweiz leisten, indem die nachhaltige Entwicklung in den gemeinsam erarbeiteten
Bildungsgrundlagen berücksichtigt und so als Chance und Wettbewerbsvorteil ge-
nutzt wird. Für die Förderung der
Chancengerechtigkeit
bietet eine Assoziierung ei-
nen Mehrwert, indem sie Schweizer Akteuren vielfältigere Möglichkeiten eröffnet,
sich an Mobilitätsaktivitäten zu beteiligen, und so einen Beitrag zur Verringerung von
Benachteiligung in der Bildung leisten kann. Schliesslich unterstreicht die Aufnahme
von nationaler und internationaler Zusammenarbeit als neues transversales Thema die
Wichtigkeit der internationalen Zusammenarbeit als Instrument zur Sicherung und
Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Akteure.
2.8.2.5
Folgen bei einem Verzicht auf Assoziierung
Im Falle einer ausbleibenden Assoziierung müsste sowohl für das Horizon-Paket
2021-2027 als auch für Erasmus+ das aktuelle Regime der Übergangsmassnahmen,
beziehungsweise der «Schweizer Lösung» weitergeführt werden.
Ein Verzicht auf eine Assoziierung bedeutet einen eingeschränkten Zugang der
Schweizer Akteure zu den jeweiligen Programmen. Bei Horizon Europe betrifft dies
in erster Linie die Einzelförderung von exzellenten Schweizer Forschenden oder in-
novativen Unternehmen sowie strategische Bereiche, namentlich die Quantenfor-
schung und Raumfahrt. Die nationalen Übergangsmassnahmen sind hierbei kein adä-
quater Ersatz für den internationalen Wettbewerb. Für das Horizon-Paket verursacht
die Teilnahme im Drittstaatmodus einen weitreichenden administrativen Aufwand
beim SBFI. Während die eingesetzten Mittel zur Finanzierung der Schweizer Projekt-
teilnehmenden im Horizon-Paket vergleichbar sind mit den Mitteln im Rahmen einer
Assoziierung (sogenannte Pflichtbeiträge an die EU), erreichen sie nicht dieselbe Wir-
kung und werden demnach weniger effizient eingesetzt (s. Ziff. 2.8.7.4).
Für Erasmus+ impliziert ein Verzicht auf eine Assoziierung die Weiterführung der
sogenannten «Schweizer Lösung». Diese vermag inhaltlich jedoch nicht denselben
Nutzen und Mehrwert wie eine Assoziierung zu erzielen: Schweizer Institutionen ste-
hen in diesem Fall signifikant weniger Förderinstrumente und -mittel zur Verfügung.
Sie haben keinen gleichberechtigten und rechtlich gesicherten Zugang zum Programm
und nur erschwerte Möglichkeiten, sich an den Aktivitäten zu beteiligen (s. Ziff.
2.8.2.3.2 und Anhang 2.8 (1)). Zudem besteht bei einer Weiterführung der «Schweizer
499 / 931
Lösung» das Risiko, dass ein grosses Potential an Mobilitäts- und Kooperationsakti-
vitäten weiterhin brach liegt (s. Ziff. 2.8.2.4.2). Mittel- bis langfristig würden die Ab-
koppelung von der europäischen Bildungszusammenarbeit sowie der Verlust von
Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität des Schweizer Bildungsraums die komparati-
ven Nachteile für Schweizer Bildungsakteure und Lernende verschärfen.
Die Schweiz ist auf die internationale Zusammenarbeit im Bereich Bildung, For-
schung und Innovation angewiesen und riskiert mit einer Nicht-Assoziierung an die
entsprechenden Programme eine Erosion ihrer Stellung als führende Bildungs- und
Wissenschaftsnation.
2.8.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
2.8.3.1
Zielsetzung für EU-Programme im Allgemeinen
Das Ziel der Schweiz im Rahmen der Verhandlungen zum Paket Schweiz–EU war es,
ein Programmabkommen abzuschliessen, das die Grundlage für eine systematischere
Teilnahme an EU-Programmen von Schweizer Interesse darstellt. Gleichzeitig wurde
angestrebt, die Protokolle für diejenigen EU-Programme zu verhandeln, bei denen
sich die Schweiz, soweit möglich, in der Programmgeneration 2021-2027 beteiligen
will, das heisst für Horizon Europe, Euratom, ITER, Digital Europe und Erasmus+,
sowie für das Gesundheitsprogramm EU4Health (s. Ziff. 2.13).
Zu den weiteren Programmen, bei welchen eine Assoziierung möglich ist, gehören
unter anderen das Rahmenprogramm der EU zur Förderung des europäischen Kultur-
und Kreativsektors für den Zeitraum 2021–2027, «Kreatives Europa». Der Bundesrat
hat sein Interesse an einer Teilnahme an den Kulturprogrammen der EU wiederholt
bekräftigt und zuletzt im Rahmen der Kulturbotschaft 2025–2028 ausgewiesen. Auf-
grund der dafür notwendigen Gesetzesangleichungen war die Teilnahme in der lau-
fenden Programmgeneration nicht Gegenstand der Verhandlungen.
Ebenfalls nicht Gegenstand der Verhandlungen war die Teilnahme der Schweiz an
zukünftigen EU-Programmen. Während das EUPA die Grundlage für eine solche dar-
stellt, muss die Schweiz für jede Programmgeneration die Protokolle mit den spezifi-
schen Bedingungen für die Assoziierung neu verhandeln. Dabei kann sie jeweils auch
neu beurteilen an welchen für Drittstaaten zugänglichen Programmen sie sich assozi-
ieren möchte. Das Parlament kann sich im Rahmen der Finanzierungsbotschaften für
die einzelnen Programmteilnahmen zu einer Assoziierung äussern und darüber ent-
scheiden.
Vor dem Hintergrund der Annahme der parlamentarischen Initiative 20.496466 wird
der Bundesrat dabei für jede neue Programmgeneration, nach Vorliegen des neuen
Legislativvorschlags der EU-Kommission zu ihrem mehrjährigen Finanzrahmen so-
wie zu den EU-Programmen, einen Planungsbericht zuhanden der aussenpolitischen
Kommissionen der Bundesversammlung verfassen. Dieser Planungsbericht soll die
Beratung der Geschäfte (z.B. Finanzierungsbotschaften, Verordnungen, Verhand-
lungsmandate) unterstützen. Der erste Planungsbericht für die Programmgeneration
466
BB1
2024
30
500 / 931
2028–2034 würde der Bundesversammlung im Laufe des Jahres 2026 unterbreitet,
falls die oben erwähnten Vorschläge der EU-Kommission im Jahr 2025 vorliegen.
2.8.3.2
Verhandlungsmandat für das Paket Schweiz–EU: Teil EU-
Programme
Eine Assoziierung an das Horizon-Paket und Erasmus+ war auf Beginn der Pro-
grammgeneration 2021 geplant. Die entsprechenden Verhandlungsmandate wurden
vom Bundesrat am 11. Dezember 2020 (Horizon-Paket) bzw. am 5. März 2021 (Eras-
mus+) verabschiedet. Nach dem Abbruch der Verhandlungen mit der EU über das
institutionelle Rahmenabkommen im Mai 2021 war es jedoch nicht mehr möglich,
Verhandlungen über eine Assoziierung an die EU-Programme aufzunehmen, da die
EU diese im Lichte der Gesamtbeziehungen Schweiz-EU beurteilte.
Mit dem Paketansatz des Bundesrats wurde die Teilnahme an EU-Programmen in das
Paket Schweiz–EU eingebettet. Das entsprechende Verhandlungsmandat des Bundes-
rates vom 8. März 2024 gab folgende Leitlinien vor: (i) den Abschluss eines unbefris-
teten Abkommens, (ii) die Ermöglichung einer künftigen Assoziierung an weitere
Programme mittels Zusatzprotokollen, (iii) die Einhaltung des finanziellen Rahmens
der vom Parlament bereits genehmigten Mittel (Horizon-Paket 2021–2027) und (iv)
die Gewährleistung einer systematischeren und kontinuierlicheren Teilnahme an den
EU-Programmen.
467
2.8.3.3
Verhandlungsverlauf
Ende November 2023, nach Abschluss der exploratorischen Gespräche zum Paket
Schweiz–EU, konnten spezifische exploratorische Gespräche zur Teilnahme der
Schweiz an den EU-Programmen aufgenommen werden. Es fanden insgesamt sieben
Gesprächsrunden statt, welche zum Ziel hatten, die gegenseitigen Interessen auszulo-
ten und den Umfang einer Beteiligung der Schweiz an der Programmgeneration 2021-
2027 abzustecken. Nach Verabschiedung des Verhandlungsmandats zum Paket
Schweiz–EU seitens Schweiz und EU fand am 21. März 2024 die erste Verhandlungs-
runde zum EU-Programmabkommen statt.
Zur Aushandlung des vorliegenden Abkommens fanden insgesamt 13 Verhandlungs-
runden statt, die letzte am 10. Dezember 2024. Die Verhandlungsdelegation der
Schweiz setzte sich zusammen aus der Abteilung Internationale Programme und Or-
ganisationen des SBFI/WBF und der Abteilung Europa des Staatssekretariats EDA
(Co-Verhandlungsleitung), der Sektion EU und Nachbarstaaten des BAG/EDI, den
Abteilungen Internationales sowie Film des BAK/EDI, der Abteilung Direktionsge-
schäfte des ASTRA/UVEK, der Sektion Europa Handel und Entwicklungszusammen-
arbeit des Bundesamts für Umwelt BAFU/UVEK, des Finanzdienstes IV – Bildung,
Forschung, Kultur und Internationales der EFV, der Vertretung der Schweizer Mis-
sion in Brüssel und der KdK/EDK.
467
Abrufbar unter www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > Beziehungen
Schweiz–EU: Der Bundesrat verabschiedet das endgültige Verhandlungsmandat.
501 / 931
Mit Beginn der Verhandlungen zum Paket Schweiz–EU setzte die EU die Übergangs-
regelung 2024 in Kraft, die es Forschenden in der Schweiz ermöglichte, Gesuche im
Rahmen der Ausschreibung ERC Advanced Grants 2024 von Horizon Europe einzu-
reichen. Aufgrund der Fortschritte bei den Verhandlungen zum Paket Schweiz–EU
entschied die EU am 3. Juli 2024, dass Forschende in der Schweiz an den ersten drei
Ausschreibungen des Programmjahres 2025, namentlich dem ERC Starting Grant
2025, Synergy Grant 2025 und Consolidator Grant 2025, teilnehmen können. Am 12.
November 2024 kam der Zugang zum ERC Proof of Concept Grant 2025 dazu. Vor
dem Hintergrund des materiellen Abschlusses der Verhandlungen zum Paket
Schweiz–EU im Dezember 2024 hat die EU die Übergangsregelung 2025 per 1. Ja-
nuar 2025 vollständig aktiviert: Diese ermöglicht Akteuren in Forschung und Innova-
tion in der Schweiz, ab dem Programmjahr 2025 an praktisch allen Ausschreibungen
von Horizon Europe, dem Euratom-Programm und dem Programm Digital Europe
teilzunehmen und Fördermittel bei der EU zu beantragen. Letztere werden von der
EU nach Unterzeichnung des Programmabkommens sowie Überweisung des Schwei-
zer Pflichtbeitrags an die Forschenden ausbezahlt. Ausserdem können Schweizer Ak-
teure Gesuche in einer Koordinatoren-Rolle einreichen.
Für die Teilnahme an Erasmus+ wird zuerst ein Finanzierungsbeschluss der eidgenös-
sischen Räte benötigt, womit eine Assoziierung ab 2027 möglich würde. Für ITER ist
eine provisorische Wiederaufnahme der Beteiligung erst ab 2026 vorgesehen.
Das Verhandlungsmandat konnte vollumfänglich erfüllt werden. Namentlich wurde
mit dem EUPA ein zeitlich unbefristetes Abkommen ausgehandelt, welches die As-
soziierung an die aktuelle und zukünftige Programmgenerationen ermöglicht. Für die
Teilnahme am Horizon-Paket sind die vom Parlament am 16. Dezember 2020 gespro-
chenen Mittel ausreichend. Betreffend die systematischere Teilnahme soll mit Ge-
sprächen im Gemischten Ausschuss ein nahtloser Übergang von der einen zur nächs-
ten Programmgeneration sichergestellt werden. Für die Assoziierung an Erasmus+
wurde ein Rabatt von 30 % ausgehandelt. Nur ein einziges anderes Drittland (Serbien)
konnte für seine Programmteilnahme einen gleich hohen Rabatt erzielen.
2.8.4
Vorverfahren
2.8.4.1
Vorverfahren für eine Assoziierung am Horizon-Paket
2021-2027
Die Vorverfahren für die Assoziierung der Schweiz am Horizon-Paket 2021–2027
sind in der Botschaft vom 20. Mai 2020 zur Finanzierung der Schweizer Beteiligung
an den Massnahmen der Europäischen Union im Bereich Forschung und Innovation
in den Jahren 2021–2027 (Horizon-Paket 2021–2027)
468
dargestellt. Zusammengefasst
erfolgte seitens der Stakeholder ein deutliches und einhelliges Bekenntnis zur Bedeu-
tung einer Schweizer Beteiligung am Horizon-Paket, insbesondere an Horizon Eu-
rope, sowie zur Assoziierung als bevorzugte Beteiligungsform. Dies floss bei der par-
lamentarischen Behandlung des Geschäfts im Jahr 2020 und beim entsprechenden
468
BBl
2020
4845
502 / 931
Bundesbeschluss
469
mit ein. Das Vorhaben war darüber hinaus Bestandteil der Legis-
laturplanungen 2019-2023
470
und 2023-2027
471
und aller Bundesratsziele seit 2020.
2.8.4.2
Vorverfahren für eine Assoziierung an Erasmus+
Eine Assoziierung der Schweiz an Erasmus+ ist seit 2019 stets Ziel des Bundesrates
und Bestandteil der Legislaturplanungen 2019-2023
472
und 2023-2027
473
. Das Parla-
ment hat die Bedeutung einer Assoziierung wiederholt unterstrichen.
Im Rahmen der Vernehmlassung zur BFI-Botschaft 2025–2028 hatten die interessier-
ten Kreise Gelegenheit, sich zum Ziel der Assoziierung an Erasmus+ zu äussern.
474
Verschiedene Akteure betonten dabei die Bedeutung einer Assoziierung und der in-
ternationalen Einbindung der Schweizer Bildungslandschaft. Konkret wurde die
Wichtigkeit einer Beteiligung an der Initiative der Europäischen Hochschulallianzen
unterstrichen, welche es den Hochschulen ermöglicht, sich mit strategisch wichtigen
Partnern zu verbinden. Darüber hinaus wurden zwischen Ende 2024 und Anfang 2025
drei Standesinitiativen seitens der Kantone Basel-Stadt, Thurgau und St. Gallen ein-
gereicht, die eine gesicherte Teilnahme der Schweiz an Erasmus+ fordern.
2.8.4.3
Regulierungsfolgenabschätzung für das Horizon-Paket
2021-2027 und Erasmus+
Aufgrund einer Relevanzanalyse für das Horizon-Paket und Erasmus+ wurde festge-
stellt, dass keine Regulierungsfolgenabschätzung erforderlich ist. Im Fall des Hori-
zon-Pakets hat das SBFI jedoch eine externe Studie in Auftrag gegeben, welche die
Auswirkungen der wichtigsten Unterschiede zwischen dem Status quo und einer As-
soziierung untersucht hat. Die Teilnahme an Einzelprojekten in den Bereichen For-
schung und Innovation ist nur als assoziierter Staat möglich und steht daher im Zent-
rum der Studie. Die Studie zeigt auf, dass eine Teilnahme an Einzelprojekten der EU-
Rahmenprogramme für Forschung- und Innovation über intensiveren Wettbewerb,
verbesserte Reputation, Brain-Gain, zusätzliche Fördermittel und stärkere Vernetzung
den Schweizer Forschungs- und Innovationsstandort erheblich stärkt.
475
Dies trägt
auch zur Sicherung des Wohlstands und der Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz bei.
2.8.5
Grundzüge des Abkommens
Das EUPA besteht aus i) einem allgemeinen Teil mit horizontalen Bestimmungen, die
für alle EU-Programmbeteiligungen der Schweiz gelten, und ii) angehängten Proto-
469
BBl
2021
73
470
BBl
2020
8385
471
BBl
2024
1440
472
BBl
2020
8385
473
BBl
2024
1440
474
www.fedlex.admin.ch > Vernehmlassungen > Abgeschlossen > 2023 > Förderung von Bil-
dung, Forschung und Innovation in den Jahren 2025–2028 (BFI-Botschaft 25-28): Ergeb-
nisbericht.
475
Abrufbar unter: www.sbfi.admin.ch > Forschung und Innovation > Internationale For-
schungs- und Innovationszusammenarbeit > EU-Rahmenprogramme > Zahlen und Fakten
zur Schweizer Beteiligung > Einzelförderung der EU-Rahmenprogramme für Forschung
und Innovation: Auswirkungen der Schweizer Beteiligung.
503 / 931
kollen mit programmspezifischen Bestimmungen. Der allgemeine Teil des Abkom-
mens ist unbefristet, während die Protokolle in der Regel für jeden mehrjährigen Fi-
nanzrahmen der EU, beziehungsweise jede Programmgeneration neu verhandelt wer-
den müssen. Dabei können auch neue Protokolle hinzukommen oder auslaufende
Protokolle nicht erneuert werden, wobei im Abkommen die Absicht einer systemati-
scheren Beteiligung der Schweiz an den EU-Programmen reflektiert ist.
Horizontale Bestimmungen:
Hier werden in insgesamt 22 Artikeln und einem Annex
die übergeordneten Aspekte der Programmteilnahmen der Schweiz geregelt. Dabei
werden der Rahmen einer Teilnahme der Schweiz an den EU-Programmen und die
finanziellen Aspekte festgelegt. Ebenso geregelt wird die Natur der Mitwirkung in
relevanten Gremien der EU im Zusammenhang mit der Verwaltung und Umsetzung
dieser Programme oder Initiativen. Übergeordnet ist unter anderem die gemeinsame
Absicht einer systematischeren Schweizer Beteiligung verankert. Das Abkommen
kann von beiden Vertragsparteien unter Einhaltung einer sechsmonatigen Kündi-
gungsfrist jederzeit aufgelöst werden.
Protokolle:
Dem EUPA sind für die laufende Programmgeneration drei Protokolle
angehängt: Das erste Protokoll beinhaltet die Teilnahme an Horizon Europe, dem Eu-
ratom Programm, dem Programm Digital Europe und Erasmus+. Ein zweites Proto-
koll bezieht sich auf ITER, während ein drittes Protokoll das EU4Health Programm
abdeckt. Letzteres wird aufgrund der Verknüpfung mit dem Gesundheitsabkommen
in Ziffer 2.13 dieses Erläuternden Berichts behandelt. Während das ITER-Protokoll
bis zur Einstellung der Aktivitäten von «Fusion for Energy», F4E, (derzeit für 2042
geplant) gültig bleibt, sind die anderen Protokolle bis Ende 2027 befristet und müssen
auf die nächste Programmgeneration (2028-2034) hin neu verhandelt werden.
Für das Horizon-Paket ist eine rückwirkende provisorische Assoziierung per 1.1.2025
vorgesehen (bei ITER per 1.1.2026), falls die Unterzeichnung des EUPA vor dem
15. November 2025 erfolgt. Bei einer Unterzeichnung nach diesem Datum ist eine
Assoziierung ab dem 1.1.2026 vorgesehen. Bei Erasmus+ wurde eine Assoziierung
ab dem 1.1.2027 ausgehandelt.
2.8.6
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Abkommens
2.8.6.1.1
Horizontaler Teil
Nachfolgend werden die wichtigsten Artikel des horizontalen Teils des EUPA kurz
erläutert.
Art. 1
Gegenstand
Dieser Artikel legt den Gegenstand des Abkommens fest, nämlich die Teilnahme der
Schweiz an Programmen oder Tätigkeiten der Union oder Teilen davon. Die Schweiz
kann dann teilnehmen, wenn diese ihr gemäss Basisrechtsakt der EU zur Teilnahme
offenstehen und wenn die Teilnahme in einem dem Abkommen angehängten Proto-
koll geregelt ist.
Art. 2
Begriffsbestimmungen
504 / 931
Der Artikel definiert einige zentrale Begriffe, die im Abkommenstext wiederholt vor-
kommen.
Art. 3
Festlegung der Teilnahme
Dieser Artikel beschreibt die Teilnahme der Schweiz an den EU-Programmen. Dem-
nach kann die Schweiz an EU-Programmen oder Teilen davon als assoziiertes Land
teilnehmen, sofern diese in den Protokollen des EUPA aufgenommen sind. Die Pro-
tokolle halten die spezifischen Teilnahmebedingungen (Dauer der Assoziierung, pro-
grammspezifische finanzielle Bedingungen etc.) fest. Des Weiteren unterstreicht der
Artikel die beidseitige Absicht einer systematischeren Beteiligung der Schweiz an
EU-Programmen oder Teilen davon. Für jeden neuen Mehrjährigen Finanzrahmen der
EU und bereits vor einer formellen Interessensbekundung der Schweiz, welche eine
Voraussetzung für eine Assoziierung ist, wird im Gemischten Ausschuss erörtert, wie
die Zusammenarbeit nahtlos fortgesetzt werden kann. Die Absicht einer systemati-
scheren Beteiligung ist auch in der Präambel des EUPA verankert.
Art. 4
Einhaltung der Vorschriften der EU-Programme
Dieser Artikel beschreibt, dass die Schweiz auf Basis der relevanten Rechtsakte und
Verordnungen der EU an den Programmen teilnimmt. Darin sind auch die Teilnah-
meberechtigung und Teilnahmevoraussetzungen für Schweizer Rechtsträger defi-
niert.
Art. 5
Mobilität von Personen und Waren im Rahmen der EU-Programme
Der Artikel stellt sicher, dass die Gleichbehandlung von und faire Mobilitätsbedin-
gungen für Teilnehmende an EU-Programmen sowie ein reibungsloser Waren- und
Dienstleistungsverkehr zwischen der Schweiz und der EU gewährleistet sind. Diese
Bestimmungen gelten explizit nur für die Teilnehmenden und Aktivitäten im Rahmen
der EU-Programme, welche in den Protokollen aufgenommen sind.
Art. 6
Beteiligung der Schweiz in der Gouvernanz
Der Artikel regelt die Mitwirkung der Schweiz an den Entscheidungs- und Beratungs-
prozessen in den für die EU-Programme relevanten Gremien. In der Regel sind
Schweizer Vertreterinnen und Vertreter als Beobachter eingebunden. Es wird sicher-
gestellt, dass eine möglichst gleichwertige, dem Status als assoziiertem Staat ange-
messene Behandlung von Expertinnen und Experten und der entsprechende Zugang
zu relevanten Informationen gewährleistet ist. Das Stimmrecht ist in den meisten Fäl-
len jedoch nur den EU-Mitgliedstaaten vorbehalten.
Art. 7-9
Finanzielle Beteiligung der Schweiz
Artikel 7 regelt die Berechnung der Pflichtbeiträge für die Teilnahme an EU-
Programmen. Sie setzen sich aus zwei Elementen zusammen:
1.
einem operativen Beitrag, berechnet aus der Anwendung eines BIP-
Schlüssels auf das EU-seitige Budget des jeweiligen Programms. Der BIP-
505 / 931
Schlüssel entspricht dem Verhältnis des BIP der Schweiz zum gesamten
BIP der EU-Mitgliedsstaaten;
2.
einer Teilnahmegebühr. Die ab 2021 von der EU neu für alle Drittstaaten
ausser EWR-Ländern eingeführte, jährliche Teilnahmegebühr beträgt
grundsätzlich 4% des operativen Beitrags, wobei für die Jahre 2025-2027
ein gradueller Anstieg vereinbart wurde.
Artikel 8 definiert einen Mechanismus dafür, den Pflichtbeitrag gemäss Artikel 7 in
den Folgejahren anpassen zu können, um das tatsächlich verpflichtete Budget zu be-
rücksichtigen.
Mit Artikel 9 wird mit einem Korrekturmechanismus dem Beteiligungserfolg der
Schweizer Akteure Rechnung getragen. Im Fall einer Überperformance in zwei kon-
sekutiven Jahren würde demnach ein zusätzlicher Beitrag der Schweiz fällig, um die-
sen Umstand zu berücksichtigen. Eine Reduktion des Pflichtbeitrags im Fall einer Un-
terperformance ist in Protokoll I definiert.
Nur ein Teil der EU-Programme (namentlich Horizon Europe) sieht die Möglichkeit
eines Anpassungs- oder Korrekturmechanismus in den rechtlichen Grundlagen vor.
Diese Mechanismen gelten nur dann, wenn das jeweilige Protokoll dies ausdrücklich
vorsieht.
Art. 11-14
Finanzkontrolle, Rückforderung und Durchsetzung
Gemäss Artikel 11 hat die EU das Recht, auf der Basis bestehender Rechtsgrundlagen,
Überprüfungen und Audits in der Schweiz durchzuführen, um die ordnungsgemässe
Verwendung von EU-Mitteln im Rahmen der EU-Programme sicherzustellen. Die
Schweiz verpflichtet sich zur Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden der EU.
Artikel 12 regelt die Zusammenarbeit der Schweiz und der EU bei der Betrugsbe-
kämpfung im Zusammenhang mit allfälligen Unregelmässigkeiten bei der Verwen-
dung von EU-Mitteln im Rahmen der EU-Programme, einschliesslich Untersuchun-
gen, Kontrollen und Informationsaustausch. In der Schweiz ist die Eidgenössische
Finanzkontrolle (EFK) die hierfür zuständige Behörde. Kommt es zu Straftaten, wel-
che die finanziellen Interessen der EU betreffen, informiert die Schweiz die Europäi-
sche Staatsanwaltschaft (EPPO) und verpflichtet sich zur Zusammenarbeit. Diese Zu-
sammenarbeit entspricht im Wesentlichen den bereits existierenden Regelungen zur
Betrugsbekämpfung gemäss der im Rahmen der Schengen-Zusammenarbeit abge-
schlossenen Zusatzvereinbarung für das Instrument für finanzielle Unterstützung im
Bereich Grenzverwaltung und Visumpolitik (BMVI)
476
.
Gemäss Artikel 14 können Geldstrafen des Europäischen Gerichtshofs zu Ansprüchen
aus den EU-Programmen, die sich an natürliche oder juristische Personen richten, in
476
Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäi-
schen Union über zusätzliche Regeln in Bezug auf das Instrument für finanzielle Hilfe im
Bereich Grenzverwaltung und Visumpolitik im Rahmen des Fonds für integrierte Grenz-
verwaltung für den Zeitraum 2021 bis 2027, SR
0.362.316
.
506 / 931
der Schweiz durchgesetzt werden. Schweizer Gerichte haben die Möglichkeit, die
Ordnungsmässigkeit von Vollstreckungen zu überprüfen.
Art. 16
Gemischter Ausschuss
Analog zu den meisten weiteren Abkommen zwischen der Schweiz und der EU wird
nach Artikel 16 ein Gemischter Ausschuss («the Joint Committee») aus Vertreterin-
nen und Vertretern der Schweiz und der EU eingesetzt, um das Abkommen zu ver-
walten und bei Bedarf weiterzuentwickeln sowie den Informationsaustausch sicher-
zustellen. Insbesondere hat der Gemischte Ausschuss Entscheidbefugnisse bezüglich
der Protokolle des EUPA.
Da dem EUPA auch ein Protokoll zur Beteiligung der Schweiz am mehrjährigen Ge-
sundheitsprogramm der EU angehängt ist, welches eng mit dem Gesundheitsabkom-
men zusammenhängt, ist vorgesehen, dass die Gemischten Ausschüsse beider Ab-
kommen zusammenarbeiten. Entsprechend wurde eine Bestimmung aufgenommen,
nach der die Modalitäten der Zusammenarbeit festgelegt werden, ohne dass sie in die
Zuständigkeiten des jeweils anderen Gemischten Ausschusses eingreifen (s. Ziff.
2.13.6.1.2).
Art. 17-20
Inkrafttreten, Geltungsdauer und vorläufige Anwendung
Diese Artikel regeln das Inkrafttreten des Abkommens im Rahmen des Pakets
Schweiz–EU (s. Ziff. 2.1.6.6), die Modalitäten für allfällige Anpassungen, die Gel-
tungsdauer sowie die Beendigung des Abkommens. Das Abkommen wird auf unbe-
schränkte Zeit abgeschlossen. Eine vorläufige Anwendung ist rückwirkend ab dem 1.
Januar 2025 vorgesehen und endet spätestens Ende 2028. In den Protokollen kann der
Beginn der Anwendbarkeit spezifiziert werden (s. Ziff. 2.8.6.2 und 2.8.6.3 für das
Horizon-Paket und Erasmus+, sowie Ziff. 2.13.6.2 für EU4Health).
Das Abkommen kann von beiden Vertragsparteien unter Einhaltung einer sechsmo-
natigen Kündigungsfrist jederzeit aufgelöst werden.
Annex I
Finanzielle Durchführung
Dieser Anhang regelt die Implementierung der finanziellen Verpflichtungen der
Schweiz bei der Teilnahme an EU-Programmen. Dies umschliesst das Datum der jähr-
lichen Bezahlungsaufforderungen, die Zahlungsfristen, und Verzugszinsen bei ver-
späteten Zahlungen.
2.8.6.2
Protokoll I: Horizon Europe, Euratom Programm,
Programm Digital Europe und Erasmus+
Allgemeiner Teil
Im ersten Teil des Protokolls ist der Zeitpunkt des Beginns der Assoziierung der
Schweiz an die einzelnen Programme geregelt. In allen Fällen endet sie mit dem
Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 der EU. Die Schweiz ist erst mit dem Beginn
der Assoziierung an die jeweiligen Programme berechtigt, EU-Mittel zu erhalten. In
507 / 931
den Schlussbestimmungen dieses Teils ist geregelt, dass das Protokoll auch nach 2027
in Kraft bleibt, um die laufenden Projekte ausfinanzieren zu können.
Spezifische Bedingungen für Horizon Europe
In den programmspezifischen Bedingungen sind die Wichtigkeit von Gegenseitigkeit
(Art. 6) und offenen Wissenschaftspraktiken (Open Science, Art. 7) hervorgehoben.
Betreffend die Gegenseitigkeit umfasst der Anhang zu Protokoll I eine Liste mit
schweizerischen Forschungs- und Innovationsprogrammen, beziehungsweise Mass-
nahmen, die äquivalent mit entsprechenden EU-Programmen und prinzipiell offen für
Forschende mit Sitz in EU-Mitgliedstaaten sind, wobei eine Finanzierung dieser For-
schenden durch die Schweiz keine Bedingung ist.
Die für Horizon Europe spezifischen Finanzbestimmungen werden in Artikel 8 des
Protokolls geregelt. Er legt fest, dass der finanzielle Anpassungsmechanismus (Art. 8
des horizontalen Teils) und der automatische Korrekturmechanismus (Art. 9 des ho-
rizontalen Teils) für das Horizon Europe Programm gelten. Zusätzlich wird ein Kor-
rekturmechanismus bei einer Unterperformance der Schweizer Teilnehmenden einge-
führt: Bei einer jährlichen Unterperformance von 8% oder mehr würde der
Pflichtbeitrag für das entsprechende Jahr reduziert. Die Korrektur im Falle einer Über-
performance der Schweizer Teilnehmenden ist im horizontalen Teil geregelt. Wäh-
rend der Mechanismus im Falle einer Überperformance erst nach zwei konsekutiven
Jahren greift, ist die Bestimmung aufgrund der jährlichen Reduktion im Falle einer
Unterperformance zusätzlich vorteilhaft.
Spezifische Bedingungen für das Euratom Programm
Das Forschungs- und Ausbildungsprogramm von Euratom und Horizon Europe sind
institutionell eng aufeinander abgestimmt. Entsprechend sind die Teilnahmebedin-
gungen weitgehend analog. Die Schweiz wird als assoziierter Staat am Euratom-Pro-
gramm 2021-2025 teilnehmen, und die Assoziierung wird automatisch auf das Eu-
ratom-Programm 2026-2027 ausgedehnt, sofern nicht eine der Parteien etwas anderes
beschliesst.
Abweichend sind die finanziellen Bestimmungen, welche für das Euratom-Programm
in Artikel 9 des Protokolls geregelt sind. Der Anpassungs- und automatische Korrek-
turmechanismus kommen hier nicht zur Anwendung. Hingegen wird der BIP-basierte
Beteiligungsschlüssel für die laufende Programmgeneration um 4,6 % reduziert. Dies
soll die Abschaffung des sogenannten Fusionsschlüssels kompensieren, der bis 2020
für die Berechnung der Beiträge für den Teil des Programms, welcher der Kernfusi-
onsforschung gewidmet ist, verwendet wurde und aus dem Verhältnis des BIPs der
Schweiz zum BIP der EU-Staaten plus der Schweiz berechnet wurde.
Spezifische Bedingungen für das
Programm Digital Europe
Die Schweiz kann an allen Ausschreibungen des Programms Digital Europe teilneh-
men, ausser i) im Programmbereich „Cybersicherheit“, ii) im Programmbereich
„Halbleitertechnologien“ und iii) an Aktivitäten, die für assoziierte Länder aufgrund
der strategischen Autonomie der Europäischen Union aus Sicherheitsgründen nicht
508 / 931
zugänglich sind. Die rechtlichen Grundlagen des Programms sehen keine Anpas-
sungs- oder automatischen Korrekturmechanismen vor.
Spezifische Bedingungen für Erasmus+
Artikel 14 des Protokolls regelt die Etablierung und Akkreditierung des nationalen
Implementationssystems für Erasmus+. Dazu gehört erstens die Benennung einer na-
tionalen Behörde, die das ordnungsgemässe Funktionieren des Programms zu gewähr-
leisten hat. Zweitens muss eine nationale Agentur nominiert werden, die für die Um-
setzung zuständig ist. Drittens benennt die nationale Behörde eine unabhängige
Prüfstelle, welche die Berichterstattung der nationalen Agentur bewertet und der na-
tionalen Behörde sowie der Europäischen Kommission bestätigt, dass diese den gel-
tenden Vorgaben entspricht. Voraussetzung für die Assoziierung an Erasmus+ ist der
erfolgreiche Abschluss der Akkreditierung des nationalen Implementationssystems
im Rahmen einer Ex-ante-Konformitätsbewertung. Die Akkreditierung sollte ein hal-
bes Jahr vor dem Programmeinstieg abgeschlossen sein.
Artikel 15 hält fest, dass gegenüber der üblichen Berechnungsgrundlage der Pro-
grammbeiträge gemäss BIP-Schlüssel für Erasmus+ eine Ermässigung von 30 % für
das Jahr 2027 gilt.
2.8.6.3
Protokoll II: ITER
Das Protokoll sieht vor, dass die Schweiz als Vollmitglied an den Aktivitäten des Ge-
meinsamen Unternehmens für den Bau von ITER (Fusion for Energy, „F4E“) teil-
nimmt.
Unter der Voraussetzung, dass die Schweiz die im Beschluss zur Gründung
von F4E
477
festgelegten Kriterien erfüllt, soll sie ab dem 1. Januar 2026 bis zur Auflö-
sung von F4E (derzeit für 2042 vorgesehen) an ITER teilnehmen (Art. 2). Damit wird
es nicht mehr nötig sein, die Schweizer Beteiligung an ITER periodisch neu zu ver-
handeln, womit stabile und dauerhafte Bedingungen geschaffen werden. Dies steht im
Einklang mit dem Grundsatzentscheid der Bundesversammlung vom 20. März 2009
zur Ratifizierung der Abkommen zur Teilnahme an ITER (Bundesbeschluss AS 2009
5283).
Der vereinbarte Rahmen für die Beteiligung der Schweiz an den EU-Programmen
vereinfacht und fasst alle Rechtsgrundlagen zusammen, die bis 2020 die Schweizer
Beteiligung an ITER begründeten. Wie zuvor wird sich die Schweiz als Mitglied von
F4E an dessen Leitung auf der gleichen Ebene wie die EU-Mitgliedstaaten beteiligen,
einschliesslich der Stimmrechte. Schweizer Unternehmen und Forschungseinrichtun-
gen können sich an den Aktivitäten von F4E und ITER beteiligen (Art. 2 und Art. 3),
und Schweizer Bürgerinnen und Bürger können bei beiden Organisationen angestellt
werden und repräsentative Funktionen ausüben.
477
Entscheidung 2007/198/Euratom des Rates vom 27. März 2007 über die Errichtung des
europäischen gemeinsamen Unternehmens für den ITER und die Entwicklung der Fusions-
energie sowie die Gewährung von Vergünstigungen dafür, ABl. L 90 vom 30.3.2007, S.
58, zuletzt geändert durch Beschluss (Euratom) 2021/281, ABl. L 62 vom 23.2.2021, S.
41.
509 / 931
Durch ihre Stimmrechte im “Governing Board” von F4E wird die Schweiz in der Lage
sein, ihre Interessen innerhalb von F4E zu vertreten, und in der Gouvernanzstruktur
der ITER Organisation durch die Europäische Kommission genauso vertreten sein wie
die Euratom-Mitgliedstaaten. Sollten die Beteiligung von Euratom an ITER oder die
oben erwähnten internationalen Abkommen über ITER geändert werden, wird die
Schweiz schriftlich darüber informiert (Art. 6).
Im Zusammenhang mit ITER wird die Schweiz unter anderem weiterhin das Überein-
kommen über die Gründung der Internationalen ITER-Fusionsenergieorganisation für
die gemeinsame Durchführung des ITER-Projekts
478
(ITER-Übereinkommen) sowie
das Übereinkommen über die Vorrechte und Immunitäten der Internationalen ITER-
Fusionsenergieorganisation
479
(Art. 6 Abs. 1) anwenden.
Der operative Beitrag für die Beteiligung an ITER wird analog zum Beitrag für Eu-
ratom bis und mit 2027 um 4,6% gesenkt (Art. 5). Darüber hinaus wird die Schweiz
den in den Statuten von F4E
480
vorgesehenen Mitgliedsbeitrag entrichten.
2.8.7
Grundzüge des Umsetzungserlasses
2.8.7.1
Umsetzungsgesetzgebung
Im Rahmen der Assoziierung der Schweiz an die EU-Programme ist keine Umset-
zungsgesetzgebung vorgesehen. Allfällige Anpassungen zu Präzisierungen der Kom-
petenzdelegation an den Bundesrat oder zum Beitritt zu neu geschaffenen Rechtsfor-
men der EU würden erst mit der nächsten Programmgeneration relevant und im
Rahmen der entsprechenden Finanzierungsbotschaft aufgenommen.
2.8.7.2
Inhalt des Finanzierungsbeschlusses für die Schweizer
Beteiligung am EU-Bildungsprogramm Erasmus+ im Jahr
2027
Im Folgenden werden das Prinzip der Berechnung des
Schweizer Pflichtbeitrags
für
die Beteiligung der Schweiz an Erasmus+, der
nationalen Zusatzkosten (Betrieb der
nationalen Agentur und Begleitmassnahmen), der Ausfinanzierung der «Schweizer
Lösung»
und
mögliche Veränderungen des Budgetbedarfs
sowie die dafür beigezoge-
nen Parameter dargelegt. Im Gegensatz zum Horizon-Paket, wo die eidgenössischen
Räte die Mittel im Dezember 2020 bereitgestellt haben, muss die Finanzierung für
eine Assoziierung Erasmus+ noch vom Parlament beschlossen werden.
Schweizer Pflichtbeitrag für die Assoziierung an Erasmus+ im Jahr 2027
Für die Assoziierung an Erasmus+ wird ein Pflichtbeitrag an das Erasmus+ Budget
fällig. Damit werden einerseits Mobilitäts- und Kooperationsprojekte schweizerischer
Institutionen und Organisationen “dezentral” über die nationale Agentur Movetia fi-
nanziert und andererseits Aktivitäten, die “zentral”, das heisst entweder von der Eu-
ropäischen Kommission selbst oder im Auftrag der Europäischen Kommission von
478
ABl. L 358 vom 16.12.2006, S. 62.
479
ABl. L 358 vom 16.12.2006, S. 82.
480
Entscheidung 2007/198/Euratom, ABl. L 90 vom 30.3.2007, S. 58, zuletzt geändert durch
Beschluss (Euratom) 2021/281, ABl. L 62 vom 23.2.2021, S. 41.
510 / 931
der Europäischen Exekutivagentur für Bildung und Kultur (EACEA) verwaltet wer-
den. Die entsprechenden Mittel stehen Projektträgern aus allen Programmländern zur
Verfügung und können im Rahmen der entsprechenden Ausschreibungen beantragt
werden.
Der Pflichtbeitrag wird gemäss Artikel 7 des EUPA bestimmt und errechnet sich aus
der Anwendung eines Beitragsschlüssels auf das EU-seitige Budget, wie in Ziffer
2.8.6.1 ausgeführt. Zusätzlich wurde ein Rabatt von 30 % ausgehandelt. Die folgende
Tabelle illustriert diese Berechnung. Da die definitiven Beträge des Erasmus+-Ge-
samtbudgets 2027, der relevante BIP-Anteil sowie der Wechselkurs im Jahr 2027
heute nicht bekannt sind, handelt es sich hier um möglichst genaue Schätzungen auf
der Basis der aktuell verfügbaren Angaben. Abweichungen zum effektiven Pro-
grammbeitrag sind jedoch möglich und werden weiter unten unter «Mögliche Verän-
derungen im Budgetbedarf» dargelegt.
Tabelle 2.8.7.3 (1): Berechnung des Schweizer Pflichtbeitrags für die Assoziierung an
Erasmus+ und voraussichtliche Beträge
Parameter
Betrag
Voraussichtliches EU-seitiges Gesamtbudget Erasmus+ 2027
5,161 Mrd. €
Voraussichtlicher Anteil BIP Schweiz / BIP EU = BIP-Anteil in %
(Eurostat 03.12.2024 zum BIP 2023)
4,81 %
Voraussichtlicher Programmbeitrag der Schweiz im Jahr 2027 ge-
stützt auf BIP-Anteil
248,2 Mio. €
Rabatt auf Programmbeitrag gemäss EUPA (Protokoll 1 Titel 3 zu
Erasmus+)
30 %
Voraussichtlicher Programmbeitrag der Schweiz im Jahr 2027 in-
klusive Rabatt
173,8 Mio. €
Angenommener Wechselkurs
1 CHF = 0,95 €
Voraussichtlicher Programmbeitrag (ohne Beteiligungsge-
bühr) in CHF
165,1 Mio. CHF
Beteiligungsgebühr (4 % des Programmbeitrags)
6,6 Mio. CHF
Voraussichtlicher Pflichtbeitrag Schweiz im Jahr 2027 für die
Assoziierung an Erasmus+ (inkl. Beteiligungsgebühr)
171,7 Mio. CHF
Nationale Zusatzkosten (Betrieb der nationalen Agentur Movetia. Begleitmassnah-
men und Non Erasmus+-Aktivitäten)
Nebst dem Pflichtbeitrag entstehen nationale Zusatzkosten, um den Betrieb der Agen-
tur Movetia sowie die Umsetzung der Begleitmassnahmen sicherzustellen (s. Ziff.
2.8.2.2.2). Diese nationalen Zusatzkosten sind Bestandteil der Umsetzung von Eras-
mus+: Der entsprechende EU-Programmbeschluss sieht explizit vor, dass jedes asso-
ziierte Land nebst dem Pflichtbeitrag auch nationale Mittel für die nationale Agentur
und Begleitmassnahmen einsetzt. Zudem soll in einem beschränkten Rahmen weiter-
hin die Möglichkeit bestehen, Kooperationsprojekte mit Ländern ausserhalb von Eras-
mus+ (wie bspw. USA, UK) zu unterstützen (Non E+-Aktivitäten).
511 / 931
Die für die nationalen Aufwände im Jahr 2027 notwendigen Mittel betragen 15,8 Mil-
lionen Franken. Dies entspricht 9 % des Programmbeitrags der Schweiz. Zum Ver-
gleich: Im Rahmen der BFI-Botschaft 2025-2028 wurden für die analogen Aufwände
bei der «Schweizer Lösung» maximal 15 % des Kredits vorgesehen, was einem Betrag
von 8,2 bis 10,3 Millionen pro Jahr entspricht. Die vorliegende Erhöhung gegenüber
den gemäss BFI-Botschaft bereits vorgesehenen Mitteln erfolgt aus verschiedenen
Gründen:
1.
Das Volumen der verwalteten Programmmittel wächst im Jahr 2027 voraus-
sichtlich deutlich gegenüber jenen Mitteln, die im Rahmen der «Schweizer
Lösung» verwaltet wurden, da die Beteiligungsmöglichkeiten und Aktivi-
täten wesentlich breiter sind.
2.
Die Erfordernisse der EU für die Programmimplementierung auf nationaler
Ebene sind aufwändiger als jene für die «Schweizer Lösung» und erfordern
mehr Mittel für die nationalen Begleitmassnahmen, sowohl zu Beginn einer
Assoziierung als auch später im Betrieb der nationalen Agentur. Die Agen-
tur kann so auf das Steuerungs- und Kontrollsystem von Erasmus+ vorbe-
reitet werden.
3.
Breit aufgestellte Begleitmassnahmen sind gerade in der Einstiegsphase
wichtig, um für die Akteure im Bildungswesen einen attraktiven Rahmen
für eine Beteiligung an Erasmus+-Projekten zu schaffen und dadurch eine
hohe Ausschöpfung der auf EU-Ebene zur Verfügung stehenden Fördermit-
tel zu erzielen.
Mögliche Veränderungen im Budgetbedarf
Bei der Berechnung der für eine Assoziierung notwendigen Mittel sind vor allem drei
Faktoren mit Unsicherheit behaftet: 1) der Wechselkurs, 2) der BIP-Schlüssel und 3)
die Entwicklung des EU-seitigen Budgets.
Da eine Frankenabwertung nicht ausgeschlossen werden kann, müssen bei einer
mehrjährigen Assoziierung entsprechende Risiken abgedeckt werden. Im Falle der
Assoziierung an Erasmus+ im Jahr 2027 besteht jedoch kein Wechselkursrisiko, da
die Mittel für den Pflichtbeitrag durch die Bundestresorerie gleich nach dem Finan-
zierungsbeschluss des Parlaments abgesichert werden können.
Zudem bemisst sich der Schweizer Pflichtbeitrag nach dem Anteil des Schweizer BIP
am BIP der EU-27 zum Zeitpunkt des Abschlusses des Abkommens. Der effektiv
verwendete BIP-Anteil lässt sich jedoch zurzeit nicht verlässlich abschätzen. Ausge-
hend von der Annahme, dass der für 2023 provisorisch bei 4,81 % liegende BIP-Anteil
bis zur effektiven Festlegung des Programmbeitrags um 10 % (auf 5,29 % BIP-Anteil)
ansteigen könnte, würde der Pflichtbeitrag bis zu 17,2 Millionen Franken höher aus-
fallen.
Ebenso würde eine allfällige Aufstockung der Budgets auf EU-Ebene den Programm-
beitrag als Anteil am jährlichen Programmbudget erhöhen. Eine Erhöhung des EU-
Programmbudgets um 5 % würde zu einem Anstieg des Pflichtbeitrags um bis zu 8,6
Millionen Franken führen.
512 / 931
Der effektiv benötigte Betrag könnte somit um bis zu 25,8 Millionen Franken höher
ausfallen als dies Mitte 2025 vorhersehbar war. Dies entspricht etwa 15 % des gesam-
ten erwarteten Programmbeitrags. Dieser mögliche Mehrbedarf soll zum Zeitpunkt
des Finanzierungsbeschlusses berücksichtigt werden.
Zusammenfassung
Die Assoziierung an Erasmus+ im Jahr 2027 wird über einen separaten Kredit finan-
ziert werden. Die dafür erforderlichen Mittel von 187,5 Millionen CHF errechnen sich
wie folgt (Beträge in Mio. CHF):
Schweizer Pflichtbeitrag für die Assoziierung an Erasmus+
(inkl. Beteiligungsgebühr)*
171,7
Nationale Zusatzkosten, aufgeteilt in:
15,8
-
Betrieb der nationalen Agentur Movetia (6,1)
-
nationale Begleitmassnahmen (8,5)
-
Non Erasmus+-Aktivitäten (1,2)
Total
187,5
Mögliche Veränderungen im Budgetbedarf bei Eintritt der Ri-
siken (Höherer BIP-Anteil und höheres Erasmus+-Budget)
25,8
Ausfinanzierung der «Schweizer Lösung»
Für die Projekte, die im Rahmen der «Schweizer Lösung» gefördert werden, wurde in
der BFI-Botschaft 2025-2028 ein Verpflichtungskredit genehmigt. Diese Projekte ha-
ben in der Regel überjährige Zahlungen zur Folge. Für die Ausfinanzierung der
«Schweizer Lösung» werden voraussichtlich Zahlungen in der Höhe von 17,1 Milli-
onen CHF im Jahr 2027, 9,4 Millionen CHF im Jahr 2028 und 4,7 Millionen CHF im
Jahr 2029 notwendig sein.
2.8.7.3
Begleitmassnahmen ohne Gesetzesanpassung
Die Assoziierung an den EU-Programmen wird durch nationale Begleitmassnahmen
unterstützt, welche eine hohe und umfassende Beteiligung von Schweizer Akteuren
sicherstellen sowie die inhaltliche Mitgestaltung der Programme und die Information
darüber ermöglichen sollen. Sie umfassen im Wesentlichen folgende Massnahmen:
–
Informations- und Beratungsangebote,
–
Nationale Kofinanzierung von Schweizer Partnern für deren Beteiligung an
Initiativen, Instrumenten und Projekten von gesamtschweizerischem Inte-
resse oder wo eine solche Finanzierung erforderlich ist,
–
Finanzierung des satzungsgemässen Mitgliedbeitrags bei F4E.
Die im Rahmen des Horizon-Pakets vorgesehenen Begleitmassnahmen sind in der
entsprechenden Finanzierungsbotschaft ausführlich beschrieben. Für die Begleit-
massnahmen zum Programm Erasmus+ siehe Ziffer 2.8.2.2.2.
513 / 931
2.8.7.4
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
Die Programme der EU in den Bereichen Bildung und Forschung sind weltweit ein-
zigartig, sowohl betreffend das finanzielle Volumen als auch betreffend die Breite der
abgedeckten Themen und Aktivitäten. Für die Schweiz mit ihrer Lage im Zentrum
Europas und der damit verbundenen starken Beziehung zu den benachbarten EU-
Staaten sind diese Programme von grosser Bedeutung.
Eine Assoziierung ermöglicht die Teilnahme an momentan nicht zugänglichen, für die
Schweiz relevanten Aktivitäten
Die Assoziierung an den EU-Programmen wird den Akteuren in der Schweiz die
Möglichkeit bieten, sich grundsätzlich an mehr Projekten und Aktivitäten zu beteili-
gen. Beim Horizon-Paket sind im nicht-assoziierten Drittstaatmodus nur rund 2/3 der
Ausschreibungen zugänglich. Besonders vom Ausschluss betroffen sind insbesondere
die exzellenzbasierten Einzelprojekte, bei welchen die Schweiz historisch regelmäs-
sig das erfolgreichste teilnehmende Land war. Die Assoziierung ermöglicht auch die
Teilnahme an ITER und den meisten Aktivitäten des DEP, die für nicht assoziierte
Drittstaaten nicht zugänglich sind, und die im Kontext der Digitalisierung und der
Technologieentwicklung für die Schweiz wertvoll sind. Die Auswirkungen einer
Nicht-Assoziierung werden ebenfalls in Ziffer 2.8.2.5 behandelt
Für die Details der Teilnahme an Erasmus+ und die Möglichkeiten von Mobilitäts-
und Kooperationsaktivitäten, die sich der Schweiz bei einer Assoziierung eröffnen
würden, wird auf Ziffer 2.8.2.4.2 verwiesen. Ohne eine Assoziierung sind für die
Schweiz nur einzelne Aktivitäten ohne Einschränkungen zugänglich. Bei einigen an-
deren Aktivitäten ist der Zugang für Schweizer Partner eingeschränkt, d.h. Schweizer
Organisationen und Institutionen können zwar teilnehmen, aber im Unterschied zu
Institutionen aus Erasmus+-Programmländern haben sie weniger Rechte. Zu den
Schlüsselaktivitäten im Mobilitätsbereich (Bsp. Studierendenmobilität) hat die
Schweiz keinen Zugang, sie muss daher parallele Ersatzmassnahmen im Rahmen der
«Schweizer Lösung» vorsehen. Für eine Vielzahl von weiteren relevanten Aktivitäten,
zu denen die Schweiz gar keinen Zugang hat, besteht keine nationale Alternative.
Gemessen an ihrer Bedeutung lohnt sich die Teilnahme an den EU-Programmen
Internationale Forschungs- und Innovationsprogramme ermöglichen Projekte, die auf
nationaler Ebene nicht durchführbar wären. Durch den internationalen Wettbewerb
gewährleisten sie eine hohe Qualität der geförderten Projekte. Eine Studie der Euro-
päischen Kommission schätzt eine 15 % höhere Forschungseffizienz der EU-
Programme für Forschung und Innovation gegenüber rein national eingesetzten För-
dermitteln.
481
481
”Support for assessment of socio-economic and environmental impacts (SEEI) of Euro-
pean R&I programme – The case of Horizon Europe”, European Commission: Directorate-
General for Research and Innovation, Boitier, B., Le-Mouël, P., Zagamé, P., Ricci, A. et
al.,Publications Office of the European Union, 2018, www.data.eu-
ropa.eu/doi/10.2777/038591.
514 / 931
Für das Horizon-Paket spricht historisch gesehen der finanzielle Rückfluss in die
Schweiz in etwa den von der Schweiz bezahlten Pflichtbeiträgen.
482
Diese Balance ist
auch für die laufende Programmgeneration zu erwarten, wobei für das Horizon Eu-
rope Programm, welches mit Abstand den höchsten Pflichtbeitrag nach sich zieht, ein
automatischer Korrekturmechanismus greift, sollte die Schweiz signifikant weniger
Mittel einwerben, als sie bezahlt hat.
Bei der administrativen Abwicklung der Programme kann die EU von Skaleneffekten
profitieren und damit effizienter agieren als die Schweiz dies im Rahmen der Beteili-
gung im nicht-assoziierten Drittstaatmodus kann, in welchem die Finanzierung der
Teilnahme via SBFI abgewickelt wird, beziehungsweise Ersatzausschreibungen
durch nationale Förderorganisationen angeboten werden. Durch die Assoziierung am
Horizon-Paket verkleinert sich der damit verbundene administrative Aufwand auf
Bundesebene längerfristig erheblich.
Für Erasmus+ liegt eine möglichst enge Kooperation mit dem EU-Bildungsprogramm
im Interesse des Schweizer BFI-Systems. Eine Assoziierung der Schweiz an Eras-
mus+ ermöglicht Schweizer Stakeholdern und Teilnehmenden eine umfassende Be-
teiligung an einer wesentlich grösseren Anzahl und Vielfalt an Programmaktivitäten,
als dies im Rahmen der bisherigen «Schweizer Lösung» möglich ist. Die Rechtssi-
cherheit des Zugangs ist dabei ebenso gewährleistet wie die Nutzung der etablierten
Kooperationsnetzwerke und eingespielten Abläufe.
Der vom Bundesrat vorgeschlagene Budgetzuwachs auf 187,5 Millionen Franken für
die Beteiligung an Erasmus+ ist notwendig, um das Niveau an Fördermitteln zu er-
zielen, welches die EU mit ihrem Programmbudget während der Zeit erreicht hat, in
der sich die Schweiz indirekt als Drittstaat am Programm beteiligt hat. Dieser Niveau-
unterschied ist auf mehrere Gründe zurückzuführen. Im Jahr 2014, dem ersten Jahr
der indirekten Beteiligung nach der Vollassoziierung von 2011 – 2013, lagen die Mit-
tel für die «Schweizer Lösung» wesentlich tiefer als das Budget, das die Schweiz bei
einer Vollassoziierung hätte beitragen müssen. Hinzu kommt, dass sich das Budget
für die «Schweizer Lösung» zwar im Zeitraum von 2014 bis 2027 verdoppelte, das
EU-Programmbudget im selben Zeitraum jedoch praktisch eine Verdreifachung er-
fuhr. Nicht zuletzt trägt auch der gestiegene BIP-Anteil der Schweiz am BIP der EU
(von knapp 3 % im Jahr 2014 auf knapp 5 % im Jahr 2023) zum Anstieg des Pflicht-
beitrags bei. Diese immer grösser werdende Kluft gilt es auszugleichen und damit die
Anschlussfähigkeit der Schweiz am europäischen Bildungsraum zu sichern.
Vor diesem Hintergrund ist der Bundesrat überzeugt, dass der Einsatz der entspre-
chenden Bundesmittel erforderlich und verhältnismässig ist sowie eine lohnende In-
vestition in den BFI-Standort Schweiz darstellt (zur Bedeutung der Schweizer Betei-
lung an Erasmus+ s. Ziff. 2.8.2.4.2). Auch wenn verlässliche Quantifizierungen der
482
Siehe «Beteiligung der Schweiz an EU-Programmen und Initiativen für Forschung und In-
novation: Zahlen und Fakten 2023», abrufbar unter www.sbfi.admin.ch > Forschung und
Innovation> Internationale Forschungs- und Innovationszusammenarbeit > EU-
Rahmenprogamme > Zahlen und Fakten zur Schweizer Beteiligung.
515 / 931
Wirkung von Bildungsinvestitionen schwierig sind, ist der Wert der Bildung als Mo-
tor für die Wettbewerbsfähigkeit als langfristige Investition in die sozio-ökonomische
Zukunft eines Landes unbestritten.
2.8.7.5
Umsetzungsfragen
2.8.7.5.1
Verordnung zur Beteiligung der Schweiz an den BFI-
Programmen der Europäischen Union
Für das Horizon-Paket regelt die Verordnung vom 20. Januar 2021 über die Massnah-
men für die Beteiligung der Schweiz an den Programmen der Europäischen Union im
Bereich Forschung und Innovation (FIPBV
483
) alle nötigen Elemente auf Schweizer
Seite für die Umsetzung. Dies gilt für alle möglichen Teilnahme-Modi der Schweiz
(Vollassoziierung, Teilassoziierung und Drittstaat-Modus).
Für die Teilnahme an Erasmus+ liegen die rechtlichen Grundlagen für die Umsetzung
aller möglichen Teilnahme-Modi der Schweiz (Vollassoziierung als Programmland,
«Schweizer Lösung» als Drittland) mit dem 2022 totalrevidierten Bundesgesetz
484
so-
wie der entsprechenden Verordnung
485
vor. Auch für die Umsetzung der nationalen
Begleitmassnahmen (inklusive Betrieb der nationalen Agentur) sind in den bestehen-
den Rechtsgrundlagen sämtliche notwendigen Vorgaben vorhanden.
2.8.7.5.2
Umsetzung der Programme auf europäischer und
nationaler Ebene
Die Bestandteile des Horizon-Pakets werden bei einer Assoziierung direkt durch die
Europäische Kommission respektive durch die von ihr beauftragten Exekutivagentu-
ren umgesetzt. Dies beinhaltet insbesondere die Evaluation von eingereichten Projek-
ten, die Förderentscheide und Ausstellung von Verträgen, die Finanzierung während
der Projektlaufzeit und die Überprüfung der Zwischen- und Schlussberichte sowie
allfällige Audits. In diesem Sinn stellen sich keine Vollzugsfragen auf nationaler
Ebene.
Im Programm Erasmus+ wird ein Teil der Aktivitäten wie beim Horizon-Paket direkt
durch die Europäische Kommission respektive durch die von ihr beauftragten Exeku-
tivagenturen umgesetzt. Dazu stellen sich keine Vollzugsfragen auf nationaler Ebene.
Der überwiegende Teil des Programmbudgets von Erasmus+ wird jedoch von natio-
nalen Agenturen implementiert. Die entsprechenden Prozeduren und Regelungen sind
im Programmbeschluss
486
sowie den ausführenden Erlassen des Programms Erasmus+
festgehalten. Dazu gehört einerseits das Verwaltungs- und Prüfsystem, das die
Grundsätze des Kontrollsystems sowie die Rechte und Pflichten der Europäischen
Kommission, der nationalen Behörde, der nationalen Agentur und der unabhängigen
483
SR
420.126
484
SR
414.51
485
SR
414.513
486
Verordnung (EU) 2021/817 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai
2021 zur Einrichtung von Erasmus+, dem Programm der Union für allgemeine und beruf-
liche Bildung, Jugend und Sport, und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1288/2013,
ABl. Nr. L 189 vom 28.5.2021, S. 1.
516 / 931
Prüfstelle definiert (Art. 26-31 Programmbeschluss Erasmus+). Auf Schweizer Seite
werden diese Aufgaben weitgehend von der nationalen Agentur Movetia wahrgenom-
men werden, welche das entsprechende Akkreditierungsverfahren bis zur Assoziie-
rung am 01.01.2027 durchlaufen wird. Sie wird auch die Vorgaben gemäss Pro-
grammleitfaden, Leitfaden für die nationalen Agenturen und den jährlichen
Arbeitsprogrammen für Erasmus+ umsetzen.
2.8.7.5.3
Interessensvertretung der Schweiz
Gemäss dem EUPA erhält die Schweiz mit der Assoziierung Zugang zu Programm-
gremien, Fachgremien und weiteren Netzwerken der jeweiligen Programme. Dies er-
möglicht die Interessensvertretung der Schweiz auf EU-Ebene, inklusive Mitentwick-
lung sowie Ausgestaltung der Programme und ihrer Ausschreibungen. Die
Koordination und grösstenteils auch die Wahrnehmung dieser Interessensvertretung
werden durch das SBFI geleistet.
2.8.8
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des
Umsetzungserlasses
Die Finanzierung der Schweizer Beteiligung am Programm Erasmus+ im Jahr 2027
wird mit Artikel 1 des Umsetzungserlasses beantragt.
Gemäss Absatz 1 beträgt der Verpflichtungskredit 187,5 Millionen Franken.
Absatz 2 regelt die Aufteilung auf die verschiedenen Verpflichtungskredite. Der
grösste Teil soll für Pflichtbeiträge für die Assoziierung an Erasmus+ gemäss EUPA
eingesetzt werden (171,7 Millionen). Für nationale Zusatzkosten, namentlich den Be-
trieb der nationalen Agentur und weitere Begleitmassnahmen, ist ein Budget von 15,8
Millionen Franken vorgesehen.
2.8.9
Auswirkungen des Paketelements
2.8.9.1
Auswirkungen auf den Bund
Eine Assoziierung an die EU-Programme für Bildung, Forschung und Innovation ist
für den Standort Schweiz von hoher Bedeutung. Wie in Ziffer 2.8.2 ausgeführt, wird
damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit in Forschung und Innovation gestärkt
sowie die Standortattraktivität für forschungsstarke Unternehmen erhöht und gefes-
tigt. Für die Attraktivität der Hochschulen im Wettbewerb um die besten Forschenden
und Studentinnen und Studenten ist die internationale Vernetzung und der Zugang zur
prestigeträchtigen Exzellenzförderung zentral. Gleichzeitig stellt die Förderung von
internationalen Mobilitäts- und Kooperationsaktivitäten einen wichtigen Pfeiler der
Schweizer Bildungspolitik dar. Diese Aktivitäten tragen einerseits zur Aneignung und
Entwicklung von arbeitsmarktrelevanten Kompetenzen bei. Andererseits ermöglichen
sie Bildungsinstitutionen und -organisationen den Auf- und Ausbau von Netzwerken,
den Transfer von Wissen und die Entwicklung von gemeinsamen Strategien und Bil-
dungsangeboten. Insgesamt tragen Mobilität und Kooperationen in Bildung und For-
schung zur internationalen Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der Schweiz bei.
517 / 931
2.8.9.1.1
Finanzielle Auswirkungen
Während das EUPA die Rahmenbedingungen für eine Beteiligung der Schweiz an
EU-Programmen grundsätzlich festlegt, wird die Beteiligung an den jeweiligen Pro-
grammgenerationen in Protokollen zum EUPA definiert. EU-seitig wird über die Wei-
terführung der einzelnen Programme und ihr jeweiliges Budget im Rahmen der Ver-
handlungen zum mehrjährigen Finanzrahmen MFF entschieden.
Die Schweiz hat mit jeder Programmgeneration die Möglichkeit, sich für oder gegen
die Teilnahme an Programmen, bei denen eine Teilnahme von Drittländern vorgese-
hen ist, zu entscheiden. Längerfristige Abschätzungen zu den finanziellen Auswirkun-
gen des EUPA sind daher mit Unsicherheiten behaftet. Es werden nachfolgend nur
Programme aufgeführt, bei welchen im Rahmen des Pakets Schweiz–EU eine Asso-
ziierung vorgesehen ist. Vor jeder neuen Programmgeneration muss für alle geplanten
Teilnahmen ein Finanzierungsbeschluss der eidgenössischen Räte vorliegen.
Nachstehend wird die Beteiligung an den Programmen des Horizon-Pakets und Eras-
mus+ behandelt. Für die Beteiligung an EU4Health sei auf Ziffer 2.13.9 verwiesen.
Finanzielle Auswirkungen einer Assoziierung an das Horizon-Paket
Aktuelle Programmgeneration 2021-2027:
Die finanziellen Folgen des Horizon-
Pakets teilen sich in zwei Hauptkategorien auf: a) Kosten für die Teilnahme an den
einzelnen Programmen und Initiativen sowie b) nationale Begleitmassnahmen. Mit
dem Bundesbeschluss zur Finanzierung der Schweizer Beteiligung am Horizon-Paket
2021-2027
487
hat das Parlament am 16. Dezember 2020 bereits die notwendigen Mittel
beschlossen und insgesamt 6,2 Milliarden Franken für diese Beteiligung zur Verfü-
gung gestellt. Diese Mittel
488
teilen sich wie in Tabelle 2.8.9.1 (1) dargestellt auf.
Tabelle 2.8.9.1 (1) Für die Teilnahme am Horizon-Paket 2021-2027 vorgesehene
Verpflichtungskredite. Alle Angaben in Mio. CHF
Teilnahme am Horizon-Paket 2021-2027
5'422,6
Nationale Begleitmassnahmen
116,8
Reserve
614,0
Total
6153,4
Aufgrund der Nicht-Assoziierung 2021-2024 hat der Bundesrat jährlich Übergangs-
massnahmen mit einem Maximalvolumen von gesamthaft 2,5 Milliarden CHF be-
schlossen; der vom Parlament bewilligte Verpflichtungskredit sah die Verwendung
der Mittel in dieser Form im Falle einer ausbleibenden Assoziierung bereits vor. Da-
487
BBl
2021
73
488
Annahmen zum Zeitpunkt der Ausarbeitung der Finanzierungsbotschaft zur Teilnahme am
Horizon-Paket 2021-2027. Wechselkurs: 1,10 Franken/Euro, BIP-Schlüssel von 5,1 % für
Horizon Europe, Euratom und DEP und von 4,2 % für ITER.
518 / 931
mit stehen von den ursprünglich vorgesehenen 5,4 Milliarden Franken noch 2,9 Mil-
liarden CHF für Pflichtbeiträge für die Beteiligung an Horizon Europe, am Euratom-
Programm, dem Programm Digital Europe und ITER in den Jahren 2025-2027 zur
Verfügung.
Zahlungsseitig sind im Finanzplan 2026-2028 die Übergangsmassnahmen eingestellt,
die bei einer jährlichen Fortsetzung bis zum Ende der momentanen Programmgenera-
tion ohne Assoziierung nötig wären. Mit der Assoziierung an das Horizon-Paket wird
stattdessen ein jährlicher Pflichtbeitrag für die betroffenen Elemente des Horizon-Pa-
kets fällig. Dieser wird im Rahmen des ordentlichen Budgetprozesses bereitgestellt.
Gleichzeitig werden die mit den Übergangsmassnahmen 2021-2024 bewilligten Pro-
jekte bis zu ihrem Abschluss ausfinanziert. Diese Kosten werden voraussichtlich bis
circa 2035 in abnehmendem Volumen anfallen. Die übrigen Mittel können für die
jährlichen Pflichtbeiträge eingesetzt werden. In der Tabelle 2.8.9.1 (2) sind die für die
Beteiligung am Horizon-Paket zahlungsseitig vorgesehenen Mittel bis zum Ende der
Laufzeit der momentanen Programmgeneration dargestellt.
Tabelle 2.8.9.1 (2) Für die Teilnahme am Horizon-Paket notwendige Mittel für
die verbleibenden Programmjahre 2025-2027. Alle Angaben in Mio. CHF.
2025
2026
2027
Pflichtbeiträge und Ausfinanzierung Übergangsmassnahmen
Übergangsmassnahmen gemäss Vor-
anschlag 2025 und Finanzplan 2026-
2028
481,0
522,1
563,1
Ausfinanzierung Übergangsmassnah-
men 2021-2024
481,0
269,2
241,7
Pflichtbeitrag Total*
- Horizon Europe
- Euratom-Programm
- Digital Europe
- ITER
642,1
610,3
13,1
18,7
-
645,3
576,0
13,2
17,9
38,3
635,8
571,3
13,8
20,7
30,1
Mehrbelastung Bundeshaushalt
642,1
392,4
314,4
Nationale Begleitmassnahmen
Mittel gemäss Finanzplan 2026-2028 18,0
18,1
19,0
519 / 931
* Annahme: BIP-Schlüssel von 4.81 % (basierend auf dem BIP 2023, gemäss Euros-
tat-Daten vom 03.12.2024). Wechselkurs von 1 CHF = 0.97 EUR für 2025 (vgl. Nach-
trag I 2025
489
) und 1 CHF = 0.95 EUR für 2026 und 2027.
Aufgrund der Nicht-Assoziierung der Schweiz in den Jahren 2021-2024 und der damit
verbundenen projektweisen Finanzierung haben sich gewichtige Verschiebungen in
den jährlichen Zahlungen ergeben: Den in diesen Jahren nicht ausbezahlten Pflicht-
beiträgen (mit entsprechenden jährlichen Kreditresten) stehen nun punktuelle Finan-
zierungsspitzen in den ersten Jahren der Assoziierung gegenüber, weil sich hier die
Ausfinanzierung bestehender Projekte und die erneuten Pflichtbeiträge an die EU ku-
mulieren.
Finanzieller Rückfluss an den Bund:
Der Einsatz der staatlichen Mittel für die Be-
teiligung der Schweiz am Horizon-Paket erlaubt es auch Bundesämtern und vom
Bund getragenen Förderinstitutionen, sich an den Ausschreibungen zu beteiligen und
Fördermittel aus Brüssel zu erhalten. Dies ist vor allem für in der Forschung aktive
Bundesämter (wie z. B. das Bundesamt für Energie, das Bundesamt für Umwelt oder
das Bundesamt für Landwirtschaft) relevant. Beim Vorgängerprogramm Horizon
2020 wurden von Einheiten der zentralen Bundesverwaltung insgesamt 83 Projektbe-
teiligungen mit einer Fördersumme von rund 32,8 Millionen Franken bewilligt.
Weitere finanzielle Auswirkungen:
Die Abwicklung der projektweisen Beteiligung
aus den Übergangsmassnahmen 2021-2024 ist nicht nur mit einem personellen Mehr-
aufwand verbunden (vgl. Ziff. 2.8.9.1.2), sondern erfordert auch eine zweckmässige
Informatiklösung. Im Zusammenhang mit der Teilassoziierung am Vorgängerpro-
gramm Horizon 2020 hat das SBFI bereits eine Projektdatenbank entwickelt, die diese
Prozesse mit maximaler Effizienz ermöglicht. Der Betrieb und die Wartung dieser
Datenbank muss weiterhin sichergestellt sein. Entsprechende Mittel werden über das
Globalbudget des SBFI finanziert und werden somit nicht mit dieser Botschaft bean-
tragt.
Zukünftige Programmgenerationen im Bereich Forschung und Innovation:
Eine
Assoziierung der Schweiz an den nächsten Programmgenerationen ist prinzipiell
möglich und angedacht, vorbehältlich den von Seiten der EU definierten Beteiligungs-
möglichkeiten für Drittstaaten. Die finanziellen Auswirkungen dieser zukünftigen Be-
teiligungen sind jedoch mit grösseren Unsicherheiten behaftet. Einerseits ist die Aus-
gestaltung der nächsten Programmgeneration noch unklar, andererseits ist EU-seitig
der finanzielle Rahmen noch nicht definiert. Unabhängig davon unterliegen zukünf-
tige Beteiligungen in jedem Fall gesonderten Finanzierungsbeschlüssen der eidgenös-
sischen Räte.
Finanzielle Auswirkungen einer Beteiligung an Erasmus+
Die Assoziierung an Erasmus+ erfordert im Vergleich zur aktuellen «Schweizer Lö-
sung» zusätzliche finanzielle Ressourcen – sowohl beim Bund als auch bei der natio-
nalen Agentur Movetia.
489
Abrufbar unter www.efv.admin.ch > Finanzberichte > Nachtragskredite.
520 / 931
Aktuelle Programmgeneration:
Die im Finanzplan 2026-2028 enthaltenen Mittel
dienen der Umsetzung der «Schweizer Lösung» für Erasmus+, der Finanzierung des
Betriebs der nationalen Agentur sowie der Begleitmassnahmen. Im Falle einer Asso-
ziierung an Erasmus+ wird über den Kredit für die «Schweizer Lösung» nur noch die
Ausfinanzierung jener Projekte gedeckt, die im Rahmen der «Schweizer Lösung» ver-
pflichtet wurden und nach 2026 weiterlaufen. Da für diese Ausfinanzierung im Jahr
2027 voraussichtlich lediglich 17,1 Millionen Franken benötigt werden und sich die-
ser Bedarf in den Folgejahren bis 2029 etwa halbieren wird, entsteht in diesem Kredit
ein Minderaufwand, der den effektiven Mehraufwand für eine Assoziierung im Jahr
2027 etwas reduzieren wird. Für die aktuelle Programmgeneration 2021-2027, die
Kosten für den Schweizer Pflichtbeitrag und nationale Zusatzkosten (für Begleitmass-
nahmen und den Betrieb der nationalen Agentur) vorsieht, wird der gesamte Mehr-
aufwand im Zusammenhang mit einer Assoziierung an Erasmus+ im Jahr 2027 anfal-
len. Die nachfolgenden Tabellen fassen einerseits die momentan vorgesehenen Mittel
im Rahmen der «Schweizer Lösung» (Tabelle 2.8.9.1 (3)) sowie die voraussichtlichen
Mehrkosten einer Assoziierung (Tabelle 2.8.9.1 (4)) zusammen.
Tabelle 2.8.9.1 (3): Vorgesehene Mittel für die Umsetzung der «Schweizer Lö-
sung», in Mio. CHF [gemäss Finanzpolitischer Standortbestimmung vom Feb-
ruar 2025]
2026
2027
2028
54,5
57,9
61,5
Tabelle 2.8.9.1 (4): Voraussichtliche Zahlungen im Jahr 2027 im Falle einer As-
soziierung an Erasmus+ (in Mio. CHF)
Schweizer Pflichtbeitrag für die Assoziierung an Eras-
mus+ (inkl. Beteiligungsgebühr)*
171,7
Nationale Zusatzkosten (Betrieb der nationalen Agentur
Movetia und Begleitmassnahmen)
15,8
Total
187,5
Ausfinanzierung der «Schweizer Lösung»
17,1
Abzüglich Finanzplan 2027 (Minderaufwand)
57,9
Mehrbelastung Bundeshaushalt
146,7
* Annahme BIP-Anteil Schweiz am BIP EU-27: 4.81 % (basierend auf dem BIP 2023,
gemäss Eurostat-Daten vom 03.12.2024), Wechselkurs 1 EUR = 0.95 CHF. Mögliche
Veränderungen dieser Parameter sowie des Erasmus+-Gesamtbudgets auf EU-Ebene
könnten den Budgetbedarf um bis zu 25,8 Millionen Franken erhöhen (s. Ziff.
2.8.7.2).
Für die Assoziierung an Erasmus+ wird ein Verpflichtungskredit in der Höhe von
187,5 Millionen Franken benötigt, aufgeteilt in folgende Verpflichtungskredite: (1)
521 / 931
Schweizer Pflichtbeitrag für die Beteiligung an Erasmus+ und (2) nationale Zusatz-
kosten (s. Ziff. 2.8.7.2).
Zukünftige Programmgenerationen:
Analog zum Horizon-Paket dauert die aktu-
elle Programmgeneration Erasmus+ bis Ende 2027. Eine Assoziierung der Schweiz
an die Folgegeneration ist möglich, vorbehältlich der Ausgestaltung der Programme
und der Beteiligungsmöglichkeiten für Drittstaaten seitens EU. Die finanziellen Aus-
wirkungen einer solchen Beteiligung sind mit grösseren Unsicherheiten behaftet. Aus-
gestaltung und Umfang der nächsten Programmgeneration ab 2028 hat die EU noch
nicht definiert. Eine zukünftige Beteiligung unterliegt in jedem Fall gesonderten Fi-
nanzierungsbeschlüssen der eidgenössischen Räte.
2.8.9.1.2
Personelle Auswirkungen
Personalaufwand für die Beteiligung am Horizon-Paket
Die Assoziierung am Horizon-Paket sowie die Ausfinanzierung der Übergangsmass-
nahmen 2021–2024 haben einen befristeten Mehrbedarf an Stellen zur Folge.
Der unbefristete Personalbestand des zuständigen Ressorts ist darauf ausgelegt, die
Interessensvertretung der Schweiz in den Programmkomitees und Netzwerken auf
EU-Ebene wahrzunehmen. Die Forschungsprogramme funktionieren mehrheitlich
mit detaillierten Ausschreibungen, die von Programmkomitees definiert und verab-
schiedet werden. Diese setzen sich aus Ministerialvertreterinnen und -vertretern der
EU-Mitgliedstaaten und der assoziierten Staaten zusammen, die sich regelmässig in
Brüssel treffen. Es ist auch Aufgabe dieser Programmkomitees, die korrekte Imple-
mentierung der Programme zu überwachen. Dazu kommen übergreifende Strategie-
komitees zur Ausrichtung des Europäischen Forschungsraums. Das SBFI stellt durch
den Einsitz in diesen Komitees sicher, dass die Interessen der Schweiz umfassend und
kohärent vertreten werden. Diese Aufgaben werden vom unbefristeten Stellenetat von
10.7 VZÄ abgedeckt.
Während der Nicht-Assoziierung in den Jahren 2021-2024 hat das SBFI nationale
Übergangsmassnahmen umgesetzt. Daraus resultierten rund 2500 Beteiligungen an
Projekten, welche bis zu ihrem Abschluss weiterbetreut werden müssen. Diese Be-
treuung umfasst die wissenschaftliche und finanzielle Berichterstattung, um den effi-
zienten und korrekten Einsatz der Fördermittel sicherzustellen. Aufgrund der durch-
schnittlichen Projektdauer und der erwarteten Verlängerung von Projekten wird sich
diese Aufgabe bis ins Jahr 2035 hinziehen.
Für die Abwicklung der Übergangsmassnahmen wurden zusätzliche, befristete Stel-
len bewilligt, in der Annahme einer auf die Jahre 2021 und 2022 beschränkten Nicht-
Assoziierung und dass die durch den Wegfall von Arbeiten in Verbindung mit der
Interessensvertretung freiwerdenden Ressourcen ebenfalls für die Umsetzung der
Übergangsmassnahmen eingesetzt werden können. Mit der Nicht-Assoziierung am
Horizon-Paket in den Jahren 2021-2024 fallen nun etwa doppelt so viele Projekte an
als in der ursprünglichen Planung des Stellenetats vorgesehen. Ebenso wird sich die
Ausfinanzierung der Projekte nun länger hinziehen als ursprünglich angenommen.
Mit der vorläufigen Anwendung des EUPAs müssen ab 2026 die unbefristeten VZÄ
522 / 931
wieder vollumfänglich die Arbeiten im Zusammenhang mit der Assoziierung abde-
cken und stehen nicht mehr für die Begleitung der Übergangsmassnahmen zur Verfü-
gung.
Für die Umsetzung der Übergangsmassnahmen 2021/2022 wurden ursprünglich ins-
gesamt fünf zusätzliche, befristete VZÄ vorgesehen, aufgeteilt auf die wissenschaft-
liche und finanzielle Betreuung der Projekte. Dadurch, dass der Bund nun doppelt so
lange Übergangsmassnahmen durchführt, und mit der vollumfänglichen Assoziie-
rungsorientierung der Ressourcen aus den unbefristeten VZÄ, werden zusätzliche be-
fristete Stellen notwendig. Der Bedarf fällt dabei mit vier zusätzlichen befristeten
VZÄ tiefer aus, als dies bei der Einführung der Übergangsmassnahmen noch der Fall
war: einerseits aufgrund des gestaffelten Beginns der Projekte und andererseits auf-
grund zusätzlich verschlankter Prozesse beim SBFI. Dabei sollen die bestehenden be-
fristeten Stellen weitergeführt werden. Bis Ende 2029 sind somit konstant neun VZÄ
zur Betreuung der Übergangsmassnahmen mit einem Finanzvolumen von 2,5 Milli-
arden vorgesehen.
Der Ressourcenbedarf sinkt, sobald die meisten Projekte aus der Direktfinanzierung
zum Abschluss kommen. Dies wird ab 2030 teilweise der Fall sein, wobei der Ab-
schluss der letzten Projekte im Jahr 2035 erwartet wird. Damit sind ab 2036 keine
zusätzlichen Stellen mehr notwendig.
Eine Übersicht über den Bestand und den personellen Mehrbedarf wird in Tabelle
2.8.9.1 (5) gegeben.
Personalaufwand für eine Beteiligung an Erasmus+
Die heute bestehenden Aufgaben des Bundes für die Steuerung und Weiterentwick-
lung der nationalen Förderpolitik bleiben auch bei einer Assoziierung an Erasmus+
erhalten und absorbieren voraussichtlich denselben Ressourcenaufwand wie bisher.
Dazu gehören die Mandatierung, Steuerung und Überwachung der nationalen Agentur
sowie von weiteren Projektträgern für die national abgegoltenen Aufgaben (Betrieb
und Begleitmassnahmen). Darüber hinaus muss die Weiterentwicklung der rechtli-
chen und finanziellen Grundlagen der Förderpolitik (Finanzierungsbotschaften, peri-
odische Revisionen der rechtlichen Grundlagen) sichergestellt werden. Daneben fal-
len die Durchführung von Analysen, Expertisen, Studien und Evaluationen zur
Förderpolitik im selben Umfang wie bisher an. Nur einzelne Steuerungsaufwände auf
operativer Ebene fallen beim SBFI bei einer Assoziierung weg (Verfügungen für Pro-
jekte).
Die mit der Assoziierung verbundenen, aufwändigeren Aufsichtspflichten auf natio-
naler Ebene und die politisch-strategischen Koordinationsaufgaben auf europäischer
Ebene erfordern zusätzliche personelle Ressourcen. Erstens muss der Bund über eine
nationale Behörde (SBFI) die Aufsicht über die nationale Agentur und die unabhän-
gige Prüfstelle wahrnehmen sowie auch die regelmässige Berichterstattung an die Eu-
ropäische Kommission sicherstellen. Zweitens vertritt die Schweiz als an Erasmus+
assoziiertes Land neu ihre Interessen in den Programmkomitees und Fachgremien so-
wie in verschiedenen Netzwerken auf EU-Ebene. Mit der Assoziierung einher gehen
auch hochrangige politische Treffen im Bereich Bildung auf europäischer Ebene.
523 / 931
Drittens eröffnet sich dem SBFI als nationale Behörde mit der Assoziierung die Mög-
lichkeit, an zentral verwalteten Programmaktivitäten teilzunehmen, welche die Unter-
stützung der Politikentwicklung und der politischen Zusammenarbeit betreffen. Diese
Beteiligungen stützen die Ziele der internationalen BFI-Strategie, die Schweiz als füh-
renden Bildungsstandort in Europa zu positionieren. Einzelne Aktivitäten können an
interne und externe Akteure (z.B. Bundesamt für Sozialversicherungen BSV, Kan-
tone, Verbände, Agenturen) delegiert werden; Oberaufsicht und Vertretung in den
zentralen Programm- und Fachgremien müssen jedoch durch das SBFI wahrgenom-
men werden.
Für die Wahrnehmung der Aufsichtsaufgaben wird eine Vollzeitstelle benötigt. Die
Aufgaben umfassen einerseits die Aufsichtsaktivitäten über die Verwaltung des Pro-
gramms auf nationaler Ebene durch die nationale Agentur (Umsetzung des Arbeits-
programms gemäss Vereinbarung, ordnungsgemässe Verwaltung der Mittel, verwen-
dete Ressourcen, Risikomanagement, erreichte Resultate/Wirkung) sowie die
jährliche Berichterstattung an die Europäische Kommission über diese Tätigkeiten.
Andererseits muss die nationale Behörde die Aufsicht über die Arbeit der unabhängi-
gen Prüfstelle wahrnehmen. Dies beinhaltet das Abschliessen einer Vereinbarung mit
der unabhängigen Prüfstelle und die Überprüfung der Erfüllung der entsprechenden
Anforderungen während des gesamten jährlichen Prüfungsverfahrens (Planungs-
phase, am Ende der Rechnungsprüfung sowie am Ende der Prüfung der Managemen-
terklärung der nationalen Agentur). Zudem muss das SBFI die Empfehlungen an die
nationale Agentur nachverfolgen, die im Rahmen der jährlichen Managementerklä-
rungen und bei der sogenannten Ex-ante Konformitätsbewertung durch die Europäi-
sche Kommission festgestellt wurden, sowie die Umsetzung dieser Empfehlungen si-
cherstellen.
Die Wahrnehmung der Interessensvertretung auf EU-Ebene beinhaltet die Teilnahme
an politisch-strategischen Treffen auf Ebene der Minister und Generaldirektoren
(mindestens sechs bis acht Treffen pro Jahr, jeweils im Rahmen der halbjährigen EU-
Präsidentschaften), an den Sitzungen des Programmkomitees (rund vier pro Jahr) so-
wie an den Treffen der EU-Fachgremien für die jeweiligen Bildungsbereiche (rund
zehn neue Gremien mit je vier Treffen pro Jahr). Für die Vorbereitung, Teilnahme
und Nachbereitung dieser Treffen sowie für die Teilnahme an den Projekten der Lei-
taktion 3 werden zwei Vollzeitstellen benötigt.
Die für diese Aufgaben (Interessenvertretung auf EU-Ebene, Aufsicht über die Agen-
tur, Berichterstattung an EU) notwendigen zusätzlichen Ressourcen belaufen sich da-
mit auf drei Vollzeitäquivalente. Tabelle 2.8.9.1 (5) gibt einen Überblick über die im
Finanzplan 2026-2028 enthaltenen sowie die im Falle einer Assoziierung ab 2027 zu-
sätzlich benötigten Personalressourcen. Diese Stellen sollen unbefristet sein, damit
das SBFI diese Aufgaben bei einer weiteren Assoziierung der Schweiz in der nächsten
Programmgeneration 2028 – 2034 weiterhin wahrnehmen kann. Vorbehalten bleiben
die entsprechenden Finanzierungsbeschlüsse des Parlaments.
Übersicht personeller Mehrbedarf für die Beteiligung an den BFI-Programmen
Die nachstehende Tabelle weist den personellen Mehrbedarf für die Beteiligung an
der laufenden Programmgeneration sowie die nachfolgende Programmgeneration aus.
524 / 931
Während der Bedarf für die laufende Programmgeneration in den beiden vorherge-
henden Abschnitten detailliert ausgewiesen wurde, sind der Umfang und die Beteili-
gungsmöglichkeiten bei zukünftigen Programmen noch unklar. Es ist jedoch anzu-
nehmen, dass weder die Budgets noch die Komplexität der Programme erheblich
sinken werden. Allfällige Deltas zum hier ausgewiesenen Bedarf würden, falls rele-
vant, in den Finanzierungsbotschaften für die Teilnahmen an den entsprechenden Pro-
grammen ausgewiesen werden.
Tabelle 2.8.9.1 (5): Übersicht über die bestehenden unbefristeten und befristeten
Stellen sowie die im Zusammenhang mit der Assoziierung ans Horizon-Paket
und Erasmus+ beim SBFI zusätzlich benötigten Stellen (befristet oder unbefris-
tet)
2026
2027
2028
2029
2030
2031
2032 -
2035
Horizon-Paket
Bestand unbe-
fristete Stellen
Bestand
(in
VZÄ)
10,7
10,7
10,7
10,7
10,7
10,7
10,7
Bestand befris-
tete Stellen (in
VZÄ)
9,0
9,0
7,0
7,0
7,0
5,0
0,0
Zusätzliche
befristete Stel-
len oder Wei-
terführung be-
fristete Stellen
(VZÄ)
4,0
4,0
6,0
6,0
4,0
3,0
5,0
Total VZÄ
23,7
23,7
23,7
23,7
21,7
18,7
15,7
Erasmus+
Bestand unbe-
fristete Stellen
(in VZÄ)
3,7
3,7
3,7
3,7
3,7
3,7
3,7
Zusätzliche
unbefristete
Stellen bei As-
soziierung ab
2027 (in VZÄ)
-
3,0
3,0
3,0
3,0
3,0
3,0
Total Mehrbedarf
525 / 931
Total zusätzli-
che VZÄ
4,0
7,0
9,0
9,0
7,0
6,0
8,0
Mehrkosten in
CHF
720 00
0
1 260 0
00
1 620 0
00
1 620 0
00
1 260 0
00
1 080 0
00
1 440 0
00
Für die Berechnung wurde mit CHF 180 000 pro Vollzeitstelle inkl. Arbeitgeberbei-
träge gerechnet. Die Arbeitsplatzkosten von CHF 12 000 pro Person und pro Jahr
wurden nicht aufgerechnet.
Der Bundesrat wird den ausgewiesenen Ressourcenbedarf zu gegebener Zeit überprü-
fen und darauf achten, dass ein allfälliger Mehrbedarf an Personalaufwand innerhalb
des Eigenbereichs des Bundes kompensiert wird. Da infolge der Assoziierung – mit
Ausnahme der Übergangsmassnahmen, deren Begleitung voraussichtlich 2035 abge-
schlossen sein wird – keine Aufgaben wegfallen, ist eine Verzichtsplanung erforder-
lich. Ergänzend ist bei der Ressourcensteuerung zu prüfen, in welchen Bereichen über
den Entwicklungsrahmen im Eigenbereich des Bundes zusätzliche Finanzmittel zuzu-
teilen sind.
2.8.9.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf
urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete
Horizon-Paket
Die Assoziierung an die EU-Programme für Forschung und Innovation hat keine di-
rekten Auswirkungen auf städtische Zentren, Agglomerationen und Berggebiete. Alle
Schweizer Regionen profitieren indirekt durch die Möglichkeit, Projekte durchzufüh-
ren bzw. Forschungsbeiträge zu akquirieren. Damit haben besonders Regionen mit
Hochschulen, Forschungsinstituten und innovativen Unternehmen Vorteile von der
Teilnahme am Horizon-Paket. Eine erfolgreiche Beteiligung an den Programmen
stärkt zudem die Reputation der Teilnehmenden und ihrer Region. Kantone und Ge-
meinden können auch direkt an Forschungs- und Innovationsprojekten teilnehmen
und entsprechende Mittel akquirieren.
Erasmus+
Beim Programm Erasmus+ steht der Zugang zu geförderten Aktivitäten Einzelperso-
nen sowie Institutionen und Organisationen aus allen Landesteilen offen. Die geför-
derten Aktivitäten und die zur Verfügung stehenden Fördermittel kommen insbeson-
dere kantonalen Bildungsinstitutionen in der Schul-, Berufs- und Hochschulbildung
zugute.
2.8.9.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
Horizon-Paket
Die Teilnahme am Horizon-Paket ermöglicht der Schweiz und der Schweizer Wirt-
schaft eine enge und kompakte Anbindung an internationale Forschungskooperatio-
nen. Damit bietet sich die Möglichkeit, grenzüberschreitende Projekte, Partnerschaf-
ten und Netzwerke zu realisieren, die durch nationale Förderinstrumente nicht im
gleichen Umfang abgedeckt werden können. Diese Anbindung stärkt die Schweiz im
526 / 931
globalen Wettbewerb um Ressourcen, Ideen und Kooperationen und damit ihre Be-
deutung im Bereich Forschung und Innovation. Die EU-Programme für Forschung
und Innovation fördern alle Teile der Wertschöpfungskette von der Grundlagenfor-
schung bis hin zur Markteinführung. Mit einer Assoziierung an den EU-Programmen
werden der Zugang zu deren Förderinstrumenten und damit auch die Vernetzung mit
dem Ausland vereinfacht. Besonders KMU und Startups erhalten durch die Assozi-
ierung an die EU-Programme Zugang zu Einzelfördermitteln und Beteiligungskapital
zur Entwicklung von Innovationen bis zur Marktreife. Schweizer Unternehmen wer-
den von der vollständigen Einbindung der Schweiz in den Europäischen Innovations-
rat (EIC) profitieren, und gleichzeitig werden kollaborative Projekte zur Erreichung
der Marktreife neuer Technologien gefördert.
Laut einer Befragung im Auftrag des SBFI von Ende 2018 führen Projektbeteiligun-
gen oft zu Umsatzsteigerungen und Unternehmensgründungen (vgl. Bericht des SBFI
«Auswirkungen der Beteiligung der Schweiz an den europäischen Forschungsrah-
menprogrammen 2019»).
490
Fast jede zweite Projektbeteiligung durch Schweizer Un-
ternehmen resultiert in einem Patent, und zwei von drei Projekten entwickeln markt-
nahe innovative Produkte. Auch die Teilnahme an ITER bietet Chancen für Schweizer
Unternehmen in der Entwicklung von bahnbrechenden Technologien. So haben
Schweizer Unternehmen zwischen 2014 und 2020 Verträge im Gesamtwert von 215
Millionen Franken erhalten.
Für Arbeitnehmende und Konsumenten hat eine Beteiligung an den Forschungspro-
grammen ebenfalls positive Auswirkungen: Im Durchschnitt entsteht pro Projektbe-
teiligung ein neuer Arbeitsplatz in der Schweiz. Daneben führen vor allem ange-
wandte Forschungsprojekte zur Entwicklung neuer Dienstleistungen oder Produkte,
zu Patenten und zur Gründung von Startups.
Die Beteiligung an den EU-Rahmenprogrammen für Forschung und Innovation stei-
gert die Wettbewerbsfähigkeit und Exzellenz des Standorts Schweiz, da Projekte im
internationalen Wettbewerb eingeworben werden müssen. Konkret wurden während
der Laufzeit des Vorgängerprogramms Horizon 2020 1 819 Projektbeteiligungen (260
pro Jahr) von Unternehmen umgesetzt, fast 70 % davon von Startups und KMU.
491
Dies erhöht auch den nationalen Wettbewerb und macht den Standort attraktiver für
innovative Unternehmen. Langfristig sollte die gesteigerte Innovation die Produktivi-
tät positiv beeinflussen.
Eine von Ecoplan 2025 im Auftrag des SECO erstellte Studie analysierte die langfris-
tigen Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen Verträge I auf das Schweizer BIP
und bestätigte den erheblichen Nutzen dieser Abkommen.
492
Der Wegfall von Projek-
ten im Rahmen des Horizon-Pakets mindert die Effizienz und Attraktivität der
490
Abrufbar unter: www.sbfi.admin.ch > Forschung und Innovation > Internationale For-
schungs- und Innovationszusammenarbeit > EU-Rahmenprogramme > Zahlen und Fakten
zur Schweizer Beteiligung.
491
Siehe Publikation «Beteiligung der Schweiz an EU-Programmen und -Initiativen für For-
schung und Innovation: Zahlen und Fakten 2023», abrufbar unter: www.sbfi.admin.ch >
Forschung und Innovation > Internationale Forschungs- und Innovationszusammenarbeit >
EU-Rahmenprogramme > Zahlen und Fakten zur Schweizer Beteiligung.
492
www.seco.admin.ch > Wirtschaftslage & Wirtschaftspolitik > Grundlagen für die Wirt-
schaftspolitik.
527 / 931
Schweizer F&I, was zu einem Qualitätsverlust führt. Beim Einsatz von gleichen fi-
nanziellen Mitteln wird geschätzt, dass im Jahr 2045 das BIP bei einer Nicht-Assozi-
ierung um 0,18 % tiefer läge als bei einer Assoziierung.
Bei einer Nicht-Assoziierung an das Horizon-Paket würde insbesondere die Einzel-
projektförderung wegfallen. Die Auswirkungen hat eine Studie von BSS Volkswirt-
schaftliche Beratung im Auftrag des SBFI untersucht.
493
Die Studie stellt fest, dass die
Teilnahme an den EU-Einzelförderprojekten aufgrund des hohen Wettbewerbs und
der internationalen Kooperationsmöglichkeiten mit einem hohen Renommee für die
Schweizer Forschenden, wie auch für Forschungseinrichtungen, KMU und Start-ups
verbunden ist. Ohne eine Assoziierung ist es für den Schweizer Forschungsplatz
schwieriger, Spitzenforschende zu rekrutieren und zu halten.
Erasmus+
Eine Assoziierung an Erasmus+ stärkt die Politik des Bundes und der Kantone zur
Förderung von internationaler Zusammenarbeit und Mobilität in der Bildung. Dies
trägt zur Erreichung der gemeinsamen bildungspolitischen Ziele von Bund und Kan-
tonen aus dem Jahr 2023 bei, wonach Austausch und Mobilität in der Bildung veran-
kert und auf allen Bildungsstufen gefördert werden.
494
Die Schweizer Unternehmen profitieren davon, dass auf dem Arbeitsmarkt besser aus-
gebildete Fachkräfte verfügbar sind, unter anderem mit breiteren Sprach-, Fach- und
Sozialkompetenzen. Die Förderung der Mobilität dient auch dem Arbeitskräftepoten-
tial: Einerseits sammeln Mobilitätsteilnehmende aus allen Bildungsbereichen (z.B.
Studierende, Berufslernende, Ausbildende, etc.) aus der Schweiz wertvolle Auslan-
derfahrungen, anderseits lernen ausländische Mobilitätsteilnehmende Bildungssys-
tem, Gesellschaft und Arbeitsmarkt der Schweiz kennen.
Für Arbeitnehmende schlagen sich die erweiterten Kompetenzen in einer besseren
Beschäftigungsfähigkeit sowie in besseren Löhnen nieder.
Die Standortattraktivität wird verbessert, indem die Schweiz auf europäischer Ebene
und in internationalen Netzwerken als qualitativ hochstehender Bildungsstandort
wahrgenommen wird. Weitere positive Auswirkungen einer Assoziierung an Eras-
mus+ sind die Teilhabe an der Weiterentwicklung von qualitativ hochstehenden und
innovativen Bildungsangeboten sowie die verstärkte Vernetzung der Schweizer Bil-
dungsakteure und -institutionen im europäischen Bildungsraum (s. Ziff. 2.8.2).
2.8.9.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
Horizon-Paket
Die EU-Förderpolitik für Forschung und Innovation zielt darauf ab, eine innovative
und ressourcenschonende Wirtschaft zu fördern und dadurch gesellschaftlichen Nut-
zen zu schaffen. Die Auswirkungen auf Gesellschaft, Umwelt und Wissenschaft sind
493
Abrufbar unter: www.sbfi.admin.ch > Forschung und Innovation > Internationale For-
schungs- und Innovationszusammenarbeit > EU-Rahmenprogramme > Zahlen und Fakten
zur Schweizer Beteiligung > Einzelförderung der EU-Rahmenprogramme für Forschung
und Innovation: Auswirkungen der Schweizer Beteiligung.
494
www.sbfi.admin.ch > Bildung > Bildungsraum Schweiz > Bildungszusammenarbeit Bund
– Kantone > Gemeinsame Grundlagen > Chancen optimal nutzen.
528 / 931
schwer messbar, doch die Förderung von Forschung über alle Bereiche hinweg führt
zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen in den unterschiedlichsten Forschungsge-
bieten. Forschungsergebnisse werden zudem genutzt, um neue politische Strategien
und Massnahmen zu entwickeln, die am Ende auch der Gesellschaft zugutekommen.
Horizon Europe fördert den Transfer von Forschungsergebnissen in die Öffentlichkeit
sowie den Austausch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Das Programm Digital
Europe beispielsweise soll Unternehmen, Bürger und öffentliche Verwaltungen mit
digitaler Technologie und den entsprechenden Kompetenzen ausstatten. Damit wer-
den zentrale Herausforderungen in den Bereichen digitale Technologie und Infra-
struktur angegangen, um die digitale Wettbewerbsfähigkeit und kritische digitale Ka-
pazitäten zu fördern.
Ein weiteres Ziel der EU-Programme ist die Stärkung der Geschlechtergleichstellung
in der Forschung sowie die Förderung akademischer Karrieren. Horizon Europe und
andere Initiativen legen besonderen Wert auf diese Themen, indem sie beispielsweise
gezielt in Ausschreibungen den Miteinbezug von Gleichstellungsfragen im For-
schungsinhalt einfordern und ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis in Projekten
und Evaluationsgremien anstreben.
Erasmus+
Die Chancengerechtigkeit ist ein Grundpfeiler des Programms Erasmus+. Im Rahmen
des Programms werden Menschen mit geringeren Chancen und Organisationen, die
mit diesen Zielgruppen arbeiten, Instrumente und Ressourcen zur Verfügung gestellt,
um die Hürden für die Teilnahme an Programmaktivitäten abzubauen. Eine Assoziie-
rung der Schweiz eröffnet einem breiten Spektrum von Organisationen und Instituti-
onen Zugang zu europäischen Fördermitteln. Auch werden durch die Massnahmen
mehr Personen erreicht, die aufgrund von Behinderungen, gesundheitlichen Ein-
schränkungen oder sozio-ökonomischen Faktoren geringere Chancen auf eine erwei-
terte Bildung haben. Dies leistet einen Beitrag zur Verringerung von Benachteiligun-
gen und zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts.
2.8.9.5
Auswirkungen auf die Umwelt
Horizon-Paket
Der Umweltaspekt spielt mit der angestrebten gleichzeitigen Förderung von Digitali-
sierung und Nachhaltigkeit (der sogenannten «Twin Transition»), dem «Green Deal»
(dem Plan der EU, bis 2050 klimaneutral zu werden) und dem Link zu den
«Sustainable Development Goals» (SDGs, 17 globale Ziele der Vereinten Nationen
zur Förderung von Frieden, Wohlstand und Umweltschutz) eine wichtige Rolle in den
Prioritäten der EU-Programme für Forschung und Innovation. In Horizon Europe sol-
len 35 % des Budgets die Erreichung der Klimaziele unterstützen, indem in sämtlichen
Bereichen von Horizon Europe durch einen systemorientierten Ansatz Forschung zu
sauberer Energie, nachhaltiger Ressourcennutzung, sauberem Wasser, Boden und
Luft sowie zum Erhalt der Umwelt gefördert wird. Ein besonderer Schwerpunkt wird
in den Programmbereichen „Klima, Energie und Mobilität“ sowie „Lebensmittel und
natürliche Ressourcen“ gesetzt. Das Euratom-Programm und ITER tragen langfristig
ebenso zu den Bemühungen um eine nachhaltige Dekarbonisierung der Wirtschaft
529 / 931
bei. Einerseits wird die Entwicklung von verschiedenen Anwendungen der Nuklear-
technologien (Energieerzeugung, Strahlenschutz, Abfallentsorgung oder auch Nukle-
armedizin) gefördert und andererseits werden Technologien für die Nutzung von Fu-
sion als Energiequelle erforscht. Das Programm Digital Europe will mit der
Vorzeigeinitiative „Destination Earth“ ein hochpräzises digitales Modell der Erde (di-
gitalen Zwilling) entwickeln, mit dem sich Naturphänomene, Gefahren und die damit
verbundenen menschlichen Aktivitäten modellieren, überwachen und simulieren las-
sen.
Die Schweiz wird durch ihre Beteiligung am Horizon-Paket zur globalen Agenda
2030 und zu nationalen Zielen wie nachhaltiger Ressourcennutzung und Klimaschutz
beitragen.
Erasmus+
Erasmus+ ist auf europäischer Ebene ein wichtiges Instrument für die Förderung von
Kompetenzen in nachhaltiger Entwicklung. Projekten, die der Entwicklung entspre-
chender Kompetenzen, Methoden und Innovationen dienen, wird Vorrang einge-
räumt. Dadurch werden auch entsprechende Ziele der Schweizer BFI-Politik zuguns-
ten des Standorts Schweiz gestärkt.
2.8.10
Rechtliche Aspekte des Paketelements
2.8.10.1
Verfassungsmässigkeit des Abkommens
Das EUPA stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 der Bundesverfassung (BV)
495
, wonach
der Bund für die auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV
ermächtigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu ratifi-
zieren. Nach Artikel 166 Absatz 2 BV ist die Bundesversammlung für die Genehmi-
gung völkerrechtlicher Verträge zuständig, sofern für deren Abschluss nicht aufgrund
von Gesetz oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (Art. 24 Abs.
2 ParlG
496
und Art. 7a Abs. 1 RVOG
497
). Beim EUPA handelt es sich nicht um einen
völkerrechtlichen Vertrag, für dessen selbstständigen Abschluss der Bundesrat auf-
grund eines Gesetzes oder eines von der Bundesversammlung genehmigten völker-
rechtlichen Vertrags ermächtigt ist.
So enthält das EUPA in Artikel 12 Absatz 13 Verpflichtungen für die Schweiz zur
Zusammenarbeit mit der Europäischen Staatsanwaltschaft (EPPO). Die Schweiz hat
diese Möglichkeit zur Zusammenarbeit zwar schon auf Grund von Artikel 1 Absatz
3
ter
des Bundesgesetzes über internationale Rechtshilfe in Strafsachen (SR 351.1); die
völkerrechtliche Verpflichtung dazu ist aber eine neue Pflicht, die nicht durch die
Kompetenzdelegation an den Bundesrat in Artikel 31 FIFG und Artikel 8 BIZMB
gedeckt ist. Zusätzlich liegt auch keine formelle Gesetzesgrundlage für den Abschluss
von völkerrechtlichen Verträgen durch den Bundesrat vor, um das Protokoll für
EU4Health abzuschliessen.
495
Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999, SR
101
.
496
Bundesgesetz über die Bundesversammlung vom 13. Dezember 2002, SR
171.10
.
497
Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz vom 21. März 1997, SR
172.010
.
530 / 931
Schliesslich handelt es sich beim EUPA auch nicht um einen völkerrechtlichen Ver-
trag von beschränkter Tragweite nach Artikel 7a Absatz 2 RVOG. Das EUPA ist folg-
lich der Bundesversammlung zur Genehmigung zu unterbreiten.
2.8.10.2
Verfassungsmässigkeit der Umsetzungsgesetzgebung und
Begleitmassnahmen
Die Kompetenz des Bundes im Bereich der internationalen Zusammenarbeit und Mo-
bilität in der Bildung stützt sich auf Artikel 54 BV und Artikel 66 BV. Der Bund und
die Kantone fördern gemäss Artikel 61a Absatz 1 BV die Qualität und Durchlässigkeit
des Bildungsraumes Schweiz. Die Zuständigkeit der Bundesversammlung für den
vorliegenden Finanzierungsbeschluss ergibt sich aus Artikel 167 BV. Nach Artikel 7
BIZMB werden die Mittel als Zahlungsrahmen oder Verpflichtungskredite jeweils für
mehrere Jahre bewilligt. Die gesetzliche Grundlage für die Ausgaben bildet Artikel 4
Absatz 1 Buchstaben a und c BIZMB.
2.8.10.3
Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen
der Schweiz
Das EUPA und die Protokolle regeln die Teilnahme der Schweiz an Programmen der
EU.
Es bestehen keine internationalen Verpflichtungen der Schweiz, die im Konflikt mit
der Beteiligung der Schweiz an den Massnahmen der EU im Bereich Forschung und
Innovation (Horizon Europe, Euratom-Programm, ITER, Programm Digital Europe)
stehen.
Ebenso bestehen keine internationalen Verpflichtungen der Schweiz, die im Konflikt
mit einer Assoziierung der Schweiz an Erasmus+ stehen würden.
Des Weiteren bestehen keine internationalen Verpflichtungen der Schweiz, die im
Konflikt mit dem Protokoll «EU4Health» stehen.
2.8.10.4
Erlassform
Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 der Bundesverfassung (BV) unterlie-
gen völkerrechtliche Verträge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige recht-
setzende Bestimmungen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesge-
setzen erfordert. Nach Artikel 22 Absatz 4 des Parlamentsgesetzes vom
13. Dezember 2002
498
(ParlG) sind unter rechtsetzenden Normen jene Bestimmungen
zu verstehen, die in unmittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten
auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen. Als wichtig gelten Best-
immungen, die auf der Grundlage von Artikel 164 Absatz 1 BV in der Form eines
Bundesgesetzes erlassen werden müssten.
Das EUPA enthält wichtige rechtsetzende Bestimmungen. Es handelt sich insbeson-
dere um Artikel 12 Absatz 13 EUPA, der die Schweiz zur Zusammenarbeit mit der
europäischen Staatsanwaltschaft EPPO verpflichtet. Der Bundesbeschluss über die
498
SR
171.10
531 / 931
Genehmigung des Abkommens untersteht deshalb dem fakultativen Referendum nach
Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV (siehe aber die Varianten unter 4.1).
2.8.10.5
Vorläufige Anwendung
Der Bundesrat hat am 09. April 2025 die vorläufige Anwendung des EUPA beschlos-
sen. Sollte die Unterzeichnung bis am 15. November 2025 erfolgen, wird das EUPA
rückwirkend ab dem 1. Januar 2025 vorläufig angewendet. Sollte sie später stattfin-
den, würde das EUPA ab dem 1. Januar 2026 vorläufig angewendet.
Nach Artikel 7
b
Absatz 1 RVOG
499
kann der Bundesrat bei völkerrechtlichen Verträ-
gen, für deren Genehmigung die Bundesversammlung zuständig ist, die vorläufige
Anwendung beschliessen oder vereinbaren, wenn die Wahrung wichtiger Interessen
der Schweiz und eine besondere Dringlichkeit es gebieten. Artikel 152 Absatz 3
bis
Buchstabe a ParlG
500
verlangt, dass der Bundesrat die zuständigen Kommissionen kon-
sultiert, bevor er einen völkerrechtlichen Vertrag vorläufig anwendet, dessen Ab-
schluss durch die Bundesversammlung genehmigt werden muss. Nach Artikel 7
b
Ab-
satz 1
bis
RVOG und Artikel 152 Absatz 3
ter
ParlG verzichtet der Bundesrat auf die
vorläufige Anwendung eines völkerrechtlichen Vertrags, wenn sich die zuständigen
Kommissionen beider Räte dagegen aussprechen.
Die Voraussetzungen der Wahrung wichtiger Interessen der Schweiz sowie der be-
sonderen Dringlichkeit sind in Ziffer 2.8.2 detailliert dargelegt und sind aus Sicht des
Bundesrates zusammengefasst aus folgenden Gründen erfüllt:
Die rückwirkende vorläufige Anwendung ist im Interesse der Schweiz. Die EU kann
damit Förderverträge mit Schweizer Forschenden abschliessen, die sich bei den Aus-
schreibungen 2025 im Rahmen der laufenden Übergangsregelung zur Programmteil-
nahme erfolgreich um EU-Förderbeiträge bei Horizon Europe, beim Euratom-Pro-
gramm und beim Programm Digital Europe beworben hatten. Die vorläufige
Anwendung hat zur Folge, dass die Schweiz bei diesen Programmen als assoziiert gilt.
Sie sollte möglichst noch im Jahr 2025 beginnen, damit Schweizer Forschende, die
sich für die Ausschreibungen dieses Jahres erfolgreich um Finanzhilfen der EU be-
worben haben, auch tatsächlich von der EU finanziert werden können.
Für ITER gilt die vorläufige Anwendung ab 1. Januar 2026. Damit können sich
Schweizer Akteure erneut an dem Bau und der Weiterentwicklung dieser Forschungs-
infrastruktur beteiligen. Die Schweizer Beteiligung an ITER soll die Entwicklung ei-
ner hochmodernen Industriekette im Bereich der Kernfusion in der Schweiz ermögli-
chen. Die Beteiligung an der Bauphase ist dabei von entscheidender Bedeutung, so
dass die Wiederaufnahme der Beteiligung dank der vorläufigen Anwendung nach fünf
Jahren Unterbrechung absolut dringend ist. Darüber hinaus wird es den Schweizer
Akteuren ermöglicht, sich an der Ausarbeitung des Zeitplans für die wissenschaftliche
Nutzung der Infrastruktur zu beteiligen.
499
SR
172.010
500
SR
171.10
532 / 931
Eine Beteiligung der Schweiz an Erasmus+ ist im EUPA ab 1. Januar 2027 vorgese-
hen. Ein zeitlicher Vorlauf ist notwendig, damit die Teilnahme der Schweizer Institu-
tionen und Organisationen an Projekten der Programmausschreibungen 2027 sicher-
gestellt ist und das nationale Implementationssystem ein halbes Jahr vor dem
Programmeinstieg akkreditiert werden kann.
Im EUPA wird vereinbart, die vorläufige Anwendung bis längstens Ende 2028 wei-
terzuführen. Sollte das EUPA im Rahmen des Pakets Schweiz-EU vom Parlament
oder vom Volk nicht genehmigt werden, wird der Bundesrat der EU das Ende der
vorläufigen Anwendung mitteilen müssen. Der Zeitpunkt der Beendigung der vorläu-
figen Anwendung wird vom Bundesrat beschlossen werden, sobald ein allfälliger ab-
lehnender Beschluss des Parlaments ergangen ist, beziehungsweise wenn das Datum
der Volksabstimmung, aus welcher sich allenfalls ein ablehnendes Resultat ergeben
könnte, feststeht. Dabei wird der Bundesrat die Situation der Gesuchstellenden für
EU-Beiträge mitberücksichtigen. Die EU sollte die zum Zeitpunkt einer Nicht-Geneh-
migung bereits bezahlten Pflichtbeiträge der Schweiz noch in geordneter Weise für
den Abschluss der Verträge für das entsprechende Programmjahr mit Schweizer For-
schenden verwenden können. Dafür ist es notwendig, dass das EUPA noch für eine
bestimmte Zeit über das Datum einer allfälligen Nicht-Genehmigung hinaus vorläufig
angewendet wird.
Für die Schweiz sollen nach einer Nichtgenehmigung keine neuen
finanziellen Verpflichtungen mehr entstehen.
Eine Teilnahme an EU4Health während der vorläufigen Anwendung des EUPA ist
nicht vorgesehen.
Der Bundesrat wird die aussenpolitischen Kommissionen von National- und Ständerat
vor der vorläufigen Anwendung anhören (Art. 152 Abs. 3
bis
ParlG).
2.8.10.6
Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass
2.8.10.6.1
Unterstellung unter die Ausgabenbremse
Nach Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV unterstehen die Pflichtbeiträge zu Horizon
Europe der Ausgabebremse. Dies wurde im Rahmen des Bundesbeschlusses vom 16.
Dezember 2020 dargelegt. Nach Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV bedürfen die
beantragten Mittel für die Assoziierung an Erasmus+ der Zustimmung der Mehrheit
der Mitglieder beider Räte, da die Bestimmung eine neue einmalige Ausgabe von
mehr als 20 Millionen Franken nach sich zieht.
2.8.10.6.2
Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der
fiskalischen Äquivalenz
Gemäss Artikel 64 Absatz 1 BV fördert der Bund in politischer Hauptverantwortung
die wissenschaftliche Forschung und Innovation
501
. Gemäss Artikel 61a Absatz 1 BV
sorgen Bund und Kantone gemeinsam im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für eine hohe
Qualität und Durchlässigkeit des Bildungsraumes Schweiz. Die Aufgabenteilung zwi-
schen Bund und Kantonen wird mit der Beteiligung der Schweiz am Horizon-Paket
und am Programm Erasmus+ nicht geändert.
501
Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht, Bildungs-, Kultur- und Sprachenrecht, Band
XI, Markus Metz, Rz. 13.
533 / 931
2.8.10.6.3
Einhaltung der Grundsätze des Subventionsgesetzes
Artikel 5 des Subventionsgesetzes vom 5. Oktober 1990 (SuG)
502
verpflichtet den Bun-
desrat, sämtliche Subventionen mindestens alle sechs Jahre zu überprüfen und dem
Parlament über die Ergebnisse dieser Prüfung Rechenschaft abzulegen. Die Rechen-
schaftsablage findet teils im Rahmen von Botschaften, mit denen der Bundesrat dem
Parlament mehrjährige Finanzbeschlüsse oder Änderungen bestehender Subventions-
bestimmungen beantragt, teils in der Staatsrechnung statt. Die Überprüfung der Ein-
haltung der Grundsätze des Subventionsgesetzes bei der Beteiligung am Forschungs-
rahmenprogramm Horizon Europe, am neuen Programm Digital Europe sowie am
Euratom-Programm und ITER unterliegt dem sechsjährigen Überprüfungszyklus. Zu-
letzt hat der Bundesrat im Rahmen der Staatsrechnung 2018 (Band 1, Ziff. A55)
503
und
der Staatsrechnung 2024
504
Bericht erstattet. Über die Beteiligungen an Erasmus+ wird
der Bundesrat voraussichtlich erstmals im Jahr 2030 Bericht erstatten, unter der Vo-
raussetzung, dass die Schweiz auch an der nächsten Programm-Generation 2028 –
2034 assoziiert ist.
502
Bundesgesetz über die Finanzhilfen und Abgeltungen vom 5. Oktober 1990, SR 616.1.
503
Abrufbar unter: www.efv.admin.ch > Finanzberichte > Staatsrechnung.
504
Abrufbar unter www.efv.admin.ch > Finanzberichte > Staatsrechnung.
534 / 931
2.9
Weltraum
2.9.1
Zusammenfassung
Ziel des EUSPA-Abkommens ist es, die langfristige Teilnahme der Schweiz an der
Agentur der EU für das Weltraumprogramm (
European Union Agency for the Space
Programme
, EUSPA) sicherzustellen. Das Abkommen ergänzt das unbefristete Ko-
operationsabkommen vom 18. Dezember 2013
505
über die europäischen Satellitenna-
vigationsprogramme (GNSS-Kooperationsabkommen), welches seit dem 1. Ja-
nuar 2014 vorläufig angewendet wird.
Die EUSPA ist die operative Agentur für das EU-Weltraumprogramm und seiner
Komponenten – darunter das Satellitennavigationsprogramm Galileo, das «Europäi-
sche geostationäre Navigationssystem» (
European Geostationary Navigation Overlay
Service
, EGNOS) und das Erdbeobachtungsprogramm Copernicus. Die Aufgaben der
Agentur bestehen darin, zur Durchführung des EU-Weltraumprogramms beizutragen,
die Sicherheit seiner Komponenten zu gewährleisten sowie marktfähige Anwendun-
gen zu entwickeln, mit denen zuverlässige, sichere und geschützte weltraumbezogene
Dienste bereitgestellt werden können. Die Europäische Weltraumorganisation (
Euro-
pean Space Agency
, ESA), bei welcher die Schweiz Mitglied ist, führt ebenfalls einen
wichtigen Teil des Weltraumprogramms der EU durch
506
. Alle Komponenten des EU-
Weltraumprogramms stellen sicher, dass Europa seine Unabhängigkeit gegenüber den
Systemen der USA, Russlands und Chinas wahren kann, was insbesondere in einer
von geopolitischer Instabilität und globalen Krisen geprägten Welt von entscheiden-
der Bedeutung ist und wovon auch die Schweiz profitiert.
Die Schweiz beteiligt sich im Rahmen des GNSS-Kooperationsabkommens bereits an
vielen der an die EUSPA delegierten Aufgaben, ohne jedoch Zugang zu relevanten
Informationen betreffend den operativen Betrieb und die Weiterentwicklung der
Komponenten des EU-Weltraumprogramms zu haben. Mit dem EUSPA-Abkommen
soll diese Informationslücke geschlossen werden. Bei der Entwicklung der Kompo-
nenten des EU-Weltraumprogramms stehen wichtige Schritte an, beispielsweise die
Einführung von Authentifizierungsdiensten und die Inbetriebnahme des hochsicheren
öffentlichen regulierten Dienstes (
Public Regulated Service
, PRS) von Galileo, der
ausschliesslich staatlich autorisierten Nutzenden zugänglich und deshalb insbeson-
dere für Behörden oder Organisationen mit höheren Sicherheitsanforderungen (bei-
spielsweise Blaulichtorganisationen, Nachrichtendienste, Armee und Grenzschutz)
zentral ist. Viele dieser Richtungsentscheide werden von der EUSPA massgeblich
mitbestimmt. Die Teilnahme an der EUSPA ist eine Vorgabe der EU für den Zugang
zum PRS.
Das EUSPA-Abkommen regelt die wesentlichen technischen Aspekte sowie die
Rechte und Pflichten der Vertragsparteien. Es erlaubt der Schweiz eine Teilnahme an
den Aktivitäten der Agentur, die sich auf Programmkomponenten beziehen, für die
ein entsprechendes Kooperationsabkommen besteht. Es sieht den Zugang zum Ver-
waltungsrat und zum Gremium für die Sicherheitsakkreditierung vor, jedoch ohne
Stimmrecht, da dieses den EU-Mitgliedstaaten vorbehalten ist. Im Gegenzug zu den
505
SR
0.741.826.8
506
SR
0.425.09
535 / 931
gewährten Rechten beteiligt sich die Schweiz auf der Basis eines vom Bruttoinland-
produkt (BIP) abhängigen Berechnungsschlüssels anteilsmässig an der Finanzierung
der EUSPA.
Das EUSPA-Abkommen wird – wie das GNSS-Kooperationsabkommen – auf unbe-
schränkte Zeit abgeschlossen, kann jedoch von beiden Vertragsparteien unter Einhal-
tung einer sechsmonatigen Kündigungsfrist aufgelöst werden. Eine allfällige vorläu-
fige Anwendung des Abkommens ist ab dem 1. Januar 2026 möglich, wenn die
Unterzeichnung vor dem 1. Juli 2026 erfolgt. Findet sie nach dem 30. Juni 2026 statt,
erfolgt die allfällige vorläufige Anwendung ab dem 1. Januar des Folgejahres.
Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt. Er beantragt
im Rahmen des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU die Genehmigung des
EUSPA-Abkommens.
2.9.2
Ausgangslage
2.9.2.1
Die europäischen Satellitennavigationsprogramme
Mitte der 1990er Jahre lancierten die ESA und ihre Mitgliedstaaten, darunter die
Schweiz, in Abstimmung und Kooperation mit der EU zwei Programme für den Auf-
bau und Betrieb eines eigenständigen europäischen Satellitennavigationssystems Ga-
lileo sowie des europäischen geostationären Navigationssystems EGNOS. Die
Schweiz hat diese Programme im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in der ESA von An-
beginn unterstützt und daran teilgenommen. Seit 2008 liegt die Gesamtverantwortung
dieser Programme ausschliesslich bei der EU. Die ESA ist an der Weiterentwicklung
beteiligt.
Bei Galileo handelt es sich um ein globales Navigationssatellitensystem (
Global Na-
vigation Satellite System
, GNSS), welches als zivile und unabhängige Alternative zu
den militärischen GNSS der USA (
Global Positioning System
, GPS), Russlands
(GLONASS) sowie Chinas (Beidou) konzipiert wurde. Das System besteht aus einer
Konstellation von Satelliten und einem weltweiten Netz von Bodenstationen. Galileo
bietet seit 2016 Geolokalisationsdienste an.
EGNOS ist ein ziviles regionales Satellitennavigationssystem, das aus mehreren geo-
stationären Satelliten und einem Netz von Bodenstationen in Europa und Nordafrika
besteht. Seit dessen Inbetriebnahme im Jahre 2011 verbessert das System die Genau-
igkeit und Zuverlässigkeit der Satellitensignale des amerikanischen GPS sowie in ei-
ner späteren Phase auch des europäischen Galileo.
Die europäischen GNSS-Programme nehmen bereits heute in verschiedenen Berei-
chen der Satellitennavigationstechnologie – beispielsweise bei der Signalpräzision
und -zuverlässigkeit – eine internationale Vorreiterrolle ein und werden diese voraus-
sichtlich mit der Bereitstellung weiterer Dienste noch ausbauen können.
2.9.2.2
Teilnahme
der
Schweiz
an
den
europäischen
Satellitennavigationsprogrammen
Die Schweiz hat mit der EU das unbefristete GNSS-Kooperationsabkommen abge-
schlossen. Dieses regelt die Teilnahme der Schweiz an den europäischen GNSS-
Programmen Galileo und EGNOS.
536 / 931
Das GNSS-Kooperationsabkommen wird seit dem 1. Januar 2014 vorläufig angewen-
det. Der Zeitpunkt des Inkrafttretens hängt vom Abschluss der jeweiligen internen
Genehmigungsverfahren und von der entsprechenden Notifikation der Vertragspar-
teien ab. Nicht nur die EU, sondern auch die einzelnen EU-Mitgliedstaaten sind Ver-
tragsparteien, was das Inkrafttreten verzögert hat. Im Jahr 2024 hat der letzte ausste-
hende EU-Mitgliedstaat seine internen Verfahren zur Ratifizierung abgeschlossen.
Dadurch kann die EU ihr Ratifizierungsverfahren ebenfalls durchführen. Seitens
Schweiz sind alle erforderlichen Prozesse abgeschlossen.
Das GNSS-Kooperationsabkommen sieht vor, dass die Schweiz in den Gremien der
Programme ohne Stimmrecht Einsitz nimmt. Die Schweiz nimmt seit Beginn der vor-
läufigen Anwendung aktiv an den Sitzungen des GNSS-Programmausschusses teil.
Sie wird im Rahmen dieses Gremiums über die Entwicklung der Programme infor-
miert und kann ihre Einschätzungen einbringen. Zusätzlich trifft sich die Schweiz in
der Regel mindestens einmal jährlich mit der Europäischen Kommission in einem
Gemischten Ausschuss, um Fragen betreffend das GNSS-Kooperationsabkommen zu
klären.
Mit der Teilnahme an den europäischen GNSS-Programmen trägt die Schweiz aktiv
zum Aufbau und Betrieb von Galileo und EGNOS bei. Sie sichert sich dadurch den
Zugang zu den Signalen beziehungsweise Diensten der europäischen Systeme. Das
GNSS-Kooperationsabkommen gewährt der schweizerischen Industrie ausserdem
Zugang zu den Ausschreibeverfahren für Aufträge im Zusammenhang mit Galileo
und EGNOS. Im Gegenzug beteiligt sich die Schweiz gemäss einem vom BIP abhän-
gigen Finanzierungsschlüssel an
den
eingegangenen
Verpflichtungen
der
GNSS-Programme.
Im Weiteren sieht das GNSS-Kooperationsabkommen das Recht der Schweiz zur
Teilnahme an der EUSPA (bis Mai 2021:
European GNSS Agency
, GSA) und den
Zugang zum hochsicheren öffentlichen regulierten Galileo-Dienst PRS vor. Die Mo-
dalitäten dieser Teilnahme beziehungsweise des Zugangs müssen in zwei separaten
Zusatzabkommen geregelt werden.
Mit dem EUSPA-Abkommen sowie dem anschliessend auszuhandelnden Abkommen
über den Zugang zum PRS wird die schweizerische Teilnahme – wie im GNSS-
Kooperationsabkommen vorgesehen – vervollständigt.
2.9.2.3
Die
Agentur
der
Europäischen
Union
für
das
Weltraumprogramm
Die EUSPA mit Sitz in Prag nimmt innerhalb des Weltraumprogramms der EU eine
bedeutende Rolle ein.
Die EUSPA wurde 2021 durch die Verordnung (EU) 2021/696
507
als Nachfolgeror-
ganisation der GSA eingerichtet. Die GSA war verantwortlich für die Programmsi-
507
Verordnung (EU) 2021/696 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Ap-
ril 2021 zur Einrichtung des Weltraumprogramms der Union und der Agentur der Europäi-
schen Union für das Weltraumprogramm und zur Aufhebung der Verordnungen
(EU) Nr. 912/2010, (EU) Nr. 1285/2013 und (EU) Nr. 377/2014 sowie des Beschlusses
Nr. 541/2014/EU, ABl. L 170 vom 12.5.2021, S. 69.
537 / 931
cherheit, die Sicherheitsakkreditierung sowie die Bereitstellung der Dienste der bei-
den GNSS-Programme Galileo und EGNOS. Mit der Einrichtung der EUSPA wurden
das Tätigkeitsfeld und der Zuständigkeitsbereich der Agentur auf weitere Komponen-
ten des EU-Weltraumprogramms – darunter das Erdbeobachtungsprogramm Coper-
nicus, die staatliche Satellitenkommunikationsinfrastruktur (
European Union
Governmental Satellite Communications
, GOVSATCOM), die als Basis für die Kons-
tellation
Infrastructure for Resilience, Interconnectivity and Security by Satellite
(IRIS
2
) dient, sowie das Weltraumlageerfassungsprogramm
Space Situational Awa-
reness
(SSA) – ausgeweitet. Die EUSPA ist somit die operative Agentur aller Kom-
ponenten des EU-Weltraumprogramms und zuständig für den Betrieb, die Instandhal-
tung und den Schutz der Infrastruktur. Sie beteiligt sich an der Weiterentwicklung der
Programmkomponenten und der von ihnen bereitgestellten Dienste und nachgelager-
ten Anwendungen.
Die EUSPA wird operativ von einer Exekutivdirektorin oder einem Exekutivdirekto-
ren geleitet. Für die strategische Führung ist der Verwaltungsrat zuständig. Die wich-
tige Aufgabe der Sicherheitsakkreditierung aller Komponenten des EU-
Weltraumprogramms erfolgt durch das agenturinterne Gremium für die Sicherheits-
akkreditierung. Der Verwaltungsrat und das Gremium für die Sicherheitsakkreditie-
rung setzen sich aus Vertreterinnen und Vertretern der Mitgliedstaaten, verschiedener
Gremien der EU sowie von Drittstaaten (ohne Stimmrecht) zusammen.
Die Kernausgaben der EUSPA werden durch einen jährlichen Beitrag aus dem Haus-
halt der EU sowie festgelegten Beiträgen von teilnehmenden Drittstaaten finanziert.
Diese Ausgaben setzen sich aus Personal-, Verwaltungs-, Betriebs- und Infrastruktur-
kosten der Agentur zusammen.
Die zusätzlichen Aufgaben, die der EUSPA durch die Europäische Kommission über-
tragen werden – sogenannte delegierte Aufgaben, dazu zählt beispielsweise der ope-
rative Betrieb von Galileo und EGNOS – werden zweckgebunden ebenfalls aus dem
Haushalt der EU finanziert. An diesen delegierten Aufgaben beteiligt sich die Schweiz
im Rahmen des GNSS-Kooperationsabkommens bereits.
2.9.2.4
Verhandlungen 2018/2019
Der Bundesrat beabsichtigte, die Verhandlungen über die schweizerische Teilnahme
an der EUSPA – beziehungsweise an ihrer Vorgängeragentur GSA – unmittelbar nach
Unterzeichnung des GNSS-Kooperationsabkommens aufzunehmen. Erste Gespräche
über die Modalitäten der Teilnahme an der GSA fanden kurz nach Vorliegen des ent-
sprechenden Verhandlungsmandats der EU im Jahr 2018 statt. Für die Schweiz galt
das Verhandlungsmandat vom 9. März 2009 (siehe Ziffer 2.9.3.2).
Unter der Federführung des Bundesamts für Strassen (ASTRA) wurden die Verhand-
lungen Schweiz-intern in einer Arbeitsgruppe und einem entsprechenden Entschei-
dungsgremium vorbereitet. Gemäss dem schweizerischen Verhandlungsmandat
wirkte die Abteilung Europa (ehemals die Direktion für europäische Angelegenheiten,
DEA) des Staatssekretariats des Eidgenössischen Departements für auswärtige Ange-
legenheiten (STS-EDA) als «mitverantwortliche Unterhändlerin» mit. Ebenfalls in die
Arbeiten miteinbezogen wurden das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und In-
novation (SBFI) und das Bundesamt für Rüstung (armasuisse).
538 / 931
Nach mehreren informellen technischen Gesprächen fand am 8. November 2018 eine
erste Verhandlungsrunde in Brüssel statt. Im Nachgang konnten sich beide Seiten im
März 2019 auf einen Abkommensentwurf einigen.
Die Paraphierung des Abkommensentwurfs wurde dann allerdings seitens EU mit
Verweis auf die offenen institutionellen Fragen blockiert. Aus demselben Grund
konnten die Verhandlungen über eine Teilnahme der Schweiz am PRS bisher nicht
aufgenommen werden.
2.9.2.5
Common Understanding
Das
Common Understanding
hielt fest, dass Verhandlungen über die Umsetzung und
damit
die
Weiterentwicklung
des
bereits
bestehenden
GNSS-
Kooperationsabkommens wieder aufgenommen werden können.
2.9.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
2.9.3.1
Zielsetzung
Ziel des EUSPA-Abkommens ist die Sicherstellung der Teilnahme der Schweiz an
der EUSPA. Hierzu regelt es die wesentlichen technischen Aspekte sowie die Rechte
und Pflichten beider Vertragsparteien.
Die Teilnahme der Schweiz an der EUSPA muss im Zusammenhang mit der Beteili-
gung der Schweiz an den Programmkomponenten Galileo und EGNOS des
EU-Weltraumprogramms betrachtet werden. Das EUSPA-Abkommen ist eine Kom-
plettierung des unbefristeten GNSS-Kooperationsabkommens und soll der langfristi-
gen Sicherstellung der Investition der Schweiz in die EU-Infrastrukturprojekte Gali-
leo und EGNOS dienen.
Eine Nichtbeteiligung an der EUSPA hätte für die Schweiz eine grosse Tragweite.
Der voraussetzungsfreie Zugang zum PRS ist den EU-Mitgliedstaaten vorbehalten.
Drittstaaten können nur mittels eines Abkommens Zugang erhalten und Verhandlun-
gen über den Zugang zum PRS werden von der EU an eine Teilnahme an der EUSPA
geknüpft. Aus sicherheitspolitischer Perspektive ist der Zugang zum PRS für die
Schweiz von besonderem Interesse. Beim PRS handelt es sich um einen Dienst, der
ausschliesslich staatlich autorisierten Nutzenden zugänglich und deshalb insbeson-
dere für Behörden oder Organisationen mit höheren Sicherheitsanforderungen (bei-
spielsweise Blaulichtorganisationen, Nachrichtendienste, Armee und Grenzschutz)
zentral ist. PRS ist besonders robust und vollständig verschlüsselt, um die Kontinuität
des Dienstes in nationalen Notfällen oder Krisensituationen zu gewährleisten. PRS
kann die Nutzenden insbesondere vor zwei Bedrohungen schützen: Schutz vor Mani-
pulation des Signals (
Spoofing
) und Schutz vor Störung des Signals (
Jamming
). Mit-
hilfe von PRS können die Resilienz und Abwehrfähigkeiten der Schweiz verbessert,
die Funktionsfähigkeit von kritischen Sektoren der Infrastruktur bei Störungen sicher-
gestellt und die Robustheit der Gesellschaft gegenüber Bedrohungen erhöht werden.
539 / 931
2.9.3.2
Verhandlungsmandat
Für die Verhandlungen über die Teilnahme der Schweiz an der EUSPA gilt das Ver-
handlungsmandat vom 9. März 2009, das schweizerischerseits die Verhandlungen
zum GNSS-Kooperationsabkommen und zur Teilnahme an der GSA freigegeben hat.
Am 27. Februar 2008 definierte der Bundesrat die EU-Programme Galileo und
EGNOS als eines der prioritären Dossiers für eine Vertiefung der Beziehungen mit
der EU. Der vertragliche Einbezug der Schweiz sollte schrittweise erfolgen, da ge-
wisse relevante EU-Rechtstexte noch nicht verabschiedet waren. Das Mandat enthielt
deshalb die Verhandlungsdirektiven für den Abschluss eines ausbaufähigen Erstab-
kommens – das GNSS-Kooperationsabkommen – welches nun mit dem EUSPA-
Abkommen ergänzt werden soll.
2.9.3.3
Verhandlungsverlauf
Nach Abschluss der exploratorischen Gespräche Ende Oktober 2023 konnten die Ver-
handlungen zur Teilnahme der Schweiz an der EUSPA im Rahmen des Pakets
Schweiz–EU wieder aufgenommen werden.
Der Abkommensentwurf aus den Verhandlungen von 2018/2019 konnte in grossen
Teilen übernommen werden. Insbesondere die unbefristete Teilnahme an der EUSPA
– analog zum GNSS-Kooperationsabkommen – und die vorläufige Anwendung konn-
ten sichergestellt werden.
Das Schweizer Verhandlungsmandat vom 9. März 2009 bezog sich auf die bereits er-
läuterten Aktivitäten der GSA (siehe Ziffer 2.9.2.3). Da sich die Agentur zur EUSPA
weiterentwickelt und dies die Ausweitung ihrer Aktivitäten auf weitere Komponenten
des EU-Weltraumprogramms mit sich gebracht hatte, konnte das Mandat dementspre-
chend nicht im vormals angedachten Umfang umgesetzt werden. In Anbetracht dieser
Tatsache musste die Schweiz für die Sicherstellung ihrer Teilnahme an den Aktivitä-
ten der EUSPA bezogen auf die Komponenten Galileo und EGNOS ihre finanzielle
Beteiligung auf die im Mandat nicht vorgesehenen Programmkomponenten der
EUSPA (Copernicus, GOVSATCOM und SSA) ausweiten.
Die EU sieht für Drittstaaten einzig eine finanzielle Vollbeteiligung an der EUSPA
vor, unabhängig von den Programmkomponenten, an denen sie teilnehmen. Ein an-
teilsmässiger finanzieller Beitrag nach Programmkomponenten konnte in den Ver-
handlungen nicht durchgesetzt werden, denn dies war auch keinem anderen Drittstaat
gewährt worden. Im ungünstigsten Fall könnte nicht ausgeschlossen werden, dass die
Schweiz ab einem gewissen Zeitpunkt einen grösseren Beitrag an Aktivitäten der
EUSPA bezogen auf Programmkomponenten des EU-Weltraumprogramms leisten
müsste, an denen sie nicht beteiligt ist. Das Budget der EUSPA könnte sich in diesem
Fall zu Ungunsten der Schweiz hin zu den anderen Programmkomponenten verschie-
ben. Zurzeit wird das Budget der EUSPA zu 95 Prozent für Galileo und EGNOS ver-
wendet
508
und es ist nicht zu erwarten, dass sich dies mittelfristig erheblich ändert.
Würde das Ungleichgewicht zwischen den Aktivitäten der EUSPA bezogen auf Gali-
508
www.euspa.europa.eu > About us > Corporate documents > Single Programming Docu-
ment (SPD) > EUSPA Single Programming Document 2025-2027.
540 / 931
leo und EGNOS und den Aktivitäten der EUSPA bezogen auf die anderen Programm-
komponenten zu gross, bestünde – als
ultima ratio
– jederzeit die Möglichkeit einer
Kündigung des EUSPA-Abkommens. Eine Kündigung würde allerdings zum Verlust
der von der Schweiz bis zu diesem Zeitpunkt an die EUSPA geleisteten Beiträge füh-
ren.
Das Verhandlungsmandat legt fest, dass «die schweizerische Delegation [...] beauf-
tragt [wird], einen Abzug für [...] die vorerst partielle Teilnahme auszuhandeln» und
dass «nachträgliche Budgetaufstockungen auf Seiten der EU [...] nicht automatisch zu
einer Erhöhung des Schweizer Beitrags [führen].» In Anbetracht dessen, dass das
Mandat aus dem Jahr 2009 stammt und dass es sich auf die Vorgängeragentur der
EUSPA bezieht, kann dieser Verweis auf die nur teilweise Beteiligung nicht direkt
auf einen anteiligen finanziellen Beitrag an der EUSPA nach Programmkomponenten
angewandt werden. Beide Passagen verdeutlichen jedoch, dass die Absicht bestand,
die Schweiz vor unverhältnismässigen finanziellen Beiträgen zu schützen. Dies erfor-
derte in den Verhandlungen die Aufnahme von Leitplanken für den Fall einer künfti-
gen Ausweitung der Aktivitäten der EUSPA, an welchen sich die Schweiz nicht be-
teiligt. Eine Änderung der Verordnung (EU) 2021/696 könnte Drittstaaten wie der
Schweiz auf den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) ab 2028 ermöglichen,
einen Beitrag zu bezahlen, der sich auf die Aktivitäten beschränkt, an denen sie teil-
nehmen. Aus diesem Grund wird im EUSPA-Abkommen die Möglichkeit eines zu-
künftigen anteiligen finanziellen Beitrags an der EUSPA nach Programmkomponen-
ten berücksichtigt.
Neu gegenüber dem Abkommensentwurf von 2019 ist eine Teilnahmegebühr von
vier Prozent des jährlichen Beitrags. Eine solche wird erst seit dem laufenden MFR
ab 2021 für Drittstaaten für die Teilnahme an EU-Agenturen erhoben. Für die ersten
beiden Teilnahmejahre konnte eine Staffelung ausgehandelt werden. Zusätzlich erhält
der Gemischte Ausschuss des EUSPA-Abkommens die Kompetenz, die Gebühr ab
dem neuen MFR ab 2028 zu ändern.
Zur Aushandlung des Abkommens fanden sieben Verhandlungsrunden statt, die letzte
am 27. November 2024. Die Verhandlungen konnten am 20. Dezember 2024 materi-
ell abgeschlossen werden. Die Verhandlungsdelegation der Schweiz setzte sich aus
dem ASTRA, der Abteilung Europa des STS-EDA (Co-Verhandlungsleitung), dem
SBFI und dem Bundesamt für Umwelt (BAFU) zusammen.
2.9.4
Vorverfahren
Aufgrund der Verhandlungen von 2018/2019 konnte auf dem damals ausgehandelten
Abkommensentwurf aufgebaut werden (siehe Ziffer 2.9.2.4). Weitere Vorarbeiten
waren nicht notwendig. Ein exploratorisches Gespräch mit der EU zur Wiederauf-
nahme der Verhandlungen fand im Februar 2024 statt.
Da keine weitgehenden volkswirtschaftlichen Auswirkungen erwartet werden, wurde
auf eine Regulierungsfolgenabschätzung verzichtet. Ebenfalls waren keine Studien
oder Gutachten notwendig.
541 / 931
2.9.5
Grundzüge des Abkommens
Das EUSPA-Abkommen erlaubt der Schweiz eine Teilnahme an den Aktivitäten der
EUSPA, die sich auf Programmkomponenten beziehen, für die ein entsprechendes
Kooperationsabkommen besteht. Es sieht den Zugang zum Verwaltungsrat und zum
Gremium für die Sicherheitsakkreditierung vor, jedoch ohne Stimmrecht, da dieses
den EU-Mitgliedstaaten vorbehalten ist. Ausserdem erlaubt es die Beschäftigung von
Schweizer Bürgerinnen und Bürgern als temporäre Angestellte und die Entsendung
als national abgeordnete Experten. Die Teilnahme sieht auch einen finanziellen Bei-
trag der Schweiz vor.
Das Abkommen wird – wie das GNSS-Kooperationsabkommen – auf unbeschränkte
Zeit abgeschlossen. Eine vorläufige Anwendung des Abkommens ist ab dem 1. Ja-
nuar 2026 möglich, wenn die Unterzeichnung vor dem 1. Juli 2026 erfolgt. Findet sie
nach dem 30. Juni 2026 statt, erfolgt die vorläufige Anwendung ab dem 1. Januar des
Folgejahres. Das Abkommen kann von beiden Vertragsparteien unter Einhaltung ei-
ner sechsmonatigen Kündigungsfrist jederzeit aufgelöst werden.
Das EUSPA-Abkommen erweitert die strategische Mitwirkung der Schweiz an den
Programmkomponenten Galileo und EGNOS des EU-Weltraumprogramms und er-
laubt ihr, sich an deren Ausgestaltung und Weiterentwicklung zu beteiligen. Eine
langfristige Teilnahme an der EUSPA bietet ausserdem die grösstmögliche Sicherheit
für die baldige Teilnahme am PRS, was für die Schweizer Beteiligung an den europä-
ischen GNSS insgesamt ein wesentliches Element darstellt und den Nutzen der lang-
jährigen und unbefristeten Investitionen in Galileo und EGNOS massiv vergrössern
wird.
Das Abkommen umfasst 17 Artikel sowie drei Anhänge, welche ein integraler Be-
standteil des Abkommens sind.
2.9.6
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Abkommens
Art. 1-3
Umfang der schweizerischen Teilnahme
Die Artikel 1-3 regeln den Umfang der Teilnahme der Schweiz an der Agentur sowie
der Beteiligung am Verwaltungsrat (
Administrative Board
) und am Gremium für die
Sicherheitsakkreditierung (
Security Accreditation Board
). Die Schweiz beteiligt sich
gemäss Artikel 1 Absatz 1 an den Aktivitäten der EUSPA bezogen auf die Programm-
komponenten Galileo und EGNOS des EU-Weltraumprogramms. Artikel 1 Absatz 2
eröffnet künftig die Möglichkeit der Teilnahme der Schweiz an Aktivitäten der
EUSPA bezogen auf weitere Programmkomponenten des EU-Weltraumprogramms,
beispielsweise Copernicus, sofern dies im EU-Programmabkommen vorgesehen
wird.
Die Schweiz kann im Verwaltungsrat als Beobachterin ohne Stimmrecht teilnehmen.
Dies entspricht der Regelung in anderen Agenturabkommen zwischen der Schweiz
und der EU. Im Sicherheitsakkreditierungsgremium erhält die Schweiz einen be-
schränkten Zugang und kann nur bei direkt die Schweiz betreffende Themen als Be-
obachterin Einsitz nehmen. Die Fragen, die die Schweiz unmittelbar betreffen, werden
542 / 931
in der Tagesordnung, die von der oder dem Vorsitzenden des Gremiums für die Si-
cherheitsakkreditierung vor jeder Sitzung erstellt wird, aufgeführt und der Schweiz
vor der Sitzung mitgeteilt.
Art. 4
Finanzielle Beteiligung der Schweiz
Artikel 4 verweist auf den Anhang I und sieht Bestimmungen bezüglich der finanzi-
ellen Beteiligung der Schweiz vor. Der Finanzierungsschlüssel für die Berechnung
des schweizerischen Beitrags an die EUSPA entspricht dem Finanzierungsschlüssel
für die Berechnung der schweizerischen Beiträge an die europäischen GNSS-
Programme: effektiv eingesetzte Mittel x (BIP
CH
/ BIP
EU-Mitgliedstaaten)
= Schweizer Bei-
trag. Es ist vorgesehen, dass dieser Schlüssel auf jene Teile des Budgets angewendet
wird, welche relevant für die Beteiligung der Schweiz an der EUSPA sind. Aktuell ist
das Budget der EUSPA unteilbar, weshalb der Finanzierungsschlüssel auf das ge-
samte Budget angewandt wird. Eine Änderung der Verordnung (EU) 2021/696 könnte
Drittstaaten wie der Schweiz auf den nächsten MFR ab 2028 ermöglichen, einen Bei-
trag zu bezahlen, der sich nach dem Umfang der Aktivitäten richtet, an denen sie teil-
nehmen.
Ausserdem wird eine Teilnahmegebühr erhoben. 2026 beträgt sie 2 Prozent des
Schweizer Beitrags an die EUSPA, 2027 3 Prozent und ab 2028 4 Prozent, wobei der
Gemischte Ausschuss des EUSPA-Abkommens diese Prozentzahl ab 2028 anpassen
kann.
Die Schweiz hat ihren finanziellen Beitrag spätestens 45 Tage nach Erhalt der Zah-
lungsaufforderung zu entrichten. Bei Zahlungsverzug werden der Schweiz ab dem
Zahlungstermin Verzugszinsen für den ausstehenden Betrag berechnet. Als Zinssatz
wird der von der Europäischen Zentralbank für ihre Hauptrefinanzierungsgeschäfte
zugrunde gelegte Zinssatz zuzüglich 3,5 Prozentpunkten angewendet.
Art. 5
Datenschutz
Die Schweiz wendet ihre nationalen Vorschriften über den Schutz natürlicher Perso-
nen bei der Bearbeitung von Personendaten an. Ausserdem sind die in der Geschäfts-
ordnung des Verwaltungsrats und des Gremiums für die Sicherheitsakkreditierung der
Agentur festgelegten Vorschriften über die Vertraulichkeit von Dokumenten im Be-
sitz der Agentur zu beachten.
Art. 6-8
Rechtliche Aspekte und Gerichtsbarkeit
Artikel 6 befasst sich mit der Rechtsform der EUSPA. Sie besitzt in der Schweiz die
weitestgehende Rechts- und Handlungsfähigkeit, die juristischen Personen nach
schweizerischem Recht zuerkannt wird. Sie kann insbesondere bewegliches und un-
bewegliches Vermögen erwerben und veräussern und ist parteifähig. Die Arti-
kel 7 und 8 befassen sich mit der Regelung der Haftung der Agentur und der Trag-
weite der exklusiven Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs hinsichtlich der
EUSPA. Letztere betrifft einen sehr begrenzten Bereich und kommt nur im Falle eines
Verfahrens gegen die EUSPA im Rahmen einer Schadenersatzforderung zur Anwen-
dung.
Artikel 9-10
Vorrechte und Befreiungen der Agentur sowie Agenturpersonal
543 / 931
Artikel 9 regelt gemeinsam mit Anhang II die Vorrechte und Befreiungen der Agentur
sowie des Agenturpersonals. Die Regelung ist identisch zur Regelung in anderen Ab-
kommen des Pakets Schweiz–EU (siehe Ziffer 2.1.5.7).
Artikel 10 regelt die Anstellungsbedingungen des Agenturpersonals und hält die
Möglichkeit für Schweizer Bürgerinnen und Bürger fest, als temporäre Angestellte
bei der Agentur beschäftigt wie auch als national abgeordnete Experten in die Agentur
entsandt zu werden.
Art. 11
Betrugsprävention
Artikel 11 regelt die Möglichkeit einer von der EU in der Schweiz durchgeführten
Finanzkontrolle betreffend schweizerische Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Tä-
tigkeiten der Agentur bezogen auf Artikel 95 der Verordnung (EU) 2021/696 und
wird durch Anhang III ergänzt. Die EU-Kommission und das Europäische Amt für
Betrugsbekämpfung werden berechtigt, auf schweizerischem Hoheitsgebiet Kontrol-
len und Überprüfungen durchzuführen. Die zuständige schweizerische Prüfbehörde,
die Eidgenössische Finanzkontrolle, wird von den auf schweizerischem Hoheitsgebiet
durchgeführten Prüfungen zuvor unterrichtet.
Art. 12-13
Gemischter Ausschuss des EUSPA-Abkommens und Streitbeile-
gung
Analog zu anderen Abkommen mit der EU wird nach Artikel 12 ein Gemischter Aus-
schuss (
Committee
) aus Vertreterinnen und Vertretern der Schweiz und der EU ein-
gesetzt, um das Abkommen zu verwalten und bei Bedarf weiterzuentwickeln sowie
den Informationsaustausch sicherzustellen. Er tritt auf Antrag der Schweiz oder der
EU-Kommission zusammen und kann Änderungen der Anhänge des Abkommens be-
schliessen.
Bei Unklarheiten bezüglich Interpretation oder Umsetzung des Abkommens soll ent-
sprechend des Artikels 13 der Gemischte Ausschuss des EUSPA-Abkommens kon-
sultiert werden.
Art. 14
Anhänge
Laut Artikel 14 sind die Anhänge Bestandteil des Abkommens.
Art. 15-17
Inkrafttreten, Geltungsdauer und vorläufige Anwendung
Artikel 15 regelt das Ratifizierungsverfahren, das Inkrafttreten des Abkommens im
Kontext des Pakets Schweiz–EU (siehe Ziffer 2.1.5.6.) sowie die vorläufige Anwen-
dung. Die Artikel 16 und 17 regeln die Modalitäten für allfällige Anpassungen, die
Geltungsdauer sowie die Beendigung des Abkommens. Das Abkommen wird – wie
das GNSS-Kooperationsabkommen – auf unbeschränkte Zeit abgeschlossen.
Eine vorläufige Anwendung des Abkommens ist ab dem 1. Januar 2026 möglich,
wenn die Unterzeichnung vor dem 1. Juli 2026 erfolgt. Findet sie nach dem
30. Juni 2026 statt, erfolgt die vorläufige Anwendung ab dem 1. Januar des Folgejah-
res.
Das Abkommen kann von beiden Vertragsparteien unter Einhaltung einer sechsmo-
natigen Kündigungsfrist jederzeit aufgelöst werden. Sollte künftig das GNSS-
544 / 931
Kooperationsabkommen aufgelöst werden und kein Abkommen mehr bestehen, wel-
ches die Teilnahme der Schweiz an der EUSPA vorsieht, tritt das EUSPA-Abkommen
ebenfalls ausser Kraft.
2.9.7
Grundzüge des Umsetzungserlasses
Für das EUSPA-Abkommen ist kein Umsetzungserlass notwendig.
2.9.7.1
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
Die Teilnahme an der EUSPA dient der Komplettierung des GNSS-
Kooperationsabkommens. Erst nach der Unterzeichnung des EUSPA-Abkommens ist
eine Verhandlung zur Teilnahme am PRS möglich, was den Nutzen von Galileo und
EGNOS für die Schweiz durch die Beteiligung an einem hochsicheren Dienst erheb-
lich vergrössern wird. Die zusätzlichen Kosten sind gering im Verhältnis zu den Ge-
samtkosten der Teilnahme an den GNSS-Programmen. Ausserdem erhält die Schweiz
Zugang zu relevanten Informationen betreffend den operativen Betrieb und die Wei-
terentwicklung der EU-Weltraumprogramme.
Die Schweiz beteiligt sich im Rahmen des GNSS-Kooperationsabkommens bereits
heute an vielen der an die Agentur delegierten Aufgaben, ohne jedoch über die ent-
sprechenden vertieften Informationen des Verwaltungsrats und des Gremiums für die
Sicherheitsakkreditierung zu verfügen.
2.9.8
Auswirkungen des Paketelements
2.9.8.1
Auswirkungen auf den Bund
2.9.8.1.1
Finanzielle Auswirkungen
Mit dem Abschluss des Abkommens verpflichtet sich die Schweiz zur Beteiligung an
den laufenden Kosten der EUSPA. Der von der Schweiz zu leistende Beitrag ist –
aufgrund des Finanzierungsschlüssels (siehe Ziffer 2.9.6) – abhängig von verschiede-
nen Parametern, auf welche die Schweiz keinen Einfluss nehmen kann. Dies sind na-
mentlich die Entwicklung des BIP der Schweiz sowie der EU-Mitgliedstaaten und das
Budget der EUSPA.
Das Budget der EUSPA für 2024 betrug rund 80 Millionen Euro
509
. Bei einem pro-
portionalen Faktor von 4,86 Prozent (entspricht dem für 2024 für das GNSS-
Kooperationsabkommen gültigen proportionalen Faktor) hätte sich daraus für 2024
ein Schweizer Beitrag von umgerechnet rund 3,8 Millionen Franken für die Beteili-
gung an der EUSPA ergeben.
Der Schweizer Beitrag für die Programmkomponente Galileo und EGNOS betrug
2024 rund 61,7 Millionen Euro. Der Beitrag an die EUSPA ist gering im Verhältnis
zu den Gesamtkosten der Teilnahme an den GNSS-Programmen.
Die Frage, wie ein allfälliger Mehraufwand finanziert werden soll, wird sich im Hin-
blick auf den neuen MFR ab 2028 erneut stellen, sowohl in Bezug auf die EUSPA als
auch für die Teilnahme am GNSS-Kooperationsabkommen. Zurzeit ist noch offen,
509
www.euspa.europa.eu > About us > Corporate documents > Multiannual Work Pro-
gramme > Multiannual Work Programme 2021-2027.
545 / 931
wie hoch das durch die EU für die Weltraumprogramme und die EUSPA im neuen
MFR bereitgestellte Budget sein wird. Eine gewisse Aufstockung des Budgets ist
möglich, worauf die Schweiz aber keinen Einfluss hat.
Bei einer zukünftigen Teilnahme am PRS fallen gemäss heutigem Wissensstand keine
zusätzlichen Beiträge an, dieser Dienst ist vom allgemeinen Beitrag an Galileo und
EGNOS gedeckt. Allerdings werden für die Nutzung von PRS spezielle Empfangsge-
räte benötigt, die beschafft werden müssten. Zusätzlich würden Kosten anfallen für
den Betrieb der benötigten Infrastruktur, insbesondere einer nationalen PRS-Behörde.
2.9.8.1.2
Personelle Auswirkungen
Die sich aus der Teilnahme an der EUSPA ergebenden Pflichten für die Schweiz las-
sen sich mit den vorhandenen beim ASTRA angesiedelten personellen Ressourcen
erfüllen. Das Abkommen hat folglich keine personellen Auswirkungen auf den Bund.
2.9.8.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf
urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete
Das EUSPA-Abkommen hat keine unmittelbaren Auswirkungen auf Kantone, städti-
sche Zentren, Agglomerationen und Berggebiete. Die Kantone haben mit der Teil-
nahme an der EUSPA keine finanziellen Auswirkungen zu gewärtigen.
Mit der Unterzeichnung des Abkommens wird über die Teilnahme am PRS verhandelt
werden können. PRS kann beim Bevölkerungsschutz (Polizei und Rettungsdienste)
auch den Kantonen unmittelbar bei der Erfüllung ihrer Aufgaben dienen.
2.9.8.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
Die erwarteten Auswirkungen des Abkommens auf Unternehmen werden aufgrund
der beschränkten Anzahl Akteure im Weltraumbereich als gering eingeschätzt. In der
Schweiz sind rund 120 Unternehmen im Bereich Raumfahrt tätig, was ungefähr 1000
Arbeitsplätzen entspricht, die direkt an Raumfahrtaktivitäten beteiligt sind. Diese Un-
ternehmen haben bereits durch das GNSS-Kooperationsabkommen die Möglichkeit
zur Teilnahme an Ausschreibungen bezüglich den Programmkomponenten Galileo
und EGNOS des EU-Weltraumprogramms.
Die Teilnahme an der EUSPA verbessert die Rahmenbedingungen und eröffnet wei-
tere Möglichkeiten für diejenigen Schweizer Unternehmen, die Produkte und Dienst-
leistungen im Bereich Satellitentechnologie, -signale und -daten anbieten. In den ver-
gangenen Jahren mussten Unternehmen und Hochschulen zum Teil darum kämpfen,
berücksichtigt zu werden, selbst wenn sie die Voraussetzungen für die Teilnahme an
Ausschreibungen bezüglich den Programmkomponenten Galileo und EGNOS des
EU-Weltraumprogramms erfüllten. Die Mitgliedschaft in der EUSPA wird ihre Teil-
nahme an Ausschreibungen und Konsortien erleichtern und ein positives Zeichen für
die Integration von Schweizer Akteuren setzen. Bei einer zukünftigen Teilnahme am
PRS könnten sich neue Geschäftsmöglichkeiten ergeben.
Auf die Forschung, insbesondere auf die Hochschulen, werden aufgrund der be-
schränkten Anzahl Akteure geringe Auswirkungen erwartet. Es gibt ungefähr zwei bis
drei Forschungsinstitute in der Schweiz in diesem Bereich. Die Auswirkungen der
Teilnahme an der EUSPA auf ihre Publikationen ist allerdings schwer abschätzbar.
546 / 931
2.9.9
Rechtliche Aspekte des Paketelements
2.9.9.1
Verfassungsmässigkeit des Abkommens
Das EUSPA-Abkommen stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 der Bundesverfas-
sung
510
(BV), wonach der Bund für die auswärtigen Angelegenheiten und den Ab-
schluss von völkerrechtlichen Verträgen zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV er-
mächtigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu
ratifizieren. Die Bundesversammlung ist nach Artikel 166 Absatz 2 BV für die Ge-
nehmigung völkerrechtlicher Verträge zuständig; ausgenommen sind die Verträge, für
deren Abschluss auf Grund eines Gesetzes oder eines von der Bundesversammlung
genehmigten völkerrechtlichen Vertrags der Bundesrat zuständig ist (Artikel 24 Ab-
satz 2 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 2002
511
[ParlG]; Artikel 7
a
Ab-
satz 1 des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 1997
512
[RVOG]).
Beim EUSPA-Abkommen handelt es sich nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag,
für dessen selbstständigen Abschluss der Bundesrat aufgrund eines Gesetzes oder ei-
nes von der Bundesversammlung genehmigten völkerrechtlichen Vertrags ermächtigt
ist. Es handelt sich auch nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag von beschränkter
Tragweite nach Artikel 7
a
Absatz 2 RVOG. Das EUSPA-Abkommen ist folglich der
Bundesversammlung zur Genehmigung zu unterbreiten.
2.9.9.2
Verfassungsmässigkeit der Umsetzungsgesetzgebung und
Begleitmassnahmen
Das EUSPA-Abkommen bedarf weder einer Umsetzungsgesetzgebung noch Begleit-
massnahmen.
2.9.9.3
Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen
der Schweiz
Der Abschluss des Abkommens ist in Artikel 16 des GNSS-Kooperationsabkommens
vorgesehen.
Die schweizerische Teilnahme an der EUSPA steht im Einklang mit dem Überein-
kommen vom 30. Mai 1975 zur Gründung der ESA.
Das EUSPA-Abkommen ist mit den von der Schweiz ratifizierten Weltraumverträgen
der Organisation der Vereinten Nationen und den anderweitigen internationalen Ver-
pflichtungen der Schweiz im Bereich Weltraumforschung und Raumfahrt vereinbar.
2.9.9.4
Erlassform
Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV unterliegen völkerrechtliche Ver-
träge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige rechtsetzende Bestimmungen
enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Nach Ar-
510
SR
101
511
SR
171.10
512
SR
172.010
547 / 931
tikel 22 Absatz 4 ParlG sind unter rechtsetzenden Normen jene Bestimmungen zu ver-
stehen, die in unmittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten auf-
erlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen. Als wichtig gelten Bestim-
mungen, die auf der Grundlage von Artikel 164 Absatz 1 BV in der Form eines
Bundesgesetzes erlassen werden müssten.
Das EUSPA-Abkommen enthält wichtige rechtsetzende Bestimmungen. Es handelt
sich insbesondere um die Bestimmungen im Anhang III, welche die Finanzkontrolle
bei der Schweizer Beteiligung an Aktivitäten der EUSPA regeln.
Der Bundesbeschluss über die Genehmigung des Abkommens untersteht deshalb dem
fakultativen Referendum nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV (siehe
Varianten unter Ziffer 4.1).
2.9.9.5
Vorläufige Anwendung
Artikel 15 Absatz 3 des EUSPA-Abkommens sieht vor, dass eine vorläufige Anwen-
dung des Abkommens ab dem 1. Januar 2026 möglich ist, wenn die Unterzeichnung
vor dem 1. Juli 2026 erfolgt. Findet sie nach dem 30. Juni 2026 statt, erfolgt die vor-
läufige Anwendung ab dem 1. Januar des Folgejahres.
Nach Artikel 7
b
Absatz 1 RVOG kann der Bundesrat bei völkerrechtlichen Verträgen,
für deren Genehmigung die Bundesversammlung zuständig ist, die vorläufige Anwen-
dung beschliessen oder vereinbaren, wenn die Wahrung wichtiger Interessen der
Schweiz und eine besondere Dringlichkeit es gebieten. Artikel 152 Absatz 3
bis
Buch-
stabe a ParlG verlangt, dass der Bundesrat die zuständigen Kommissionen konsultiert,
bevor er einen völkerrechtlichen Vertrag vorläufig anwendet, dessen Abschluss durch
die Bundesversammlung genehmigt werden muss. Nach Artikel 7
b
Absatz 1
bis
RVOG
und Artikel 152 Absatz 3
ter
ParlG verzichtet der Bundesrat auf die vorläufige Anwen-
dung eines völkerrechtlichen Vertrags, wenn sich die zuständigen Kommissionen bei-
der Räte dagegen aussprechen.
Die Voraussetzungen der Wahrung wichtiger Interessen der Schweiz sowie der be-
sonderen Dringlichkeit sind aus Sicht des Bundesrates aus folgenden Gründen erfüllt:
Die Unterzeichnung und die vorläufige Anwendung des Abkommens erlauben der
Schweiz, an der Arbeit der EUSPA teilzunehmen und dadurch die langfristige Zusam-
menarbeit zwischen der Schweiz, der EU und den EU-Mitgliedstaaten im Bereich der
Satellitennavigation zu fördern, zu erleichtern und zu vertiefen. Die Schweiz wird
insbesondere ermächtigt werden, Einsitz im Verwaltungsrat der Agentur zu nehmen,
in diesem Gremium ohne Stimmrecht mitzuwirken und dadurch relevante Informati-
onen über die Arbeit der EUSPA zu erhalten. Die beiden GNSS-Programme Galileo
und EGNOS stehen vor wichtigen Entwicklungsschritten (beispielsweise die Einfüh-
rung von Authentifizierungsdiensten und die Inbetriebnahme von PRS). Viele dieser
Richtungsentscheide werden von der EUSPA massgeblich mitbestimmt. Je rascher
die Schweiz an der EUSPA beteiligt ist, desto vorteilhafter ist dies für die Schweizer
Interessen im GNSS-Bereich.
Die Schweiz ist zudem an einem baldigen Zugang zum PRS und den damit verbun-
denen sicherheitsrelevanten Signalen interessiert. Der Bundesrat betrachtet diesen als
ein wichtiges Element der Teilnahme an den europäischen GNSS-Programmen. PRS
ist vollständig verschlüsselt. Dies gewährleistet die Kontinuität, Widerstandsfähigkeit
548 / 931
und Robustheit des Dienstes auch dann, wenn der Satellitenzugang beeinträchtigt ist,
beispielsweise durch böswillige Störungen. Mit diesem System kann die Schweiz
schnell und zuverlässig auf Notfälle reagieren. PRS wird in den nächsten Monaten in
Betrieb genommen und anschliessend schrittweise zu einem vollen Dienst ausgebaut
werden. Ab Inbetriebnahme wird PRS im Bereich Sicherheit und Verteidigung in Eu-
ropa eine herausragende Rolle spielen und die Unabhängigkeit Europas von US-
amerikanischen, russischen und chinesischen Satellitennavigationssystemen weiter
vergrössern. In einer von geopolitischer Instabilität und globalen Krisen geprägten
Welt ist der möglichst rasche Zugang zum PRS für die Schweiz von strategischer
Notwendigkeit.
Die Teilnahme an der EUSPA ist eine Vorgabe der EU für die Aufnahme von Ver-
handlungen
über
einen
Zugang
zum
PRS,
welcher
das
GNSS-
Kooperationsabkommen komplettiert. Während der EUSPA-Verhandlungen wurde
seitens EU-Kommission darauf hingewiesen, dass die Unterzeichnung und die vor-
läufige Anwendung des EUSPA-Abkommens ausreichend sind, um mit den Gesprä-
chen zu PRS beginnen zu können.
Der Bundesrat kann beschliessen, der EU mit der Unterzeichnung des Abkommens
sein Einverständnis zu notifizieren, das Abkommen vor dessen Genehmigung durch
die Bundesversammlung gemäss Artikel 15 Absatz 3 des EUSPA-Abkommens ab
dem 1. Januar 2026 vorläufig anzuwenden. Die zuständigen Kommissionen des Nati-
onalrats und des Ständerats werden gemäss Artikel 152 Absatz 3
bis
ParlG zur vorläu-
figen Anwendung des Abkommens konsultiert.
Nach Artikel 7
b
Absatz 2 RVOG endet die vorläufige Anwendung, wenn der Bundes-
rat nicht binnen sechs Monaten ab Beginn der vorläufigen Anwendung der Bundes-
versammlung den Entwurf des Bundesbeschlusses über die Genehmigung des Ab-
kommens unterbreitet.
2.9.9.6
Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass
Es ist keine Umsetzungsgesetzgebung vorgesehen.
2.9.9.7
Datenschutz
Aufgrund des EUSPA-Abkommens ergibt sich kein gesetzgeberischer Handlungsbe-
darf im Zusammenhang mit dem Datenschutz. Artikel 5 Absatz 1 des EUSPA-
Abkommens verweist für den Schutz von Personendaten auf die Einhaltung des
Schweizer Datenschutzrechts.
549 / 931
2.10
Schweizer Beitrag
2.10.1
Zusammenfassung
Mit dem Schweizer Beitrag investiert die Schweiz seit 2007 in die Stabilität und den
Zusammenhalt in Europa. Beides sind wesentliche Voraussetzungen für einen gut
funktionierenden EU-Binnenmarkt, an dem die Schweiz sektoriell teilnimmt. Die
Verstetigung des Schweizer Beitrags ist ein wichtiges Element des Pakets zur Stabi-
lisierung und Weiterführung des bilateralen Wegs. Die EU fordert einen solchen Bei-
trag grundsätzlich von jenen Staaten, die am Binnenmarkt teilnehmen. Entsprechend
leisten auch Länder wie Island, Liechtenstein und Norwegen, die dem Europäischen
Wirtschaftraum (EWR) angehören, seit 1994 einen regelmässigen Beitrag in der Höhe
von derzeit rund 440 Millionen Franken pro Jahr, wovon der Grossteil (430 Mio.
CHF) auf Norwegen entfällt.
513
Das Abkommen mit der EU über den regelmässigen finanziellen Beitrag der Schweiz
zur Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in der EU (Bei-
tragsabkommen) gehört zum Stabilisierungsteil des Pakets Schweiz–EU. Es schafft
einen klaren, vorhersehbaren Rahmen für den Schweizer Beitrag an die Kohäsion und
die Bewältigung wichtiger gemeinsamer Herausforderungen, wie aktuell die Migra-
tion. Zudem erhöht sich damit die Rechtssicherheit und finanzielle Planbarkeit für die
Schweiz. Ebenfalls Teil der Vorlage ist der Entwurf eines Umsetzungsgesetzes zum
Beitragsabkommen, dem Bundesgesetz über die Beiträge der Schweiz zur Stärkung
der Kohäsion in Europa (Kohäsionsbeitragsgesetz). Dieses ist als neue innerstaatliche
Rechtsgrundlage für die Umsetzung des Beitragsabkommens notwendig. Das Bun-
desgesetz vom 30. September 2016
514
über die Zusammenarbeit mit den Staaten Ost-
europas, die gesetzliche Grundlage für die bisherigen Schweizer Beiträge, war nur bis
am 31. Dezember 2024 gültig. Da mit dem Beitragsabkommen ein rechtsverbindli-
cher Mechanismus für einen regelmässigen Schweizer Beitrag geschaffen wird, soll
auch das Kohäsionsbeitragsgesetz unbefristet gültig sein.
Die jeweiligen Schweizer Beiträge werden allerdings weiterhin befristet sein. Wie
bisher werden die Mittel nicht ins EU-Budget fliessen, sondern direkt den Partner-
staaten zugutekommen. Die Höhe der Beiträge sowie weitere Elemente für deren Um-
setzung werden für jede Beitragsperiode gemäss den Bestimmungen des Beitragsab-
kommens jeweils in einem rechtlich unverbindlichen
Memorandum of Understanding
(MoU) neu festgelegt. Einzig für den ersten Beitrag für die Beitragsperiode 2030–
2036 enthält das Beitragsabkommen bereits gewisse Elemente, darunter die Höhe des
Beitrags von 350 Millionen Franken pro Jahr (308 Mio. CHF Kohäsion und 42 Mio.
CHF Migration). Umgesetzt und ausbezahlt wird der erste Beitrag im Zeitraum 2030–
2039. Teil dieser Vorlage sind daher auch die beiden Verpflichtungskredite Kohäsion
und Migration, die zusammen mit dem im Betrag enthaltenen Eigenaufwand der Bun-
desverwaltung von 5 % und dem
Swiss Expertise and Partnership Fund
(SEPF) von
2 % den ersten Schweizer Beitrag 2030–2036 gemäss dem neuen Mechanismus bil-
den.
513
Finanzierungsmechanismen des EWR und Norwegens 2021–2028: www.eeagrants.org.
514
SR
974.1
550 / 931
Im Rahmen des Paketansatzes hat sich die Schweiz zudem zu einer einmaligen zu-
sätzlichen finanziellen Leistung verpflichtet, die den Umfang der Partnerschaft mit
der EU und die Zusammenarbeit im Zeitraum zwischen dem materiellen Abschluss
der Verhandlungen Ende 2024 und dem Inkrafttreten des neuen rechtsverbindlichen
Mechanismus widerspiegeln soll. Dieser Zeitraum ist aufgeteilt in eine Phase vor und
eine Phase nach dem Inkrafttreten des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU.
Die einmalige finanzielle Verpflichtung beläuft sich auf jährlich 130 Millionen Fran-
ken ab Ende 2024 bis zum Inkrafttreten des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–
EU. Für die Phase zwischen dem Inkrafttreten des Stabilisierungsteils des Pakets
Schweiz–EU und dem Start des ersten Schweizer Beitrags im Jahr 2030 beläuft sie
sich auf jährlich 350 Millionen Franken. Die einmalige zusätzliche finanzielle Ver-
pflichtung wird ausschliesslich im Bereich Kohäsion über einen Zeitraum von zehn
Jahren ab dem Beginn der Beitragsperiode 2030 umgesetzt. Teil der Vorlage ist daher
auch ein Verpflichtungskredit für eine einmalige zusätzliche finanzielle Verpflich-
tung. Dabei wird von einem frühestmöglichen Inkrafttreten des Stabilisierungsteils
des Pakets Schweiz–EU per 1. Januar 2028 ausgegangen. Bei einem späteren Inkraft-
treten würde der Verpflichtungskredit entsprechend nicht ausgeschöpft.
Die Höhe des Schweizer Beitrags in künftigen Beitragsperioden nach 2036 wird zwi-
schen der Schweiz und der EU gestützt auf den im Beitragsabkommen vorgesehenen
Mechanismus bestimmt, was beiden Parteien die notwendige Planungssicherheit ge-
währt. Der Bundesrat wird dem Parlament jeweils zu gegebener Zeit entsprechende
Verpflichtungskredite für die Beitragsperioden nach 2036 zur Genehmigung unter-
breiten.
Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt. Er beantragt
im Rahmen des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU die Genehmigung des
Beitragsabkommens und der dazugehörenden Umsetzungsgesetzgebung.
2.10.2
Ausgangslage
Der Schweizer Beitrag ist seit vielen Jahren Teil des bilateralen Wegs. Die Schweiz
beteiligt sich mit dem Erweiterungs- beziehungsweise Kohäsionsbeitrag seit 2007 und
dem zweiten Schweizer Beitrag seit 2019 an der Verringerung der wirtschaftlichen
und sozialen Ungleichheiten in der EU. Partnerstaaten des Erweiterungsbeitrags in
der Höhe von einer Milliarde Franken waren ursprünglich die 2004 beigetretenen zehn
EU-Mitgliedstaaten Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien,
Tschechische Republik, Ungarn und Zypern (EU-10). Der Erweiterungsbeitrag wurde
nach ihrem EU-Beitritt 2009 auf Bulgarien und Rumänien (257 Mio. CHF) und 2014
auf Kroatien (45 Mio. CHF) ausgeweitet. Der zweite Schweizer Beitrag ab 2019 ist
mit insgesamt 1,302 Milliarden Franken gleich hoch wie der Erweiterungsbeitrag.
Partnerstaaten im Bereich Kohäsion sind dieselben 13 Länder. Dazu kam ein Fokus
auf die Bewältigung von Migrationsbewegungen in jenen EU-Mitgliedstaaten, die ei-
nem besonderem Migrationsdruck ausgesetzt sind, wie beispielsweise Italien und
Griechenland.
Die Kohäsionspolitik ist ein zentraler Politikbereich der EU. Sie umfasst verschiedene
Instrumente, darunter den EU-Kohäsionsfonds, und macht im langfristigen EU-
Budget – dem mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) – für die Jahre 2021–2027 mit
551 / 931
392 Milliarden Euro fast einen Drittel aus.
515
Aus Sicht der EU sind die Anstrengun-
gen zur Förderung der Kohäsion zwischen den Mitgliedstaaten und ihren Regionen
das Gegenstück zur Schaffung eines Binnenmarktes. Dementsprechend fordert die EU
eine Beteiligung an der Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichhei-
ten auch von jenen Ländern, die aufgrund ihrer Abkommen mit der EU am Binnen-
markt teilnehmen. Daher leisten auch Norwegen, Island und Liechtenstein entspre-
chende Beiträge (derzeit rund 440 Mio. CHF pro Jahr) im Rahmen ihrer Beteiligung
am EWR, nicht aber jene Länder, die wie das Vereinigte Königreich nicht am Bin-
nenmarkt teilnehmen und deren Beziehungen zur EU beispielsweise auf einem Frei-
handelsansatz beruhen.
Die Schweiz leistet die Beiträge bisher autonom. Sie stärkt damit ihre bilateralen Be-
ziehungen zu den Partnerstaaten und fördert die Kohäsion, die ein wesentliches Ele-
ment für Stabilität und Sicherheit in Europa ist. Die Beiträge werden grundsätzlich
direkt mit den Partnerstaaten umgesetzt. Dabei kann die Schweiz eigene thematische
Schwerpunkte einbringen und Schweizer Projektpartner einbeziehen, die zur Qualität
der unterstützten Programme beitragen und die bilateralen Beziehungen stärken. Dies
fördert die wirtschaftliche Vernetzung zwischen der Schweiz und den Partnerstaaten.
Mit Blick auf die exploratorischen Gespräche mit der EU hatte der Bundesrat am
23. Februar 2022 seine Bereitschaft erklärt, im Rahmen des Paketansatzes eine Ver-
stetigung des Schweizer Beitrags zu prüfen. Gestützt auf die exploratorischen Gesprä-
che haben sich die Europäische Kommission und die Schweiz im
Common Under-
standing
vom 27. Oktober 2023 darauf verständigt, dass die Grundlage für einen
regelmässigen, gemeinsam vereinbarten und fairen finanziellen Beitrag der Schweiz
zur Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten geschaffen wer-
den soll. Dabei soll auch auf wichtige gemeinsame Herausforderungen reagiert wer-
den. Der neue rechtsverbindliche Mechanismus soll für den nächsten MFR der EU
bereit sein. Zudem soll eine einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung für den
Zeitraum zwischen Ende 2024 und dem Inkrafttreten des rechtsverbindlichen Mecha-
nismus das Niveau der Partnerschaft und der Zusammenarbeit zwischen der Schweiz
und der EU in diesem Zeitraum angemessen widerspiegeln.
516
2.10.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
Das Schweizer Mandat für die Verhandlungen mit der EU vom 8. März 2024 hält fest,
dass ein rechtsverbindlicher Mechanismus für einen regelmässigen Kohäsionsbeitrag
an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten festgelegt werden soll. Dabei können andere
wichtige gemeinsame Herausforderungen, zum Beispiel im Bereich der Migration,
berücksichtigt werden. Im Rahmen dieses Mechanismus sollen auch die Modalitäten
des nächsten Beitrags vereinbart werden, sowie jene der einmaligen zusätzlichen fi-
nanziellen Verpflichtung, welche den Umfang der Partnerschaft und der Zusammen-
arbeit im Zeitraum zwischen Ende 2024 und dem Inkrafttreten des rechtsverbindli-
chen Mechanismus widerspiegeln soll. Schliesslich sollen der neue Mechanismus
sowie die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung im Kontext des Pakets
515
Siehe www.ec.europa.eu/regional_policy/policy/what/investment-policy.
516
Siehe
Common Understanding
, Ziff. 18.
552 / 931
Schweiz–EU umgesetzt werden. Die Verhandlungen in der Verhandlungsgruppe
«Schweizer Beitrag» wurden am 21. März 2024 aufgenommen. Die Delegationen
führten 19 offizielle Verhandlungsrunden sowie mehrere Sitzungen auf technischer
Ebene durch. Offene Fragen wurden insbesondere in der Schlussphase auf Stufe der
Chefunterhändler geklärt.
Da die bisherige rechtliche Grundlage für den Schweizer Beitrag, das Bundesgesetz
über die Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas bis zum 31. Dezember 2024
befristet war, hat der Bundesrat bereits am 21. Juni 2023 anlässlich der Verabschie-
dung der Eckwerte für das Verhandlungsmandat mit der EU den Auftrag erteilt, mit
der Ausarbeitung der Kernelemente einer neuen gesetzlichen Grundlage für einen re-
gelmässigen Schweizer Beitrag an die EU zu beginnen. Anlässlich der Genehmigung
des Entwurfs des Verhandlungsmandats mit der EU am 15. Dezember 2023 hat der
Bundesrat beschlossen, die neue gesetzliche Grundlage zur Umsetzung des Beitrags-
abkommens parallel zu den Verhandlungen mit der EU vorzubereiten.
2.10.4
Vorverfahren
Anlässlich des Entscheids vom 26. Mai 2021, den Entwurf für ein institutionelles
Rahmenabkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen, hat der Bundesrat beschlossen,
sich für eine rasche Deblockierung der Verpflichtungskredite des zweiten Schweizer
Beitrags an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten einzusetzen. Dieser Beitrag wurde 2019
vom Parlament zwar genehmigt, dies aber unter der Bedingung, dass keine Verpflich-
tungen eingegangen werden, solange diskriminierende Massnahmen der EU gegen die
Schweiz in Kraft sind. Diese Bedingung hatte die Umsetzung des Beitrags zuvor ver-
hindert.
Die rasche Freigabe des zweiten Schweizer Beitrags war Teil der europapolitischen
Agenda des Bundesrates mit Blick auf die Fortführung des bilateralen Wegs. Sie hatte
zum Ziel, der Dynamik in den Beziehungen zur EU einen neuen Impuls zu geben.
Gestützt auf die am 11. August 2021 überwiesene Botschaft
517
hat das Parlament der
Freigabe der Verpflichtungskredite am 30. September 2021 zugestimmt
.518
Bereits vor dem Entscheid des Bundesrates vom 26. Mai 2021 hatte ein Gutachten des
Lehrstuhls für Verhandlungsführung und Konfliktmanagement der ETH Zürich fest-
gehalten, dass mit Blick auf eine Normalisierung der Zusammenarbeit mit der EU eine
Erhöhung des finanziellen Beitrags der Schweiz ins Auge gefasst werden sollte. Das
Gutachten schlug für den Fall einer Beendigung der Verhandlungen zu einem institu-
tionellen Rahmenabkommen einen jährlichen Beitrag als Teil eines «Interimsabkom-
mens» vor. Dieser Beitrag sollte sich gemäss Gutachten an Zahlungen vergleichbarer
EU/EWR-Länder orientieren und in der Grössenordnung von einer Drittel Milliarde
Franken pro Jahr liegen
.519
517
BBl
2021
1921
518
BBl
2021
2517
519
Alternativen im Verhandlungsprozess: Gutachten von Prof. Dr. M. Ambühl und Dr. D.
Scherer (ETH Zürich). Siehe www.eda.admin.ch/europa/de/home.html > Bilateraler Weg
> Überblick > Institutionelles Abkommen (bis 2021) > Informationen und Dokumente
zum Institutionellen Abkommen
553 / 931
Das Parlament befasste sich zudem insbesondere im Rahmen der Behandlung der Mo-
tion 22.3012 der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates (APK-N) «Dring-
liche Massnahmen zugunsten des Schweizer Forschungs-, Bildungs- und Innovations-
standorts» vom 1. Februar 2022 mit der Frage einer einmaligen, sofortigen Erhöhung
des laufenden zweiten Schweizer Beitrags im Fall einer umgehenden Assoziierung
unter anderem an
Horizon Europe
und Erasmus+ für die Programmperiode 2021–
2027. Während der Nationalrat der Motion im Juni 2022 zustimmte, lehnte der Stän-
derat sie im März 2023 gemäss dem Antrag des Bundesrates ab, da das darin vorge-
schlagene Vorgehen nicht zuletzt vor dem Hintergrund der in der Zwischenzeit inten-
sivierten exploratorischen Gespräche mit der EU (s. Ziff. 1.3.1) nicht als zielführend
angesehen wurde.
2.10.5
Grundzüge des Abkommens
2.10.5.1
Rahmen für den regelmässigen Schweizer Beitrag
Als Teil des Pakets Schweiz–EU schafft das Beitragsabkommen einen rechtsverbind-
lichen Mechanismus für einen regelmässigen Schweizer Beitrag an ausgewählte EU-
Mitgliedstaaten. Hauptpfeiler des Schweizer Beitrags bleibt die Stärkung der Kohä-
sion innerhalb der EU. Künftig sollen mindestens 90 % der Mittel des Schweizer Bei-
trags in diesem Bereich eingesetzt werden. Wie von der Schweiz angestrebt, kann im
Rahmen des Schweizer Beitrags aber wie bisher auf andere wichtige gemeinsame
Herausforderungen – wie aktuell im Bereich Migration – reagiert werden. Hierfür ist
ein Anteil von maximal 10 % des jeweiligen Beitrags vorgesehen – die Schweiz und
die EU entscheiden jeweils gemeinsam, ob dafür ein Bedarf besteht. Dies erlaubt eine
flexible Reaktion auf zukünftige Entwicklungen.
Das Beitragsabkommen legt den Rhythmus des Schweizer Beitrags in sogenannten
Beitragsperioden fest. Die Beitragsperioden beginnen jeweils zwei Jahre nach dem
Start des MFR der EU und dauern gleich lang, das heisst aktuell sieben Jahre. Dank
diesem zeitversetzten Start kann die Schweiz zusammen mit den Partnerstaaten ge-
zielt Bereiche für die Zusammenarbeit identifizieren, für die keine oder unzureichende
EU-Mittel zur Verfügung stehen. So kann die Schweiz mit ihrer Expertise einen sub-
stanziellen Mehrwert für die Partnerstaaten und deren Bevölkerung schaffen. Die Um-
setzungsperiode ist der Zeitraum, in dem die Unterstützungsmassnahmen umgesetzt
und die entsprechenden Gelder ausbezahlt werden. Sie ist länger als die Beitragsperi-
ode und beträgt mindestens zehn Jahre.
Mit den bisherigen Beiträgen hat die Schweiz im Bereich Kohäsion jene EU-
Mitgliedstaaten unterstützt, welche der EU nach dem 1. Mai 2004 beigetreten sind.
Neu erfolgt die Auswahl der Partnerstaaten im Bereich Kohäsion anhand ihrer wirt-
schaftlichen Entwicklung: Partnerstaaten im Bereich Kohäsion sind künftig jene EU-
Mitgliedstaaten, deren Bruttonationaleinkommen (BNE) pro Kopf kaufkraftbereinigt
weniger als 90 % des EU-Durchschnitts beträgt. Das bedeutet, dass der Schweizer
Beitrag im Bereich Kohäsion bedarfsgerecht in den wirtschaftlich schwächeren EU-
Mitgliedstaaten eingesetzt wird. Die Partnerstaaten des Schweizer Beitrags werden
jeweils für eine Beitragsperiode bestimmt.
554 / 931
Die einzelnen Elemente für die Umsetzung des Beitrags werden für jede Beitragspe-
riode gemäss den Bestimmungen des Beitragsabkommens neu festgelegt. Dies ge-
schieht wie bei den bisherigen Schweizer Beiträgen auf zwei Ebenen: erstens in einem
rechtlich unverbindlichen MoU mit der EU und zweitens in länderspezifischen, recht-
lich verbindlichen Umsetzungsabkommen mit den Partnerstaaten des Beitrags. Das
MoU enthält insbesondere die Höhe des jeweiligen Beitrags, die Aufteilung der Mittel
auf die Partnerstaaten, die thematische Ausrichtung im Bereich Kohäsion und gege-
benenfalls die Modalitäten eines Beitrags zur Bewältigung von anderen wichtigen ge-
meinsamen Herausforderungen. In den länderspezifischen Umsetzungsabkommen
mit den Partnerstaaten werden insbesondere die thematische Verteilung der Gelder,
die vorgesehenen Unterstützungsmassnahmen und Vorgaben zur Beachtung der ge-
meinsamen Werte und Umsetzungsprinzipien festgelegt. Die Schweiz und die EU be-
ginnen jeweils drei Jahre vor Ende der laufenden Beitragsperiode Gespräche über das
MoU für die nächste Beitragsperiode und schliessen diese spätestens innerhalb von
zwei Jahren ab. Die Umsetzungsabkommen mit den Partnerstaaten im Bereich Kohä-
sion müssen spätestens zwei Jahre nach Beginn der Beitragsperiode abgeschlossen
sein. Im Bereich andere wichtige gemeinsame Herausforderungen müssen die Umset-
zungsabkommen spätestens fünf Jahre nach Beginn der Beitragsperiode abgeschlos-
sen sein. Dies erlaubt eine grössere Flexibilität bei der Reaktion auf andere wichtige
gemeinsame Herausforderungen. Damit bleibt beispielsweise eine Umsetzung in zwei
Phasen, wie beim zweiten Schweizer Beitrag im Bereich Migration, weiterhin mög-
lich.
Wie im Schweizer Verhandlungsmandat vorgesehen, enthält Anhang II des Beitrags-
abkommens bereits die wesentlichen Modalitäten für den ersten Schweizer Beitrag
2030–2036 (s. Ziff. 2.10.5.5). Daher weicht das Vorgehen für die erste Beitragsperi-
ode 2030–2036 leicht vom oben geschilderten langfristigen Mechanismus ab.
2.10.5.2
Umsetzungsbestimmungen
Das Beitragsabkommen legt Grundsätze für die Umsetzung und Mittelverwaltung des
Schweizer Beitrags fest. Die Gesamtverwaltung des Beitrags obliegt der Schweiz. Da-
her ist im Beitragsabkommen festgelegt, dass auch der Schweizer Verwaltungsauf-
wand (Eigenaufwand) Teil des Gesamtbeitrags des jeweiligen Beitrags ist und damit
in der Schweiz nicht zu zusätzlichen Kosten führt.
Die Schweiz verfolgt bei der Umsetzung ihres Beitrags einen partnerschaftlichen An-
satz. Die Unterstützungsmassnahmen werden in der Regel von den Partnerstaaten mit-
finanziert. Die Durchführung der Unterstützungsmassnahmen liegt mit wenigen Aus-
nahmen in der Verantwortung der Partnerstaaten, die eine ordnungsgemässe
Umsetzung sicherstellen müssen. Dafür stellen sie angemessene Verwaltungs- und
Kontrollsysteme zur Verfügung. Die Schweiz begleitet die Umsetzung eng und kann
diese gemäss ihren eigenen Vorschriften kontrollieren. Wenn Unterstützungsmass-
nahmen direkt von der Schweiz durchgeführt werden, sorgt die Schweiz selber für
angemessene Verwaltungs- und Kontrollsysteme.
Das Beitragsabkommen hält fest, dass der Schweizer Beitrag im Einklang mit den
gemeinsamen Werten hinsichtlich der Achtung der Menschenrechte, der Demokratie,
der Rechtsstaatlichkeit, der Menschenwürde und der Gleichberechtigung umgesetzt
555 / 931
wird. Zusätzlich wurden im Beitragsabkommen weitere Umsetzungsprinzipien wie
die gute Regierungsführung, Transparenz, Nichtdiskriminierung, Effizienz und Re-
chenschaftspflicht verankert. Die Schweiz und die Partnerstaaten sind bestrebt, jegli-
che Form von Korruption bei der Umsetzung des Schweizer Beitrags wirksam zu be-
kämpfen. Bei Anhaltspunkten für eine Verletzung der gemeinsamen Werte und
Umsetzungsprinzipien kann die Schweiz eine Untersuchung durchführen. Im Rahmen
dieser Untersuchung kann sich auch der Partnerstaat zum Sachverhalt äussern. Im An-
schluss kann die Schweiz geeignete, verhältnismässige und wirksame Massnahmen
ergreifen. Das bedeutet: In gravierenden Fällen kann dies eine Suspendierung oder
Beendigung der betroffenen Unterstützungsmassnahmen zur Folge haben.
2.10.5.3
Höhe des Schweizer Beitrags für zukünftige
Beitragsperioden
Mit dem Beitragsabkommen wird der Schweizer Beitrag verstetigt. Die Schweiz ver-
pflichtet sich, in Zukunft regelmässig einen finanziellen Beitrag an ausgewählte EU-
Mitgliedstaaten zu leisten. Das Beitragsabkommen legt in Anhang I fest, wie die Höhe
des Schweizer Beitrags für zukünftige Beitragsperioden bestimmt wird. Dies bringt
Planungssicherheit und liegt damit auch im Interesse der Schweiz. Ausgangspunkt ist
dabei die Höhe des Beitrags der vorherigen Beitragsperiode. Um die Kaufkraft über
die Zeit zu erhalten, wird der Schweizer Beitrag zudem an die Inflation angepasst.
Schliesslich kann der künftige Beitrag aufgrund politischer Überlegungen – zum Bei-
spiel aufgrund der zwischenzeitlichen Entwicklung der Beziehungen zwischen der
Schweiz und der EU – um bis zu 10 % erhöht oder reduziert werden.
Im Falle einer Erweiterung der EU wird der Schweizer Beitrag künftig verhältnismäs-
sig angepasst, sofern ein neuer EU-Mitgliedstaat die Kriterien eines Partnerstaats im
Bereich Kohäsion erfüllt. Bei einem Austritt eines solchen Partnerstaats aus der EU
wird die Höhe des Beitrags ebenfalls verhältnismässig angepasst. Die Höhe der An-
passung wird durch die Vertragsparteien definiert, das heisst ihr genauer Umfang ist
Gegenstand von Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU und wird in ge-
eigneter Weise festgehalten werden. Dies erlaubt es unter anderem, die Auswirkungen
einer EU-Erweiterung auf die Gesamtbeziehungen Schweiz–EU zu berücksichtigen.
2.10.5.4
Streitbeilegung
Das Beitragsabkommen sieht ein Streitbeilegungsverfahren für den Fall vor, dass es
zu Schwierigkeiten über die Auslegung oder Anwendung des Beitragsabkommens
kommen sollte. Die Streitbeilegung beruht auf einem Schiedsgerichtsmodell und sieht
keine Rolle für den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) vor. Zunächst müs-
sen die Parteien versuchen, einen Streitfall einvernehmlich im Gemischten Ausschuss
beizulegen. Wenn dieser innert einer Frist von drei Monaten nach seiner Befassung
keine einvernehmliche Lösung findet, kann jede Partei ein Schiedsverfahren einleiten.
Das Schiedsgericht beurteilt, ob eine Partei das Beitragsabkommen verletzt hat. Streit-
fälle über die Umsetzung der länderspezifischen Abkommen sind vom Schiedsver-
fahren ausgenommen – sie werden gemäss den in den Umsetzungsabkommen vorzu-
sehenden Verfahren beigelegt.
556 / 931
Der gefällte Schiedsspruch ist für die Parteien verbindlich. Sofern eine Partei den
Schiedsspruch nicht umsetzt, kann die andere Partei verhältnismässige Ausgleichs-
massnahmen in den Abkommen des Pakets Schweiz–EU ergreifen. Dazu gehören ne-
ben dem Beitragsabkommen die Binnenmarktabkommen sowie das EUPA, das
EUSPA-Abkommen und das Gesundheitsabkommen. Die Verhältnismässigkeit der
Ausgleichsmassnahmen kann ebenfalls durch das Schiedsgericht geprüft werden. Wie
in den Binnenmarktabkommen kann das Schiedsgericht unter gewissen Vorausset-
zungen die aufschiebende Wirkung gewähren, sodass die Ausgleichsmassnahmen
während der Beurteilung ihrer Verhältnismässigkeit noch nicht in Kraft treten.
2.10.5.5
Erster Schweizer Beitrag unter dem Beitragsabkommen
Gemäss dem Schweizer Verhandlungsmandat wurden die Modalitäten des ersten
Schweizer Beitrags in Anhang II des Beitragsabkommens festgelegt. Dieser erste
Schweizer Beitrag beläuft sich auf 350 Millionen Franken pro Jahr für die sieben
Jahre von 2030–2036 (308 Mio. CHF Kohäsion und 42 Mio. CHF Migration). Die
EU hatte in den Verhandlungen ursprünglich einen Beitrag in der Höhe von über
520 Millionen Franken pro Jahr gefordert. Sie nahm dafür Bezug auf die EU-
Kohäsionsgelder, welche im aktuellen MFR der EU 56 Milliarden Euro pro Jahr be-
tragen, sowie auf die Grösse der Schweizer Volkswirtschaft. Für die Schweiz war es
demgegenüber zentral, dass die Höhe des Schweizer Beitrags in einem angemessenen
Verhältnis zu den Beiträgen der EWR/EFTA-Staaten wie insbesondere Norwegen so-
wie zur Höhe des aktuellen Schweizer Beitrags steht.
Mit 350 Millionen Franken pro Jahr liegt die Höhe des Schweizer Beitrags deutlich
unter dem aktuellen Beitrag Norwegens im Rahmen der Finanzierungsmechanismen
des EWR und Norwegens.
520
Für die Periode 2021–2028 leistet Norwegen in diesem
Rahmen einen Beitrag in der Höhe von umgerechnet rund 430 Millionen Franken pro
Jahr. Hinzu kommt, dass für die Periode ab 2029 allein aufgrund der Inflation ein
Anstieg auf mehr als 490 Millionen Franken pro Jahr zu erwarten ist. Norwegen ist
mit 5,5 Millionen Einwohnern bevölkerungsmässig zudem deutlich kleiner als die
Schweiz. Pro Kopf liegt die Höhe des Schweizer Beitrags folglich klar unter jenem
Norwegens. Gründe hierfür sind, dass die Schweiz mit dem sektoriellen bilateralen
Weg über eine deutlich weniger umfangreiche Binnenmarktteilnahme verfügt als Nor-
wegen im Rahmen des EWR. Zudem erbringt die Schweiz aufgrund ihrer geografi-
schen Lage wesentliche Zentrumsleistungen für die Infrastruktur in Europa.
Die erste Beitragsperiode beginnt 2030, um die gewünschte zeitliche Verschiebung
zum MFR der EU 2028–2034 zu erreichen (s. Ziff. 2.10.5.1). Bei einem Inkrafttreten
des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU vor 2030 steht damit genügend Zeit
für die Vorbereitung der Umsetzung zur Verfügung. Die Umsetzungsperiode dauert
zehn Jahre von 2030–2039. Die genaueren Umsetzungsmodalitäten wie die Vertei-
lung der Mittel unter den Partnerstaaten im Bereich der Kohäsion wird die Schweiz
mit der EU in einem MoU innerhalb von einem Jahr nach Inkrafttreten des Stabilisie-
520
Siehe www.eeagrants.org.
557 / 931
rungsteils des Pakets Schweiz–EU festhalten. Die Partnerstaaten im Bereich der Ko-
häsion werden zu diesem Zeitpunkt gemäss dem im Beitragsabkommen festgelegten
Kriterium (weniger als 90 % des durchschnittlichen EU-BNE) identifiziert.
Da Migrationsbewegungen den europäischen Kontinent weiterhin vor grosse gemein-
same Herausforderungen stellen, wurde als Teil des ersten Schweizer Beitrags ein
Beitrag für die Zusammenarbeit im Bereich Migration in der Höhe von 42 Millionen
Franken pro Jahr vereinbart. Partnerstaaten im Bereich Migration sind wie bisher EU-
Mitgliedstaaten mit besonderem Migrationsdruck und/oder Staaten, in welchen ein
gemeinsames Interesse besteht, die Migrationsgouvernanz zu stärken.
2.10.5.6
Einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung
Im Rahmen der exploratorischen Gespräche forderte die EU zunächst einen nächsten
Schweizer Beitrag ab Ende 2024. Die Schweiz kann aber für die Periode ab 2025
keinen solchen Beitrag sprechen, da seit dem Auslaufen des Bundesgesetzes über die
Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas Ende 2024 keine gesetzliche Grundlage
für Beiträge im Bereich Kohäsion mehr existiert. Im
Common Understanding
verstän-
digten sich die Schweiz und die EU darauf, dass im Rahmen der Verhandlungen eine
einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung für die Übergangsperiode ab Ende
2024 bis zum Start des neuen Mechanismus vereinbart werden soll. Diese einmalige
zusätzliche finanzielle Verpflichtung soll den Umfang der Partnerschaft und der Zu-
sammenarbeit Schweiz–EU im Zeitraum ab Ende 2024 widerspiegeln. Die Schweiz
hat ihre Bereitschaft zu dieser einmaligen zusätzlichen finanziellen Verpflichtung in
ihrem Verhandlungsmandat bestätigt. Auch diese Mittel können erst verpflichtet wer-
den, wenn das Beitragsabkommens und das Kohäsionsbeitragsgesetz in Kraft getreten
sind.
Der Umfang der Partnerschaft und der Zusammenarbeit nach Abschluss der Verhand-
lungen wird in einer gemeinsamen Erklärung zwischen der Schweiz und der EU fest-
gehalten. Gemäss der Erklärung wird die Zusammenarbeit Schweiz–EU nach Ab-
schluss der Verhandlungen ausgebaut (s. Ziff. 1.3.4). Sie umfasst die Anwendung der
Übergangslösung bei den EU-Programmen, mit der insbesondere das Forschungspro-
gramm
Horizon Europe
ab dem 1. Januar 2025 für schweizerische Forschende geöff-
net wird, sowie die Weiterführung eines
Modus Vivendi
, namentlich in den Bereichen
Strom, Gesundheit, Landverkehr und Finanzregulierungsdialog, die im
Common Un-
derstanding
für den Zeitraum der Verhandlungen vorgesehen waren.
521
Darüber hin-
aus halten beide Seiten hinsichtlich der bestehenden Binnenmarktabkommen fest,
dass sie eng und in Treu und Glauben zusammenarbeiten wollen, um deren gutes
Funktionieren sicherzustellen. Schliesslich sieht die Erklärung vor, dass mit Blick auf
den Ratifikationsprozess beide Seiten dessen erfolgreichen Abschluss unterstützen
sollen – sprich sich aller Massnahmen enthalten, die diesen Prozess gefährden könn-
ten.
Die Modalitäten der einmaligen zusätzlichen finanziellen Verpflichtung sind in An-
hang III des Beitragsabkommens festgelegt. Die einmalige zusätzliche finanzielle
521
Siehe
Common Understanding
, Ziff. 20.
558 / 931
Verpflichtung ist aufgeteilt in eine Phase vor und eine Phase nach dem Inkrafttreten
des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU. Bis zum Inkrafttreten des Stabilisie-
rungsteils beläuft sie sich auf 130 Millionen Franken pro Jahr. Dies trägt der vorgese-
henen Vertiefung der Zusammenarbeit mit der EU ab Ende 2024, wie in der gemein-
samen Erklärung festgehalten, Rechnung. Die EU hatte für diesen Zeitraum einen
doppelt so hohen Betrag gefordert. Aus Schweizer Sicht war hingegen wichtig, dass
dieser Betrag vor Inkrafttreten nicht höher ausfällt als der zweite Schweizer Beitrag,
der sich ebenfalls auf durchschnittlich 130 Millionen Franken pro Jahr beläuft. Für
die Periode zwischen dem Inkrafttreten des Stabilisierungsteils und Ende 2029 wird
die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung 350 Millionen Franken pro Jahr
betragen. Dies berücksichtigt, dass ab diesem Zeitpunkt der Stabilisierungsteil des
Paket Schweiz–EU in Kraft sein wird, womit die Schweiz und die EU ihre Zusam-
menarbeit nochmals deutlich vertiefen. Ab 2030 startet anschliessend die Beitragspe-
riode des ersten Beitrags unter dem neuen Mechanismus.
Wie für den Schweizer Beitrag müssen auch für die einmalige zusätzliche finanzielle
Verpflichtung mit dem Beitragsabkommen und dem Kohäsionsbeitragsgesetz zuerst
die rechtlichen Grundlagen geschaffen werden. Eine Umsetzung der einmaligen zu-
sätzlichen finanziellen Verpflichtung bereits ab 2025 ist daher nicht möglich. Die ein-
malige zusätzliche finanzielle Verpflichtung wird entsprechend erst mit Inkrafttreten
des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU und über einen Zeitraum von zehn
Jahren von 2030–2039 umgesetzt. Die Mittel werden ausschliesslich im Bereich Ko-
häsion eingesetzt. Die genaueren Umsetzungsmodalitäten, wie zum Beispiel die Ver-
teilung der Mittel zwischen den Partnerstaaten, werden spätestens ein Jahr nach In-
krafttreten des Beitragsabkommens ebenfalls in einem MoU mit der EU festgehalten.
Zu diesem Zeitpunkt wird auch die genaue Höhe der einmaligen zusätzlichen finan-
ziellen Verpflichtung in Abhängigkeit des Zeitpunkts des Inkrafttretens des Stabili-
sierungsteils des Pakets Schweiz–EU im MoU festgehalten. Da die Umsetzung der
einmaligen zusätzlichen finanziellen Verpflichtung parallel zur Umsetzung des ersten
Beitrags unter dem Beitragsabkommen erfolgt, wird mit den Partnerstaaten im Be-
reich Kohäsion jeweils nur ein Umsetzungsabkommen zu beiden Elementen abge-
schlossen.
2.10.6
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Abkommens
Teil I – Allgemeine Bestimmungen
Art. 1
Ziele
Artikel 1 setzt das Ziel des Beitragsabkommens fest. Die Schweiz leistet im Kontext
des Pakets Schweiz–EU einen Beitrag zur Verringerung der wirtschaftlichen und so-
zialen Ungleichheiten in der EU. Damit sollen die Beziehungen der Schweiz zur EU
und ihren Mitgliedstaaten gestärkt und auf wichtige gemeinsame Herausforderungen
reagiert werden.
Art. 2
Gegenstand
559 / 931
Das Beitragsabkommen schafft die Grundlage für den regelmässigen Schweizer Bei-
trag. Der Schweizer Beitrag ergänzt die Massnahmen der EU und ihrer Mitgliedstaa-
ten im Bereich der Kohäsion und bei der Bewältigung wichtiger gemeinsamer Her-
ausforderungen.
Art. 3
Begriffsbestimmungen
Bst. a
Liste der Abkommen
Die Liste der Abkommen enthält die Binnenmarktabkommen, das EUPA, das
EUSPA-Abkommen und das Gesundheitsabkommen. Es handelt sich um jene Ab-
kommen im Paket Schweiz–EU, auf welche neben dem Beitragsabkommen insbeson-
dere in Artikel 17 (Ausgleichsmassnahmen) Bezug genommen wird.
Bst. b
Beitragsperiode
Das Beitragsabkommen sieht vor, dass jeder Schweizer Beitrag einem bestimmten
Zeitrahmen zugeordnet wird. Dieser Zeitrahmen wird als Beitragsperiode bezeichnet.
Bst. c
Umsetzungsperiode
Die Beitragsperiode ist von der Umsetzungsperiode zu unterscheiden. In diesem Zeit-
rahmen wird der jeweilige Schweizer Beitrag umgesetzt und werden die Mittel aus-
bezahlt. Jede Umsetzungsperiode beläuft sich auf mindestens zehn Jahre und dauert
somit länger als die Beitragsperiode des jeweiligen Schweizer Beitrags. Dies ent-
spricht der Länge der Umsetzungsperiode der bisherigen Schweizer Beiträge und soll
eine geordnete Durchführung der unterstützten Programme und Projekte ermöglichen.
Bst. d
Partnerstaat
Der Begriff «Partnerstaat» bezeichnet einen EU-Mitgliedstaat, der während einer be-
stimmten Beitragsperiode durch den Schweizer Beitrag unterstützt wird.
Bst. e
Partnerstaaten im Bereich Kohäsion
Partnerstaaten im Bereich Kohäsion bezeichnet jene EU-Mitgliedstaaten, welche ein
kaufkraftbereinigtes Pro-Kopf-BNE von weniger als 90 % des EU-Durchschnitts auf-
weisen. Dieses Kriterium sowie der relevante Bezugszeitraum entsprechen jenen, wel-
che die EU für die Festlegung der Mitgliedstaaten verwendet, die Mittel aus dem EU-
Kohäsionsfonds erhalten. Dadurch wird sichergestellt, dass die Schweiz im Bereich
Kohäsion nur wirtschaftlich schwächere EU-Mitgliedstaaten unterstützt.
Bst. f
Unterstützungsmassnahme
Im Beitragsabkommen wird Unterstützungsmassnahme als Oberbegriff für Pro-
gramme und Projekte verwendet, die mit der Unterstützung des jeweiligen Schweizer
Beitrags durchgeführt werden.
Art. 4
Rahmen für den regelmässigen finanziellen Beitrag der Schweiz
560 / 931
Art. 4 Abs. 1
Artikel 4 Absatz 1 enthält die zeitlichen Rahmenbedingungen für den regelmässigen
Schweizer Beitrag. Dieser wird in aufeinanderfolgende Beitragsperioden gegliedert.
Eine Beitragsperiode wird jeweils zwei Jahre nach dem MFR beginnen und dieselbe
Laufzeit wie der entsprechende MFR haben. Mit diesem gegenüber dem MFR zeit-
versetzten Start der Beitragsperioden können gezielt Bereiche identifiziert werden, für
die keine oder unzureichende EU-Mittel zur Verfügung stehen und/oder in welchen
die Schweiz über eine besondere Expertise verfügt. Zudem sind zu diesem Zeitpunkt
die Ressourcen der Partnerstaaten nicht mehr mit der Planung von Projekten und Pro-
grammen der EU-Kohäsionspolitik ausgelastet.
Art. 4 Abs. 2
Artikel 4 Absatz 2 regelt die erste von zwei Etappen des rechtsverbindlichen Mecha-
nismus für die regelmässigen Schweizer Beitrag. Sie umfasst den Abschluss eines
MoU zwischen der Schweiz und der EU für die jeweilige Beitragsperiode.
Buchstabe a hält fest, dass die Schweiz in jeder Beitragsperiode einen Beitrag leistet,
der gemäss Anhang I festgelegt wird. Anhang I enthält Elemente für die Ermittlung
der Beitragshöhe, die Zuteilung an die Partnerstaaten sowie die Aufteilung zwischen
den Bereichen Kohäsion und andere wichtige gemeinsame Herausforderungen (s. Er-
läuterungen zu Anhang I).
Buchstabe b hält fest, dass die Parteien für jede Beitragsperiode ein rechtlich unver-
bindliches MoU abschliessen. Damit ein rechtzeitiger Start der Beitragsperiode ge-
währleistet ist und der Schweiz genug Zeit verbleibt, um die länderspezifischen Ab-
kommen zur Umsetzung des Schweizer Beitrags mit den Partnerstaaten
(Umsetzungsabkommen) abzuschliessen (s. Erläuterungen zu Art. 5), nehmen die
Parteien 36 Monate vor Ende der laufenden Beitragsperiode Gespräche über das MoU
für die folgende Beitragsperiode auf. Das MoU soll spätestens zwölf Monate vor Be-
ginn der folgenden Beitragsperiode abgeschlossen sein.
Das MoU hat zum Ziel, das gemeinsame Verständnis der Parteien betreffend die unter
Buchstabe b Ziffern i–vi aufgelisteten Elemente für die jeweilige Beitragsperiode
festzuhalten. Diese Elemente sind:
Ziffer i: Die Höhe des Schweizer Beitrags, die sich aus den in Anhang I aufgeführten
Elementen ergibt.
Ziffer ii: Die Aufteilung der Beitragsmittel unter den Partnerstaaten im Bereich Ko-
häsion, die nach dem Verteilschlüssel in der Anlage 2 zum Anhang I erfolgt.
Ziffer iii: Die Themenbereiche für die Zusammenarbeit im Bereich Kohäsion. Diese
bilden die Richtschnur für die Auswahl der Unterstützungsmassnahmen durch die
Schweiz und die Partnerstaaten während der Verhandlungen über die länderspezifi-
schen Umsetzungsabkommen (s. Erläuterungen zu Art. 5).
561 / 931
Ziffer iv: Falls ein Beitrag zur Bewältigung anderer wichtiger gemeinsamer Heraus-
forderungen vorgesehen ist, werden die identifizierten gemeinsamen Herausforderun-
gen festgehalten. In diesem Fall soll das MoU zudem die Kriterien für die Auswahl
der Partnerstaaten und die Aufteilung der Mittel auf die Bereiche Kohäsion und der
identifizierten gemeinsamen Herausforderungen festhalten.
Ziffer v: Eine allgemeine Beschreibung des geplanten Inhalts der länderspezifischen
Umsetzungsabkommen.
Ziffer vi: Die genaue Dauer der Umsetzungsperiode des jeweiligen Beitrags. Diese
darf die im Beitragsabkommen festgelegte Mindestdauer von zehn Jahren nicht un-
terschreiten.
Buchstabe c: Sofern das MoU nicht spätestens zwölf Monate vor Beginn der folgen-
den Beitragsperiode abgeschlossen ist, besteht für jede Partei die Möglichkeit, ein
Streitbeilegungsverfahren einzuleiten (s. Erläuterungen zu Art. 16). Ruft eine Partei
das Schiedsgericht an, beurteilt dieses, ob die Parteien während der Gespräche über
das MoU nach Treu und Glauben gehandelt haben. Mit dieser Regelung wird klarge-
stellt, dass das Verpassen dieser Frist für den Abschluss des MoU nicht zwingend eine
Verletzung des Beitragsabkommens durch eine Partei darstellt. Die Parteien sind aber
verpflichtet, das ihnen Zumutbare zu unternehmen, um den fristgerechten Abschluss
des MoU zu erreichen. Ein Verhalten wider Treu und Glauben würde hingegen eine
Verletzung des Beitragsabkommens darstellen. Ein solches Verhalten läge beispiels-
weise dann vor, wenn eine Partei die Aufnahme von Elementen in das MoU fordern
würde, welche sich ausserhalb der Vorgaben des Beitragsabkommens befinden, oder
wenn sie den Abschluss des MoU generell verweigern würde.
Art. 5
Länderspezifische Abkommen und weitere Unterstützungsmassnahmen
Artikel 5 regelt die zweite Etappe des rechtsverbindlichen Mechanismus für die Aus-
richtung regelmässiger Beiträge, nämlich den Abschluss der länderspezifischen Um-
setzungsabkommen mit den Partnerstaaten und gegebenenfalls die Durchführung wei-
terer Unterstützungsmassnahmen durch die Schweiz.
Art. 5 Abs. 1
Absatz 1 sieht drei Formen für die Umsetzung des Schweizer Beitrags vor. Erstens
schliesst die Schweiz nach dem Abschluss des MoU mit der EU Umsetzungsabkom-
men mit den betroffenen Partnerstaaten ab. Dies betrifft den Grossteil des Beitrags
(mindestens 90 % der Mittel im Bereich Kohäsion, s. Erläuterungen zu Anhang I).
Zweitens kann die Schweiz im beschränkten Rahmen auch weitere Unterstützungs-
massnahmen vorbereiten, welche direkt von der Schweiz umgesetzt würden, bei-
spielsweise in der Form eines Schweizer Fonds. Drittens sind gegebenenfalls Beiträge
an Finanzierungsinstrumente Dritter möglich. Alle drei Formen für die Umsetzung
des Schweizer Beitrags erfolgen nach Massgabe der diesbezüglich relevanten Best-
immungen des Beitragsabkommens (s. Erläuterungen zu Teil II) sowie im Einklang
mit dem MoU.
Art. 5 Abs. 2
562 / 931
Der Schweizer Beitrag ergänzt gemäss Artikel 2 des Beitragsabkommens die Mass-
nahmen der EU und ihrer Mitgliedstaaten im Bereich Kohäsion und bei der Bewälti-
gung anderer wichtiger gemeinsamer Herausforderungen. Dieser Grundsatz erfährt in
Artikel 5 Absatz 2 insoweit eine Konkretisierung, als dass die länderspezifischen Um-
setzungsabkommen die EU-Strategien sowie die Nationalen Strategischen Rahmen-
pläne der Partnerstaaten, welche die Europäische Kommission genehmigt hat, berück-
sichtigen müssen.
Art. 5 Abs. 3
Artikel 5 Absatz 3 umschreibt den Mindestinhalt der länderspezifischen Umsetzungs-
abkommen. Es handelt sich dabei insbesondere um die Mittelzuteilung nach Themen-
bereichen, die Unterstützungsmassnahmen, die Verwaltungs- und Kontrollstrukturen
sowie die zuständigen Behörden des Partnerstaats. Diese Elemente sind bereits in den
Umsetzungsabkommen der bisherigen Schweizer Beiträge enthalten gewesen.
Art. 5 Abs. 4 und 5
Wie bei den bisherigen Schweizer Beiträgen erfolgt die Verpflichtung der Beitrags-
mittel an die Partnerstaaten durch den Abschluss der Umsetzungsabkommen. Die Ab-
sätze 4 und 5 enthalten eine Frist, bis wann die Schweiz und der Partnerstaat die Ab-
kommen grundsätzlich abschliessen müssen. Dabei ist eine Differenzierung zwischen
den Umsetzungsabkommen im Bereich Kohäsion und denjenigen im Bereich der
identifizierten gemeinsamen Herausforderungen vorgesehen. Im Bereich Kohäsion
sind die Umsetzungsabkommen innert zwei Jahren ab Beginn der Beitragsperiode ab-
zuschliessen, im Bereich der identifizierten gemeinsamen Herausforderungen gilt eine
Frist von fünf Jahren. Grund für diese unterschiedlichen Fristen ist, dass im Bereich
andere wichtige gemeinsame Herausforderungen oft eine grössere Flexibilität erfor-
derlich ist, zum Beispiel im Hinblick auf die sich schnell verändernden Migrations-
routen nach Europa.
Art. 5 Abs. 6
Falls der Abschluss der Umsetzungsabkommen nicht fristgerecht erfolgt, besteht für
die Schweiz und die EU die Möglichkeit, ein Streitbeilegungsverfahren gemäss Arti-
kel 16 des Beitragsabkommens einzuleiten (s. Erläuterungen zu Art. 16). Die Hand-
lungen der Partnerstaaten werden dabei jeweils der EU als Partei des Beitragsabkom-
mens zugerechnet. Falls das Schiedsgericht mit dem Streitfall befasst wird, überprüft
es, ob die Schweiz und der jeweilige Partnerstaat während der Verhandlungen über
das betroffene Umsetzungsabkommen nach Treu und Glauben gehandelt haben. Dies-
bezüglich kann auf die Ausführungen zur analogen Regelung für das MoU verwiesen
werden (s. Erläuterungen zu Art. 4 Abs. 2 Bst. c).
Art. 5 Abs. 7
Artikel 5 Absatz 7 sichert die bisherige Praxis ab, wonach die Mittel eines bestimmten
Schweizer Beitrags nur bis zum Ende seiner Umsetzungsperiode zur Verfügung ste-
hen. Werden sie vom Partnerstaat nicht innert dieser Frist beansprucht, verfallen sie
563 / 931
ersatzlos. Nicht abgerufene Mittel werden somit nicht auf den nachfolgenden Schwei-
zer Beitrag übertragen.
Art. 6
Kommunikation zwischen der Schweiz und der Kommission
Gemäss Absatz 1 informiert die Schweiz die Europäische Kommission über die Um-
setzungsabkommen mit den Partnerstaaten jeweils innert einem Monat nach deren
Publikation in der Amtlichen Sammlung des Bundesrechts. Absatz 2 sieht zudem ei-
nen regelmässigen technischen Austausch zwischen der Schweiz und der Europäi-
schen Kommission über die Umsetzung der Schweizer Beiträge vor.
Art. 7
Kofinanzierungssätze
Die von den Partnerstaaten umgesetzten Unterstützungsmassnahmen werden grund-
sätzlich von ihnen kofinanziert. Artikel 7 sieht vor, dass die Partnerstaaten diese Un-
terstützungsmassnahmen jeweils zur gleichen Rate kofinanzieren, welche die EU im
Rahmen ihrer Kohäsionspolitik anwendet (derzeit 15 %). Die Schweiz und die Part-
nerstaaten können allerdings in den Umsetzungsabkommen vereinbaren, von dieser
Rate abzuweichen.
Art. 8
Staatliche Beihilfen und Vergabe öffentlicher Aufträge
Artikel 8 hält fest, dass bei der Umsetzung der Unterstützungsmassnahmen die an-
wendbaren Regeln zu staatlichen Beihilfen und zur Vergabe öffentlicher Aufträge ein-
gehalten werden müssen. Dies bedeutet, dass in der Schweiz Schweizer Recht gilt und
in den Partnerstaaten EU-Recht beziehungsweise das jeweils nationale Recht.
Art. 9
Haftung
Artikel 9 beschränkt die Verantwortung der Schweiz auf die Bereitstellung der Mittel
im Rahmen der Umsetzungsabkommen und weiterer Unterstützungsmassnahmen und
schliesst eine Haftung der Schweiz gegenüber Dritten aus.
Art. 10
Änderungen in der Mitgliedschaft der Union
Artikel 10 legt die künftige Anpassung des Schweizer Beitrags bei einem Beitritt oder
Austritt eines EU-Mitgliedstaats fest. Im Falle eines EU-Beitritts oder -Austritts eines
Staats, welcher die Kriterien für die Partnerstaaten des Schweizer Beitrags im Bereich
Kohäsion gemäss Artikel 3 erfüllt, wird gemäss Absatz 1 der Schweizer Beitrag ver-
hältnismässig angepasst. Die Anpassung gilt ab dem Zeitpunkt der Änderung der Mit-
gliedschaft. Die verhältnismässige Anpassung wird gemäss Absatz 2 durch die beiden
Vertragsparteien festgelegt, das heisst ihr genauer Umfang wäre Gegenstand von Ver-
handlungen zwischen der Schweiz und der EU. Dies erlaubt es, die Auswirkungen
eines EU-Beitritts oder -Austritts auf die Gesamtbeziehungen Schweiz–EU mit zu be-
rücksichtigen.
Teil II – Umsetzung und Verwaltung der Mittel
Art. 11
Gemeinsame Werte
564 / 931
In Artikel 11 wird festgehalten, dass die Umsetzung des Beitrags auf den gemeinsa-
men Werten hinsichtlich der Achtung der Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaat-
lichkeit, Menschenwürde und Gleichberechtigung beruht.
Art. 12
Verwaltung des regelmässigen finanziellen Beitrags der Schweiz
Für die Gesamtverwaltung des Beitrags ist gemäss Absatz 1 die Schweiz zuständig.
Ihr Verwaltungsaufwand wird gemäss Absatz 2 jeweils durch den im MoU aufgeführ-
ten Gesamtbetrag gedeckt.
Art. 13
Grundsätze der Umsetzung
Artikel 13 regelt die Grundsätze der Umsetzung des Beitrags. Die Verhandlungen und
die Umsetzung mit den Partnerstaaten erfolgen gemäss Absatz 1 im Sinne einer
gleichberechtigten Partnerschaft. Die Umsetzung der Unterstützungsmassnahmen
liegt laut Absatz 2 in der Verantwortung der Partnerstaaten. Diese stellen für eine ord-
nungsgemässe Umsetzung der Massnahmen angemessene Verwaltungs- und Kon-
trollsysteme bereit. Absatz 3 hält fest, dass für Massnahmen, welche direkt von der
Schweiz durchgeführt werden, die Schweiz verantwortlich ist und ebenfalls für eine
ordnungsgemässe Umsetzung der Massnahmen angemessene Verwaltungs- und Kon-
trollsysteme bereitstellt.
Bei der Umsetzung der Massnahmen müssen laut Absatz 4 die in Artikel 11 festge-
legten Werte eingehalten werden. Zudem müssen die Prinzipien der guten Regie-
rungsführung und der ordnungsgemässen Haushaltsführung eingehalten werden.
Auch Transparenz, Nichtdiskriminierung, Effizienz und Rechenschaftspflicht müssen
sichergestellt sein. Die Umsetzung beruht zudem auf der gemeinsamen Verpflichtung
der Schweiz und der Partnerstaaten, jegliche Form der Korruption bei der Umsetzung
zu bekämpfen. Dafür werden wirksame Massnahmen und Verfahren bereitgestellt, um
jegliche Handlungen, die eine ordnungsgemässe Verwendung der Mittel gefährden,
zu verhindern, zu erkennen und dagegen vorzugehen. Die Massnahmen und Verfah-
ren berücksichtigen identifizierte Korruptionsrisiken.
Gestützt auf Absatz 5 kann die Schweiz bei einer Verletzung der in Absatz 4 beschrie-
benen Verpflichtungen, welche die ordnungsgemässe Umsetzung gefährdet oder ge-
fährden könnte, geeignete, verhältnismässige und wirksame Massnahmen bezüglich
der betroffenen Unterstützungsmassnahme ergreifen. In schwerwiegenden Fällen
könnte zum Beispiel eine Suspendierung oder Beendigung der betroffenen Unterstüt-
zungsmassnahme geeignet, verhältnismässig und wirksam sein. Die Schweiz führt vor
Ergreifen der Massnahmen eine Untersuchung durch. Im Rahmen dieser Untersu-
chung hat der Partnerstaat das Recht, sich zum Fall zu äussern.
Die Schweiz kann laut den Absätzen 6 und 7 gemäss ihren innerstaatlichen Vorschrif-
ten Kontrollen durchführen. Die Partnerstaaten unterstützen die Schweiz dabei mit
allen benötigten Informationen und Unterlagen. Die Schweiz führt ihre Prüfungen ri-
sikobasiert durch und berücksichtigt dabei die Grundsätze der Einzigen Prüfung und
der Verhältnismässigkeit hinsichtlich des Risikos, mit dem Ziel, die Kosten der Prü-
fungen sowie den administrativen Aufwand für die Begünstigten möglichst gering zu
halten.
565 / 931
Wie in Artikel 5 Absatz 3 festgehalten, konkretisieren die Schweiz und die Partner-
staaten die Bestimmungen von Artikel 13 in den Umsetzungsabkommen. Sie können
dabei über die im Beitragsabkommen gesetzten Mindeststandards hinausgehen.
Teil III – Institutionelle Bestimmungen
Art. 14
Gemischter Ausschuss
Durch das Beitragsabkommen wird ein Gemischter Ausschuss eingerichtet (Abs. 1),
der von einer Vertreterin oder einem Vertreter der Schweiz und einer Vertreterin oder
einem Vertreter der EU gemeinsam geleitet wird (Abs. 2). Die einzelnen Zuständig-
keiten des Gemischten Ausschusses sind abschliessend in Absatz 3 umschrieben: Si-
cherstellung der ordnungsgemässen Funktionsweise und der wirksamen Verwaltung
und Anwendung des Abkommens, Abgabe von Empfehlungen an die Vertragspar-
teien, Treffen der im Abkommen vorgesehenen Beschlüsse, sowie Ausübung jeder
anderen im Abkommen vorgesehenen Zuständigkeit; der Gemischte Ausschuss dient
den Vertragsparteien ferner als Gremium für gegenseitige Konsultationen und einen
ständigen Informationsaustausch, insbesondere um eine Lösung für Schwierigkeiten
bei der Auslegung und Anwendung des Beitragsabkommens zu finden. Beschlüsse
des Gemischten Ausschusses müssen einvernehmlich gefasst werden. Sie sind für die
Vertragsparteien bindend, welche alle geeigneten Massnahmen zu ihrer Umsetzung
treffen (Abs. 4). Der Gemischte Ausschuss tagt mindestens einmal im Jahr (Abs. 5),
gibt sich seine eigene Geschäftsordnung (Abs. 6) und kann Arbeits- oder Experten-
gruppen einrichten, die ihn bei der Ausübung seiner Aufgaben unterstützen (Abs. 7).
Art. 15
Ausschliesslichkeitsgrundsatz
Das Beitragsabkommen sieht ein Streitbeilegungsverfahren vor. Artikel 15 verpflich-
tet die Parteien dazu, sich zur Beilegung allfälliger Streitigkeiten über die Auslegung
und Anwendung des Beitragsabkommens ausschliesslich dieses Streitbeilegungsver-
fahrens zu bedienen. Es handelt sich um eine übliche Verpflichtung in völkerrechtli-
chen Verträgen, um etwaiges
Forum Shopping
zu unterbinden. Die Binnenmarkt- und
das Gesundheitsabkommen sehen materiell identische Bestimmungen für die dort vor-
gesehenen Streitbeilegungsverfahren vor (s. Ziff. 2.1.5.4.1).
Art. 16
Verfahren bei Auslegungs- oder Anwendungsschwierigkeiten
Das Streitbeilegungsverfahren ist zweistufig aufgebaut und beruht auf einem klassi-
schen völkerrechtlichen Schiedsgerichtsmodell.
Zunächst müssen die Parteien versuchen, einen Streitfall einvernehmlich im Gemisch-
ten Ausschuss beizulegen: Ziel ist es, alle Möglichkeiten zu prüfen, um das gute Funk-
tionieren des Abkommens aufrechtzuerhalten (Abs. 1). Findet der Gemischte Aus-
schuss innerhalb einer Frist von drei Monaten ab seiner Befassung keine Lösung für
den Streitfall, kann jede Vertragspartei die Einsetzung eines paritätisch besetzten
Schiedsgerichts verlangen (Abs. 2). Das Schiedsgerichtsprotokoll regelt im Einzel-
nen, wie sich das Schiedsgericht konstituiert und wie das Schiedsverfahren abläuft.
Die vorgesehenen Regeln entsprechen grundsätzlichen denjenigen in den Binnen-
566 / 931
marktabkommen (s. Ziff. 2.1.5.4.2). Die wenigen Bestimmungen des Schiedsge-
richtsprotokolls, die keine Entsprechung in den Binnenmarktabkommen finden, sind
in den Erläuterungen zum Schiedsgerichtsprotokoll näher beschrieben.
Das Schiedsgericht allein ist für die Auslegung des Beitragsabkommens zuständig.
Dabei muss es die zwischen den Parteien geltenden Regeln und Grundsätze über die
Auslegung völkerrechtlicher Verträge anwenden (Art. IV.3 Abs. 1 Schiedsge-
richtsprotokoll). Im Gegensatz zu den Binnenmarktabkommen sieht Artikel 16 keinen
Beizug des EuGH im Streitbeilegungsverfahren vor. Der Grund dafür ist die Natur
des Beitragsabkommens: Die Schweiz nimmt über das Beitragsabkommen nicht am
EU-Binnenmarkt teil, daher gibt es auch keine Übernahme von EU-Recht und die
Auslegungshoheit des EuGH wird nicht tangiert. Die spezifisch für die Teilnahme am
EU-Binnenmarkt konzipierten institutionellen Elemente, wie der eng begrenzte Bei-
zug des EuGH durch die Schiedsgerichte für die Binnenmarktabkommen (s. Ziff.
2.1.5.4.2), sind daher im Beitragsabkommen nicht vorgesehen.
Das Schiedsgericht kann bei seiner Beurteilung der Vereinbarkeit der Massnahmen
einer Partei mit dem Beitragsabkommen mit einer Vorfrage über die Auslegung des
Rechts einer Partei konfrontiert werden. Dieser Umstand ist darauf zurückzuführen,
dass gewisse Bestimmungen des Beitragsabkommens auf das Recht einer oder beider
Parteien verweisen. So verweist beispielsweise Artikel 13 Absatz 6 für die Durchfüh-
rungen von Kontrollen durch die Schweiz in den Partnerstaaten auf die internen
schweizerischen Vorschriften. In so einem Fall darf das Schiedsgericht das Recht der
jeweiligen Partei, soweit angebracht, als Tatsache (
matter of fact
) gemäss der vorherr-
schenden Praxis berücksichtigen (Abs. 3). Dabei ist es an die Praxis derjenigen Be-
hörden, Gremien und dergleichen gebunden, welche für die Auslegung des infrage-
stehenden Rechtssatzes zuständig sind. Bei einer Vorfrage zum schweizerischen
Landesrecht wäre es somit an die vorherrschende Praxis der schweizerischen Behör-
den und Gerichte gebunden. Es handelt sich um ein Modell, welches bereits in anderen
Abkommen vorgesehen ist, so jüngst auch im Abkommen über Solidaritätsmassnah-
men zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung zwischen der Schweiz, Deutsch-
land und Italien.
522
Nicht in die Zuständigkeit des Schiedsgerichts fallen Streitfälle, welche die Umset-
zung der länderspezifischen Umsetzungsabkommen zwischen der Schweiz und den
Partnerstaaten betreffen (Abs. 4). Das Verfahren für die Beilegung solcher Streitfälle
wird in den Umsetzungsabkommen geregelt. Dazu gehören namentlich Streitfälle
über Massnahmen, welche die Schweiz infolge von Mängeln in den Bereichen ge-
meinsame Werte und Umsetzungsprinzipien bei einer Unterstützungsmassnahme er-
greift (s. Erläuterungen zu Art. 13). Diese Regelung trägt dem Umstand Rechnung,
dass die Umsetzung des Schweizer Beitrags primär die bilaterale Zusammenarbeit
zwischen der Schweiz und dem jeweiligen Partnerstaat betrifft und nicht diejenige
zwischen der Schweiz und der EU.
522
BBl
2024
2318
567 / 931
Die Entscheide des Schiedsgerichts sind für die Schweiz und die EU verbindlich. Die
unterlegene Partei teilt der Gegenpartei und dem Gemischten Ausschuss die Mass-
nahmen mit, die sie ergriffen hat, um dem Entscheid des Schiedsgerichts Folge zu
leisten (Abs. 5).
Art. 17
Ausgleichsmassnahmen
Teilt eine Partei, die gemäss dem Schiedsgericht gegen das Beitragsabkommen
verstossen hat, nicht innert einer vom Schiedsgericht angesetzten angemessenen Frist
mit (s. Art. IV.2 Abs. 6 Schiedsgerichtsprotokoll), welche Massnahmen sie zur Um-
setzung des Entscheids des Schiedsgerichts ergriffen hat, oder wenn die andere Ver-
tragspartei der Auffassung ist, dass die mitgeteilten Massnahmen dem Entscheid des
Schiedsgerichts nicht entsprechen, kann letztere gemäss Artikel 17 Absatz 1 Aus-
gleichsmassnahmen ergreifen.
Grundvoraussetzung für das Ergreifen von Ausgleichsmassnahmen ist somit stets das
Vorliegen eines Schiedsspruchs, wobei die betroffene Partei zusätzlich entweder die
Mitteilung von Umsetzungsmassnahmen innert angemessener Frist unterlassen muss
oder aber Umsetzungsmassnahmen mitgeteilt hat, die nach Auffassung der anderen
Partei den Entscheid des Schiedsgerichts nicht umsetzen.
Innerhalb des Beitragsabkommens sind verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen –
insbesondere falls diese durch die EU ergriffen würden – kaum möglich. Allfällige
Ausgleichsmassnahmen können daher auch in den anderen Abkommen des Pakets
Schweiz–EU, die in der Liste der Abkommen in Artikel 3 Buchstabe a aufgeführt
sind, ergriffen werden. Dazu gehören neben dem Beitragsabkommen die Binnen-
marktabkommen sowie das EUPA, das EUSPA-Abkommen und das Gesundheitsab-
kommen. Hintergrund dafür ist, dass der Schweizer Beitrag als Teil eines ausgewo-
genen Pakets Schweiz–EU mit gegenseitigen Rechten und Pflichten beider Parteien
verstetigt wird. Die Ausgleichsmassnahmen müssen verhältnismässig ausgestaltet
sein. Die Verhältnismässigkeit ist im Einzelfall zu beurteilen. Ausgangspunkt bildet
dabei die Schwere der konkreten Vertragsverletzung. Die Partei, welche Ausgleichs-
massnahmen ergreifen möchte, muss diese der anderen Partei notifizieren. Im Grund-
satz treten die Ausgleichsmassnahmen sodann nach Ablauf von drei Monaten in Kraft.
Die Ausgleichsmassnahmen dürfen keine Rückwirkung haben und nicht in bereits er-
worbene Rechte der Bürgerinnen und Bürger sowie der Wirtschaftsteilnehmenden
eingreifen (Abs. 4). Bestehen Meinungsverschiedenheiten über die Verhältnismässig-
keit der notifizierten Ausgleichsmassnahmen, kann der Gemischte Ausschuss mit die-
ser Frage befasst werden. Soweit der Gemischte Ausschuss nicht innert einem Monat
seit der Notifizierung der infragestehenden Ausgleichsmassnahmen einen Beschluss
über deren Aussetzung, Änderung oder Aufhebung gefällt hat, kann jede Partei die
Verhältnismässigkeit der Ausgleichsmassnahmen durch das Schiedsgericht prüfen
lassen (Art. 17 Abs. 2). Wie in den Binnenmarktabkommen kann das Schiedsgericht
auf Antrag einer Partei das Inkrafttreten der Ausgleichsmassnahmen unter gewissen
Voraussetzungen für die Dauer des Verfahrens aufschieben (s. Ziff. 2.1.5.4.3).
Teil IV – Schlussbestimmungen
568 / 931
Art. 18
Erster finanzieller Beitrag der Schweiz gemäss diesem Abkommen und ein-
malige zusätzliche finanzielle Verpflichtung
Artikel 18 Absatz 1 sieht vor, dass die Schweiz einen ersten Beitrag für die Beitrags-
periode vom 1. Januar 2030 bis zum 31. Dezember 2036 leistet, wie in Anhang II des
Beitragsabkommens festgehalten wird. Dazu kommt eine einmalige zusätzliche finan-
zielle Verpflichtung für die Periode zwischen Ende 2024 und Ende 2029, die in An-
hang III näher geregelt wird. Es handelt sich hierbei um spezifische Bestimmungen
für die erste Beitragsperiode, welche teilweise von den generellen Bestimmungen des
Mechanismus in den Artikeln 4 und 5 abweichen.
Sowohl für den ersten Beitrag (Abs. 2) als auch für die einmalige zusätzliche finanzi-
elle Verpflichtung (Abs. 3) werden die Umsetzungsmodalitäten, soweit sie noch nicht
in Anhang II oder Anhang III festgelegt sind, innerhalb von zwölf Monaten nach In-
krafttreten des Beitragsabkommens in einem MoU festgehalten werden. Spätestens
drei Jahre nach Inkrafttreten müssen die Umsetzungsabkommen mit den Partnerstaa-
ten für den Beitrag im Bereich Kohäsion sowie für die einmalige zusätzliche finanzi-
elle Verpflichtung abgeschlossen sein (Abs. 4). Für den Bereich Migration muss der
Abschluss der länderspezifischen Umsetzungsabkommen spätestens fünf Jahre nach
dem Start der Beitragsperiode erfolgt sein (Abs. 5). Grund für diese Differenzierung
sind die unterschiedlichen Ansätze der Bereiche Kohäsion und Migration bei der Um-
setzung und die bei der Migration erforderliche grössere zeitliche Flexibilität (s. die
Erläuterungen zu Art. 5 Abs. 4 und 5).
Bei einem Nichtabschluss der MoU (Abs. 6) oder der Umsetzungsabkommen (Abs. 7)
könnte, wie in Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe c bzw. in Artikel 5 Absatz 6 vorgesehen,
eine Partei ein Streitbeilegungsverfahren einleiten. Gegebenenfalls hätte das Schieds-
gericht zu beurteilen, ob die Parteien nach Treu und Glauben verhandelt haben (s.
Erläuterungen zu Art. 4 und 5).
Art. 19
Protokoll, Anhänge und Anlagen
Artikel 19 stellt klar, dass das Schiedsgerichtsprotokoll, die Anhänge und deren An-
lagen integrale Bestandteile des Beitragsabkommens bilden.
Art. 20
Inkrafttreten
Das Beitragsabkommen ist im Stabilisierungsteil des Pakets Schweiz–EU (s.
Ziff. 2.1.5.6). Es tritt am ersten Tag des zweiten Monats nach der Notifizierung des
Abschlusses der internen Verfahren zur Genehmigung aller völkerrechtlichen Instru-
mente des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU in Kraft.
Art. 21
Kündigung
Das Beitragsabkommen kann durch jede Partei gekündigt werden. Die Kündigung ist
der anderen Partei zu notifizieren. Anschliessend tritt das Beitragsabkommen nach
Ablauf von sechs Monaten ausser Kraft. Eine rechtliche Verknüpfung der Kündigung
dieses Abkommens mit anderen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU
569 / 931
(«Guillotine-Klausel») ist nicht vorgesehen. Die EU dürfte aber auch künftig die Fort-
setzung des bilateralen Wegs mit der Verstetigung des Schweizer Beitrags verknüp-
fen.
Anhang I
–
Elemente für den regelmässigen finanziellen Beitrag der Schweiz ge-
mäss Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe (a) in den folgenden Beitragsperioden
Anhang I legt die Elemente zur Berechnung der Höhe des Schweizer Beitrags für die
jeweils folgende Beitragsperiode fest. Die Höhe des folgenden Beitrags basiert erstens
auf der Höhe des Beitrags aus der Vorperiode (Ziff. 1 Bst. a). Ist während der Vorpe-
riode gemäss Artikel 10 eine verhältnismässige Anpassung des Beitrags aufgrund ei-
nes Beitritts oder Austritts eines EU-Mitgliedstaats erfolgt, wird diese beim folgenden
Beitrag berücksichtigt. Um die Kaufkraft des Beitrags zu erhalten, wird der Beitrag
der Vorperiode zweitens an die aufgelaufene Inflation angepasst (Ziff. 1 Bst. b). Das
genaue Vorgehen dazu ist in Anlage 1 geregelt. Da der Beitrag in Franken festgelegt
ist, erfolgt dieser Ausgleich zunächst anhand der Inflation in der Schweiz. Ein Aus-
gleichsfaktor berücksichtigt zudem die Abweichung zwischen der Schweizer Inflation
und der Inflation in den Partnerstaaten, soweit diese nicht durch die Entwicklung des
Wechselkurses ausgeglichen wird. Der daraus resultierende Betrag kann drittens aus
politischen Überlegungen innerhalb einer Bandbreite von 10 % erhöht oder reduziert
werden (Ziff. 1 Bst. c).
Anhang I regelt zudem, dass der Anteil des Schweizer Beitrags, der für den Bereich
Kohäsion bestimmt ist, mindestens 90 % des jeweiligen Beitrags ausmachen muss
(Ziff. 2). Damit sind jeweils höchstens 10 % des Schweizer Beitrags für den Bereich
andere wichtige gemeinsame Herausforderungen vorgesehen.
Innerhalb des Bereichs Kohäsion sind 90 % der Mittel für die Umsetzungsabkommen
reserviert (Ziff. 3). Damit sind jeweils höchstens 10 % vorgesehen für den Eigenauf-
wand von derzeit bis zu 5 % und für weitere Unterstützungsmassnahmen, die entwe-
der die Schweiz selbst verwaltet oder in relevante Finanzierungsinstrumente einflies-
sen.
Schliesslich legt Anhang I fest, dass der im Bereich Kohäsion für die Umsetzungsab-
kommen reservierte Betrag gemäss dem Verteilschlüssel in Anlage 2 den Partnerstaa-
ten zugewiesen wird (Ziff. 4).
Die Aufnahme verbindlicher Bestimmungen über die Höhe und Aufteilung des regel-
mässigen Schweizer Beitrags beruht auf einem Interessenausgleich. Die EU erhält die
Sicherheit, dass die Schweiz die Partnerstaaten zukünftig regelmässig mit Beiträgen
in bestimmter Höhe unterstützt. Demgegenüber erhält die Schweiz Sicherheit und
Planbarkeit über diese Elemente, da insbesondere der Entwicklung der Beitragshöhe
klare Grenzen gesetzt werden. So kann die EU zukünftig keine andere Berechnungs-
methode für die Höhe des Schweizer Beitrags – wie beispielsweise eine anteilsmäs-
sige Beteiligung an ihren Kohäsionsgeldern – fordern. Für die Schweiz ist diese
Rechtssicherheit von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
Anlage 1 – Methode zur Bestimmung der Anpassung gemäss Anhang I Absatz 1
Buchstabe (b)
570 / 931
Anlage 1 legt die Methode zur Berechnung des Inflationsausgleichs fest. Die Anpas-
sung an die Inflation erfolgt auf der Grundlage des harmonisierten Verbraucherpreis-
index (HVPI). Dafür wird zum Zeitpunkt der Berechnung die Differenz zwischen dem
arithmetischen Mittel der Schweizer Inflation der letzten zwölf Monate und dem arith-
metischen Mittel der Schweizer Inflation im ersten Jahr der vorangegangenen Bei-
tragsperiode ermittelt. Langfristig ist zu erwarten, dass mit dieser Anpassung die
Kaufkraft des Schweizer Beitrags erhalten bleibt.
Um kurzfristige Schwankungen, wie eine starke Aufwertung des Frankens, auszuglei-
chen, wird in einem weiteren Schritt ein Ausgleichsfaktor berechnet. Dieser Aus-
gleichsfaktor korrigiert die Differenzen zwischen der Inflation in der Schweiz und der
Inflation in den Partnerstaaten, sofern diese nicht bereits durch die Entwicklung des
Wechselkurses ausgeglichen wurden. Der Ausgleichsfaktor misst die Entwicklung
des realen Wechselkurses der Partnerstaaten gegenüber der Schweiz. Er widerspiegelt
die reale Auf- oder Abwertung, die die Partnerstaaten in der vorhergehenden Beitrags-
periode erfahren haben. Wenn sich der Franken zum Beispiel stärker aufwertet, als
die Unterschiede in der Inflation dies erwarten liessen, so würde der Ausgleichsfaktor
die Inflationsanpassung nach unten korrigieren. Der Ausgleichsfaktor wird durch die
Europäische Kommission basierend auf Daten vom Statistischen Amt der Europäi-
schen Union (Eurostat), der Europäischen Zentralbank, den Zentralbanken der Part-
nerstaaten und/oder der Schweizerischen Nationalbank berechnet. Sie teilt die Be-
rechnung mit der Schweiz über den Gemischten Ausschuss.
Anlage 2
–
Verteilschlüssel für den regelmässigen finanziellen Beitrag der
Schweiz im Bereich Kohäsion
Anlage 2 legt fest, wie der Verteilschlüssel für die Aufteilung der Beitragsmittel im
Bereich Kohäsion auf die jeweiligen Partnerstaaten berechnet wird. Die Berechnung
orientiert sich, wie bei den bisherigen Schweizer Beiträgen, weitgehend an der Me-
thode zur Ermittlung der länderspezifischen Anteile der EU-Kohäsionszahlungen.
Massgebend hierfür ist der Bevölkerungs- und Flächenanteil des Partnerstaats im Ver-
gleich zu allen Partnerstaaten, wobei bei sehr hoher Bevölkerungsdichte nur der Be-
völkerungsanteil berücksichtigt wird. Anschliessend erfolgt eine Verringerung oder
Erhöhung der so erhaltenen Prozentsätze durch einen Koeffizienten mit dem Ziel,
wirtschaftlich schwächere Partnerstaaten stärker zu berücksichtigen und wirtschaft-
lich stärkere entsprechend weniger zu gewichten. Abschliessend werden die Anteile
so neu skaliert, damit ihre Summe 100 % ergibt.
Anhang II
–
Erster finanzieller Beitrag der Schweiz gemäss diesem Abkommen
für die Periode 2030–2036
Anhang II legt die Modalitäten für den ersten Beitrag unter dem Beitragsabkommen
fest. Die Schweiz leistet in der Beitragsperiode von 2030–2036 einen jährlichen Bei-
trag in der Höhe von 350 Millionen Franken. Die Umsetzungsperiode startet gleich-
zeitig mit der Beitragsperiode ab 2030 und läuft über zehn Jahre bis 2039. Die
Schweiz kann bis zu 5 % des Gesamtbeitrags für ihre eigenen Verwaltungskosten ver-
wenden (Eigenaufwand). Für den
Swiss Expertise and Partnership Fund
(SEPF) kön-
nen bis zu 2 % des Gesamtbeitrags verwendet werden. Der SEPF wird für Schweizer
571 / 931
Expertise und Partnerschaften sowie für die Unterstützung der «Swissness» und der
Qualität der Programme und Projekte eingesetzt.
Für den Bereich Kohäsion sind durchschnittlich 308 Millionen Franken pro Jahr re-
serviert. Davon werden mindestens 90 % im Rahmen von Umsetzungsabkommen mit
den Partnerstaaten verpflichtet. Neben Verwaltungskosten von 5 % und dem SEPF
von 2 % könnte daher ein zusätzlicher Fonds im Bereich Kohäsion im Umfang von
maximal 3 % geschaffen werden. Der thematische Schwerpunkt eines solchen Fonds
(z. B. zur Unterstützung von Organisationen der Zivilgesellschaft oder ein zentral ver-
walteter Forschungsfonds) sowie dessen spezifischer Umfang würde im MoU für die
Beitragsperiode 2030–2036 festgehalten werden.
Die Partnerstaaten im Bereich der Kohäsion sind jene, die zum gegebenen Zeitpunkt
das im Beitragsabkommen festgelegte Kriterium erfüllen (weniger als 90 % des EU-
BNE). Sie werden im MoU für die Beitragsperiode 2030–2036 bestimmt. Darin wird
auch die Verteilung der Gelder unter den identifizierten Partnerstaaten gemäss dem
Verteilschlüssel in Anlage 2 festgehalten. Anhang II setzt bereits grobe thematische
Schwerpunkte für den Beitrag zur Kohäsion: (i) Inklusive menschliche und soziale
Entwicklung, (ii) Nachhaltige und inklusive wirtschaftliche Entwicklung, (iii) Ökolo-
gischer Wandel, (iv) Demokratie und Partizipation. Die detaillierte thematische Aus-
richtung wird im MoU ausgeführt werden.
Für die Zusammenarbeit im Bereich Migration sind 12 % des Gesamtbetrags reser-
viert, das entspricht durchschnittlich 42 Millionen Franken pro Jahr. Der Anteil für
die Bewältigung der gemeinsamen Herausforderung Migration am Gesamtbeitrag ist
somit in der Beitragsperiode 2030–2036 leicht höher als der Anteil, welcher für künf-
tige Beitragsperioden vorgesehen ist (s. Erläuterungen zu Anhang I, Ziff. 2). Dies be-
rücksichtigt, dass die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung im gleichen
Zeitraum vollumfänglich im Bereich Kohäsion eingesetzt werden soll. Die Partner-
staaten im Bereich Migration sind EU-Mitgliedstaaten, die unter besonderem Migra-
tionsdruck stehen, und/oder EU-Mitgliedstaaten, mit welchen ein gemeinsames Inte-
resse besteht, die Migrationsgouvernanz zu stärken. Wie bereits unter dem zweiten
Schweizer Beitrag kann die Schweiz einen Teil der Mittel im Bereich Migration für
einen
Rapid Response Fund
reservieren. Dieser Fonds ermöglicht eine schnelle Un-
terstützung bei unerwarteten Entwicklungen im Bereich Migration in den EU-
Mitgliedstaaten. Der genaue Umfang dieses Fonds würde im MoU für die Beitrags-
periode 2030–2036 festgehalten.
Anhang III
–
Einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung der Schweiz für
den Zeitraum von Ende 2024 bis Ende 2029
Die Bestimmungen zur einmaligen zusätzlichen finanziellen Verpflichtung befinden
sich in Anhang III. Die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung ist aufgeteilt
in eine Phase vor und eine Phase nach dem Inkrafttreten des Stabilisierungsteils des
Pakets Schweiz–EU. Die Schweiz leistet eine einmalige zusätzliche finanzielle Ver-
pflichtung von jährlich 130 Millionen Franken von Ende 2024 bis zum Inkrafttreten
des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU. Diese Verpflichtung widerspiegelt
572 / 931
den Umfang der Partnerschaft und Zusammenarbeit der Schweiz und der EU in die-
sem Zeitraum, wie er in der Gemeinsamen Erklärung zwischen der Schweiz und der
EU festgehalten wird (s. Ziff. 1.3.4). Zwischen dem Inkrafttreten des Stabilisie-
rungsteils des Pakets Schweiz–EU und dem Start der Beitragsperiode des ersten
Schweizer Beitrags unter dem Beitragsabkommen am 1. Januar 2030 beträgt die ein-
malige zusätzliche finanzielle Verpflichtung jährlich 350 Millionen Franken. Bei ei-
nem unterjährigen Inkrafttreten würde die Höhe der einmaligen zusätzlichen finanzi-
ellen Verpflichtung anteilsmässig berechnet. Die Gesamthöhe der einmaligen
zusätzlichen finanziellen Verpflichtung wird entsprechend im MoU aufgeführt wer-
den.
Die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung wird ausschliesslich im Bereich
Kohäsion über einen Zeitraum von zehn Jahren ab dem Start der Beitragsperiode 2030
umgesetzt. Die weiteren Bestimmungen, wie jene zur Auswahl der Partnerstaaten, zur
Verteilung der Mittel und zu den thematischen Schwerpunkten, entsprechen jenen für
den Bereich Kohäsion in Anhang II. Die spezifischen Modalitäten werden in einem
MoU ein Jahr nach Inkrafttreten des Beitragsabkommens festgehalten.
Schiedsgerichtsprotokoll
Das Schiedsgerichtsprotokoll des Beitragsabkommens beruht auf dem Schiedsge-
richtsmodell für die Binnenmarktabkommen. Diesbezüglich kann auf die Erläuterun-
gen unter Ziffer 2.1.5.4.2 und Ziffer 2.1.5.4.3 verwiesen werden. Aufgrund der von
den Binnenmarktabkommen abweichenden Natur des Beitragsabkommens, das keine
Teilnahme der Schweiz am EU-Binnenmarkt bezweckt (s. Erläuterungen zu Art. 16),
bestehen folgende drei Abweichungen.
Erstens sieht das Streitbeilegungsverfahren des Beitragsabkommens, wie in den Er-
läuterungen zu Artikel 16 dargestellt, keinen Beizug des EuGH durch das Schiedsge-
richt vor. Dementsprechend beinhaltet das Schiedsgerichtsprotokoll auch keine Best-
immungen, welche einen Beizug des EuGH durch das Schiedsgericht regeln (für die
institutionelle Elemente s. insb. Art. III.9 der Anlage des institutionellen Protokolls
des Luftverkehrsabkommens über das Schiedsgericht [AnlSchG-IP-LVA]).
Zweitens wird mit dem Beitragsabkommen kein EU-Recht übernommen und es ent-
hält auch nicht das (gemäss den neuen institutionellen Regeln) für die Binnenmarkt-
abkommen vorgesehene Prinzip der einheitlichen Auslegung und Anwendung. Daher
ist auch die Bestimmung zum anwendbaren Recht im Schiedsgerichtsprotokoll des
Beitragsabkommens nicht identisch mit derjenigen in den Schiedsgerichtsregeln der
Binnenmarktabkommen. Nach Art. IV.3 Abs. 1 Schiedsgerichtsprotokoll setzt sich
hier das anwendbare Recht zusammen aus dem Beitragsabkommen sowie den Regeln
und Grundsätzen des Völkerrechts, die zwischen den Parteien bei der Auslegung von
Verträgen anwendbar sind (für die Regelung in den Binnenmarktabkommen s.
Art. IV.3 AnlSchG-IP-LVA).
Drittens sieht das Schiedsgerichtsprotokoll des Beitragsabkommens im Vergleich zu
den Regeln für die Binnenmarktabkommen zwei zusätzliche Konstellationen vor, in
denen die Verfahrensfristen halbiert werden: Zum einen, wenn die Frist für den Ab-
schluss des MoU in Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe c beziehungsweise in Artikel 18
573 / 931
Absatz 6, überschritten wird (Art. III.8 Abs. 3 Bst. b), und zum anderen, wenn innert
der in Artikel 5 Absätze 4 und 5 beziehungsweise Artikel 18 Absatz 7, gesetzten Fris-
ten überhaupt kein Umsetzungsabkommen abgeschlossen wurde (Art. III.8 Abs. 3
Bst. c). In diesen Fällen wäre die Umsetzung eines Beitrags grundsätzlich in Frage
gestellt, was die Halbierung der Fristen rechtfertigt. Die beiden anderen Konstellatio-
nen, in denen halbierte Verfahrensfristen gelten – dringliche Fälle (Art. III.8 Abs. 3
Bst. a) und bei Vereinbarung zwischen den Parteien (Art. III.8 Abs. 3 Bst. d) – sind
auch in den Schiedsgerichtsregeln der Binnenmarktabkommen vorgesehen.
2.10.7
Grundzüge des Umsetzungserlasses
Für die Umsetzung des Beitragsabkommens ist ein neues Bundesgesetz über die Bei-
träge der Schweiz zur Stärkung der Kohäsion in Europa (nachstehend «Kohäsionsbei-
tragsgesetz») notwendig. Das Bundesgesetz über die Zusammenarbeit mit den Staaten
Osteuropas, welches als Grundlage für den Erweiterungsbeitrag und den Kohäsions-
teil des zweiten Schweizer Beitrags an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten gedient hat,
war befristet und ist per 31. Dezember 2024 ausgelaufen. Neu basiert der Schweizer
Beitrag auf dem Beitragsabkommen mit der EU. Das Kohäsionsbeitragsgesetz spezi-
fiziert daher nur jene innerstaatlichen Aspekte, die für die Umsetzung der auf dem
Beitragsabkommen basierenden Beiträge zur Stärkung der Kohäsion in Europa not-
wendig sind. Gestützt auf das Gesetz soll eine Verordnung die verwaltungsinterne
Organisation und Koordination regeln.
Gemäss dem Beitragsabkommen kann im Rahmen des Schweizer Beitrags neben der
Stärkung der Kohäsion auch auf andere wichtige gemeinsame Herausforderungen re-
agiert werden. Für den ersten Beitrag unter dem Beitragsabkommen 2030–2036
wurde erneut das Thema Migration als wichtige gemeinsame Herausforderung defi-
niert (s. Anhang II des Beitragsabkommens). Die Beiträge für Unterstützungsmass-
nahmen im Bereich Migration stützen sich dabei wie bisher auf das Asylgesetz vom
26. Juni 1998
523
(AsylG). In Zukunft sollen Beiträge zur Bewältigung anderer wich-
tiger gemeinsamer Herausforderungen (z. B. Migration) weiterhin auf eine separate
Gesetzesgrundlage gestützt werden.
2.10.7.1
Umsetzungsgesetzgebung
Das neue Kohäsionsbeitragsgesetz regelt die innerstaatliche Umsetzung des Beitrags-
abkommens im Bereich Kohäsion. Es konzentriert sich auf das Ziel des Beitragsab-
kommens, die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in den wirtschaftlich
schwächeren EU-Mitgliedstaaten zu verringern (Kohäsion). Die innerstaatlichen Um-
setzungsbestimmungen für die Bewältigung anderer gemeinsamer Herausforderungen
befinden sich in anderen Bundesgesetzen. Wie das Beitragsabkommen ist auch das
neue Kohäsionsbeitragsgesetz zeitlich nicht befristet. Die einzelnen Beiträge und die
entsprechenden Verpflichtungskredite werden aber jeweils befristet.
Das Kohäsionsbeitragsgesetz hält fest, wie die Schweiz die in Artikel 3 Buchstabe f
des Beitragsabkommens vorgesehenen Programme und Projekte unterstützt. Es regelt
523
SR
142.31
574 / 931
die Zusammenarbeit mit Dritten, die Finanzierung der Beiträge sowie die Zuständig-
keiten, wie zum Beispiel die Kompetenzen zum Abschluss von Verträgen. Zudem
enthält es Bestimmungen zur Evaluation und Berichterstattung. Der Wegfall des Bun-
desgesetzes über die Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas beziehungsweise
das neue Kohäsionsbeitragsgesetz haben zudem kleinere Anpassungen in anderen Ge-
setzen und später im Verordnungsrecht zur Folge.
2.10.7.2
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
Die Umsetzung des Schweizer Beitrags wird von der Schweiz über die gesamte Um-
setzungsperiode eng begleitet. Sie umfasst die Planungsphase, die Durchführung, ei-
nen geordneten Projektabschluss und eine Evaluation. Die dafür nötigen Mittel (Ei-
genaufwand) sind Teil des Schweizer Beitrags und fallen nicht zusätzlich an. Die
Eidgenössische Finanzkontrolle (EFK) hielt in ihrem Prüfungsbericht zum Erweite-
rungsbeitrag 2015
524
fest, dass im damals laufenden Erweiterungsbeitrag das Kosten-
dach von 5 % zwar eingehalten werden konnte (Kap. Management Kosten 7.1.), dass
dafür aber eine «disziplinierte Kostenkontrolle» nötig gewesen sei. Im Vergleich dazu
ist im Rahmen der Finanzierungsmechanismen des EWR und Norwegens ein Anteil
von 7 % reserviert,
525
das heisst, es stehen anteilsmässig mehr Mittel für die Verwal-
tung zur Verfügung, obwohl diese Finanzierungsmechanismen ein grösseres Finanz-
volumen aufweisen.
2.10.7.3
Umsetzungsfragen
Das Kohäsionsbeitragsgesetz erteilt dem Eidgenössische Departement für auswärtige
Angelegenheiten (EDA) und dem Eidgenössischen Departement für Wirtschaft, Bil-
dung und Forschung (WBF) die Zuständigkeit zur Umsetzung der Beiträge. Der Bun-
desrat wird die Ausführungsbestimmungen zum Kohäsionsbeitragsgesetz in der Ver-
ordnung über die Beiträge der Schweiz zur Stärkung der Kohäsion in Europa
(Kohäsionsbeitragsverordnung) erlassen. Die Direktion für Entwicklung und Zusam-
menarbeit (DEZA) und das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) koordinieren sich
mit den Bundesämtern, die für die Beiträge zur Bewältigung anderer wichtiger ge-
meinsamer Herausforderungen zuständig sind, sowohl bei der Planung als auch der
Durchführung. Sie können andere Bundesämter und öffentliche Institutionen mit ent-
sprechenden Fachkompetenzen für die Durchführung von Unterstützungsmassnah-
men beiziehen. Die Modalitäten und Rahmenbedingungen (z. B. Vereinbarungen zwi-
schen Bundesämtern für die Durchführung der Unterstützungsmassnahmen) werden
zwischen den betroffenen Stellen vereinbart.
Der Steuerungsausschuss Kohäsion koordiniert die Umsetzung der Beiträge. Der Aus-
schuss wird von der DEZA und vom SECO abwechslungsweise geleitet und darin
sind auch die Abteilung Europa des Staatssekretariats des EDA sowie jene Bundes-
ämter, die Beiträge im Bereich anderer wichtiger gemeinsamer Herausforderungen
524
Siehe www.efk.admin.ch > Publikationen > Berichte > Der Schweizer Erweiterungsbei-
trag – Erlaubt die Aufgabenteilung mit den EU-Partnerländern eine effiziente Umsetzung?
(EFK-14447).
525
Siehe Art. 1.9 Abs. 2 der
Regulations on the implementation of the EEA grants 2021-2028
,
abrufbar unter unter www.eeagrants.org > Menu > Resources > Regulations.
575 / 931
umsetzen, vertreten. Im ersten Beitrag (2030–2036) wird daher das Sekretariat für
Migration (SEM), das für das Thema Migration zuständig ist, im Ausschuss vertreten
sein. In der Kohäsionsbeitragsverordnung ist des Weiteren die Koordination mit an-
deren involvierten Bundesämtern geregelt. Sie erfolgt auf Ebene einer spezifischen
Unterstützungsmassnahme oder für einen ganzen thematischen Bereich (z. B. For-
schung). Zudem können im Steuerungsausschuss Kohäsion die meistinvolvierten
Bundesämter beigezogen werden.
Die vereinbarten Unterstützungsmassnahmen werden grundsätzlich durch die Part-
nerstaaten durchgeführt, welche für ein geeignetes Verwaltungs- und Kontrollsystem
sorgen müssen. Für Unterstützungsmassnahmen, die durch die Schweiz verwaltet
werden, hat die Schweiz dieselbe Verpflichtung. Die zuständigen Bundesämter, das
heisst die DEZA und das SECO, legen Ausführungsmodalitäten zu den Umsetzungs-
abkommen fest, in denen die Anforderungen an die Überwachung detailliert festge-
halten werden. Die Rückforderungs- und Zahlungsprozesse werden für jeden Partner-
staat in den Umsetzungsabkommen festgelegt und durch die zuständigen Behörden
vorgängig geprüft. Zudem werden risikobasierte Überprüfungen der Unterstützungs-
massnahmen verlangt, und die zuständigen Bundesämter können im Rahmen der
Bestimmungen in Artikel 13 des Beitragsabkommens jederzeit selbst in eigener Regie
Prüfungen durchführen lassen.
2.10.8
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des
Umsetzungserlasses
Art. 1
Gegenstand
Das Kohäsionsbeitragsgesetz regelt die Umsetzung der Beiträge der Schweiz zur Ver-
ringerung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in der EU, wie sie im Bei-
tragsabkommen zwischen der Schweiz und der EU vorgesehen sind. Die Beiträge zur
Bewältigung anderer wichtiger gemeinsamer Herausforderungen werden nicht im Ko-
häsionsbeitragsgesetz geregelt.
Art. 2
Unterstützte Programme und Projekte
Artikel 3 Buchstabe f des Beitragsabkommens (im Gesetz «Abkommen») definiert
den Begriff «Unterstützungsmassnahme» als Programm oder Projekt, das mit der Un-
terstützung der Schweiz umgesetzt wird. Im Gesetz wird der Verständlichkeit halber
durchwegs von «Programmen und Projekten» gesprochen.
Drei Formen der Beiträge sind in Artikel 5 Ziffer 1 des Beitragsabkommens geregelt:
1)
Gestützt auf die Umsetzungsabkommen werden Programme und Projekte
direkt von den Partnerstaaten geplant und durchgeführt, aber vorgängig so-
wohl durch den Partnerstaat als auch durch die Schweiz (entweder die
DEZA oder das SECO) genehmigt. Diese Genehmigungen basieren auf der
gemeinsamen Vorauswahl von Programmen/Projekten in den Umsetzungs-
abkommen.
576 / 931
2)
Es besteht zudem die Möglichkeit, dass die Schweiz im beschränkten Rah-
men selbst verwaltete Unterstützungsmassnahmen umsetzt. So kann sie
zum Beispiel selber einen Fonds für Forschungszusammenarbeit oder Zi-
vilgesellschaft verwalten.
3)
Die Schweiz kann gegebenenfalls auch zu Finanzierungsinstrumenten Drit-
ter beitragen (s. nachfolgend Erläuterungen zu Art. 3).
Art. 3
Formen der Unterstützung
Gemäss Artikel 3 des Kohäsionsbeitragsgesetzes kann die Form der Unterstützungs-
massnahmen verschieden ausgestaltet sein. Dies sind insbesondere nicht rückzahlbare
Geldleistungen, Darlehen, Beteiligungen oder Garantien; wobei in der Praxis derzeit
die nicht rückzahlbaren Geldleistungen überwiegen. Es können aber auch andere Mo-
dalitäten sein, wie technische Expertise oder Beiträge an Finanzierungsinstrumente,
die von anderen Geldgebern (bspw. den Finanzierungsmechanismen Norwegens und
des EWR oder multilateralen Organisationen) finanziert werden, solange diese dem
Ziel und den Grundsätzen des Beitragsabkommens entsprechen. Die genauen Anfor-
derungen an Unterstützungsmassnahmen und die Prozesse zu deren Planung, Durch-
führung und Monitoring werden in den Ausführungsmodalitäten zu den Umsetzungs-
abkommen beschrieben.
Art. 4
Zusammenarbeit mit Dritten
Der Bund kann für die Planung und Durchführung der Programme und Projekte Dritte
beauftragen. Unter «Dritten» werden verwaltungsexterne natürliche oder juristische
Personen des privaten oder öffentlichen Rechts verstanden. Die Beauftragung Dritter
ist zentral für eine effiziente Durchführung der Unterstützungsmassnahmen. Im Rah-
men des zweiten Schweizer Beitrags werden gewisse Forschungsprogramme zum
Beispiel vom Schweizerischen Nationalfonds durchgeführt, was sich bereits beim Er-
weiterungsbeitrag bewährt hatte. Die meisten Programme profitieren auch von der
Expertise von Schweizer Experten aus der Privatwirtschaft, von Dachverbänden oder
Nichtregierungsorganisationen, die dadurch die Qualität der Programme verbessern
und Swissness einbringen. Die Auswahl der Dritten, an die solche Aufträge vergeben
werden können, richtet sich nach den Normen und dem Bundesgesetz vom 21. Juni
2019
526
über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB) sowie dessen Verordnung
527
.
Der Bund wird nur Vorhaben Dritter unterstützen, die den Zielen und Grundsätzen
des Abkommens entsprechen. Dabei geht es darum, die Erfahrungen, Fähigkeiten und
Initiativen Dritter im Sinne eines rationellen Einsatzes des in der Schweiz und inter-
national vorhandenen Potenzials zu nutzen. Falls diese Beiträge an Dritte unter das
Bundesgesetz über Finanzhilfen und Abgeltungen vom 5. Oktober 1990
528
(Subven-
tionsgesetz) fallen, muss eine solche Unterstützung auf Gesuch hin erfolgen, wobei
das Einreichen eines Programm- oder Projektvorschlags als Antwort auf einen Aufruf,
solche einzureichen, als Gesuch betrachtet wird.
526
SR
172.056.1
527
SR
172.056.11
528
SR
616.1
577 / 931
Zudem kann der Bund mit Kantonen, Gemeinden und öffentlichen Institutionen zu-
sammenarbeiten und diese unterstützen. Dies ist sehr wertvoll, weil sie mit ihrer an-
gewandten Expertise, mit ihren Kenntnissen oder Erfahrungen die Umsetzung der
Massnahmen bereichern. Der Begriff «öffentliche Institutionen» bezieht sich zum
Beispiel auf kantonale und eidgenössische Hoch- und Fachschulen, die auf ihrem Ge-
biet über ein Fachwissen verfügen, das sie befähigt, Projekte für den Bund durchzu-
führen, Beratungsaufgaben zu übernehmen oder Projektstudien durchzuführen. Eine
solche Zusammenarbeit kann durch den Einsatz und Abgeltung von Fachexpertise der
Kantone, Gemeinden oder öffentlichen Institutionen stattfinden. Die Zusammenarbeit
mit Kantonen, Gemeinden und öffentlichen Institutionen kann die Form von Subven-
tionen annehmen (z. B. wenn die Kantone mit den Partnerstaaten arbeiten), oder über
die Eigenmittel finanziert werden, wenn die Dienstleistung an die Bundesämter er-
folgt.
Zur effizienten Umsetzung der Beiträge kann es zweckmässig sein, dass sich der Bund
an juristischen Personen beteiligt oder solche gründet. In diesem Artikel wird jedoch
auf eine Norm dazu verzichtet, weil gemäss Artikel 52 des Bundesgesetzes vom
7. Oktober 2005
529
über den eidgenössischen Finanzhaushalt in jedem Fall eine neue
Gesetzesgrundlage nötig wäre.
Art. 5
Finanzierung
Die Finanzierung der Beiträge wird mittels Verpflichtungskrediten für jeweils meh-
rere Jahre beantragt, welche vom Parlament mit einfachem Bundesbeschluss bewilligt
werden müssen.
Art. 6
Verträge
Zur Durchführung der Unterstützungsmassnahmen sollen wie bisher völkerrechtliche
Verträge mit den Partnerstaaten abgeschlossen werden, welche die allgemeinen
Grundsätze der Zusammenarbeit festlegen. In Übereinstimmung mit Artikel 166 Ab-
satz 2 BV
530
ermächtigt Artikel 6 des Kohäsionsbeitragsgesetzes den Bundesrat zum
Abschluss von länderspezifischen Umsetzungsabkommen mit den Partnerstaaten im
Rahmen der Beiträge zur Stärkung der Kohäsion in Europa. Diese Bestimmung dient
auch der Entlastung des Parlaments von weniger wichtigen Routinegeschäften.
Programme und Projekte in Partnerstaaten können nur dann erfolgreich durchgeführt
werden, wenn sie auf vertraglicher Basis beruhen. Diese Projekt- und Programmab-
kommen sind Staatsverträge; sie sind aber rein technischer Natur, finanziell begrenzt,
zeitlich befristet und auf die jeweilige Unterstützungsmassnahme beschränkt. Deshalb
ermächtigt das Gesetz die zuständigen Bundesämter, derartige völkerrechtliche Ver-
träge über Einzelprojekte und Einzelprogramme abzuschliessen. In Übereinstimmung
mit Artikel 48
a
Absatz 2 des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes
vom 21. März 1997
531
(RVOG) erstattet der Bundesrat dem Parlament jährlich Be-
529
SR
611.0
530
SR
101
531
SR
172.010
578 / 931
richt über die von ihm, von den Departementen oder von Bundesämtern abgeschlos-
senen Verträge. Zudem können die zuständigen Bundesämter in eigener Kompetenz
auch privatrechtliche Verträge (z. B. für Evaluationsaufträge) oder öffentlich-rechtli-
che Verträge zu den Unterstützungsmassnahmen abschliessen.
Art. 7
Zuständigkeiten
Artikel 7 hält die gemeinsame Zuständigkeit des EDA (DEZA) und des WBF (SECO)
für die Umsetzung der Beiträge zur Stärkung der Kohäsion in Europa fest. Die Zu-
ständigkeiten für die Umsetzung der Beiträge zur Bewältigung anderer gemeinsamer
Herausforderungen liegen bei jenen Bundesstellen, die in der Bundesverwaltung für
die in der jeweiligen Beitragsperiode festgelegten Themen zuständig sind. Diese ha-
ben aber unter diesem Gesetz keine formelle Zuständigkeit und benötigen eine andere
rechtliche Grundlage als dieses Gesetz. Für das Thema Migration im Rahmen des ers-
ten Beitrags 2030–2036 ist dies das Asylgesetz.
Art. 8
Monitoring, Evaluationen und Berichterstattung
Der Bundesrat überwacht den Vollzug dieses Gesetzes und des Abkommens, insbe-
sondere die wirksame Verwendung der Mittel. Die zuständigen Bundesämter sind für
das Monitoring verantwortlich und veranlassen regelmässige Evaluationen, um die
Zweckmässigkeit, die Effektivität und Wirtschaftlichkeit der getroffenen Unterstüt-
zungsmassnahmen zu überprüfen. Die Evaluationsberichte werden veröffentlicht. Der
Bundesrat unterbreitet dem Parlament für jeden Beitrag einen Rechenschaftsbericht
über die Zielerreichung, Umsetzung, Verwendung und Wirksamkeit des Beitrags. Die
Berichterstattung beinhaltet unter anderem die Resultate der Evaluationen. Den ge-
machten Erfahrungen soll in der Vorbereitung der künftigen Beiträge Rechnung ge-
tragen werden. Die innerstaatlichen Vorschriften zu den einseitigen Kontrollen von
Unterstützungsmassnahmen der Schweiz werden in der Kohäsionsbeitragsverordnung
geregelt und daher nicht in diesem Gesetz erwähnt.
Art. 9
Vollzug – keine Erläuterungen
Art. 10
Änderung anderer Erlasse
Da das Bundesgesetz über die Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas Ende
2024 ausgelaufen ist, muss der Verweis auf die «Ostzusammenarbeit» im BöB geän-
dert werden. Im Anhang 5 Ziffer 1 Buchstabe d BöB wird dabei die Bezugnahme auf
die «Ostzusammenarbeit» durch die Bezugnahme auf das Kohäsionsbeitragsgesetz
ersetzt. Die Verordnungen, die einen Verweis auf die «Ostzusammenarbeit» oder ähn-
liche Formulierungen behalten, werden mit dem Erlass der Verordnung zum Kohäsi-
onsbeitragsgesetz geändert.
Im Bundesgesetz vom 19. Dezember 2003
532
über Massnahmen zur zivilen Friedens-
förderung und Stärkung der Menschenrechte wird in Artikel 1 Absatz 2 Buchstabe b
ein Verweis auf das Kohäsionsbeitragsgesetz eingefügt. Dieser Buchstabe b enthielt
532
SR
193.9
579 / 931
einen Verweis auf das Bundesgesetz über die Zusammenarbeit mit den Staaten Ost-
europas, das bis 31. Dezember 2024 in Kraft war. Da Programme und Projekte im
Kohäsionsteil des Schweizer Beitrags auch Ziele der zivilen Friedensförderung und
der Stärkung der Menschenrechte verfolgen könnten, wird mittels dieses Verweises
sichergestellt, dass für diese Programme und Projekte nur das Kohäsionsbeitragsge-
setz anwendbar ist.
Art. 11
Referendum und Inkrafttreten – keine Erläuterungen
2.10.9
Inhalt der drei Kreditbeschlüsse
Im Beitragsabkommens werden die zentralen Elemente der ersten Beitragsperiode
2030–2036 festgelegt (s. Ziff. 2.10.5.5). Dazu zählt die Aufteilung zwischen den in-
haltlichen Pfeilern Kohäsion und gemeinsame Herausforderungen, wobei für letztere
die Migration als Thema für den ersten Beitrag definiert wurde. Zudem wurden die
Eckwerte der einmaligen zusätzlichen finanziellen Verpflichtung (Ende 2024–Ende
2029) in Anhang III festgelegt (s. Ziff. 2.10.5.6). Deshalb beinhaltet diese Vorlage die
entsprechenden Verpflichtungskredite: Je ein Kreditbegehren im Rahmen des ersten
Schweizer Beitrags für die Bereiche Kohäsion (Umsetzung durch die DEZA und das
SECO) und Migration (Umsetzung durch das SEM) sowie ein Kreditbegehren für die
einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung (nur Bereich Kohäsion), die gemein-
sam mit dem Verpflichtungskredit Kohäsion umgesetzt werden soll. Die entsprechen-
den Mittel fliessen nicht ins EU-Budget, sondern werden direkt den Partnerstaaten
zugutekommen.
Die detaillierten organisatorischen und thematischen Spezifitäten für die ab 2030 um-
zusetzenden Programme, die über die Eckwerte hinausgehen, wurden im Beitragsab-
kommen bewusst offengelassen. Diese sollen zeitnahe vor Beginn der Umsetzung mit
der EU in einem MoU festgehalten werden. Entsprechend konzentrieren sich die nach-
folgenden Abschnitte unter Ziffer 2.10.9 auf die für den nächsten Beitrag zentralen
konzeptionellen Punkte.
2.10.9.1
Verpflichtungskredit Kohäsion
2.10.9.1.1
Thematische Ausrichtung
Die Schweiz will mit dem Beitrag zur Stärkung der Kohäsion weiter zum Abbau von
wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten zwischen den ausgewählten wirtschaft-
lich schwächeren Partnerstaaten und den übrigen EU-Mitgliedstaaten beitragen; zu-
dem möchte sie den Abbau von Ungleichheiten auch innerhalb der einzelnen Partner-
staaten fördern. Gleichzeitig ist es ein zentrales Schweizer Anliegen, die bilateralen
Beziehungen zu diesen Ländern nachhaltig zu stärken und ihr Ansehen als vertrau-
enswürdiger starker europäischer Partner zu festigen. Damit setzt die Schweiz ihren
erfolgreichen Ansatz grundsätzlich fort, den sie mit dem Erweiterungsbeitrag und dem
derzeit laufenden zweiten Schweizer Beitrag eingeschlagen hat. Für den Bereich Ko-
häsion sind gemäss Anhang II des Beitragsabkommens für die Beitragsperiode 2030–
2036 durchschnittlich 308 Millionen Franken pro Jahr vorgesehen. Für den Verpflich-
tungskredit werden davon die 5 % Eigenmittel und die 2 %, die für den SEPF be-
stimmt sind, abgezogen. Die Partnerstaaten im Bereich der Kohäsion werden gemäss
580 / 931
dem im Beitragsabkommen festgelegten Kriterium identifiziert (weniger als 90 % des
durchschnittlichen EU-BNE). Es dürfte dabei im Vergleich zum zweiten Schweizer
Beitrag allenfalls zu leichten Verschiebungen kommen, sollten einzelne Länder diese
Schwelle über- oder unterschreiten.
Die externe Evaluation des Erweiterungsbeitrags an die EU-10 (Estland, Lettland, Li-
tauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn und Zy-
pern)
533
hatte bestätigt, dass der im Vergleich zu den Strukturfonds und dem Kohäsi-
onsfonds der EU wesentlich kleinere Schweizer Beitrag signifikante Resultate
erzielen konnte. Dies erfolgte effizient, auch in Bezug auf die Begleit- und Manage-
mentkosten. Die externe Evaluation prüfte 29 Programme im Detail und bestätigte
einen Mehrwert zur sozio-ökonomischen Entwicklung in den Zielregionen. Ausser-
dem bestätigte die Evaluation die positiven Auswirkungen auf die bilateralen Bezie-
hungen der Schweiz zu den Partnerstaaten sowie gestärkte Partnerschaften zwischen
Organisationen der beiden Länder und erhöhte wirtschaftliche Opportunitäten für
Schweizer Unternehmen.
Basierend auf den bisherigen Erfahrungen wurden in Anhang II des Beitragsabkom-
mens im Hinblick auf den ersten Beitrag für die Kohäsion vier breite Themenbereiche
festgelegt, in denen die Umsetzung erfolgen soll:
–
inklusive menschliche und soziale Entwicklung;
–
nachhaltige und inklusive wirtschaftliche Entwicklung;
–
ökologischer Wandel;
–
Demokratie und Partizipation.
Die detaillierten inhaltlichen Spezifitäten sollen zeitnah vor der Umsetzung bestimmt
werden, wobei die Schweiz ihre Prioritäten einbringen wird. So sollen die konkreten
Themen nach Inkrafttreten des Beitragsabkommens in einem MoU mit der EU fest-
gehalten werden. Sie werden anschliessend in die bilateralen Umsetzungsabkommen
mit den Partnerstaaten eingebracht. Die unterschiedlichen Ziele und Aktivitäten, die
mit den einzelnen Partnerstaaten vereinbart werden, sollen sich in die strategischen
Prioritäten der Länder und der EU einfügen. Gleichzeitig wird ein Austausch in Bezug
auf die entsprechenden sektoriellen Aussenpolitiken oder die eigenen innerstaatlichen
Erfahrungen der Schweiz angestrebt. Zudem sollen auch im nächsten Beitrag Partner-
schaften mit kompetenten Schweizer Akteuren in allen vier thematischen Bereichen
gezielt einbezogen und unterstützt werden.
Inklusive menschliche und soziale Entwicklung
Die Gesundheitssituation der Bevölkerung ist in den wirtschaftlich schwächeren Län-
dern der EU deutlich schlechter und die Lebenserwartung tiefer als in den anderen
EU-Mitgliedstaaten. Der demografische Wandel der Bevölkerung, die hohe Prävalenz
533
Siehe www.eda.admin.ch/schweizerbeitrag/de/home.html > Aktuell > Publikationen >
Evaluation zum Erweiterungsbeitrag 2015: Das Wichtigste in Kürze.
581 / 931
von nichtübertragbaren Krankheiten sowie die Abwanderung von Fachkräften (insb.
auch im Gesundheitssektor) stellen die Länder seit Jahren vor erhebliche Herausfor-
derungen. Im Vordergrund stehen Vorhaben zur Stärkung des öffentlichen Gesund-
heitswesens wie die Verbesserung der medizinischen Grundversorgung, die Aus- und
Weiterbildung von Gesundheitspersonal, der Ausbau der Gesundheitsförderung und
Prävention und ähnliche systemische Fragen. Ausserdem soll die Inklusion von sozial
Schwachen und Benachteiligten sowie Migrantinnen und Migranten gezielt gefördert
werden, zum Beispiel über Gesundheits- und Sozialdienste für ältere Menschen und
Kinder sowie Angehörige von Minderheiten. Die Programme zur Unterstützung der
Roma sollen fortgesetzt werden. Diese Bevölkerungsgruppe lebt oft unter prekären
Bedingungen. Deren Teilhabe am gesellschaftlichen Entwicklungsprozess soll auf
verschiedenen Ebenen gefördert werden. Auch die Stärkung der staatlichen und nicht-
staatlichen Strukturen gegen Menschenhandel soll fortgeführt werden.
Nachhaltige und inklusive wirtschaftliche Entwicklung
Aufbauend auf den Programmen des Erweiterungsbeitrags und des zweiten Schweizer
Beitrags werden auch im nächsten Beitrag Programme zur Förderung der wirtschaft-
lichen Entwicklung umgesetzt. Die Festigung offener Märkte und die Schaffung von
Arbeitsplätzen dienen als Grundlage für eine nachhaltige Entwicklung. Dabei wird es
vor allem um strukturelle und institutionelle Fragen gehen. Infrastruktur und inner-
staatliche Dienstleistungen sollen langfristig finanziert werden können, womit auch
das Investitionsklima gefestigt wird. Weiterhin zählt die Berufsbildung zu den Priori-
täten, insbesondere die Schaffung von Perspektiven für junge Menschen und die Aus-
bildung von Fachkräften. Daneben stehen die Forschung und der Zugang zur externen
Finanzierung für Mikrounternehmen und KMU im Vordergrund. Ein weiteres Thema
kann fallweise die Stärkung der Sozialpartnerschaften in den Partnerstaaten sein.
Schweizer Akteure wie Bildungsinstitutionen sowie Berufsverbände und Dachorga-
nisationen der Wirtschaft sollen in die Aktivitäten einbezogen werden, um die Ver-
mittlung der erforderlichen Expertise und den direkten Austausch von Erfahrungen zu
gewährleisten. Im Vordergrund steht ein praxisnaher Bezug zum Arbeitsmarkt.
Zur Stärkung der Forschung und Innovation sollen einerseits die angewandte For-
schung und die Leistungsfähigkeit (Exzellenz) von Forschungszentren mit dem Ziel
der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung gefördert werden, insbesondere durch
die konkrete Anwendung der Forschungsresultate durch die Unternehmen. Anderer-
seits sollen die Forschungslandschaft und die Institutionen in den EU-Ländern ge-
stärkt werden. Dabei kann auf den erfolgreichen Forschungspartnerschaften und aka-
demischen
Austauschprogrammen
mit
Schweizer
Hochschulen
aus
dem
Erweiterungsbeitrag und dem zweiten Schweizer Beitrag aufgebaut werden.
Ökologischer Wandel
Die Schweiz hat sich schon mit dem Erweiterungsbeitrag und dem zweiten Schweizer
Beitrag stark im Umweltbereich engagiert. Dies ist auch in der Beitragsperiode 2030–
2036 vorgesehen, zumal die Nachfrage in den Partnerstaaten gross ist und die Schweiz
über profundes Wissen und entsprechende Erfahrungen verfügt, die für die Koopera-
582 / 931
tion genutzt werden können. Die Programme zum Schutz der Umwelt und zur Anpas-
sung an die Auswirkungen des Klimawandels werden einen substanziellen Teil der
Programme in diesem Themenbereich umfassen. Dazu kommen Projekte zur nach-
haltigen Nutzung der natürlichen Ressourcen und zur Reduktion von Schadstoffemis-
sionen. Mit den Massnahmen sollen insbesondere auch die Lebensqualität der Bevöl-
kerung verbessert, negative Auswirkungen auf die Gesundheit gemindert und die
wirtschaftliche Entwicklung gefördert werden.
Aus heutiger Perspektive stehen folgende Felder im Fokus: Klimaschutz und Reduk-
tion von Treibhausgasen dank Energieeffizienz und erneuerbaren Energien; Vermin-
derung weiterer Luftschadstoffe; konzeptionelle und technische Förderung des öffent-
lichen Verkehrs; verbesserte Infrastruktur und Innovation bei Trinkwasser und
Abwasser, Abfall und Entsorgung sowie der Schutz von Gewässern und Landschaften
und der biologischen Vielfalt. Dabei sollen wo sinnvoll innovative Lösungen geför-
dert werden, in denen Schweizer Expertise aus Forschung und deren Anwendungsge-
biete beigezogen werden können. Zentral ist, dass die lokalen und die diversen insti-
tutionellen Interessengruppen umfassend einbezogen werden. Insgesamt wird eine
Mischung aus modernen innovativen Lösungen sowie Projekten in weniger wohlha-
benden strukturschwachen Regionen angestrebt.
Demokratie und Partizipation
Durch die Förderung des Engagements der Bürgerinnen und Bürger soll deren Mit-
wirkung bei der Entwicklung ihres Landes und so die Stärkung demokratischer Struk-
turen und Prozesse unterstützt werden. Verschiedene Formen von Bürgerengagement
(Verbände, Bürgerinitiativen, Interessensgruppen, NGO) sowie die Medien spielen
eine entscheidende Rolle bei der Förderung pluralistischer Strukturen und bei der Ein-
beziehung der Bürgeranliegen in politische Entscheidungsprozesse. Dank ihrer Ver-
trautheit mit den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger können zum Beispiel
Nichtregierungsorganisationen (NGO) staatliche Stellen bei der Erbringung von
Dienstleistungen ergänzen, namentlich im Umwelt- und Sozialbereich. In allen The-
menbereichen, insbesondere bei der Stärkung von demokratischen Prozessen, sollen
Kapazitäten in dezentralen Strukturen (Regionen, Gemeinden) gestärkt, Korruption
bekämpft und Rechenschaft und Transparenz gefördert werden.
2.10.9.1.2
Strategie und Umsetzungsprinzipien
Die Grundsätze und die Umsetzungskonzepte der beiden bisherigen Beiträge haben
sich insgesamt bewährt. Weil ab 2030 substanziell mehr finanzielle Mittel eingesetzt
werden, wird es aber auch neue Formen der Zusammenarbeit brauchen: Neben inno-
vativen Pilotmassnahmen sind dies insbesondere grössere Programme mit etablierten
Partnern sowie, in Ländern mit starken Kapazitäten, umfassendere Ausschreibungen
für eine dezentralisierte Operationalisierung. Die entsprechenden Modalitäten werden
sorgfältig vorbereitet und mit erfahrenen Spezialistinnen und Spezialisten umgesetzt
werden. Gleichzeitig orientiert sich die Arbeit an den bisherigen Erfahrungen, an den
Empfehlungen aus den Prüfungen der EFK des ersten und zweiten Beitrags und wei-
teren Evaluationen. Die Umsetzungsmodalitäten in den einzelnen Partnerstaaten kön-
nen je nach deren Bedürfnissen, eigenen Möglichkeiten und dem Entwicklungsstand
variieren. Da die innerstaatlichen regionalen Unterschiede immer noch gross sind,
583 / 931
sollen insbesondere in den grösseren Partnerstaaten rund die Hälfte der Mittel in struk-
turschwachen Regionen eingesetzt werden. Besonders in diesen Regionen und bei
Themen, in denen es den beteiligten Institutionen an Expertise und Kapazitäten fehlt,
braucht es eine enge Begleitung durch die Schweiz.
Die Modalitäten der Umsetzung werden im Detail in den Umsetzungsabkommen mit
den Partnerstaaten definiert. Das bilaterale Leistungsangebot der Schweiz umfasst die
Finanzierung von Ausrüstung und Infrastruktur sowie Dienstleistungen (Kapazitäts-
förderung, Beratung und Ausbildung). Die Umsetzung soll gemäss den folgenden
Prinzipien erfolgen.
Nachfrageorientierung:
Die strategischen Prioritäten der Partnerstaaten bilden die
Grundlage für die bilateralen Zusammenarbeitsprogramme. Für die Wirksamkeit der
Zusammenarbeit ist es unabdingbar, dass diese bedürfnisorientiert festgelegt wird.
Die Länder stützen sich bei ihrer Planung insbesondere auf den strategischen Rahmen
der EU-Kohäsionspolitik. Auch die Kohäsionsanstrengungen der EWR/EFTA-
Staaten werden beachtet, wobei für die Zukunft auch gemeinsame Programme ins
Auge gefasst werden können.
Schweizer Interesse
: Schweizer Interessen unterschiedlicher Art (thematisch, institu-
tionell, politisch) werden berücksichtigt; sie sind im Spannungsfeld zwischen Nach-
frageorientierung und Stärkung der bilateralen Beziehungen entsprechend zu gewich-
ten.
Schweizer Expertise:
Bei ausgewählten Themen soll weiterhin ausgewiesene Schwei-
zer Expertise in die Zusammenarbeit eingebracht werden. Mögliche Beispiele: duale
Berufsbildung, Erfahrungen aus dem Umweltbereich und aus der Forschung.
Komplementarität:
Der Schweizer Beitrag soll sich auf prioritäre Sektoren konzent-
rieren, für die zu wenig Eigen- respektive EU-Mittel zur Verfügung stehen (finanzi-
elle Komplementarität) oder die durch die Instrumente der EU-Kohäsionspolitik nicht
oder nicht ausreichend abgedeckt werden (thematische Komplementarität).
Finanzielle Beteiligung durch die Partnerstaaten:
Die Partnerstaaten haben in der Re-
gel einen finanziellen Eigenbeitrag von 15 % der Programm- und Projektkosten zu
leisten (s. Erläuterungen zu Art. 7 des Beitragsabkommens). Neben der finanziellen
Bedeutung wird damit sichergestellt, dass die Programme und Projekte für den Part-
nerstaat hohe Priorität haben. Ausserdem werden die meisten Programme von den
Partnerstaaten oder von der ausführenden Institution vorfinanziert und die Kosten
durch die Schweiz periodisch zurückerstattet. Dies soll die ordnungsgemässe Verwen-
dung der Mittel gewährleisten.
Stärkung des Programmansatzes:
Die Umsetzung grösserer Programme ist oft effizi-
enter und insgesamt kostengünstiger. Kleinere Projekte aus demselben Themenbe-
reich werden vorzugsweise in einem thematischen Programm mit einem gemeinsa-
men Budget und projektübergreifenden Zielen gebündelt.
584 / 931
Fortführung von Programmen und Projekten:
Erfolgreiche Programme und Projekte
der beiden vorangegangenen Beiträge sollen bei entsprechendem Bedarf, guten Re-
sultaten und bewährten Partnern nach Möglichkeit weiter unterstützt werden.
Sichtbarkeit:
Die Projekte sollen zur Sichtbarkeit und zum Ansehen der Schweiz im
Partnerstaat beitragen. Bei der Auswahl und Durchführung der Projekte soll dieses
Potenzial berücksichtigt werden.
Auswahl und Genehmigung von Programmen und Projekten
Die Schweiz wird gemeinsam mit jedem Partnerstaat aus den vier in Ziffer 2.10.9.1.1
genannten Themenbereichen Unterthemen und Programme identifizieren und diese in
den Umsetzungsabkommen vereinbaren. Ausserdem werden in diesen Umsetzungs-
abkommen die Höhe des Beitrags, die Grundsätze und Modalitäten der Zusammenar-
beit sowie bei Bedarf die geografische Ausrichtung festgelegt. Wichtig bei der Aus-
wahl ist, dass die Programme und Projekte dazu beitragen, wirtschaftliche und soziale
Ungleichheiten zu verringern und dass sie den strategischen Umsetzungsprinzipien (s.
oben) entsprechen. Die umfassende Vorbereitung der Massnahmen ist Voraussetzung
für deren Genehmigung. Die Unterstützung bei der Vorbereitung und die technische
Begleitung von komplexen Programmen und Projekten durch die Schweiz bis zum
Abschluss sollen beibehalten werden. Bei der Programm- und Projektauswahl sind
die angestrebte Wirkung und die Perspektiven für die langfristige Nachhaltigkeit eines
Vorhabens massgebend. Bei der Auswahl der verantwortlichen Umsetzungsorganisa-
tionen sind namentlich folgende Kriterien wichtig: technische, fachliche und organi-
satorische Fähigkeiten, vorhandene Kapazitäten und Gewährleistung einer effizienten
und wirksamen Mittelverwendung. Die einzelnen Programme und Projekte müssen
durch den Partnerstaat und die Schweiz bewilligt werden:
Generelle Durchführung
Wie beim Erweiterungsbeitrag und beim zweiten Schweizer Beitrag sind die DEZA
und das SECO gemeinsam für die Durchführung des Verpflichtungskredits Kohäsion
zuständig. Die Kohärenz mit der Schweizer Europapolitik wird in Absprache mit der
Abteilung Europa des Staatssekretariats des EDA sichergestellt. Wie bisher werden
personelle Ressourcen bedarfsgerecht in den Schweizer Vertretungen in den Partner-
staaten eingesetzt, um die Umsetzung vor Ort zu begleiten. Der technische Erfah-
rungsaustausch mit Norwegen, dem Finanzmechanismus des EWR und mit den
Diensten der Europäischen Kommission werden weitergeführt.
Um die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und den Partnerstaaten zu stär-
ken, ist eine gezielte Kommunikation im In- und Ausland in Zusammenarbeit mit den
zuständigen Informationsdiensten des Bundes und Präsenz Schweiz vorzusehen.
Operationelle Umsetzung
Für die Zusammenarbeit spielen die Regierungsstellen in den Partnerstaaten eine
Schlüsselrolle, allen voran die jeweilige nationale Koordinationseinheit. Letztere ist
für die Gesamtkoordination im Partnerstaat zuständig und die zentrale Ansprechstelle
585 / 931
für die Schweiz. Die Zusammenarbeit mit nationalen Institutionen wie Fachministe-
rien und Universitäten sowie mit regionalen Partnern (Regionalverwaltung, Gemein-
den) spielt bei der Formulierung und Umsetzung der Programme eine wichtige Rolle.
Diese sind im Bereich Kohäsion oft die eigentlichen Umsetzungspartner.
Auf Schweizer Seite werden ebenfalls diverse Partner und Institutionen an der Beur-
teilung und Begleitung der Programme beteiligt. Dazu gehören neben staatlichen Stel-
len Verbände, NGO, der Privatsektor sowie Ausbildungs- und Forschungsstätten.
Diese können sich zudem gleichberechtigt wie Leistungserbringer aus den EU-
Ländern an den Ausschreibungen von Vorhaben beteiligen, die über den Schweizer
Beitrag finanziert werden. Die öffentlichen Ausschreibungen werden in Übereinstim-
mung mit den gesetzlichen Vorgaben auf den einschlägigen Plattformen der EU und
des Partnerstaats sowie in ausgewählten Fällen in der Schweiz publiziert. Im Übrigen
können sich Schweizer Leistungserbringer auch an zahlreichen öffentlichen Aus-
schreibungen von Vorhaben beteiligen, die über die Strukturfonds und den Kohäsi-
onsfonds der EU finanziert werden.
Die Finanzierung der Programme wird wie bis anhin über eine zentrale Zahlstelle im
Partnerstaat abgewickelt werden. Die Zahlungsabwicklung in der Schweiz erfolgt
über die üblichen Finanzwege des Bundes. Der Mitteleinsatz kann von der Schweiz
jederzeit einem zusätzlichen Prüfverfahren unterzogen werden.
2.10.9.1.3
Controlling und Evaluation
Die Schweiz misst einem leistungsfähigen und effizienten Überwachungs- und Steu-
erungssystem für die Programme hohe Bedeutung bei. Sowohl auf der Ebene der Län-
derprogramme als auch der einzelnen Projekte werden zu Beginn der Umsetzung Mo-
nitoringsysteme etabliert, die auf den Erfahrungen der bisherigen Beiträge basieren.
Von zentraler Bedeutung ist die periodische Berichterstattung durch die Umsetzungs-
verantwortlichen über die getroffenen Massnahmen sowie die Fort- oder Rückschritte
an die jeweilige nationale Koordinationseinheit. Die Überwachung erfolgt in erster
Linie durch die jeweilige nationale Koordinationseinheit. Die Schweiz wird eigene
Fortschrittskontrollen durch die Schweizer Vertretung vor Ort und durch die Zentra-
len der DEZA und des SECO vornehmen. Dabei werden die schweizerischen und lo-
kalen Fachkräfte Effizienz und Wirksamkeit der Projekt- und Programmumsetzung
und die Mittelverwendung überprüfen. Neben der korrekten Durchführung der Pro-
gramme steht die Erreichung der geplanten Resultate im Zentrum des Interesses.
In den bilateralen Umsetzungsabkommen werden rechtlich verbindliche Regeln für
sensible Phasen der Zusammenarbeit festgelegt. Dazu gehören:
–
die Auswahl von Programm- und Projektvorschlägen;
–
die Vergabe von Liefer- und Dienstleistungsaufträgen;
–
die Überprüfung der Umsetzung der vereinbarten Unterstützungsmassnah-
men.
586 / 931
Weiter enthalten die Umsetzungsabkommen eine Anti-Korruptionsklausel gemäss
Artikel 13 des Beitragsabkommens. Damit verpflichten sich die Schweiz und der Part-
nerstaat, jegliche Formen von Korruption zu bekämpfen.
Die finanziellen Prüfverfahren sind sowohl auf der Programm- als auch auf der Pro-
jektebene angelegt. Auf Programmebene ist die nationale Revisionsbehörde zustän-
dig; auf Projektebene werden auch Aufträge an private Treuhand- und Revisionsun-
ternehmen vergeben. Die Schweiz darf auch jederzeit selbst Prüfungen vornehmen.
Auf der Ebene der strategischen und operativen Gesamtprogrammsteuerung finden in
jedem der Partnerstaaten jährlich formelle Besprechungen statt. Dabei prüft die
Schweiz zusammen mit der zuständigen nationalen Koordinationseinheit, inwieweit
und für welche Massnahmen die Mittel verpflichtet wurden, wie die Umsetzung vo-
ranschreitet und wie die vorgegebenen Ziele erreicht werden. Ausserdem wird bei
Bedarf gemeinsam vereinbart, Programm- und Projektanpassungen vorzunehmen.
Dabei werden auch allfällige Risiken analysiert und allfällige Massnahmen verein-
bart.
Jeder Partnerstaat wird nach Abschluss des bilateralen Zusammenarbeitsprogramms
einen umfassenden Schlussbericht verfassen. Zudem können sowohl die Partnerstaa-
ten als auch die Schweiz auf der Programm- und Projektebene Evaluationen durch-
führen lassen. Es ist vorgesehen, gegenüber dem Parlament einen Bericht über den
Verlauf und die Ergebnisse des Gesamtprogramms abzuliefern.
2.10.9.1.4
Ressourcen
Die finanziellen und personellen Auswirkungen, die sich aus diesem Verpflichtungs-
kredit ergeben, werden in Ziffer 2.10.10.1.1 dargestellt. Da die Schweiz die Umset-
zung durch die Partnerstaaten eng und umfassend begleiten will, fallen entsprechende
Personalkosten und anderweitige Eigenmittel unter anderem für die notwendige Risi-
kokontrolle und die Qualitätssicherung an. Weitere Ressourcen sind nötig für die Vor-
bereitung und Begleitung jener Unterstützungsmassnahmen, welche direkt von der
Schweiz umgesetzt werden. Diese Ressourcenaufwendungen entsprechen dem Ver-
handlungsergebnis; im Beitragsabkommen mit der EU wurden für den Bereich Kohä-
sion maximal 5 % des Gesamtbetrags vereinbart, die als Eigenleistungen der Schweiz
verbucht werden dürfen (Anhang II Ziff. 6). Die Erhöhung der eingesetzten Mittel in
der Periode 2030–2036 führt
nominal
zu einem Anstieg des Eigenmittelbedarfs. Es
wird aber insbesondere für den Personalaufwand darauf geachtet, Skaleneffekte zu
erzielen und die Gemeinkosten so tief wie möglich zu halten. Gleichzeitig basieren
die angefragten Eigenmittel auf Erfahrungswerten; sie waren in der Vergangenheit
knapp bemessen.
2.10.9.2
Verpflichtungskredit Migration
2.10.9.2.1
Beschreibung
In Bezug auf den ersten Schweizer Beitrag unter dem Beitragsabkommen wurde ver-
einbart, dass das Migrationsmanagement eine gemeinsame Herausforderung für beide
Seiten darstellt. Mit dem Beitrag sollen jene EU-Staaten unterstützt werden, deren
Strukturen für das Migrationsmanagement unter besonderem Druck stehen und/oder
587 / 931
solche, die sich mit der Schweiz auf die Notwendigkeit einer Stärkung ihrer Migrati-
onsgouvernanz geeinigt haben. Gemäss Anhang II des Beitragsabkommens sollen im
Zeitraum 2030–2036 jährlich durchschnittlich 42 Millionen Franken für diesen
Zweck bereitgestellt werden. Auch hier werden für den Verpflichtungskredit die für
die Eigenmittel reservierten 5 % sowie die 2 %, die für den SEPF bestimmt sind, ab-
zogen. Die Umsetzung des Verpflichtungskredits Migration stützt sich auf das Asyl-
gesetz.
Im Rahmen der asylrechtlichen Vorgaben können die Mittel des Verpflichtungskre-
dits Migration für Massnahmen zur Verhinderung irregulärer Migration verwendet
werden. Diese Massnahmen betreffen unter anderem die Harmonisierung der Asyl-
verfahren und der Aufnahmebedingungen in den EU-Mitgliedstaaten. Darüber hinaus
sieht das Schweizer Recht auch Massnahmen zur Unterstützung der freiwilligen
Rückkehr und der Reintegration vor. Die Umsetzung des Verpflichtungskredits Mig-
ration erfolgt in zwei Phasen über bilaterale Mehrjahresprogramme mit Partnerstaa-
ten, die aufgrund ihrer Bedürfnisse im Migrationsbereich ausgewählt werden. Darüber
hinaus sieht das Beitragsabkommen, wie schon beim zweiten Schweizer Beitrag, die
Einrichtung eines
Rapid Response Fund
vor, der in Krisensituationen im Zusammen-
hang mit unerwarteten und/oder grossen Entwicklungen im Bereich der Migration
eingesetzt werden kann. Schliesslich besteht auch die Möglichkeit, sich an Finanzie-
rungsinstrumenten zu beteiligen, mit denen Programme und Projekte in einem oder
mehreren EU-Staaten unterstützt werden können. Diese verschiedenen Formen der
Beiträge ermöglichen es der Schweiz, die EU-Staaten auf flexible Weise zu unterstüt-
zen und dabei der Volatilität im Migrationsbereich Rechnung zu tragen. Die Auftei-
lung auf die verschiedenen Formen wird im MoU zwischen der Schweiz und der EU
festgelegt.
Durch die Unterstützung von EU-Staaten, die eine grosse Verantwortung im Migrati-
onsbereich haben, trägt die Schweiz zur Stärkung des Migrationsmanagements in Eu-
ropa bei, wovon sie direkt profitiert. Die Schweiz vertieft so ausserdem ihre bilatera-
len Beziehungen mit den Partnerstaaten und mit der EU.
2.10.9.2.2
Umfeld
Als der Bereich Migration im Rahmen des zweiten Schweizer Beitrags zu einer Prio-
rität erklärt wurde, herrschte eine Situation, die sich bis heute nicht grundlegend ge-
ändert hat. Das Migrationsmanagement wird auch in den kommenden Jahren eine
grosse Herausforderung darstellen, insbesondere aufgrund der Konflikte in mehreren
Regionen der Welt, des Klimawandels oder ganz allgemein des Ringens um Einfluss
unter den Grossmächten. In den Jahren 2023 und 2024 verzeichneten mehrere EU-
Staaten und die Schweiz den höchsten Stand an Asylanträgen seit 2015 und 2016, was
auf besonders starke Migrationsbewegungen zurückzuführen war. Der Konflikt und
die Spannungen im Nahen Osten sowie der russische Angriffskrieg in der Ukraine
sind Faktoren, die sich unmittelbar auf die Migration nach Europa auswirken können.
Obwohl sich die Routen ändern, bleiben zudem die Migrationsbewegungen vom afri-
kanischen Kontinent über das Mittelmeer und den Atlantik nach Europa auf einem
hohen Niveau.
588 / 931
Vor diesem Hintergrund haben sich die EU-Mitgliedstaaten im Mai 2024 auf den
neuen Migrations- und Asylpakt geeinigt. Diese Reform der europäischen Migrati-
onspolitik zielt darauf ab, das europäische Asylsystem und die Resilienz der EU ge-
genüber der irregulären Migration zu stärken. Der EU-Pakt soll im Juni 2026 in Kraft
treten und wird sich massgebend auf das Migrationsmanagement in Europa auswir-
ken. Mit dem neuen Pakt wird im EU-Recht zum ersten Mal ein obligatorischer Soli-
daritätsmechanismus verankert. Über diesen Mechanismus unterstützen sich die EU-
Mitgliedstaaten gegenseitig, um Staaten mit starkem Migrationsdruck zu entlasten.
Eine Teilnahme der assoziierten Staaten, darunter die Schweiz, ist auf freiwilliger Ba-
sis möglich. Ausserdem unterstützt die EU die Behörden der Mitgliedstaaten mit dem
Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF), um unter anderem die Aufnahme-
bedingungen von Migrantinnen und Migranten, die Bearbeitung von Asylgesuchen
und die Umsetzung von Rückführungen zu verbessern. Auch ein Teil des Beitrags der
EFTA/EWR-Staaten wird zur Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Un-
gleichheiten in Europa für Projekte im Migrationsbereich eingesetzt. Vor diesem Hin-
tergrund ist es wichtig, dass die aus dem Schweizer Beitrag finanzierten Massnahmen
im Bereich Migration und die Massnahmen, die im Rahmen von Programmen der EU
und der EFTA/EWR-Staaten durchgeführt werden, komplementär sind.
Der Verpflichtungskredit Migration ist auch vor dem Hintergrund der Erweiterung
des Schengen-Raums zu sehen, dem Bulgarien und Rumänien am 1. Januar 2025 voll-
ständig beigetreten sind. Die Zahl der Staaten, die Verantwortung für die Kontrolle
der EU-Aussengrenzen übernehmen, wird dadurch grösser, was auch die Anforderun-
gen an das Migrationsmanagement in den betroffenen Ländern erhöht.
2.10.9.2.3
Thematische Ausrichtung
Unter Berücksichtigung der ersten Erfahrungen mit der Umsetzung des zweiten
Schweizer Beitrags und der Ziele des Verpflichtungskredits Migration sollen insbe-
sondere die folgenden Bereiche finanziell unterstützt werden:
–
Asylverfahren
: Die Zusammenarbeit betrifft namentlich die Registrierung
der Asylsuchenden und die Durchführung des Asylverfahrens. Die Erkennt-
nisse des SEM aus der Revision des Asylgesetzes 2019 sowie die erfolgten
Anpassungen bei den Verfahren könnten mit anderen europäischen Staaten
geteilt werden.
–
Unterkünfte für Schutzbedürftige
: Die von den Migrationsbewegungen be-
sonders betroffenen EU-Staaten sollen dank des Schweizer Beitrags eine
bessere Betreuung der Migrantinnen und Migranten gewährleisten können.
Deshalb sollen insbesondere mit Blick auf die Bedürfnisse von besonders
schutzbedürftigen Migrantinnen und Migranten geeignete Infrastrukturen
bereitgestellt werden. Im Rahmen des zweiten Schweizer Beitrags wurden
mehrere Zentren für unbegleitete minderjährige Asylsuchende finanziert.
–
Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und der Reintegration
: Die
Schweiz verfügt über umfangreiche Erfahrungen und Fachkenntnisse in
diesem Bereich, der in vielen europäischen Ländern Bestandteil der Migra-
589 / 931
tionspolitik ist. Der Erfahrungsaustausch und die Finanzierung von Pro-
grammen für eine freiwillige Rückkehr in enger Zusammenarbeit mit den
nationalen Behörden und den zuständigen internationalen Organisationen
sind deshalb ein möglicher Kooperationsbereich.
–
Integration von Schutzbedürftigen
: Integrationsmassnahmen tragen dazu
bei, die Situation der Betroffenen vor Ort zu verbessern, und können so die
irreguläre Primär- oder Sekundärmigration verhindern. Bei der Umsetzung
des zweiten Schweizer Beitrags gab es seitens der Partnerstaaten ein starkes
Interesse am Schweizer Integrationsmodell. Da das Thema Integration im
weiteren Sinne über den Verpflichtungskredit Kohäsion abgedeckt wird, ist
in diesem Bereich eine enge Koordination zwischen den beiden Krediten
vorgesehen, namentlich in Staaten, in denen beide Kredite zum Tragen
kommen.
2.10.9.2.4
Strategie und Umsetzungsprinzipien
Die finanzielle Unterstützung im Rahmen des Beitragsabkommens ist Teil der Ge-
samtstrategie des Bundesrates für die internationale und insbesondere die europäische
Zusammenarbeit im Migrationsbereich. Gemäss Artikel 113, 1. Satz, AsylG beteiligt
sich der Bund an der Harmonisierung der europäischen Flüchtlingspolitik auf europä-
ischer Ebene sowie an der Lösung von Flüchtlingsproblemen im Ausland. Mit dem
zweiten Schweizer Beitrag hatte der Bundesrat bereits seine Absicht bekundet, sich
an einer wirksamen Bewältigung der Herausforderungen im Zusammenhang mit den
Migrationsbewegungen in Europa zu beteiligen. Mit dem vorliegenden Verpflich-
tungskredit setzt der Bundesrat diesen Weg fort, der auch im Interesse der Schweiz
liegt. Durch den Abbau von Ungleichheiten im Migrationsbereich zwischen den eu-
ropäischen Ländern setzt sich die Schweiz unter anderem dafür ein, die irreguläre Se-
kundärmigration innerhalb der EU und in die Schweiz zu verringern.
Die Strategie und ihr Umsetzungsplan beruhen auf den während des zweiten Schwei-
zer Beitrags gemachten Erfahrungen, insbesondere auf den Empfehlungen, die im
Rahmen verschiedener Evaluationen ausgesprochen wurden und werden. Die Umset-
zungsgrundsätze können von Land zu Land variieren, um den Besonderheiten des lo-
kalen Kontexts Rechnung zu tragen. Damit die Schweiz einen Mehrwert bieten kann,
wird sie einerseits Bereiche identifizieren, in denen sie ihr eigenes Fachwissen ein-
bringen kann, und andererseits jene Bedürfnisse der Partnerstaaten berücksichtigen,
die nicht durch andere Finanzierungsinstrumente abgedeckt werden. Ausserdem wird
auch auf die Wahrung der Interessen der Schweiz geachtet. Die einzelnen Programme
und Projekte müssen durch den Partnerstaat und die Schweiz bewilligt werden.
Die Schweiz und die Partnerstaaten stützen sich bei der Umsetzung des Schweizer
Beitrags auf die Prinzipien der europäischen Wertegemeinschaft, die auf der Wahrung
der Menschenrechte, auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenwürde und
Gleichberechtigung beruht, so wie es in den Artikeln 11 und 13 des Beitragsabkom-
mens festgelegt wurde. Bei Verfehlungen kann die Schweiz auch im Bereich Migra-
tion geeignete, verhältnismässige und wirksame Massnahmen ergreifen. In gravieren-
den Fällen kann dies eine Suspendierung oder Beendigung der betroffenen
590 / 931
Unterstützungsmassnahmen zur Folge haben. Zudem beruht das Schweizer Engage-
ment weiterhin auf Transparenz, Resultatorientierung, Rechenschaftsablegung, Ei-
genverantwortung, Einbezug sozial benachteiligter Gruppen, Geschlechtergerechtig-
keit und Nachhaltigkeit. Die für den Kohäsionsteil gültigen Umsetzungsprinzipien (s.
Ziff. 2.10.9.1.2) gelten auch für den Bereich Migration.
Generelle Durchführung
Im Rahmen der Umsetzung des vom Parlament bewilligten Verpflichtungskredits
Migration schliesst der Bundesrat mit den ausgewählten Partnerstaaten jeweils ein
Umsetzungsabkommen ab. In diesen Umsetzungsabkommen werden der Betrag zu-
gunsten des betreffenden Landes sowie die Zeitspanne der Unterstützung, die Moda-
litäten für die Mittelverwaltung und die Ziele der Unterstützung festgehalten. Die zu-
ständigen Parlamentskommissionen müssen gemäss Artikel 114 Asylgesetz vor
Abschluss der Umsetzungsabkommen konsultiert werden.
Wird ein Partnerstaat sowohl aus dem Verpflichtungskredit Migration als auch aus
dem Verpflichtungskredit Kohäsion unterstützt, schliesst die Schweiz mit dem Land
zwei separate Umsetzungsabkommen ab, eines im Bereich Migration und eines im
Bereich Kohäsion, wobei jedes dieser Abkommen unterschiedliche Themenbereiche
und Zeiträume abdeckt. Situationsbezogen und bei Bedarf werden wie bisher perso-
nelle Ressourcen in den Schweizer Vertretungen in den Partnerstaaten eingesetzt, um
die Umsetzung vor Ort eng zu begleiten. Dabei wird auch auf mögliche Synergien mit
dem Bereich Kohäsion geachtet. Regelmässige Austausche finden mit Vertreterinnen
und Vertretern der EU in den Partnerstaaten statt, um die Komplementarität sicherzu-
stellen. Um die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und den Partnerstaaten
zu stärken, ist auch eine gezielte Kommunikation im In- und Ausland in Zusammen-
arbeit mit den zuständigen Informationsdiensten des Bundes und Präsenz Schweiz
vorzusehen.
Bei ausgewählten Themen soll der Einbezug von Schweizer Expertise weiterhin ge-
fördert werden. Zum Beispiel kann im Bereich der Betreuung unbegleiteter minder-
jähriger Asylsuchenden Schweizer Expertise für Ausbildungsmassnahmen verwendet
werden, wie es im zweiten Schweizer Beitrag der Fall war. Auch Expertenaustausche
zu den verschiedenen abgedeckten Themen können vorgesehen werden, wie sie im
Rahmen des zweiten Schweizer Beitrags unter anderem zu den Themen Integration
und Asylverfahren stattfanden.
Operationelle Umsetzung
Das SEM wird mit der Verwaltung des Verpflichtungskredits Migration und insbe-
sondere mit der Mehrjahresplanung, mit der Kontrolle der Umsetzung sowie der Bud-
getverwaltung beauftragt. Dabei stützt sich das SEM insbesondere auf die Erfahrun-
gen, die bei der Umsetzung des zweiten Schweizer Beitrags gemacht wurden. Die
Koordination innerhalb der Bundesverwaltung wird durch die Strukturen des Schwei-
zer Beitrags, das heisst die Steuerungsausschüsse Migration und Kohäsion, sicherge-
stellt. Der Steuerungsausschuss Migration wird vom SEM geleitet. Darin vertreten
sind ausserdem die Abteilung Europa des Staatssekretariats EDA, die DEZA und das
591 / 931
SECO. Damit wird auch die Kohärenz mit der Europapolitik der Schweiz sicherge-
stellt.
Für die Zusammenarbeit spielen die Regierungsstellen in den Partnerstaaten eine
Schlüsselrolle, allen voran die jeweilige nationale Koordinationseinheit. Letztere ist
für die Gesamtkoordination des Beitrags im Bereich Migration im Partnerstaat zustän-
dig und die zentrale Ansprechstelle für die Schweiz. Idealerweise ist diese Einheit
auch für die Verwaltung der Mittel aus anderen Unterstützungsfonds der EU und der
EFTA/EWR-Mitgliedstaaten sowie gegebenenfalls für die Verwaltung des Verpflich-
tungskredits Kohäsion zuständig. Partner zur Umsetzung von Programmen und Pro-
jekten können die zuständigen Ministerien, zentrale, regionale und lokale Migrations-
behörden, internationale Organisationen, NGO und akademische Einrichtungen sein.
Auf Schweizer Seite fliesst das Fachwissen der zuständigen Stellen des Bundes und
allenfalls der Kantone ein.
Die Finanzierung der Programme wird wie bis anhin über eine zentrale Zahlstelle im
Partnerstaat abgewickelt werden. Die Zahlungsabwicklung in der Schweiz erfolgt
über die Schweizerische Nationalbank. Im Prinzip soll sich der Partnerstaat mit min-
destens 15 % der Kosten beteiligen. Je nach Finanzkraft des Partners oder Kontext
können andere Kofinanzierungssätze zur Anwendung kommen. Alle Programme wer-
den durch ein Audit geprüft. Zudem können sie von der Schweiz jederzeit einem zu-
sätzlichen Prüfverfahren unterzogen werden.
Für die Verwaltung des
Rapid Response Fund
ist ausschliesslich das SEM zuständig;
es identifiziert und wählt die Projekte aus und steht in direktem Kontakt mit den Part-
nern vor Ort. Um eine rasche Umsetzung zu gewährleisten, werden direkt zwischen
dem SEM und hauptsächlich internationalen, nichtstaatlichen Organisationen oder
akademischen Einrichtungen Projektabkommen abgeschlossen, unter Einhaltung der
Finanzkompetenzen, die in der Asylverordnung 2 vom 11. August 1999
534
über Fi-
nanzierungsfragen definiert sind.
Neben den erwähnten Formen der Umsetzung soll auch die Möglichkeit in Betracht
gezogen werden, mit einem Teilbetrag des Verpflichtungskredits Migration einen fi-
nanziellen Beitrag an Finanzierungsinstrumente zu leisten, die ähnliche Ziele verfol-
gen. Sofern hierfür Anpassungen im Asylgesetz nötig wären, würden diese im Rah-
men eines separaten Gesetzgebungsverfahrens vorgenommen werden.
Wenn die für die Jahresprogramme vorgesehenen Finanzmittel nicht ausgeschöpft
werden, können sie dem
Rapid Response Fund
neu zugewiesen oder an bestehende
Finanzierungsinstrumente ausbezahlt werden.
Zeitliche Dimension
Die Umsetzung des Schweizer Beitrags im Migrationsbereich muss genügend Spiel-
raum vorsehen, damit auf kurzfristige Schwankungen der Migrationsbewegungen und
Änderungen der Migrationsrouten reagiert werden kann, und gleichzeitig eine effizi-
ente Verwendung der Mittel ermöglichen. Daher wird der Verpflichtungskredit mit
534
SR
142.312
592 / 931
zwei Mehrjahresprogrammen umgesetzt, die einen Zeitraum von rund fünf Jahren um-
fassen. Die beiden Phasen können sich für einen begrenzten Zeitraum überschneiden.
Die Partnerstaaten sowie die unterstützten Themenbereiche werden im Laufe der vor-
bereitenden Planungsphase des jeweiligen Mehrjahresprogramms festgelegt.
Der
Rapid Response Fund
und allfällige Beiträge an Finanzierungsinstrumente kön-
nen während der gesamten Umsetzungsperiode des Verpflichtungskredits Migration
verwendet werden. Sie sollen kurzfristige Bedürfnisse im Migrationsbereich abde-
cken und ergänzen die bilateralen Programme, die längerfristig angelegt sind.
Geografische Dimension
Die Partnerstaaten im Migrationsbereich werden anhand von Kriterien ausgewählt,
die insbesondere das Ausmass der Migrationsbewegungen und die strukturellen De-
fizite, mit denen diese Staaten konfrontiert sind, widerspiegeln. Auch Aspekte im Zu-
sammenhang mit der Wirtschaftstätigkeit in den betroffenen Staaten sowie mögliche
allgemeine Auswirkungen der Migrationssituation im Partnerstaat auf die Schweiz
werden berücksichtigt. Auch die Erfahrungen bei der Umsetzung des zweiten Schwei-
zer Beitrags sowie politische Erwägungen können einen Einfluss haben. Anhand die-
ser Kriterien führt das SEM Vorgespräche mit potenziellen Partnerstaaten, um deren
Bedürfnisse im Migrationsbereich und ihr Interesse an einer Zusammenarbeit mit der
Schweiz zu ermitteln. Dazu kann auch ein Austausch mit internationalen Organisati-
onen, NGO oder akademischen Einrichtungen beitragen.
Welche Länder für das jeweilige Mehrjahresprogramm ausgewählt werden, hängt von
der Analyse der genannten Aspekte sowie von den Vorgesprächen ab. Zu den vorge-
schlagenen Partnerstaaten wird der Steuerungsausschuss Migration konsultiert. Auf
der Grundlage der Stellungnahmen entscheidet schliesslich das Eidgenössische Justiz-
und Polizeidepartement (EJPD), mit welchen Partnerstaaten Verhandlungen aufge-
nommen werden sollen. Die im jeweiligen Mehrjahresprogramm vorgesehenen Ge-
samtmittel werden entsprechend der Analyse der genannten Kriterien auf die Emp-
fängerländer aufgeteilt. Darüber hinaus spielt auch die Art der geplanten Projekte und
Programme eine Rolle. Massnahmen im Bereich der Infrastruktur beispielsweise sind
in der Regel teurer als Massnahmen im Bereich der Integration.
2.10.9.2.5
Controlling und Evaluation
Für bilaterale Kooperationsprogramme im Bereich Migration gelten die gleichen
Grundsätze wie für den Bereich Kohäsion (s. Ziff. 2.10.9.1.3). Die Aufgaben, die im
Bereich Kohäsion beim SECO und bei der DEZA liegen, fallen hier in die Zuständig-
keit des SEM. Die Verwendung der Mittel aus dem
Rapid Response Fund
und mög-
liche Zahlungen an Finanzierungsinstrumente werden grundsätzlich ebenfalls evalu-
iert. Dabei sollen auch Evaluationen, die andere Stellen durchführen, genutzt werden.
Das SEM überwacht jedes Projekt und kontrolliert die Mittelverwendung sowie die
Umsetzung. Ausserdem sind für die Projekte Audits und Evaluationen sowie Monito-
ring-Besuche vorgesehen. Letztere finden auf der Grundlage einer Risikoanalyse statt
und sollen eine effiziente Mittelverwendung sicherstellen.
593 / 931
2.10.9.2.6
Ressourcen
Die finanziellen und personellen Auswirkungen, die sich aus diesem Verpflichtungs-
kredit ergeben, werden in Ziffer 2.10.10.1.1 dargestellt. Da die Schweiz die Umset-
zung durch die Partnerstaaten eng und umfassend begleiten will, fallen entsprechende
Personalkosten und anderweitige Eigenmittel unter anderem für die notwendige Risi-
kokontrolle und die Qualitätssicherung an. Weitere Ressourcen sind nötig für die Vor-
bereitung und Begleitung jener Unterstützungsmassnahmen, welche direkt von der
Schweiz umgesetzt werden. Diese Ressourcenaufwendungen entsprechen dem Ver-
handlungsergebnis. Im Beitragsabkommen wurden auch für den Bereich Migration
maximal 5 % des für diesen Bereich vorgesehenen Betrags vereinbart (Anhang II,
Ziff. 6). Basierend auf den Erfahrungswerten sollen bei der Umsetzung Skaleneffekte
erzielt und die Gemeinkosten so tief wie möglich gehalten werden.
2.10.9.3
Verpflichtungskredit für die einmalige zusätzliche
finanzielle Verpflichtung
Die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung ist aufgeteilt in eine Phase vor
und eine Phase nach dem Inkrafttreten des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–
EU. Für die Periode von Ende 2024 bis zum Inkrafttreten des Stabilisierungsteils leis-
tet die Schweiz eine einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung von 130 Millio-
nen Franken pro Jahr. Ab Inkrafttreten des Stabilisierungsteils bis Ende 2029 beläuft
sich die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung auf 350 Millionen Franken
pro Jahr. Mit der Annahme, dass das Paket Schweiz–EU frühestens am 1. Januar 2028
in Kraft tritt, beträgt die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung maximal
1090 Millionen Franken. Bei einem Inkrafttreten ab dem 31. Dezember 2029 würde
die zusätzliche finanzielle Verpflichtung 650 Millionen Franken betragen. Der vorlie-
gende Bundesbeschluss über den Verpflichtungskredit für die zusätzliche finanzielle
Verpflichtung enthält den Betrag, der bei einem Inkrafttreten am 1. Januar 2028 zu
leisten wäre, abzüglich der 5 % Eigenmittel und der 2 %, die für den SEPF bestimmt
sind. Der Verpflichtungskredit wird, abhängig vom Zeitpunkt des Inkrafttretens des
Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU, nicht voll ausgeschöpft werden.
Die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung wird parallel zum ersten Beitrag
unter dem Beitragsabkommen umgesetzt und beschränkt sich auf den Bereich Kohä-
sion. Die Ausführungen in Ziffer 2.10.9.1 zum Verpflichtungskredit Kohäsion gelten
auch für die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung. Da beide Verpflich-
tungskredite im Bereich Kohäsion umgesetzt werden, ist eine begrenzte Durchlässig-
keit von maximal 100 Millionen Franken zwischen diesen vorgesehen. Dies verein-
facht
die
Operationalisierung
der Programme
und
Projekte
und
deren
finanzadministrative Abwicklung.
2.10.10
Auswirkungen des Paketelements
Die Verstetigung des Schweizer Beitrags ist ein wichtiger Teil des Pakets Schweiz–
EU und war für die EU die Voraussetzung für einen erfolgreichen Abschluss. Der
Beitrag zur Stärkung der wirtschaftlichen und sozialen Kohäsion in Europa ermög-
licht es der Schweiz zugleich, ihre bilateralen Beziehungen zu den wirtschaftlich
594 / 931
schwächeren sowie den von anderen wichtigen gemeinsamen Herausforderungen
(z. B. Migration) betroffenen Mitgliedstaaten zu festigen.
2.10.10.1
Auswirkungen auf den Bund
Der Schweizer Beitrag besteht aus nichtrückzahlbaren Beiträgen. Mit der Verpflich-
tung, ab 2030 regelmässig und lückenlos einen solchen Beitrag zu leisten, erhöhen
sich die Ausgaben des Bundes. Für die Verwaltung und Kontrolle der Mittel werden
personelle und administrative Kosten anfallen. Dieser für die Umsetzung notwendige
Eigenaufwand ist Teil des Gesamtbeitrags der Schweizer Beiträge und fällt entspre-
chend nicht zusätzlich an.
2.10.10.1.1
Finanzielle Auswirkungen
Die Ausgaben für den Bund in der Umsetzungsperiode 2030–2039 setzen sich zusam-
men aus dem ersten Beitrag von 350 Millionen Franken pro Jahr für die Beitragsperi-
ode 2030–2036 (d. h. insgesamt 2450 Mio. CHF) und der einmaligen zusätzlichen fi-
nanziellen Verpflichtung, die sich auf 130 Millionen Franken pro Jahr bis zum
Inkrafttreten des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU und danach auf 350 Mil-
lionen Franken pro Jahr bis Ende 2029 beläuft (d. h. bei einem Inkrafttreten auf An-
fang 2028 ein Maximalbetrag von insgesamt 1090 Mio. CHF für den Zeitraum von
Ende 2024–Ende 2029). Den Gesamtbeträgen angerechnet wird der Personal- und
Sachaufwand der Bundesverwaltung von maximal 5 %, der für die Umsetzung der
Programme und Projekte notwendig ist, sowie die Mittel für den SEPF von maximal
2 %. Der Eigenaufwand und die Mittel des SEPF müssen nicht zwingend voll ausge-
schöpft werden. Sie eignen sich jedoch nicht für Sparmassnahmen, da gegenüber der
EU beziehungsweise den Partnerstaaten der vereinbarte Gesamtbetrag des jeweiligen
Beitrags geleistet werden muss.
Der erste Beitrag setzt sich aus einem Beitrag an die Kohäsion und einem Beitrag an
die Bewältigung wichtiger gemeinsamer Herausforderungen im Bereich der Migra-
tion zusammen. Die dafür beantragten Verpflichtungskredite Kohäsion und Migration
sollen eine Beitragsperiode von sieben Jahren abdecken (2030–2036). Aufgrund der
längeren Umsetzungsperiode wird sich die Auszahlungsdauer auf zehn Jahre erstre-
cken (2030–2039). Der Verpflichtungskredit für die einmalige zusätzliche finanzielle
Verpflichtung (referenziert auf Ende 2024–Ende 2029) wird ab 2030 ebenfalls über
zehn Jahre umgesetzt und ausbezahlt.
Die Auszahlungen aus den entsprechenden Verpflichtungskrediten sind ab 2030 im
jeweiligen Budget und Finanzplan einzustellen. Es ist vorgesehen, dass das EDA
(DEZA) und das WBF (SECO) den Verpflichtungskredit Kohäsion sowie den Ver-
pflichtungskredit für die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung je zur Hälfte
bewirtschaften. Der Verpflichtungskredit Migration wird dem EJPD (SEM) zugeteilt.
Im Bereich Kohäsion werden die Finanzmittel gemäss dem im Beitragsabkommen
vorgesehenen Verteilschlüssel auf die ausgewählten Partnerstaaten aufgeteilt. Im Be-
reich Migration wird sich die Zuteilung der Finanzmittel des Verpflichtungskredits
auf die einzelnen EU-Mitgliedstaaten gemäss den vorgesehenen zwei Mehrjahrespro-
grammen ergeben.
595 / 931
Wie bis anhin beim Erweiterungsbeitrag und dem zweiten Schweizer Beitrag werden
die Mittel in Franken verpflichtet und ausbezahlt, sodass die Schweiz während der
Umsetzung des jeweiligen Beitrags kein Wechselkursrisiko trägt.
Die für den Eigenaufwand (5 %) und den SEPF (2 %) im Beitragsabkommen verein-
barten Mittel von insgesamt 7 % sind nicht Teil der drei Verpflichtungskredite. Sie
werden dem Parlament jeweils mit der Botschaft zum Voranschlag zur Genehmigung
unterbreitet.
Der Schweizer Beitrag kann gemäss den Regeln der Organisation für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) nicht an die öffentliche Entwicklungs-
hilfe der Schweiz angerechnet werden.
Tabelle 2.10.10.1.1 (1): Erster Schweizer Beitrag – Auszahlungsplanung 2030–
2039 (indikativ)
(in Mio. CHF)
2030
2031
2032
2033
2034
2035
2036
2037
2038
2039
Total
VK Kohäsion
10
50
50
100
150
200
350
400
400
295,08 2005,08
–
davon DEZA
5
25
25
50
75
100
175
200
200
147,54 1002,54
–
davon SECO
5
25
25
50
75
100
175
200
200
147,54 1002,54
VK Migration
3
5
20
35
40
45
40
40
25
20,42
273,42
Swiss
Exper-
tise and Part-
nership
Fund
(2 %)
4,9
4,9
4,9
4,9
4,9
4,9
4,9
4,9
4,9
4,9
49,00
Eigenaufwand (5 %)
122,50
Erster Schweizer Beitrag - Total
2450
596 / 931
Tabelle 2.10.10.1.1 (2): Einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung – Aus-
zahlungsplanung 2030–2039 (indikativ)
(in Mio. CHF)
2030
2031
2032
2033
2034
2035
2036
2037
2038
2039
Total
VK einm. zus.
fin. Verpflich-
tung
20
40
60
80
120
150
150
150
150
93,70
1013,70
–
davon DEZA
10
20
30
40
60
75
75
75
75
46,85
506,85
–
davon SECO
10
20
30
40
60
75
75
75
75
46,85
506,85
Swiss
Exper-
tise and Part-
nership
Fund
(2 %)
2,18
2,18
2,18
2,18
2,18
2,18
2,18
2,18
2,18
2,18
21,80
Eigenaufwand (5 %)
54,50
Einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung - Total
1090
Die im Verpflichtungskredit «einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung» einge-
stellten Mittel entsprechen einem Maximalbetrag. Falls das Paket Schweiz–EU statt
am 1. Januar 2028 erst Anfang 2030 in Kraft treten würde, liegen die Auszahlungen
in den Jahren 2030–2039 insgesamt 440 Millionen Franken (d. h. durchschnittlich
44 Mio. CHF pro Jahr) tiefer.
2.10.10.1.2
Personelle Auswirkungen
Im Beitragsabkommen wurde mit der EU vereinbart, dass die für die Umsetzung des
Schweizer Beitrags nötigen Mittel Teil des Gesamtbetrags sind. Für den ersten Beitrag
wurde festgehalten, dass der Schweiz hierfür maximal 5 % des Betrags zur Verfügung
stehen. Dasselbe gilt für die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung. Die
Schweiz kann diese Mittel von insgesamt maximal 177 Millionen Franken entspre-
chend bis 2039 für Personal- und Sachaufwand einsetzen, ohne dass ihr dadurch zu-
sätzliche Kosten entstehen. Der Eigenaufwand für die einmalige zusätzliche finanzi-
elle Verpflichtung könnte, abhängig vom Zeitpunkt des Inkrafttretens des
Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU bis zu 22 Millionen Franken tiefer aus-
fallen.
Um mit der Umsetzung ab 2030 beginnen zu können, müssen bereits ab Inkrafttreten
des Beitragsabkommens Vorbereitungen getroffen werden. Im Zeitraum 2029–2039
werden daher durchschnittlich rund 13,5 Millionen Franken pro Jahr für den Aufwand
für Personal in der Schweiz und in den Schweizer Vertretungen einschliesslich des
Lokalpersonals (s. Tabelle 2.10.10.1.2 [1]) benötigt. Es werden damit die bestehenden
und zum Teil neuen Stellen (VZÄ bisher: 21,2 in Bern, 27,6 vor Ort, VZÄ zusätzlich:
25–30) unter anderem in den Schweizer Vertretungen finanziert, da der Umsetzungs-
597 / 931
aufwand für die Beiträge aufgrund des substanziell höheren Finanzvolumens vergli-
chen mit dem zweiten Schweizer Beitrag deutlich ansteigt. Das Personal in der
Schweiz ist hauptsächlich für die strategische und finanzielle Steuerung, die Festle-
gung der Vorgaben und Standards, die Kontrolle der operationellen und finanzadmi-
nistrativen Umsetzung sowie Koordinationsaufgaben in der Schweiz verantwortlich.
Das Personal in den Schweizer Vertretungen ist für die Umsetzung und insbesondere
die Überwachung des Programms verantwortlich.
Die Erfahrungen aus den bisherigen Beiträgen haben gezeigt, dass insbesondere für
die Begleitung in den strukturschwächeren Ländern, in denen die inländischen Um-
setzungskapazitäten unzureichend sind, zusätzliche personelle Ressourcen bereitge-
stellt werden müssen. Zwar lassen sich Effizienzgewinne erzielen, indem auf erprobte
Prozesse und Systeme zurückgegriffen wird, und in beschränktem Masse können Ska-
leneffekte beim Design der Programme sowie bei der Replikation von «
One size fits
all
»-Massnahmen genutzt werden. Es wird auch angestrebt, grössere Programme zu
unterstützen, wie das Städteprogramm in Polen unter dem zweiten Schweizer Beitrag,
jedoch ist dieser Ansatz nicht in allen Fällen möglich. Die Erhöhung der eingesetzten
Mittel in der Periode 2030–2036 macht indessen einen erhöhten Bedarf für die Um-
setzungsunterstützung sowie namentlich auch die Qualitätskontrolle und das Risiko-
management (gerade in Bezug auf die Korruptionsgefahren) notwendig. Der perso-
nelle Aufwand wird damit anteilsmässig aber deutlich weniger stark ansteigen als das
für die Beiträge ab 2030 eingesetzte Finanzvolumen.
Eine präzise Ressourcenaufstellung ist zum heutigen Zeitpunkt nicht möglich, da we-
der die genaue Anzahl der begünstigten EU-Mitgliedstaaten noch die detaillierte the-
matische und sektorielle Ausrichtung der Beiträge feststehen. Neben dem Personal-
aufwand müssen mit diesen 5 % auch der Sach- und Betriebsaufwand gedeckt werden.
Darin werden unter anderem auch Kosten für ein neues digitales Managementsystem
sowie die Kosten für die Büros in den Aussenstellen enthalten sein. Schon jetzt ist
absehbar, dass der Eigenaufwand von 5 % für den zweiten Schweizer Beitrag knapp
bemessen war.
Ab Inkrafttreten werden die Mittel für die Umsetzung des Schweizer Beitrags in den
jeweiligen Globalbudgets von EDA (DEZA), WBF (SECO) und EJPD (SEM) einge-
stellt. Bei der Mittelaufteilung pro Jahr handelt es sich um Schätzungen, die jährlich
im Rahmen des jeweiligen Budgetprozesses dem aktuellen Stand der Planung ange-
passt und vom Parlament genehmigt werden müssen.
598 / 931
Tabelle 2.10.10.1.2 (1): Schweizer Beitrag – Indikativer Eigenaufwand
(in Mio. CHF)
2029 2030 2031 2032 2033 2034 2035 2036 2037 2038 2039
Total
29-39
DEZA Personalaufwand
3
7
7
7
7
7
7
7
6,1
6
5
69,1
Sach- und Be-
triebsaufwand
1,6
1,6
1
1
1
1
1
1
1
1
1
12,2
Total
Eigenaufwand
DEZA
4,6
8,6
8
8
8
8
8
8
7,1
7
6
81,3
SECO Personalaufwand
3
7
7
7
7
7
7
6,8
6
6
5
68,8
Sach- und Be-
triebsaufwand
1,6
1,6
1
1
1
1
1
1
1
1
1
12,2
Total
Eigenaufwand
SECO
4,6
8,6
8
8
8
8
8
7,8
7
7
6
81
SEM
Personalaufwand 0,5
0,7
0,9
0,9
1,4
1,4
1,6
1,6
1,6
1,4
1
13
Sach- und Be-
triebsaufwand
0,25
0,25
0,15
0,15
0,14
0,14
0,14
0,14
0,14
0,1
0,1
1,7
Total
Eigenaufwand
SEM
0,75
0,95
1,05
1,05
1,54
1,54
1,74
1,74
1,74
1,5
1,1
14,7
Total Eigenaufwand
9,95 18,15 17,05 17,05 17,54 17,54 17,74 17,54 15,84 15,5
13,1
177
2.10.10.1.3
Auswirkungen auf die Aussenpolitik
Der Schweizer Beitrag ist ein zentrales Element der Beziehungen Schweiz-EU und
damit der Europapolitik der Schweiz. Die Erfahrungen mit dem zweiten Beitrag und
dem Erweiterungsbeitrag zeigen, dass mit dessen Planung und Umsetzung die Bezie-
hungen der Schweiz zu den Partnerstaaten in politischer, wirtschaftlicher und institu-
tioneller Hinsicht gestärkt werden. Das Ansehen der Schweiz wird durch den bilate-
ralen Austausch und die Resultate der unterstützten Programme gefördert. Bei
ministeriellen Besuchen und in politischen Konsultationen in den Partnerstaaten ist
der Beitrag ein wichtiges Thema. Die Partnerschaften mit Schweizer Institutionen
(Bundesstellen, Kantone, Städte, Gemeinden, öffentliche Institutionen, NGO, Sozial-
partner) stärkt die Vernetzung und den Austausch von Erfahrungen und Wissen zum
Nutzen der Partnerstaaten und der Schweiz. Damit wird die Beziehung zu den Part-
nerstaaten auf diversen Ebenen der Verwaltung und der Zivilgesellschaft gestärkt.
Auch für Schweizer Unternehmen, die im Rahmen des Beitrags erfolgreich Projekte
durchführen, eröffnen sich neue Möglichkeiten in den Partnerstaaten.
599 / 931
2.10.10.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf
urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete
Der Vollzug der vorgeschlagenen Bundesbeschlüsse obliegt ausschliesslich dem
Bund und hat keine finanziellen oder personellen Auswirkungen auf die Kantone und
Gemeinden. Die mit der Umsetzung beauftragten Ämter können im Rahmen der Um-
setzung des Schweizer Beitrags mit Kantonen und Gemeinden zusammenarbeiten.
2.10.10.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
Der erste Schweizer Beitrag 2030–2036 und die einmalige zusätzliche finanzielle
Verpflichtung haben direkte und indirekte Auswirkungen auf die schweizerische
Volkswirtschaft, wie bereits der Erweiterungsbeitrag und der zweite Schweizer Bei-
trag. Die EU hat mit einem Anteil von rund 59 % am Schweizer Warenhandel die mit
Abstand wichtigste Stellung.
535
Der verstetigte Beitrag trägt als substanzieller Teil des
Pakets Schweiz–EU dazu bei, die Binnenmarktbeteiligung der Schweiz abzusichern.
Das Paket baut diese in zusätzlichen Sektoren aus, sodass Schweizer Unternehmen
von einem weitgehend freien Zugang zum EU-Binnenmarkt profitieren.
Der Schweizer Beitrag stärkt die Präsenz und Sichtbarkeit der Schweiz in den Part-
nerstaaten und trägt dazu bei, neue Kontakte aufzubauen und engere Wirtschaftsbe-
ziehungen zu knüpfen. Ferner kann sich die Zusammenarbeit beim Wissens- und Er-
fahrungsaustausch auch positiv auf die Produktivitätsentwicklung in den
Partnerstaaten und in der Schweiz auswirken. Schliesslich trägt der Schweizer Beitrag
zur wirtschaftlichen Entwicklung dieser Länder bei, indem die institutionellen Rah-
menbedingungen und die Rechtssicherheit gefördert werden. Eine dadurch verbes-
serte wirtschaftliche Entwicklung in diesen Ländern kommt auch der Schweizer Wirt-
schaft in Form von attraktiveren Absatzmärkten und Investitionsmöglichkeiten
zugute.
Neben der direkten und der indirekten Auftragsvergabe an Schweizer Unternehmen
im Rahmen des Schweizer Beitrags dürften für Schweizer Unternehmen insbesondere
die öffentlichen Ausschreibungen in der EU, die aus den EU-Struktur- und Kohäsi-
onsprogrammen finanziert werden, wirtschaftlich interessant sein. Für die laufende
Kohäsionsperiode 2021–2027 sind dafür in der EU rund 392 Milliarden Euro vorge-
sehen. Aufgrund der stärkeren Präsenz von Schweizer Unternehmen auf den Märkten
in den Partnerstaaten, auch dank der Schweizer Beiträge, werden deren Chancen er-
höht, sich bei der Auftragsvergabe aus EU-finanzierten Projekten erfolgreich zu posi-
tionieren.
2.10.10.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
Der Schweizer Beitrag fördert den Zusammenhalt, die Stabilität und den Wohlstand
in Europa und hat damit auch positive Auswirkungen auf die gesamte Schweizer Ge-
sellschaft. Neue Kontakte werden durch diverse Institutionen wie Universitäten und
535
Abrufbar unter www.eda.admin.ch/europa > Publikationen > Schweiz-EU in Zahlen (basie-
rend auf Total 1, ohne Gold, 2023)
600 / 931
NGO geknüpft, was zu einem besseren gegenseitigen Verständnis und neuen Mög-
lichkeiten für eine langfristige Zusammenarbeit führt.
2.10.10.5
Auswirkungen auf die Umwelt
Mit dem Schweizer Beitrag werden zahlreiche Projekte unterstützt, die den Schutz der
Umwelt zum Ziel haben, so in den Bereichen Energie und Klimaschutz, Wasser und
Luftqualität, biologische Vielfalt und nachhaltige Abfall- und Ressourcenbewirt-
schaftung (s. u. a. Ausführungen zu den Schwerpunkten «ökologischer Wandel» und
«nachhaltige und inklusive wirtschaftliche Entwicklung» unter Ziff. 2.10.9.1.1). Bei
der Umsetzung sämtlicher Programme und Projekte achten die Schweiz und die Part-
nerstaaten darauf, dass sich aufgrund ihrer Massnahmen positive Wirkungen auf die
Umwelt ergeben und negative Folgen vermieden werden.
2.10.11
Rechtliche Aspekte des Paketelements
2.10.11.1
Verfassungsmässigkeit des Abkommens
Das Beitragsabkommen stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 BV, wonach der Bund für
die auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV ermächtigt
den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Nach
Artikel 166 Absatz 2 BV ist die Bundesversammlung für die Genehmigung völker-
rechtlicher Verträge zuständig, sofern für deren Abschluss nicht aufgrund von Gesetz
oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (Art. 24 Abs. 2 des Parla-
mentsgesetzes vom 13. Dezember 2002
536
und Art. 7a Abs. 1 RVOG).
Beim vorliegenden Abkommen handelt es sich nicht um einen völkerrechtlichen Ver-
trag, für dessen selbstständigen Abschluss der Bundesrat aufgrund eines Gesetzes
oder eines von der Bundesversammlung genehmigten völkerrechtlichen Vertrags er-
mächtigt ist. Es handelt sich auch nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag von be-
schränkter Tragweite nach Artikel 7a Absatz 2 RVOG. Zudem erfordert die Umset-
zung des Abkommens den Erlass eines Bundesgesetzes. Das Beitragsabkommen ist
folglich der Bundesversammlung zur Genehmigung zu unterbreiten.
2.10.11.2
Verfassungsmässigkeit der Umsetzungsgesetzgebung
Kohäsionsbeitragsgesetz
Der Entwurf zum Kohäsionsbeitragsgesetz regelt Massnahmen der Schweizer Aus-
senpolitik und stützt sich sowohl auf das Beitragsabkommen als auch auf Artikel 54
Absatz 1 BV, laut dem die auswärtigen Angelegenheiten Sache des Bundes sind.
Verpflichtungskredit Kohäsion
Die Zuständigkeit des Parlaments für den Kreditbeschluss stützt sich auf Artikel 167
BV. Nach Artikel 4 des mit dieser Vorlage ebenfalls vorgelegten Kohäsionsbeitrags-
536
SR
171.10
601 / 931
gesetzes (s. Ziff. 2.10.8) werden die Mittel als Verpflichtungskredite für jeweils meh-
rere Jahre bewilligt. Die gesetzlichen Grundlagen für die Ausrichtung der Subventio-
nen sind das Beitragsabkommen sowie Artikel 2 des genannten Bundesgesetzes.
Verpflichtungskredit Migration
Die Zuständigkeit der Bundesversammlung für den Kreditbeschluss stützt sich eben-
falls auf Artikel 167 BV.
Die materiellen gesetzlichen Grundlagen für die Ausrichtung der Subventionen im
Migrationsbereich sind das Beitragsabkommen und das Asylgesetz (Art. 91 Abs. 7
AsylG in Verbindung mit Art. 113 AsylG sowie Art. 51 der Asylverordnung 2 und
Art. 93 Abs. 1 Bst. c und Abs. 2 AsylG).
Verpflichtungskredit für die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung
Wie beim Verpflichtungskredit Kohäsion stützt sich die Zuständigkeit der Bundes-
versammlung für den Kreditbeschluss auch beim Verpflichtungskredit für die einma-
lige zusätzliche finanzielle Verpflichtung auf Artikel 167 BV sowie auf Artikel 4 des
neuen Kohäsionsbeitragsgesetzes. Die gesetzlichen Grundlagen für die Ausrichtung
der Subventionen sind das Beitragsabkommen sowie Artikel 2 des genannten Bun-
desgesetzes.
2.10.11.3
Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen
der Schweiz
Das Beitragsabkommen, das Kohäsionsbeitragsgesetz und die beantragten Verpflich-
tungskredite sind mit anderen internationalen Verpflichtungen der Schweiz vereinbar.
2.10.11.4
Erlassform
Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV unterliegen völkerrechtliche Ver-
träge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige rechtsetzende Bestimmungen
enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Nach Ar-
tikel 22 Absatz 4 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 2002 sind unter recht-
setzenden Normen jene Bestimmungen zu verstehen, die in unmittelbar verbindlicher
und generell-abstrakter Weise Pflichten auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständig-
keiten festlegen. Als wichtig gelten Bestimmungen, die auf der Grundlage von Artikel
164 Absatz 1 BV in der Form eines Bundesgesetzes erlassen werden müssten. Die
Umsetzung des Abkommens erfordert die Verabschiedung eines Bundesgesetzes. Der
Bundesbeschluss über die Genehmigung des Abkommens untersteht deshalb dem fa-
kultativen Referendum nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV. Zur Frage
der Bündelung der Umsetzungsgesetzgebung, siehe Ziffer 4.2.2.
2.10.11.5
Vorläufige Anwendung
Es ist keine vorläufige Anwendung des Beitragsabkommens vorgesehen.
602 / 931
2.10.11.6
Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass
2.10.11.6.1
Unterstellung unter die Ausgabenbremse
Gemäss Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV bedürfen Artikel 1 des Verpflichtungs-
kredits Kohäsion, Artikel 1 des Verpflichtungskredits Migration sowie Artikel 1 des
Verpflichtungskredits für die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung der Zu-
stimmung der Mehrheit der Mitglieder beider Räte, da diese jeweils eine neue einma-
lige Ausgabe von mehr als 20 Millionen Franken nach sich ziehen.
2.10.11.6.2
Einhaltung der Grundsätze des Subventionsgesetzes
In seinem Subventionsbericht 2008 legte der Bundesrat fest, dass in allen Botschaften
zur Schaffung oder Revision von Rechtsgrundlagen für Subventionen wie auch in
Botschaften zur Erneuerung von Kreditbeschlüssen und Zahlungsrahmen in einem se-
paraten Kapitel zwingend über die Einhaltung der Grundsätze gemäss dem Subventi-
onsgesetz Bericht erstattet werden soll. Die drei vorgelegten Verpflichtungskredite
stehen im Einklang mit dem Subventionsgesetz.
Bedeutung der Subvention für die vom Bund angestrebten Ziele: Begründung, Ausge-
staltung und finanzieller Umfang
Die Beiträge an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten beruhen auf dem Beitragsabkom-
men, dem neuen Kohäsionsbeitragsgesetz sowie dem Asylgesetz und sind in der
Schweizer Aussen- und Aussenwirtschaftspolitik verankert. Die ausführliche Begrün-
dung, die Ausgestaltung und der finanzielle Umfang sind in Ziffer 2.10.9 beschrieben.
Die Zuständigkeit für die Zusammenarbeit mit ausgewählten EU-Mitgliedstaaten liegt
beim Bund. Der Bund kann jedoch mit Kantonen oder Gemeinden zusammenarbeiten.
Materielle und finanzielle Steuerung der Subvention
Die materielle Steuerung der eingesetzten Mittel erfolgt ergebnisorientiert. Diese Er-
gebnisorientierung dient in allen Phasen (Planung, Umsetzung, Überwachung) der je-
weiligen Projekte der Verbesserung der Situation für die Zielgruppen. Die Vergabe
von Beiträgen basiert auf klar formulierten Zielen, deren Verwirklichung mit Moni-
toring- und Controlling- sowie Evaluationsinstrumenten überwacht wird. Die materi-
elle Steuerung der Mittel wird in Ziffer 2.10.9.1.3 und Ziffer 2.10.9.2.5 erläutert. Im
Normalfall leisten die Partnerstaaten eine Kofinanzierung und finanzieren alle Kosten
vor. Mittels Rückerstattungsgesuchen und basierend auf Fortschrittsberichten (und
Kontrollen) werden die Gelder für den Schweizer Teil zurückbezahlt. Das Gesamtvo-
lumen der Verpflichtungen und die Mittelverteilung sind in Ziffer 2.10.10.1.1 darge-
stellt.
Verfahren der Beitragsgewährung
In der Verordnung zum neuen Kohäsionsbeitragsgesetz sollen die Finanzkompeten-
zen und die Kontrolle der Mittelverwendung festgelegt werden. Die Modalitäten wer-
den in den Ziffern zu den Verpflichtungskrediten beschrieben. Die DEZA, das SECO
und das SEM haben zudem bereits unter dem zweiten Schweizer Beitrag Ausfüh-
rungsbestimmungen für den ergebnisorientierten Einsatz der Mittel festgelegt. Dies
603 / 931
ist auch künftig vorgesehen. Neben der Subventionsgesetzgebung für die Beitragsge-
währung vergeben sämtliche Stellen Mandate gemäss den Bestimmungen des WTO-
Übereinkommens über das öffentliche Beschaffungswesen, des Abkommens mit der
EU über bestimmte Aspekte des öffentlichen Beschaffungswesens
537
, des BöB und
der dazugehörigen Verordnung vom 12. Februar 2020. Beim Erwerb von Waren,
Dienstleistungen und Bauleistungen sind die DEZA, das SECO und das SEM abge-
sehen von den wirtschaftlichen Aspekten bestrebt, die Einhaltung der Sozial- und Um-
weltstandards innerhalb des vorgesehenen Rechtsrahmens zu fördern und somit die
wirtschaftliche, soziale und ökologische Nachhaltigkeit in der Schweiz und den Part-
nerstaaten zu stärken.
Befristung und degressive Ausgestaltung der Subvention
Das Beitragsabkommen sieht regelmässige Schweizer Beiträge vor. Entsprechend ist
auch das neue Kohäsionsbeitragsgesetz zeitlich nicht begrenzt. Die einzelnen Schwei-
zer Beiträge sind aber weiterhin befristet und werden regelmässig neu zugesprochen.
Die Beiträge sind grundsätzlich nicht degressiv ausgestaltet (s. Ziff. 2.10.5.3).
2.10.11.6.3
Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen
Die Vorlage beinhaltet keine Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen.
2.10.11.7
Datenschutz
Der Datenschutz ist von der Vorlage nicht betroffen. Die Umsetzung des Schweizer
Beitrags erfolgt gemäss den in der Schweiz und in den Partnerstaaten anwendbaren
Vorschriften. Die Erläuterungen betreffend das Schiedsgericht unter Ziffer 2.1.8.6
gelten auch für das Beitragsabkommen.
537
SR
0.172.052.68
604 / 931
2.11
Strom
2.11.1
Zusammenfassung
Die Schweiz ist über 41 grenzüberschreitenden Stromleitungen mit dem europäischen
Stromsystem verbunden. Sie ist aber nicht Teil des EU-Strombinnenmarktes, weshalb
die dessen harmonisierte Marktregeln bisher für die Schweiz nicht gelten. Dadurch
stösst die Kooperation der Schweiz mit der EU und den Nachbarstaaten an Grenzen.
Dies beeinträchtigt den Austausch und Handel von Strom und insbesondere die Ver-
fügbarkeit der Grenzkapazitäten zum Import von Strom. Ebenso erschwert es den si-
cheren Betrieb der Stromnetze. Beides führt zu höheren Kosten und Risiken, die von
der Stromwirtschaft und den Netzbetreibern respektive den Endverbrauchern*
538
ge-
tragen werden müssen. Gleichzeitig steht die Stromversorgung in ganz Europa auf-
grund der Dekarbonisierung, des Kernenergieausstiegs in gewissen Staaten und der
Elektrifizierung des Energiesystems vor grossen Herausforderungen. Die grenzüber-
schreitenden Stromflüsse in Europa werden dadurch künftig stark steigen. Dies wird
die Herausforderungen der Schweiz aufgrund der fehlenden Einbindung in den Strom-
binnenmarkt verschärfen.
Das Stromabkommen wurde im Rahmen der Weiterentwicklung des bilateralen Wegs
ausgehandelt. Es ermöglicht im Bereich des
Stromhandels
Schweizer Akteuren eine
hindernisfreie Teilnahme und gleichberechtigte Handelsbedingungen im Strombin-
nenmarkt, stärkt die
Versorgungssicherheit
der Schweiz im Fall von Energieknapp-
heit, und gewährleistet die
Netzstabilität
durch eine bessere Planbarkeit der Strom-
flüsse als Folge der mit dem Abkommen verbrieften europäischen Kooperation. Das
Stromabkommen sichert die Einbindung der Schweiz ins europäische Stromsystem
völkerrechtlich ab. Schweizer Behörden und Organisationen können künftig in euro-
päischen Gremien mitarbeiten und die Weiterentwicklung des Strombinnenmarktes
mitgestalten.
Das Stromabkommen umfasst die Produktion, den Handel, die Übertragung und den
Vertrieb von Strom und damit direkt verbundene Bereiche wie erneuerbare Energien.
Das Abkommen umfasst weder den Verbrauch von Strom, noch andere nicht-erneu-
erbare Energieträger (Erdgas, Ölprodukte) oder den Bereich (Gebäude)Energieeffizi-
enz. Mit dem Stromabkommen übernimmt die Schweiz weitgehend die Regeln des
EU-Strombinnenmarktes insbesondere hinsichtlich Marktregulierung, Netzen, Ver-
sorgungssicherheit und teilweise auch für erneuerbare Energien. Das Stromabkom-
men mit der EU ist ein neues Binnenmarktabkommen für die Schweiz. Deshalb bein-
haltet es auch institutionelle Regeln (u.a. dynamische Rechtsübernahme,
Überwachung, Streitbeilegung) sowie eine Teilnahme der Schweiz am EU-
Rechtssetzungsprozess, dem sogenannten
Decision Shaping.
Zudem enthält es auch
Regeln über staatliche Beihilfen im Geltungsbereich des Abkommens.
Wo innenpolitisch notwendig und im Interesse der Schweiz wurden im Stromabkom-
men spezifische Ausnahmen und Präzisierungen ausgehandelt. So hat die Schweiz
beispielsweise das Recht, die Strommarktöffnung mit einer regulierten Grundversor-
gung und regulierten Stromtarifen zu flankieren. Haushaltskunden und kleinere Un-
ternehmen mit einem Jahresverbrauch bis 50 MWh pro Verbrauchsstätte können ihren
538
Die mit einem Sternchen versehenen Begriffe werden im Glossar erklärt.
605 / 931
Stromanbieter frei wählen oder in einer regulierten Grundversorgung - die weitgehend
identisch mit dem heutigen Modell ist - verbleiben respektive in diese zurückkehren.
Das Stromabkommen enthält keine Vorgaben zum Eigentum an Anlagen zur Produk-
tion, Übertragung und Vertrieb von Strom. Das heisst Verteilnetzbetreiber können
trotz den zusätzlichen Vorgaben zur Entflechtung öffentlich-rechtlich organisiert blei-
ben. Der
Service public
in der Schweiz bleibt auch unter dem Stromabkommen ge-
währleitstet. Die Endverbraucher werden durch verschiedene Massnahmen geschützt.
Klare Anforderungen an Vertragsinhalte sowie eine Vergleichsplattform und eine
Ombudsstelle mit Schlichtungsmöglichkeit sorgen für Transparenz und verhindern
Missbrauch. Die Eidgenössische Elektrizitätskommission (ElCom) überwacht den
Kleinkundenmarkt.
Die Schweiz hat in den Verhandlungen das Recht abgesichert, notwendige Reserven
zu erstellen, und sie kann bei der Analyse des Reservebedarfs spezifische Schweizer
Eigenheiten berücksichtigen. Diese Flexibilität ist im Abkommen explizit als Aus-
nahme von der dynamischen Rechtsübernahme festgehalten. Ebenso kann die
Schweiz die Bedingungen für die Nutzung ihrer Energieressourcen inkl. Wasserkraft
und ihren Energiemix weiterhin eigenständig festlegen. Das Stromabkommen macht
keine Vorgaben zur Vergabe von Konzessionen und dem Wasserzins, die diesbezüg-
liche Praxis in der Schweiz wird beibehalten.
Die Interessen der Schweiz sind mit dem Stromabkommen vollständig gewahrt. Das
Abkommen wird die Versorgungssicherheit und den sicheren Netzbetrieb stärken, den
Austausch und Handel mit Strom vereinfachen und einen optimalen Einsatz der fle-
xiblen Schweizer Wasserkraft auf den europäischen Märkten ermöglichen. Es wird
insgesamt tiefere Strompreise und geringere Kosten der Stromversorgung begünsti-
gen, und damit die Wohlfahrtsgewinne steigern sowie den Übergang zu einem klima-
neutralen Energiesystem vereinfachen.
Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt. Er beantragt
im Rahmen des Weiterentwicklungsteils des Pakets Schweiz–EU die Genehmigung
des Stromabkommens und der dazugehörenden Umsetzungsgesetzgebung.
2.11.2
Ausgangslage
Die Schweiz ist Teil der kontinentaleuropäischen Synchronzone, in welcher das
Stromnetz im Verbund und mit einer einheitlichen Frequenz betrieben wird. Die Zu-
sammenschaltung der Stromnetze der Schweiz, Deutschlands und Frankreichs im Jahr
1958 am Stern von Laufenburg bildet den Ursprung dieses heute weltweit grössten
Verbundnetzes. Die Schweizer Stromwirtschaft hat die Integration des europäischen
Stromsystems unter anderem in der
Union for the Co-ordination of Production and
Transmission of Electricity
(UCPTE, eine Vorgängerorganisation vom Verband Eu-
ropäischer Übertragungsnetzbetreiber
ENTSO-E) seit den 1950er Jahren auf privatrechtlicher Basis wesentlich vorangetrie-
ben und mitgeprägt. Seit den 1990er Jahren hat die EU den europäischen Strombin-
nenmarkt aufgebaut. Damit wurde die privatrechtliche Basis sukzessive durch den
EU-
Stromacquis
ergänzt und teilweise abgelöst.
Der EU-Strombinnenmarkt besteht aus den EU-Mitgliedsstaaten und den
EWR/EFTA-Staaten. Die Staaten der Energiegemeinschaft Osteuropas (Westbalkan,
606 / 931
Ukraine, Moldawien) haben sich rechtlich zur Übernahme des EU-
Energieacquis
in-
klusive Strom verpflichtet und sollen künftig in den Strombinnenmarkt integriert wer-
den. Im EU-Strombinnenmarkt wird die Stromversorgung nicht mehr national, son-
dern gesamteuropäisch mit einheitlichen Marktregeln, Institutionen und einem
gemeinsamen Rechtsrahmen optimiert. Da die Schweiz nicht an den Rechtsrahmen
gebunden ist, kann die Schweizer Stromwirtschaft nicht am gekoppelten europäischen
Strombinnenmarkt mit bedeutenden Handels- und Marktvolumina teilnehmen. So be-
lief sich im Jahr 2023 für das Zeitfenster Vortag (
Day Ahead
) das Marktvolumen auf
1700 Terawattstunden (TWh) und der Umsatz auf 170 Milliarden Euro und für das
Zeitfenster innerhalb des Tages (
Intraday
) das Marktvolumen auf 166 TWh und der
Umsatz auf 15 Milliarden Euro. Auch auf den neu erschaffenen, europäischen Platt-
formen für Regelenergie (zum Ausgleich von Netzschwankungen) MARI* und
PICASSO* kann die Schweiz nicht teilnehmen. Auf der Plattform TERRE* kann die
Schweiz zurzeit noch teilnehmen, diese soll auf Anfang 2026 aber eingestellt werden.
Für das Stromsystem und die Strommärkte ist die Berechnung und Allokation der
grenzüberschreitenden Kapazitäten von zentraler Bedeutung. Aufgrund der fehlenden
rechtlichen Integration muss sich die Swissgrid hier mit einer privatrechtlichen Ko-
operation mit den Übertragungsnetzbetreiberinnen* (ÜNB) der Nachbarstaaten behel-
fen. Diese Kooperation hat bislang gut funktioniert, sie ist aber völkerrechtlich nicht
abgesichert. So konnte die Swissgrid beispielsweise Verträge mit den ÜNB der Ka-
pazitätsberechnungsregion
Italy North
(Italien, Frankreich, Österreich, Slowenien)
und CORE (14 EU-Mitgliedsstaaten in West- und Osteuropa) abschliessen. Diese
Verträge müssen jedoch jährlich erneuert und von den Regulierungsbehörden der be-
troffenen Mitgliedsstaaten genehmigt werden. Die EU plant eine Fusion dieser beiden
Regionen zu einer neuen Region Central Europe, womit die Verträge neu ausgehan-
delt werden müssten. Ohne Stromabkommen hat die Schweiz keine Rechtssicherheit,
dass diese privatrechtliche Kooperation künftig noch funktionieren wird.
Die mangelhafte Integration in den Strombinnenmarkt beeinträchtigt die Schweizer
Import-, beziehungsweise Exportfähigkeit von Strom und damit die Versorgungssi-
cherheit führt in zunehmender Weise zu ungeplanten Stromflüssen im Schweizer
Übertragungsnetz*, die das Stromnetz belasten. Die EU und die Schweiz teilen das
Ziel von Netto-Null Treibhausgasemissionen bis 2050. Dies erfordert eine weitere
Elektrifizierung des Energiesystems, den Ausbau von erneuerbaren Energien und die
Abschaltung von konventionellen, steuerbaren Gas- und Kohlekraftwerken. Dadurch
werden die grenzüberschreitenden Stromflüsse in Europa bis 2050 voraussichtlich um
den Faktor zwei bis drei zunehmen. Dies wird die Problematik der fehlenden Einbin-
dung der Schweiz in den europäischen Strombinnenmarkt insbesondere im Bereich
der Netzstabilität noch verschärfen.
2.11.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
2.11.3.1
Zielsetzung der Verhandlungen und Verhandlungsmandat
Das Stromabkommen zielt darauf ab, die ungehinderte Teilnahme der Schweiz am
europäischen Strombinnenmarkt zu ermöglichen, gleiche Rechte und Pflichten im
grenzüberschreitenden Stromhandel zu gewährleisten sowie einen Beitrag an die
Stromversorgungssicherheit und die Aufrechterhaltung der Netzstabilität in der
Schweiz und in Europa zu leisten.
607 / 931
Der Geltungsbereich des Stromabkommens ist auf Produktion, Handel, Übertragung
und Vertrieb von Strom begrenzt. Der Verbrauch soll vom Geltungsbereich ausge-
nommen werden, da die Schweiz die detaillierten Vorgaben der EU im Bereich (Ge-
bäude-)Energieeffizienz nicht übernehmen will und die Förderung des sparsamen und
rationellen Energieverbrauchs, unter anderem bei den Kantonen nicht von völker-
rechtlichen Beihilfebestimmungen betroffen werden soll.
Die Schweiz soll in die technischen Prozesse zum Betrieb des europäischen Stromsys-
tems und in die Kooperation der EU zur Stromkrisenvorsorge und -bewältigung inte-
griert werden.
Gemäss Verhandlungsmandat des Bundesrates zum Stromabkommen vom 8. März
2024 sind im Strombereich insbesondere die folgenden wichtigen Interessen der
Schweiz im Strombereich zu wahren:
–
Haushalte und Unternehmen unter einer gewissen Verbrauchsschwelle sol-
len auch mit der vollständigen Strommarktöffnung das Recht haben, in einer
regulierten Grundversorgung mit regulierten Preisen zu verbleiben oder in
diese zurückzukehren.
–
Die zusätzlichen Vorgaben zur Entflechtung der Verteilnetzbetreiber*
(VNB) müssen verhältnismässig sein und diese Betreiber und Stromversor-
ger sollen in öffentlicher Hand verbleiben und in öffentlich-rechtliche Ein-
richtungen integriert bleiben können. Der Aufwand zur Entflechtung der
kleinen VNB in einer Gruppe muss tragbar sein.
–
Die Möglichkeit der Schweiz, notwendige Reserven wie beispielsweise Re-
servekraftwerke oder Wasserkraftreserven zur Wahrung der Versorgungs-
sicherheit einzurichten.
–
Die wichtigsten bestehenden staatlichen Beihilfen der Schweiz im Strom-
bereich, namentlich für die Produktion von erneuerbarem Strom, sollen an-
gemessen abgesichert werden.
–
Grundsätzlich soll im Vergleich zu den vergangenen Verhandlungen keine
zusätzliche Aufnahme von EU-Umweltrecht erfolgen.
–
Die Schweiz akzeptiert kein unrealistisches Ziel in Bezug auf den Ausbau
von erneuerbaren Energien. Die Übernahme von Normen in diesem Bereich
soll auf das Funktionieren des Strombinnenmarktes beschränkt sein.
–
Die kantonalen Hoheiten im Strombereich sind zu wahren.
–
Es soll keine Vorschriften betreffend die Vergabe von Konzessionen für
Wasserkraftwerke geben.
–
Für die noch bestehenden Einspeisevorränge für Strom aus französischen
Kernkraftwerken und für Grenzwasserkraftwerke braucht es eine ausgewo-
gene Ablösung.
608 / 931
–
Die Umsetzung des Stromabkommens im nationalen Recht muss innert hin-
reichend langen Fristen und in einem nach Sachgebiet gestaffelten Ansatz
möglich sein.
–
Die Aufnahme einer Evolutivklausel zur Erweiterung des Stromabkom-
mens auf Wasserstoff soll geprüft werden.
2.11.3.2
Handlungsbedarf
Die EU-Strombinnenmarktintegration schreitet kontinuierlich voran. Durch die Elekt-
rifizierung des Energiesystems und den Ausbau der erneuerbaren Energien nehmen
die grenzüberschreitenden Stromflüsse zu. Dadurch steigen die Kosten und Risiken
der fehlenden Integration der Schweiz in den EU-Strombinnenmarkt in zunehmender
Weise. Mit dem Stromabkommen kann die Integration der Schweiz ins europäische
Stromsystem völkerrechtlich abgesichert werden. Dies sichert die Verfügbarkeit der
Strom-Grenzkapazitäten zum Austausch und Handel von Strom, stärkt die Versor-
gungssicherheit und vereinfacht den sicheren Netzbetrieb.
2.11.3.3
Geprüfte Alternativen und gewählte Lösung
Weiterführen der privatrechtlichen Kooperation (Private, technische Verträge)
Mangels Stromabkommen sichert die Swissgrid die technische Kooperation mit be-
nachbarten Übertragungsnetzbetreibern mit privatrechtlichen Verträgen ab. Es ist
durchaus möglich, dass diese Kooperation auch in Zukunft im Interesse der Schweiz
funktionieren wird. Für diese Zusammenarbeit ist die Schweiz aber auf das Wohlwol-
len der EU und ihrer Mitgliedsstaaten angewiesen. Aufgrund der Optimierung der
Stromversorgung im Binnenmarkt in immer grösseren Räumen und Regionen und der
zunehmenden Anzahl involvierter Akteure und Interessensvertreter besteht aber das
Risiko, dass für die Schweiz wichtige Lösungen aufgrund politischer Erwägungen der
EU oder prozeduraler Erfordernisse des EU-Rechts nicht mehr rechtzeitig getroffen
werden können. Die privatrechtliche, technische Kooperation kann ein Stromabkom-
men insbesondere auch bezüglich Netzsicherheit nicht vollumfänglich ersetzen.
Abkommen mit der EU zur Kooperation bei Versorgungssicherheit und Netzbetrieb
ohne Marktzugang (Bilaterales technisches Abkommen)
Die EU lehnt ein Abkommen mit der Schweiz nur zur Sicherung der Kooperation bei
der Versorgungssicherheit und beim Netzbetrieb ohne Marktzugang ab. Für die EU
ist der Strombinnenmarkt das wesentliche Element zur Gewährleistung der Versor-
gungssicherheit. Die Bereiche Markt und Netz sind im EU-Recht eng verknüpft und
können nicht konsequent voneinander separiert werden. Deshalb ist gemäss EU ein
bilaterales technisches Abkommen über die Versorgungssicherheit und den Netzbe-
trieb ohne Marktzugang nicht möglich. Des Weiteren hat auch die Schweiz ein Inte-
resse am Zugang zum EU-Strombinnenmarkt, um bspw. ihre flexible Wasserkraft
besser vermarkten zu können.
609 / 931
2.11.3.4
Verhältnis zur Legislaturplanung und zur Finanzplanung
sowie zu Strategien des Bundesrates
2.11.3.4.1
Verhältnis zur Legislaturplanung
Die Vorlage ist in der Botschaft vom 24. Januar 2024 zur Legislaturplanung 2023-
2027 und im Bundesbeschluss vom 6. Juni 2024
über die Legislaturplanung 2023-
2027 angekündigt.
Die Legislaturplanung 2023-2027 sieht als Ziel 2, dass die Schweiz ihre Beziehungen
zur EU erneuert. Unter den erforderlichen Geschäften zur Zielerreichung steht das
Stromabkommen mit der EU.
Mit der vorliegenden Vorlage wird die in der Legislaturplanung festgelegte Zielset-
zung zur Verabschiedung eines Stromabkommens erfüllt (Richtliniengeschäft).
2.11.3.4.2
Verhältnis zur Finanzplanung
Im Voranschlag 2025 mit integriertem Aufgaben- und Finanzplan 2026-2028 der Ver-
waltungseinheiten des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie
und Kommunikation (UVEK) ist das Stromabkommen mit der EU als Geschäft zu
den Zielen des Bundesrates 2025 aufgeführt.
2.11.3.4.3
Verhältnis zu Strategien des Bundesrates
In der Bundesverfassung (BV) ist die nachhaltige Entwicklung mehrfach verankert,
unter anderem im einleitenden Artikel 2 zum Zweck der Eidgenossenschaft. Um den
Verfassungsauftrag zu erfüllen, formuliert der Bundesrat seine Absichten seit 1997
regelmässig in der Strategie Nachhaltige Entwicklung (SNE), zuletzt in der Strategie
Nachhaltige Entwicklung 2030.
539
Das Stromabkommen leistet einen wichtigen Beitrag zur Erreichung des Ziels 7.1, das
die Gewährleistung einer «ausreichende[n
]
, breit gefächerte[n
]
, sichere[n
]
, wirtschaft-
liche[n
]
und umweltverträgliche[n
]
Energieversorgung sowie die Resilienz der dafür
benötigten Infrastruktur (…)» fordert.
Das Stromabkommen unterstützt auch die Energiestrategie 2050 des Bundesrates, die
darauf abzielt, eine sichere, umweltverträgliche und kostengünstige Energieversor-
gung zu gewährleisten und gleichzeitig einen hohen Versorgungsstandard zu si-
chern.
540
Durch seine Ausrichtung auf die EU fördert das Stromabkommen zudem die aussen-
politische Strategie 2024-2027
541
.
Es trägt zur Umsetzung des geografischen Ziels 1
bei, indem es die Stabilisierung und Weiterentwicklung des bilateralen Wegs mit der
539
Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030; Bundesrat; 22. März 2022; verfügbar unter:
www.are.admin.ch > Nachhaltige Entwicklung > Strategie Nachhaltige Entwicklung
www.are.admin.ch > Nachhaltige Entwicklung > Strategie Nachhaltige Entwicklung
540
Botschaft vom 4. September 2013 zum ersten Massnahmenpaket der Energiestrategie 2050
und zur Volksinitiative «Für den geordneten Ausstieg aus der Atomenergie (Atomaus-
stiegsinitiative)», BBl
2013
7561.
541
Bundesrat 2024: Aussenpolitische Strategie 2024 – 2027, verfügbar unter ww.eda.ad-
min,ch > Publikationen.
610 / 931
EU unterstützt, ein neues Abkommen ermöglicht und die Beteiligung der Schweiz an
EU-Programmen sichert.
2.11.3.5
Erledigung parlamentarischer Vorstösse
Der Bundesrat beantragt mit der vorliegenden Botschaft die Abschreibung der folgen-
den parlamentarischen Vorstösse:
2021 M 21.3500
Rechtssicherheit für die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz
und der EU im europäischen Stromsystem gewährleisten!
(N 3.5.23, Fraktion M-E; S 5.3.24, N 11.6.24)
2021 M 21.4500
Verhandlung zwischenstaatlicher technischer Vereinbarungen im
Bereich Strom
(N 18.9.23, Fraktion M-E; S 5.3.24, N 11.6.24)
Die erste vom Parlament überwiesene Motion der Mitte-Fraktion verlangt, mit der
EU-Verhandlungen aufzunehmen, um den vielfältigen Beitrag der Schweiz zum
Funktionieren des europäischen Stromsystems auf eine Grundlage der Rechtssicher-
heit abzustützen. Im Rahmen der Verhandlungen mit der EU, die zum Stromabkom-
men geführt haben, kommt der Bundesrat diesem Anliegen nach.
Mit der zweiten eingereichten Motion der Mitte-Fraktion hat das Parlament den Bun-
desrat beauftragt, gestützt auf Artikel 24 Stromversorgungsgesetz (StromVG)
542
,
technische Vereinbarungen mit der EU und/oder den Mitgliedstaaten allenfalls in Zu-
sammenarbeit mit Swissgrid abzuschliessen. Mit dem Stromabkommen sind solche
technischen Vereinbarungen obsolet.
2.11.3.6
Verhandlungsverlauf
Im Jahr 2024 fanden 13 mehrtätige Verhandlungsrunden zum Stromabkommen statt.
Im Dezember 2024 hat der Bundesrat Kenntnis vom materiellen Abschluss der Ver-
handlungen genommen. Von Januar bis April 2025 wurde das Abkommen formell
und redaktionell bereinigt. Die formellen Verhandlungen wurden mit der Paraphie-
rung des Abkommenstexts durch die Chefunterhändler der Schweiz und der EU im
Mai 2025 abgeschlossen.
2.11.4
Vorverfahren
2.11.4.1
Vorarbeiten
2.11.4.1.1
Vergangene Verhandlungen (2007-2018)
Die Schweiz verhandelt mit der EU seit 2007, damals noch basierend auf dem zweiten
EU-Strombinnenmarktpaket, über ein Stromabkommen. Das ursprüngliche Verhand-
lungsmandat von 2006 wurde 2007 nach Konsultationen der Kommissionen des Par-
laments und bei den Kantonen mit zusätzlichen Leitplanken und 2010 aufgrund des
542
SR
734.7
611 / 931
dritten EU-Strombinnenmarktpakets ergänzt. Ab 2013 knüpfte die EU die Stromver-
handlungen an die institutionellen und an weitere Fragen, so dass es in den Stromver-
handlungen mehrmals zu Unterbrüchen kam.
Ab 2018 hat die EU die Fortführung der Stromverhandlungen mit Verweis auf die
fehlenden institutionellen Regeln, respektive den mangelhaften Fortschritt bei den
Verhandlungen, zum institutionellen Rahmenabkommen verweigert.
Vor
allem
mit
dem
Clean
Energy
Package
der
EU
(viertes
EU-
Strombinnenmarktpaket) ab 2019
543
und in geringerem Mass mit dem EU-Paket für
den ökologischen Wandel (
Fit for 55
) aus dem Jahr 2021
544
sowie den EU-
Krisenmassnahmen aus dem Jahr 2022
545
hat sich der EU-
Stromacquis
als Grundlage
für ein Stromabkommen wesentlich weiterentwickelt. Wegen der veränderten Rechts-
basis war auch das bisherige Schweizer Verhandlungsmandat überholt und musste
erneuert werden.
2.11.4.1.2
Breiter Paketansatz und exploratorische Gespräche
Im Februar 2022 hat der Bundesrat die Grundlage des breiten Paketansatzes für Ver-
handlungen mit der EU präsentiert. Seit Februar 2022 hat die Schweiz mit der Euro-
päischen Kommission mehrere Runden von exploratorischen Gesprächen geführt, da-
runter auch Gespräche mit der Generaldirektion für Energie der Europäischen
Kommission über das Stromabkommen.
Am 21. Juni 2023 hat der Bundesrat Eckwerte für ein Verhandlungsmandat mit der
EU verabschiedet. Im Bereich Strom hat er das UVEK in Zusammenarbeit mit dem
Eidgenössischen Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) und
dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) beauf-
tragt, technische Gespräche mit der EU aufzunehmen, um die Fortsetzung der Ver-
handlungen im Strombereich vorzubereiten. Seit Juni 2023 hat das Bundesamt für
Energie (BFE), zusammen mit dem EDA und den Kantonen, mehrere Runden von
technischen Gesprächen im Strombereich mit der Europäischen Kommission geführt.
Die exploratorischen Gespräche zum breiten Paketansatz, darunter auch die techni-
schen Gespräche zu einem Stromabkommen, wurden im Oktober 2023 mit einem
Text zu einer Gemeinsamen Verständigung (
Common Understanding
) abgeschlossen.
2.11.4.1.3
Ergebnis der Gespräche mit der EU im Strombereich
(
Common Understanding
)
Die Schweiz und die EU haben sich im
Common Understanding
bereit erklärt, die
Verhandlungen über ein Stromabkommen auf Basis des bestehenden Entwurfs wieder
aufzunehmen. Beide Seiten sind sich einig, dass ein Stromabkommen von beidseiti-
gem Interesse ist.
543
S. u. a. Pressemitteilung des Rats der EU vom 22. Mai 2019 «Saubere Energie für alle: Rat
verabschiedet verbleibende Dossiers zum Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Agentur für die
Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden» verfügbar unter www.consilium.eu-
ropa.eu > Presse > Pressemitteilungen.
544
S. u. a. Rat der EU, «Fit für 55», verfügbar unter www.consilium.europa.eu > Erklärtexte.
545
S. u. a. Rat der EU, «Energiepreise und Versorgungssicherheit», verfügbar unter
www.consilium.europa.eu > Erklärtexte.
612 / 931
Für die Übergangsphase ab Beendigung der exploratorischen Gespräche teilen die
Schweiz und die EU die Sichtweise, dass die Zusammenarbeit in den bilateralen Be-
ziehungen intensiviert werden soll. Solange die Verhandlungen andauern, bekennen
sich die EU und die Schweiz dazu, alle Massnahmen zu ergreifen, um die operatio-
nelle Netzsicherheit zu erhalten. Entsprechende Vereinbarungen, insbesondere in den
Bereichen Kapazitätsberechnung und Austausch von Regelenergie, sollen zwischen
den schweizerischen und EU-Übertragungsnetzbetreibern und Regulatoren auf tech-
nischer Ebene und gegebenenfalls mit Unterstützung von ENTSO-E getroffen wer-
den. Zu diesem Zweck soll die Eidgenössische Elektrizitätskommission (ElCom) auf
punktueller Basis an den entsprechenden Sitzungen der Regulatoren im Rahmen von
der Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER) teil-
nehmen können. Soweit dies zweckmässig ist, soll die Schweiz weiterhin punktuell
bei der
Electricity Coordination Group
teilnehmen können.
2.11.4.1.4
Abschluss der exploratorischen Gespräche und
Verhandlungsmandat
Am 8. November 2023 prüfte der Bundesrat die Ergebnisse der internen Arbeiten und
der exploratorischen Gespräche und erklärte letztere als abgeschlossen. Er beauftragte
das EDA, die Arbeiten zu einem Verhandlungsmandat mit Unterstützung der betroffe-
nen Departemente an die Hand zu nehmen. Am 15. Dezember 2023 veröffentlichte
der Bundesrat den Entwurf für das Verhandlungsmandat zum Stromabkommen. Im
Januar und Februar 2024 wurde das Mandat im Parlament, mit den Kantonen und mit
weiteren betroffenen Akteuren konsultiert. Hierzu fanden zwei runde Tische auf Stufe
Departementsvorsteher UVEK und zwei Sitzungen mit einer technischen Begleit-
gruppe bestehend aus Vertretern aus Stromwirtschaft, Kantonen, Städten, Gemeinden,
Sozialpartner und Konsumentenschutzorganisationen statt. Der Bundesrat verab-
schiedete und veröffentlichte am 8. März 2024 das definitive Verhandlungsmandat.
Dieses enthält die Zielsetzung, Bestimmungen zu institutionellen Elementen, die Auf-
hebung der bisherigen Mandate von 2006 bis 2010 und 15 konkrete thematische Leit-
linien.
2.11.4.2
Einbezug der betroffenen Akteure während den
Stromverhandlungen
Während den Stromverhandlungen wurden die betroffenen Akteure von Stromwirt-
schaft, Kantonen, Städten, Gemeinden, Sozialpartnern, Konsumentenschutzorganisa-
tionen und Umweltschutzorganisationen eng eingebunden. Von Mai 2024 bis Januar
2025 hat das BFE in Zusammenarbeit mit dem EDA und dem Staatssekretariat für
Wirtschaft (SECO) vier Sitzungen der technischen Begleitgruppe durchgeführt, an
denen Verhandlungsthemen, Zwischenergebnisse und Vorschläge für die innenpoliti-
sche Umsetzung präsentiert und diskutiert wurden. Die Teilnehmenden konnten dabei
auch ihre Anliegen einbringen. Im Mai 2024 und im Oktober 2024 fanden zwei runde
Tische auf Stufe Departementsvorsteher UVEK mit den gleichen Akteuren statt. Da-
neben hat sich das BFE bilateral in rund zwei Dutzend Sitzungen mit betroffenen Akt-
euren zu relevanten Themen ausgetauscht (s. Ziff. 1.3.3).
613 / 931
2.11.4.3
Studien und Gutachten
Zur Analyse der volkswirtschaftlichen Auswirkungen hat das BFE eine Studie an das
Beratungsbüro Ecoplan vergeben.
546
Die Ergebnisse der Studie sind im Kapitel
2.11.9.3 zusammengefasst. Frontier Economics hat in einer weiteren Studie für das
BFE die Regulierungen der Grundversorgung und Stromtarife in ausgewählten EU-
Mitgliedsstaaten analysiert.
547
Sie zeigt verschiedene Ausgestaltungen der Regulie-
rung in Abhängigkeit der nationalen Gegebenheiten. Das EDA hat eine Umfrage bei
den Schweizer Vertretungen in den EU-Mitgliedsstaaten zu den Erfahrungen mit der
Strommarktöffnung durchgeführt. Diese hat ergeben, dass die positiven Auswirkun-
gen der Strommarktöffnung überwiegen und negative Auswirkungen äusserst selten
sind.
548
2.11.5
Grundzüge des Abkommens
2.11.5.1
Zusammenfassung des Verhandlungsergebnisses
Der Zweck des Stromabkommens ist die Teilnahme der Schweiz am EU-
Strombinnenmarkt, indem die einheitliche Anwendung des Strombinnenmarktrechtes
– ggf. mit den nötigen Anpassungen in Bezug auf die Schweiz– – gewährleistet wird.
Ziel des Abkommens ist die Sicherstellung des gleichberechtigten und gegenseitigen
Marktzugangs für die Marktakteure, inklusive Zugang zu gemeinsamen Handelssys-
temen und -plattformen sowie Koordinationsmechanismen. Über eine verbesserte Al-
lokation und Bewirtschaftung des Übertragungsnetzes und der Interkonnektoren soll
der grenzüberschreitende Austausch von Strom gestärkt werden, ebenso die Integrität
und Transparenz des Strom-Grosshandelsmarktes. Die Stabilität des regionalen
Stromnetzes und die Einbindung des Schweizer Stromnetzes ins europäische Ver-
bundnetz soll sichergestellt sein. Ein hohes Niveau an Versorgungssicherheit soll ge-
währleistet werden. Um den Übergang zu einem Energiesystem mit Netto Null Treib-
hausgasen bis 2050 zu erleichtern, soll der Anteil von Strom aus erneuerbaren
Energien erhöht und ein hohes Niveau an Umweltschutz im Strombereich sicherge-
stellt werden. Schlussendlich soll die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der
EU, deren Regulierungsbehörden und Netzbetreibern im Strombereich gestärkt wer-
den.
Der Geltungsbereich des Stromabkommens ist auf den Strombereich begrenzt. Ange-
sichts der dynamischen Rechtsübernahme (s. Ziff. 2.1) ist diese Begrenzung wichtig.
546
Abrufbar unter: www.bfe.admin.ch > Versorgung > Stromversorgung > Stromabkommen
Schweiz – EU.
547
Bericht vom 25. März 2024 zur Grundversorgung und Preisregulierung in ausgewählten
Ländern der EU, Ergebnisse für Phase 2, Frontier Economics, verfügbar unter
www.bfe.admin.ch > Versorgung > Stromversorgung > Stromversorgungsgesetz > Doku-
mente > Hintergrundstudien Strommarktöffnung > Bericht Grundversorgung und Preisre-
gulierung in ausgewählten Ländern der EU, Ergebnisse für Phase 2.
548
Bericht vom 27. Juni 2024 zur Umfrage im EU-Aussennetz zur Strommarktöffnung
(Kleinkundenmarkt)verfügbar unter www.bfe.admin.ch > Versorgung > Stromver-sorgung
> Stromversorgungsgesetz > Dokumente > Hintergrundstudien Strommark-töffnung > Be-
richt Umfrage im EU-Aussennetz zur Strommarktöffnung (Kleinkun-denmarkt). Bericht
des EDA - Staatssekretariat.
614 / 931
Der Strombereich umfasst im Abkommen die Produktion, den Handel, die Übertra-
gung und der Vertrieb von Strom. Der Verbrauch von Strom wird nicht erfasst. Auch
sind weitere energierelevante Themen wie Klima, Green Deal, Sektorkopplung und-
integration, Mobilität, Gebäudebereich, Gas oder Wasserstoff nicht vom Stromab-
kommen betroffen.
Mit dem Stromabkommen gelten für den Schweizer Strommarkt grundsätzlich die
Vorgaben des EU-
Stromacquis
namentlich hinsichtlich Marktordnung, Netzregulie-
rung, Versorgungssicherheit, Kooperation, Verantwortlichkeiten und Rollen. Das Ab-
kommen regelt für die Schweiz spezifische Ausnahmen und Präzisierungen beispiels-
weise zur Organisation von ÜNBs und VNBs, für die Grundversorgung, für die
Versorgungssicherheit sowie für Energieressourcen und die Wasserkraft.
Zur Gewährleistung von gleichen Wettbewerbsbedingungen werden für die Schweiz
mit dem Stromabkommen Regeln über staatliche Beihilfen im Geltungsbereich des
Abkommens festgelegt. Entsprechend verpflichtet sich die Schweiz, ein mit demjeni-
gen der EU äquivalentes, aber eigenständiges Beihilfeüberwachungssystem einzu-
richten. Dabei sind eine Schweizer Überwachungsbehörde und Schweizer Gerichte
für die Überwachung von Schweizer Beihilfen zuständig (Zwei-Pfeiler-Ansatz). Die
für die Schweiz wichtigsten Fördersysteme für erneuerbare Energien und Umwelt be-
ziehungsweise Gewässerschutz werden im Abkommen explizit als mit dem Binnen-
markt vereinbar erklärt.
Bezüglich Umwelt verpflichten sich die Schweiz und die EU zur Gewährleistung ei-
nes hohen Niveaus an Umweltschutz im Strombereich. Die Schweiz übernimmt die
im Strombereich relevanten Umweltrechtsakte der EU nicht ins nationale Recht, ga-
rantiert diesbezüglich aber mindestens das gleiche Niveau an Umweltschutz wie in
der EU.
Im Bereich der erneuerbaren Energien verpflichten sich die Schweiz und die EU zur
Kooperation namentlich in Bezug auf deren Ausbau und Förderung. Für die Schweiz
gilt ein rechtlich unverbindliches, aber ambitioniertes Ziel für den Anteil der erneuer-
baren Energien am Bruttoendenergieverbrauch von 48,4 Prozent im Jahr 2030 (Anteil
2023: Rund 34,3 %).
Beim Ausbau und der Interoperabilität von Strominfrastrukturen verpflichten sich
beide Parteien zu einer Kooperation namentlich bei der Erarbeitung von Netzentwick-
lungsplänen.
Als Binnenmarktabkommen enthält das Stromabkommen die institutionellen Ele-
mente (s. Ziff. 2.1), einschliesslich dynamischer Rechtsübernahme.
Zur Gewährleistung des ordentlichen Funktionierens und der effektiven Umsetzung
des Abkommens wird ein Gemischter Ausschuss - bestehend aus Vertretern beider
Vertragsparteien - eingerichtet, der im Konsens über die ihm durch das Abkommen
übertragenen Aufgaben entscheidet.
Mit einer Evolutivklausel bekennen beide Parteien ihre Bereitschaft, eine Vertiefung
der Zusammenarbeit über den Stromsektor hinaus zu prüfen, insbesondere in den Be-
reichen Wasserstoff und erneuerbare Gase.
615 / 931
Die Rechte und Pflichten der Schweiz aus dem Stromabkommen gelten grundsätzlich
und wo nicht anders geregelt ab Inkrafttreten des Stromabkommens. Für gewisse As-
pekte regelt das Stromabkommen spezifische, teilweise längere Übergangsfristen für
die Schweiz. Angesichts des Umfangs der geltenden Regeln im Strombinnenmarkt
setzt die Schweiz das Abkommen (in Absprache mit der EU) in zwei zeitlich gestaf-
felten Paketen um, wobei das zweite Paket spätestens drei Jahre nach Inkrafttreten des
Abkommens umgesetzt sein muss. Das erste Paket enthält diejenigen Elemente, wel-
che für das Funktionieren des Strombinnenmarktes notwendig sind. Dazu gehören un-
ter anderem die Marktkopplung* (
Market Coupling
), die Marktöffnung für alle End-
verbraucherinnen und Endverbraucher und Vorgaben für die Entflechtung von VNB.
Das zweite Paket wird weitere und vor allem technische Elemente der Markt- und
Netzregulierung enthalten (s. Ziff. 2.11.7)
Die im Kapitel 2.11.3 genannten Verhandlungsziele und die Vorgaben des Verhand-
lungsmandats des Bundesrates vom 8. März 2024 sind mit dem Verhandlungsergebnis
vollumfänglich erfüllt.
2.11.5.1.1
Für das Stromabkommen relevante EU-Rechtsakte
Das Stromabkommen listet in
Anhang I - Strommarkt
die relevanten Rechtsakte der
EU im Strombereich im Geltungsbereich des Stromabkommens auf. Es handelt sich
dabei im Wesentlichen um Rechtsakte des EU Clean Energy Packages von 2019 in-
klusive zwischenzeitlicher Änderungen und dazugehöriger Durchführungsrechtsakte
sowie delegierte Rechtsakte der Europäischen Kommission:
–
Verordnung (EU) 2019/941 zur Risikovorsorge im Strombereich
549
–
Verordnung (EU) 2019/942 zur Etablierung von EU ACER
550
–
Verordnung (EU) 2019/943 zum Strombinnenmarkt inklusive zugehörige
Durchführungsrechtsakte und delegierte Rechtsakte der Europäischen
Kommission und dabei insbesondere die Strom-Netzwerkcodes
551
–
Richtlinie (EU) 2019/944 über gemeinsame Regeln zum Strombinnenmarkt
inklusive zugehöriger Durchführungsrechtsakt der Europäischen Kommis-
sion
552
549
Verordnung (EU) 2019/941 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019
über die Risikovorsorge im Elektrizitätssektor und zur Aufhebung der Richtlinie
2005/89/EG, in der Fassung gemäss Anhang I, des Stromabkommens.
550
Verordnung (EU) 2019/942 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019
zur Gründung einer Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit der Energie-
regulierungsbehörden (Neufassung), in der Fassung gemäss Anhang I, des Stromabkom-
mens.
551
Verordnung (EU) 2019/943 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019
über den Elektrizitätsbinnenmarkt (Neufassung), in der Fassung gemässe Anhang I des
Stromabkommens.
552
Richtlinie (EU) 2019/944 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019
mit gemeinsamen Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Änderung der
Richtlinie 2012/27/EU (Neufassung), in der Fassung gemässe Anhang I des Stromabkom-
mens.
616 / 931
–
Verordnung (EU) 1227/2011 über Grosshandelsmarktintegrität und -trans-
parenz inklusive zugehöriger Durchführungsrechtsakt der Europäischen
Kommission
553
In
Anhang V - Umwelt
sind die für den Strombereich relevanten Rechtsakte der EU
im Umweltbereich aufgelistet. Die Schweiz garantiert diesbezüglich im Sinne eines
Äquivalenzansatzes mindestens das gleiche Niveau an Umweltschutz.
Anhang VI – Erneuerbare Energien
listet die Rechtsakte der EU im Bereich erneuer-
bare Energien im Geltungsbereich des Stromabkommens auf, namentlich die Richtli-
nie (EU) 2018/2001
554
über die Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren
Energien inklusive zugehöriger delegierter Rechtsakte der Europäischen Kommis-
sion. Diese Richtlinie ist nur in Teilen auf die Schweiz anwendbar.
2.11.6
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Abkommens
Allgemeines zur Struktur des Abkommens
Das Stromabkommen gliedert sich in die Präambel, in einen Hauptteil und in mehrere
Anhänge. Die Präambel erläutert die Beweggründe zum Abschluss des Stromabkom-
mens und dient zu dessen Interpretation. Der Hauptteil enthält einerseits stromspezi-
fische Regelungen zu Themen, die für die Schweiz innenpolitisch wichtig sind (z. B.
zur Grundversorgung oder zur Entflechtung). Andererseits enthält er Regeln, die für
die anderen Binnenmarktabkommen des Pakets Schweiz–EU, soweit relevant und
enthalten, weitgehend gleich sind (z. B. staatliche Beihilfen und institutionelle Ele-
mente). Die Anhänge befassen sich unter anderem mit dem EU-
Acquis
, der mit dem
Abkommen für die Schweiz relevant wird (z. B. Anhang I zum EU-Strombinnenmarkt
oder Anhang VI zu den erneuerbaren Energien), mit Sonderfragen (z. B. Anhang II
zum Umgang mit Vorrängen im grenzüberschreitenden Übertragungsnetz oder An-
hang VII zum finanziellen Beitrag) und mit staatlichen Beihilfen (Anhänge III und
IV).
2.11.6.1
Geltungsbereich (Art. 2)
Nach Artikel 2 ist der Geltungsbereich des Abkommens der Strombereich. Laut De-
finition im Abkommen besteht er aus Produktion, Handel, Übertragung und Vertrieb
von Strom. Nicht erfasst sind hingegen der Stromverbrauch, was nicht zuletzt bei den
Beihilferegeln relevant ist (s. Ziff. 2.11.6.10), oder der Gasbereich, was sich unter
anderem insofern bemerkbar macht, als dass die Regeln über Transparenz und Integ-
rität des Energiegrosshandels (REMIT) auf Strom beschränkt sind. Ebenso nicht er-
fasst ist der Bereich (Gebäude-)Energieeffizienz, womit diesbezüglich nicht in die
kantonalen Hoheiten eingegriffen wird. Ausserdem gibt es mit dem Strombereich di-
rekt verbundene, vom Abkommen abschliessend aufgeführte Bereiche, auf die sich
553
Verordnung (EU) Nr. 1227/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Ok-
tober 2011 über die Integrität und Transparenz des Energiegroßhandelsmarkts, in der Fas-
sung gemässe Anhang I des Stromabkommens.
554
Richtlinie (EU) 2018/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember
2018 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen (Neufassung), in
der Fassung gemässe Anhang I des Stromabkommens.
617 / 931
das Abkommen ebenfalls erstreckt, beispielsweise die erneuerbaren Energien. Folg-
lich fallen allfällige weitere direkt mit dem Strombereich verbundene Bereiche, die
nicht im Abkommen aufgeführt sind, nicht in den Geltungsbereich des Abkommens.
Das Abkommen ist nicht unmittelbar anwendbar auf das Bahnstromnetz. In der mit
dem Abkommen übernommenen Richtlinie (EU) 2019/944
555
(nachfolgend Strombi-
nnenmarkt-Richtlinie) finden sich keine expliziten Hinweise, wonach es von dieser
erfasst ist. Das Bahnstromnetz in der Schweiz ist weitgehend von der Regulierung im
StromVG ausgenommen, was so bleiben kann. Das System des Bahnstromnetzes ist
auch in EU-Staaten, wie zum Beispiel in Österreich, in ähnlicher Weise geregelt wie
in der Schweiz.
2.11.6.2
Nicht-Diskriminierung (Art. 3)
Artikel 3 stipuliert die Nicht-Diskriminierung als allgemeinen, das ganze Abkommen
beherrschenden Grundsatz, wie er beispielsweise auch im Landverkehrsabkommen
vorgesehen ist. Es schützt die Vertragsparteien vor diskriminierenden Massnahmen
der anderen Seite. Zudem dürfen auch Rechtssubjekte nicht aufgrund der Nationalität
beziehungsweise bei Unternehmen aufgrund des Sitzstaats diskriminiert werden.
2.11.6.3
Nationale Netzgesellschaft (Art. 5)
Das EU-Recht enthält drei Modelle (s. Ziff. 2.11.6.15.7) für die Entflechtung der ÜNB
(
Transmission System Operator
, TSO), also die Trennung des Betriebs des Übertra-
gungsnetzes von anderen Aktivitäten im Strombereich, wie Produktion und Handel
(Davon können die Mitgliedsstaaten ein Modell auswählen. Artikel 5 nimmt zwei As-
pekte der heutigen Realität zur nationalen Netzgesellschaft Swissgrid auf und erklärt
sie (unter Vorbehalt des EU-Rechts) für weiterhin zulässig. Das betrifft einerseits die
«schweizerische Beherrschung», die im StromVG mit der Vorgabe statuiert ist, dass
es eine direkte oder indirekte Mehrheit durch die Kantone und Gemeinden geben
muss. Andererseits wird der Umstand abgebildet, dass diese Mehrheit nur eine indi-
rekte ist und es (im Besitz der öffentlichen Hand befindliche) Elektrizitätsversor-
gungsunternehmen (EVU) sind, die die Aktien an Swissgrid halten. Bei der Umset-
zung der EU-Vorgaben im StromVG werden die Grundlagen so geschaffen, dass sich
Swissgrid zu einem unabhängigen ÜNB umorganisieren kann (s.Ziff. 2.11.7). Die El-
Com wird Swissgrid unter diesem Modell zertifizieren, damit sie ihre Aufgaben bin-
nenmarktkonform wahrnehmen kann.
2.11.6.4
Entflechtung der Verteilnetzbetreiber (VNB) (Art. 6)
Das EU-Recht schreibt beim Verteilnetz* eine im Vergleich zur in der Schweiz bereits
bestehenden buchhalterischen und informatorischen Entflechtung weitergehende, or-
ganisatorische und rechtliche Entflechtung vor. Demnach ist der Netzbetrieb von den
anderen Aktivitäten eines integrierten Unternehmens hinsichtlich Rechtsform, Orga-
nisation und Entscheidungsgewalt zu trennen, nicht aber eigentumsmässig (s. Ziff.
555
Richtlinie (EU) 2019/944 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019
mit gemeinsamen Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Änderung der
Richtlinie 2012/27/EU, ABl. L 158, vom 14.6.2019, S. 125, zuletzt geändert durch Richtli-
nie (EU) 2024/1711, ABl. L 1711, 26.6.24.
618 / 931
2.11.7). Diese weitergehenden Regeln müssen jedoch nur für VNB ab 100'000 ange-
schlossenen Kundinnen und Kunden (wobei eine Gesamtkonzernbetrachtung relevant
ist) angewandt werden und betreffen in der Schweiz rund 15 VNB. Für die restlichen
Stromversorger bleibt es bei den heutigen Entflechtungsregeln. Das öffentliche Ei-
gentum an den VNB wird in keiner Weise in Frage gestellt, womit keine Privatisie-
rungen nötig sind. Zusätzlich wird, vor allem mit Relevanz für die öffentlich-rechtlich
organisierten Unternehmen festgehalten, dass die Unternehmenssparten – wo das ge-
wollt ist – öffentlich-rechtlich organisiert bleiben können (z. B. als Anstalten).
2.11.6.5
Marktöffnung und Grundversorgung (Art. 7)
Ein zentraler Teil des Stromabkommens ist die Marktöffnung für alle Endverbrauche-
rinnen und Endverbraucher. Die Schweiz behält die Möglichkeit, flankierend zur
Marktöffnung eine regulierte Grundversorgung mit regulierten Preisen für Haushalte
und Unternehmen unter einer gewissen aber im Abkommen nicht näher bestimmten
Verbrauchsschwelle weiterzuführen. Artikel 7 präzisiert das Recht der Schweiz, eine
Grundversorgung beizubehalten, und zwar nicht bloss als Letztversorger-Aufgabe,
und ergänzt, dass auch eine Preisregulierung zulässig ist (unter Vorbehalt des EU-
Rechts). In vielen EU-Staaten kommt Preisregulierung in- und ausserhalb der Grund-
versorgung vor, und zwar in vielseitiger Ausgestaltung, also auch mit unterschiedli-
cher Eingriffstiefe was die Preisgestaltung anbelangt. Nach EU-Recht sind solche
Preisregulierungen zwar als Übergangslösungen gedacht und befristet einzuführen,
ein konkretes Ende der Fristen wird aber nicht geregelt. Somit kann die Schweiz eine
regulierte Grundversorgung mit regulierten Preisen beibehalten, dies grundsätzlich bis
auf weiteres beziehungsweise solange die Schweiz eine Regulierung für nötig hält.
2.11.6.6
Wegfall Vorränge und finanzielle Entschädigung (Art. 8)
Vorränge beziehungsweise Reservierungen, dank denen Stromlieferungen bei der Zu-
teilung von Kapazitäten im grenzüberschreitenden Übertragungsnetz vorab bedient
werden, stehen in Konflikt mit EU-Recht. In der EU wurden solche Vorränge bereits
ab 2003, innert kurzen Fristen und ohne Entschädigungen, abgeschafft. Die Schweiz
kennt noch solche Vorränge einerseits bei (privatrechtlichen) Langzeitverträgen zum
Bezug von Strom aus Kernkraftwerken aus Frankreich oder für den Tausch von Strom
aus Schweizer Wasserkraft und französischer Kernkraft sowie andererseits bei meh-
reren Grenzwasserkraftwerken, wo sich die Vorränge mitunter aus Staatsverträgen er-
geben
556
. Für die erstere Gruppe (inkl. dem Grenzkraftwerk Emosson) entfallen die
Vorränge mit Inkrafttreten des Stromabkommens (Art. 8 Abs. 1). Dafür erhalten die
556
Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Französischen Re-
publik über den Ausbau der Wasserkräfte bei Emosson (SR
0.721.809.349.1
])
Übereinkommen zwischen der Schweiz und Frankreich über die Regelung gewisser
Rechtsverhältnisse betreffend die künftige Ableitung des Rheines bei Kembs (SR
0.721.809.349.7
])
Übereinkommen zwischen der Schweiz und Frankreichüber die Verleihung der Wasser-
kräfte des Doubs bei Châtelot (SR
0.721.809.349.5
)
Vereinbarung zwischen der Schweiz und Italien über die Verleihung der Wasserkräfte des
Reno di Lei (SR
0.721.809.454.2
)
Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Republik Österreich
über die Nutzbarmachung des Inn und seiner Zuflüsse im Grenzgebiet (SR
0.721.809.163.1
)
619 / 931
Vertragshalter während einer Übergangszeit von sieben Jahren eine finanzielle Ent-
schädigung (oder bei einem früheren Vertragsende für diese kürzere Dauer). Bei den
Grenzkraftwerken enthält das Stromabkommen eine Bagatellregelung, wodurch
Grenzkraftwerke Vorränge von weniger als 65 Megawatt (MW) während 15 Jahren
behalten können; bei einem vorherigen Ablauf der Konzessionen erlischt der Vorrang
ebenfalls in diesem Zeitpunkt (Art. 8 Abs. 3). Grenzkraftwerke mit Deutschland ha-
ben die Vorränge schon länger verloren, weil Deutschland die Vorränge für EU-
rechtswidrig hielt und nicht mehr mittrug. Die Verträge mit Wegfall des Vorrangs und
finanzieller Entschädigung betreffen einzig die Grenze mit Frankreich; die Grenz-
kraftwerk-Bagatellfälle betreffen die Grenzen mit Frankreich, Italien und Österreich.
Die Einzelheiten des Übergangsregimes stehen in Anhang II. Die Regelung im Ab-
kommen einschliesslich der Umsetzungsmethodik ist als abschliessend für die ganze
Thematik zu betrachten. Es profitieren nur Verträge vom Regime, die in den Listen in
Anhang II aufgeführt sind. Anhang II legt die Grundsätze des vorgesehenen Entschä-
digungsmechanismus fest. Für die Umsetzung braucht es aber erst noch eine Umset-
zungs-Methodologie, die die Regulatoren Frankreichs und der Schweiz festlegen
müssen (Anhang II ist also nicht «
self-executing
»). Gelingt dies nicht innert drei Mo-
naten, kann der Gemischte Ausschuss mit der Lösungsfindung betraut werden; eine
Verzögerung ändert aber nichts daran, dass die Vertragshalter ab Wegfall der Vor-
ränge Anspruch auf die finanzielle Entschädigung haben. Die Entschädigung wird aus
den Engpasserlösen aus der Vergabe der grenzüberschreitenden Übertragungsnetzka-
pazitäten an der französisch-schweizerischen Grenze finanziert.
2.11.6.7
Versorgungssicherheit und Reserven (Art. 9)
Artikel 9 handelt von der Versorgungssicherheit, deren Gewährleistung respektive
Stärkung mit zu den wichtigsten Zielen des Abkommens gehört. Absatz 1 hält fest,
dass die Kapazitäten für den grenzüberschreitenden Austausch, gerade auch in Kri-
senzeiten, offenstehen. Beide Parteien verpflichten sich, auf Massnahmen, welche die
Versorgungssicherheit gefährden, zu verzichten. Sie verpflichten sich insbesondere
auch, auf ungebührliche Einschränkungen der grenzüberschreitenden Stromflüsse zu
verzichten. Dieser Absatz sichert die Verfügbarkeit der Strom-Importkapazitäten
rechtlich ab, worüber in der Schweiz aufgrund der EU-Vorgabe, wonach 70 Prozent
der für den grenzüberschreitenden Stromhandel relevanten Netzkapazitäten dem Han-
del zur Verfügung zu stellen sind, zuletzt Unsicherheit herrschte. Eine Unsicherheit,
die einer der Beweggründe zur Erstellung von Schweizer Reserven war.
Diese Absicherung reduziert für die Schweiz den Bedarf an inländischen Reserven.
Solche bleiben aber auch unter einem Abkommen möglich, sofern sie notwendig, ver-
hältnismässig und nicht-diskriminierend sind. Für die Ermittlung von deren Bedarf
sind grundsätzlich die gleichen Regeln anwendbar, wie für die EU-Mitgliedsstaaten.
Zusätzlich gesteht das Abkommen der Schweiz die Berücksichtigung besonderer Ei-
genheiten zu. Dies vergrössert den Spielraum in dieser Frage. Grund dafür, dass be-
sondere Eigenheiten berücksichtigt werden können, ist einerseits der Umstand, dass
die Schweiz kein EU-Mitglied ist. Andererseits soll bei der Ermittlung des Reservebe-
darfs berücksichtigt werden, dass unter Umständen in den Nachbarländern Kernkraft
oder Gas für die Stromproduktion nur beschränkt verfügbar sein können. Diese Be-
denken sollen bei der Erstellung von Reserven in verhältnismässiger und vernünftiger
620 / 931
Weise berücksichtigt werden. Mit diesem zusätzlichen Spielraum konnte die Schweiz
eine Ausnahme erreichen, die als solche in Artikel 27 Absatz 7 aufgeführt ist. Diese
Ausnahme ist somit von der dynamischen Rechtsübernahme ausgenommen. Das be-
deutet, selbst wenn die Kriterien der EU dereinst strenger würden, bliebe es hinsicht-
lich der Schweiz bei der vereinbarten Ausnahmeregelung und die strengeren Kriterien
müssten nicht in den Anhang des Abkommens integriert werden.
Absatz 4 hält eine Bestandsklausel beziehungsweise Übergangsbestimmung für die
Anfangszeit des Stromabkommens fest. Die Schweiz hat 2022 mit der Erstellung von
Reserven begonnen und führt diesen Prozess, auch angesichts der Ungewissheit über
die Regelung des Verhältnisses zur EU, momentan weiter. Die Erstellung von Reser-
ven muss mit zeitlichem Vorlauf passieren, da die Realisierung lange dauert. Mit der
Übergangsbestimmung werden die Dispositionen geschützt, welche die Schweiz in
der jetzigen Phase noch trifft. Reserven aus dieser Phase, die im Widerspruch zu den
Regeln des Abkommens sind, müssen nach sechs Jahren eingestellt werden. Umge-
kehrt können vorbestehende Reserven, die im Einklang mit dem Abkommen sind,
beibehalten werden.
In der EU ist es die Europäische Kommission, die Reserven der EU-Mitgliedsstaaten
nach eingehender Prüfung der strom- und beihilferechtlichen Vorgaben genehmigt.
Für die Schweiz entscheidet hinsichtlich Reserven unter dem Stromabkommen eine
Schweizer Behörde (Anhang I, Ziff. 4, Bst. c), die mit der Umsetzungsvorlage defi-
niert wird. Sollte es zu einem Streitfall kommen (s. Ziff. 2.1.6.4), können sich sowohl
Fragen zum EU-Reserverecht sowie zu den ausgehandelten Schweizer Eigenheiten
stellen. Im Falle der Einsetzung eines Schiedsgerichts würde dieses den EuGH nur
soweit beiziehen, als dass sich Fragen des erwähnten EU-Rechts stellen sowie dies für
die Beantwortung der Streitfrage relevant und notwendig ist. Die übrigen Aspekte,
also zum Beispiel die verhältnismässige und vernünftige Berücksichtigung der
Schweizer Eigenheiten, würde das Schiedsgericht dagegen allein beurteilen, das heisst
ohne Einbezug des EuGHs. Der Entscheid im Streitfall selbst ist ebenfalls Sache des
Schiedsgerichts.
2.11.6.8
Beteiligung an EU-Behörden und -Stellen (Art. 10)
Ohne Stromabkommen war die Schweiz in den letzten Jahren in zahlreiche europäi-
sche Prozesse, Gremien, Plattformen, usw. nicht eingebunden und wurde sukzessive
aus diesen ausgeschlossen. Der Ausschluss betraf unter anderem die Marktkopplung
für verschiedene Zeitfenster und teilweise die Regelenergie. Mit dem Abkommen sind
die Schweiz und ihre Akteure voll teilnahmeberechtigt,deren Zugang ist gesichert,
und zwar bei allen relevanten EU-Einheiten, EU-Behörden und Regionen etc. Als
Nicht-EU-Staat hat die Schweiz durch diese Teilhabe zwar kein Mitentscheidungs-
und Stimmrecht, sie kann bei der Weiterentwicklung des EU-Strommarkts aber in al-
len Bereichen mitgestalten (sog.
Policy Shaping
). Das ist zentral, weil viele relevante
Entscheide im EU-Strombinnenmarkt im Konsens getroffen werden. Artikel 10 zählt
deklaratorisch und beispielhaft die wichtigsten dieser Beteiligungen auf: jene der El-
Com bei der ACER, jene von Swissgrid bei ENTSO-E und jene der VNB bei der EU
DSO Entity
(Distribution System Operator
, DSO). Das Teilnahmerecht ergibt sich
621 / 931
aus der Übernahme der entsprechenden EU-Rechtsakte in Anhang 1 und dem Abkom-
mensprinzip, wonach die Schweiz und ihre Akteure gleich wie die Mitgliedstaaten
und deren Akteure behandelt werden.
2.11.6.9
Energieressourcen und Wasserkraft (Art. 11)
Artikel 11 stellt klar, dass die Schweiz ihren Energiemix selbständig festlegen kann.
Damit wahrt sich die Schweiz insbesondere die Möglichkeit, weiterhin auf einheimi-
sche Kernkraft zurückgreifen zu können. Weiter haben die Kantone das Recht, wei-
terhin eigenständig zu bestimmen, wie ihre Energieressourcen genutzt werden. Damit
können die Kantone weiterhin selbstständig festlegen, auf welche Energien und wel-
chen Energiemix sie setzen möchten. Diese Autonomie gilt insbesondere für die Was-
serkraft. Das Stromabkommen enthält keine Vorgaben zur Wasserkraft, also auch hin-
sichtlich der Vergabe von Konzessionen oder des Wasserzinses. Ein obligatorischer
EU-Standard, wonach die Mitgliedstaaten Wasserkraftkonzessionen per Ausschrei-
bung vergeben müssen, existiert nicht. Darüber hinaus sind die EU-Rechtsakte, wel-
che Regeln dazu beinhalten (z.B. Konzessionsrichtlinie (EU) 2014/23)
557
, nicht Teil
des Abkommens. Die EU könnte somit auch in Zukunft nicht argumentieren, dass die
Konzessionsrichtlinie oder ihr Nachfolgerechtsakt im Anwendungsbereich des Ab-
kommens sei. Denn wenn dem so wäre, hätte die Konzessionsrichtlinie bereits heute
ins Abkommen aufgenommen werden müssen. Ebenfalls nicht in Frage gestellt ist der
Wasserzins. Weiter stellt Artikel 11 klar, dass das Abkommen des öffentlichen Eigen-
tums an Produktionsanlagen, zu denen auch Wasserkraftanlagen gehören, nicht ent-
gegensteht. Somit erfordert das Stromabkommen keine Privatisierungen.
2.11.6.10
Staatliche Beihilfen (Art. 12-19)
Als
level-playing-field-
Materie deckt das Stromabkommen auch die staatlichen Bei-
hilfen ab. Diese Vorschriften regeln einerseits das direkt anwendbare materielle Bei-
hilfeverbot mit diversen ebenfalls direkt anwendbaren Ausnahmen, andererseits die
Grundpfeiler des Überwachungsverfahrens. Die Vorschriften sind weitgehend iden-
tisch mit denjenigen der beiden anderen Binnenmarktabkommen mit Beihilfebestim-
mungen, namentlich dem Landverkehrs- und dem Luftverkehrsabkommen - mit der
Ausnahme von einzelnen sektoriellen Rechtsakten- und werden in Kapitel 2.2 allge-
mein erläutert. Eine wichtige Determinante für das Beihilferecht ergibt sich aus der
Definition des Geltungsbereichs des Stromabkommens. Dass dieser insbesondere den
Stromverbrauch nicht erfasst (Art. 2), bestimmt wiederum den Geltungsbereich der
Beihilferegeln (Ziff. 2.2.5.3). Somit fallen zum Beispiel zahlreiche Fördermassnah-
men für Stromgrossverbraucher oder nationale und kantonale Systeme zur Förderung
von Energieeffizienz oder dem rationellen Stromverbrauch nicht unter das Stromab-
kommen, dies im Unterschied zu den EU-Staaten.
Zu den völkerrechtlichen Beihilfebestimmungen gehören ferner die Anhänge III und
IV sowie eine gemeinsame Erklärung, welche dem Abkommen beigefügt ist. Anhang
III hält für die sechs wichtigsten bestehenden Schweizer Beihilferegelungen im
Strombereich fest, dass sie beihilferechtskonform sind (Legalausnahmen): bei den er-
557
ABl L 94 28.03.2014, S. 1
622 / 931
neuerbaren Energien die gleitende Marktprämie und die Investitionsbeiträge (inklu-
sive Reduktion des Wasserzinses in Fällen von Investitionsbeiträgen), die Betriebs-
kostenbeiträge für Biomasse und die Garantien für die Geothermie sowie beim Ge-
wässerschutz die Förderung respektive Abgeltungen für die Restwassersanierung und
die Sanierung der Wasserkraft. Bei der gleitenden Marktprämie und den Investitions-
beiträgen für erneuerbare Energien muss die Schweiz zwar noch geringe Anpassun-
gen vornehmen (hinsichtlich Direktvermarktung und zur Vermeidung von Produkti-
onsanreizen in Negativpreisphasen). Im Wesentlichen sind diese Instrumente aber
schon heute beihilferechtskonform. Darüber hinaus kann der Gemischte Ausschuss
des Stromabkommens künftig zusätzliche Ausnahmetatbestände formulieren, die vom
EU-Recht abweichen können.
Zur Auflistung im Abkommen sind mehrere Punkte festzuhalten: So darf aus der Liste
nicht gefolgert werden, dass andere, nicht aufgeführte Beihilfen unzulässig sind. In
den Verhandlungen zum Stromabkommen wurden bewusst, unter anderem wegen des
Zweipfeiler-Ansatzes bei der Beihilfeüberwachung, nur wenige, wichtige Beihilfen
analysiert. Ferner folgt aus dem Umstand, dass die Beihilfen auf der Liste solche des
Bundesrechts sind, nicht, dass kantonale oder kommunale Regelungen unzulässig sind
– im Gegenteil; für analoge kantonale oder kommunale Instrumente ist davon auszu-
gehen, dass sie ebenfalls beihilfekonform sind. Richtig einzuordnen ist auch die zeit-
liche Aussage zur Konformität. Dass die Beihilfen für sechs beziehungsweise für zehn
Jahre konform erklärt werden, ist verfahrenstechnisch motiviert (weil beihilferechtli-
che Beurteilungen in der EU nur zeitlich limitierten Charakter haben) und nicht ma-
teriell. Diese Fristen sind keine Auslauffristen, nach deren Ablauf die Beihilfen unzu-
lässig werden. Vielmehr müssen diese danach in die fortlaufende Prüfung bestehender
Beihilferegelungen durch die Schweizer Überwachungsbehörde einfliessen. Die jet-
zige positive Bewertung ist auch ein starkes Signal für die Zeit nach Ablauf der ge-
nannten Fristen. Umgekehrt ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass diese Beihilfen
später (nach Ablauf der sechs bzw. zehn Jahre) unzulässig werden, zum Beispiel we-
gen einer neuen Rechtslage. Umsetzungsbeihilfen auf der Grundlage dieser Beihil-
feregelungen dürften dann nicht mehr gewährt werden. Dank einer Übergangsregel
des Abkommens (Art. 14 Abs. 3 und Art. 15 Abs. 3) hat die Schweiz fünf Jahre nach
Inkrafttreten des Abkommens Zeit, eine Überwachungsbehörde zu errichten. Die
Überwachungsbehörde hat danach ein weiteres Jahr, um sich einen Überblick über
bestehende Beihilferegelungen zu verschaffen. In diesem Rahmen werden mögliche
Beihilfen des Stromsektors, die das Abkommen nicht explizit nennt, von der Schwei-
zer Überwachungsbehörde zu prüfen sein. Für etwaige von der Überwachungsbe-
hörde vorzuschlagende Anpassungen an den Beihilferegelungen (übrigens nicht an
den konkret im Einzelfall gewährten Beihilfen) enthält das Abkommen keine zeitli-
chen Vorgaben.
2.11.6.11
Umweltrecht (Art. 20)
Mit Artikel 20 wird eine weitere
level-playing-field
-Materie erfasst, nämlich das Um-
weltrecht. Gemäss dem dazugehörigen Anhang V wird ein überschaubares Set von
sechs Rechtsakten des EU-Umweltrechts für relevant erklärt: (1) zur Umweltverträg-
lichkeitsprüfung bestimmter öffentlicher und privater Projekte, (2) zur Prüfung von
Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme, (3) Industrieemissionen,
(4) Verringerung des Schwefelgehalts bestimmter flüssiger Kraft- und Brennstoffe,
623 / 931
(5) zum Erhalt von wildlebenden Vogelarten und (6) zur Umwelthaftung zur Vermei-
dung und Sanierung von Umweltschäden. Die Wirkung beschränkt sich für die
Schweiz auf den Strombereich wie er im Abkommen definiert ist. Es kommt ein An-
satz zum Tragen, der dem Äquivalenzprinzip entspricht. Die EU-Vorschriften sind
hier für die Schweiz somit nicht direkt anwendbar. Die Schweiz muss sicherstellen,
dass sie bei den in Anhang V enthaltenen Rechtsakten ein gleich hohes Niveau an
Umweltschutz hat. Sie darf zudem ein höheres Schutzniveau vorsehen, vorausgesetzt
dass es kein Hindernis für den Zugang zu ihrem Strommarkt darstellt (Art. 27 Abs.
3). Die Schweiz muss das vom EU-Recht geforderte Resultat hinsichtlich des Um-
weltschutzes erreichen, ist bei den dafür notwendigen Instrumenten, Verfahren und
Fristen hingegen nicht an diejenigen der EU gebunden. Mit dem am Resultat orien-
tierten Ansatz wird für die Schweiz vermieden, dass es zu einem fragmentierten Um-
weltrecht kommt - für den Strombereich einerseits und für die übrigen Bereiche an-
dererseits. Im Bereich Strom ist das Schweizer Recht bereits heute mit dem vom
relevanten EU-Recht geforderten Schutzniveau äquivalent, weshalb keine Rechtsan-
passungen nötig sind. Kantonale oder Gemeindekompetenzen in diesem Bereich sind
nicht tangiert.
2.11.6.12
Kooperation im Bereich erneuerbare Energien und
Energieinfrastruktur (Art. 21 und 22)
In diesen Artikeln wurden Kooperationen zwischen der EU und der Schweiz in den
jeweiligen Bereichen vereinbart. Die erste Kooperation betrifft die erneuerbaren Ener-
gien (Art. 21). Beide Parteien bekennen die Absicht, den Anteil der erneuerbaren
Energien im Energiesystem zu erhöhen. Dies umfasst auch ein indikatives Ziel bezie-
hungsweise einen Richtwert von 48,4 Prozent, das sich die Schweiz für den Anteil
erneuerbarer Energien am Bruttoendenergieverbrauch 2030 setzt (s., Ziff. 2.11.6.16,
«Erläuterungen zu Anhang VI»).
Die zweite erwähnte Kooperation betrifft die transeuropäische Energieinfrastruktur
(
Transeuropean Networks – Energy
, TEN-E) im Bereich Strom (Art. 22). Sie stellt
den Einbezug in eine grenzüberschreitende Planung sicher, wobei nur wenige Schwei-
zer Projekte betroffen sein dürften (z. B. der
Greenconnector
). Im Abkommen wurde
der in der Verordnung (EU) 2022/869 (EU-TEN-E-Verordnung) neu eingeführte
Drittstaaten-Ansatz gewählt, wo es um Vorhaben von gemeinsamem Interesse
(Pro-
jects of Mutual Interest
, PMI) geht. Das für die Aufnahme von Projekten aus Dritt-
staaten in die PMI-Listen notwendige hohe Niveau an Konvergenz des Politikrah-
mens, unter anderem in Bezug auf den Binnenmarkt und die Dekarbonisierung, wird
mit dem Stromabkommen als gegeben vermutet. Solche Vorhaben rufen nach raschen
Bewilligungsverfahren. Die Schweiz muss sich aber nicht an die detaillierten EU-
Regeln dazu halten, sondern lediglich über einen ähnlichen Regelungsrahmen verfü-
gen, unter anderem hinsichtlich Verfahrensfristen. Mit den bestehenden Schweizer
Regeln und denjenigen der Vorlage zur Beschleunigung beim Aus- und Umbau der
Stromnetze (Revision des Elektrizitätsgesetzes
558
) ist dieser «ähnliche Regelungsrah-
men» gegeben. Die Frage der grenzüberschreitenden Kostenteilung wird im Einzelfall
558
SR
734.00
624 / 931
zu beantworten sein. Die Finanzierung dieser Projekte ist im Abkommen nicht gere-
gelt. EU-Finanzmittel für in der Schweiz gelegene Vorhaben dürfte es mangels Betei-
ligung am Finanzierungsmechanismus nicht geben. Auf diese Beteiligung wurde sei-
tens Schweiz verzichtet, vor allem, weil dann die Schweiz Nettozahlerin geworden
wäre.
2.11.6.13
Gemischter Ausschuss (Art. 25), Institutionelles (Art. 26 ff.)
und Informationsaustausch (Art. 40 ff.)
Für das gute Funktionieren des Abkommens ist, wie in den anderen bilateralen Ab-
kommen auch, ein Gemischter Ausschuss zuständig (Art. 25). Im Rahmen des Pakets
Schweiz-EU erfolgt, soweit als sinnvoll, eine Vereinheitlichung der GA-
Bestimmungen in allen betroffenen Abkommen (s. Ziff. 2.1.6.7).
Nebst den üblichen
Aufgaben, wie beispielsweise die Verabschiedung von Beschlüssen betreffend die In-
tegration von EU-Rechtsakten ins Abkommen (s. Ziff. 2.1.8), weist das Abkommen
dem Gemischten Ausschuss auch gewisse Kompetenzen zu, die im EU-
Stromsektorrecht eigentlich EU-Institutionen zugewiesen sind
.
Die institutionellen Bestimmungen des Abkommens (Art. 26 ff.) entsprechen denje-
nigen in den anderen Binnenmarktabkommen (s. Ziff. 2.1).
Beim Stromabkommen handelt es sich um ein bilaterales Abkommen in einem Be-
reich betreffend den Binnenmarkt, an dem die Schweiz teilnimmt (Art. 24 Abs. 2).
Entsprechend können die Vertragsparteien zur Behebung eines möglichen Ungleich-
gewichts verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen ergreifen (s. Ziff. 2.1.6.4.3), ent-
weder im Rahmen des Stromabkommens selbst oder im Rahmen eines anderen Ab-
kommens in den Bereichen betreffend den Binnenmarkt, an denen die Schweiz
teilnimmt (Art. 33 Abs. 1).
Spezifisch für das Stromabkommen sind die Artikel 40-42. Mit Artikel 41 Absatz 1
(in Verbindung mit EU-Akten nach Anhang I) wird anerkannt, dass die EU-
Institutionen die im übernommenen EU-Stromsektor vorgesehenen Berichte und Stel-
lungnahmen auch betreffend die Schweiz verfassen dürfen. Im Kontext dieser Doku-
mente ist der Bedarf an Informationsaustausch beträchtlich, aber auch generell dort,
wo die EU von der Schweiz analog zu den EU-Mitgliedstaaten Informationen braucht.
Artikel 40 Absatz 1 sieht für den Fall, dass die Information an die Europäische Kom-
mission erfolgt, als Regelfall den diplomatischen Weg über den Gemischten Aus-
schuss vor. Im Falle von ACER, wo es oft um technischere Fragen geht, ist als Regel-
fall hingegen der direkte Informationsaustausch zwischen den Behörden vorgesehen
(Art. 40 Abs. 5). Dies entspricht den praktischen Bedürfnissen, namentlich da, wo es
eilt. Der Gemischte Ausschuss kann Abweichungen entweder im Voraus oder ad-hoc
festgelegen (Art. 40 Abs. 3 und 5). Schliesslich ist vorgesehen, dass die Kommission
und ACER in der Ausübung ihrer Aufgaben direkt mit Schweizer Unternehmen In-
formationen austauchen dürfen (Art. 40 Abs. 6). Wenn das Abkommen den EU-
Behörden sektorrechtliche Zuständigkeiten auch hinsichtlich der Schweiz zugesteht,
ist für den Informationsaustausch als Grundregel ebenfalls der direkte Informations-
austausch vorgesehen.
625 / 931
Nach Artikel 45 erfolgt der Austausch allfälliger als Verschlusssache eingestufter In-
formationen zwischen den Vertragsparteien gemäss dem Abkommen vom 28. Ap-
ril 2008 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen
Union über die Sicherheitsverfahren für den Austausch von Verschlusssachen. In Ar-
tikel 45 erhält der Gemischte Ausschuss zudem den Auftrag, Handlungsanweisungen
zum angemessenen Schutz der ausgetauschten sensiblen Daten durch spezifischen Be-
schluss festzulegen.
2.11.6.14
Finanzieller Beitrag (Art. 49)
Die Schweiz zahlt einen jährlichen finanziellen Beitrag für ihre Teilnahme bei ACER.
Artikel 49 und Anhang VII regeln detailliert die Berechnung des Beitrags und die
Zahlungsmodalitäten. Der finanzielle Beitrag besteht aus einem Betriebskostenbeitrag
und einer Teilnahmegebühr. Der Betriebskostenbeitrag entspricht dem BIP-Anteil der
Schweiz am EU-BIP, multipliziert mit den Gesamtkosten von ACER, reduziert um 15
Prozent, da die Schweiz nur an den Stromaktivitäten und nicht an den (anteilsmässig
weitaus geringeren) Gasaktivitäten von ACER beteiligt ist. Die Teilnahmegebühr ent-
spricht 4 Prozent des Betriebskostenbeitrags. Der finanzielle Beitrag beträgt damit
rund 1,4 Millionen Franken pro Jahr. Er wird über eine schon bestehende, von Swiss-
grid bei den Endverbraucherinnen und Endverbrauchern erhobene Aufsichtsabgabe
finanziert.
2.11.6.15
Anhang I: Regeln des EU-Strombinnenmarkts
2.11.6.15.1
Generelles zu den Anhängen mit Rechtsübernahme sowie
Zuständigkeiten von EU-Institutionen
In Anhang I werden die EU-Rechtsakte zum Strombinnenmarkt integriert und damit
für die Schweiz verbindlich. Bezüglich Zuständigkeiten ist festzuhalten, dass die
Überwachung der richtigen Anwendung des Abkommens gemäss dem Zwei-Pfeiler-
Ansatz des Abkommens (s. Ziff. 2.1), also für die Schweiz durch Schweizer Behör-
den, hauptsächlich durch die ElCom, erfolgt. Auch nach dem EU-Sektorrecht sind
hauptsächlich die Behörden der EU-Mitgliedsstaaten zuständig. Im EU-Sektorrecht
sind aber auch Zuständigkeiten von EU-Institutionen enthalten, vor allem dann, wenn
die erstzuständigen und betroffenen nationalen Stellen keine Einigung erzielen oder
wenn eine übergeordnete europäische Sicht sachnotwendig ist. Das Abkommen re-
gelt, wie mit solchen Zuständigkeiten in Fällen, in denen die Schweiz betroffen ist,
umzugehen ist. Es regelt für jede Kompetenz einzeln, wer sie ausübt. Ist eine Kompe-
tenz im Abkommen nicht zugeteilt, so sind Schweizer Behörden zuständig. Die Zu-
teilung allfälliger künftiger Kompetenzen, die sich aus der Fortentwicklung von EU-
Recht beziehungsweise neuen relevanten Rechtsakten ergeben, obliegt dem Gemisch-
ten Ausschuss.
Die bei der Kompetenzzuweisung im Stromabkommen verfolgte Logik ist sachorien-
tiert und differenziert. In Bezug auf ACER, wo es oft um sehr technische Inhalte geht,
mitunter aber um solche von erheblicher Tragweite, und wo eine taugliche alternative
Entscheid-Stelle fehlt, werden mehrere Kompetenzen an ACER zugewiesen. Jedoch
wurden in Fällen, wo die Schweizer Souveränität betroffen ist, Sonderlösungen aus-
gehandelt. Dies betrifft zum Beispiel die Zuordnung der Schweiz zu einer Kapazitäts-
berechnungsregion. Anstelle der in der EU geltenden subsidiären ACER-
626 / 931
Zuständigkeit kann die Schweiz in einem sie betreffenden Fall in einem ersten Schritt
den Gemischten Ausschuss anrufen. Dort kann sie mit gleichberechtigter Stimme auf
eine Einigung hinwirken. Mangels Einigung innert sechs Monaten geht die Zustän-
digkeit an ACER über, weil sich der Entscheid zur Schweiz unmittelbar auch auf die
EU-internen Entscheide auswirkt und ein weiteres zeitliches Aufschieben weit über
die Schweiz hinaus zu Komplikationen beziehungsweise Blockaden führen könnte.
Auch bei der Gebotszonenzuordnung weicht das Abkommen von der EU-Ordnung
ab. Der Gemischte Ausschuss muss seine Zustimmung zu einem von der Europäi-
schen Kommission erarbeiteten Vorschlag geben. Weitere Sonderregeln finden sich
beispielsweise bei den polizeiähnlichen Befugnissen, die ACER bei der REMIT-
Verordnung hat. Sie werden für die Schweiz durch eine Lösung ersetzt, bei der die
ElCom die Verfahrensführung innehat. So bleibt die Souveränität der Schweiz ge-
wahrt.
Nicht explizit geregelt ist im Abkommen die Frage des Rechtswegs. Es ist danach zu
unterscheiden, ob die Schweiz als Staat (inkl. ihre Behörden, z. B. die ElCom) oder
ob wirtschaftliche Akteure beziehungsweise Private Beschwerde führen wollen. Der
Staat muss den Weg über die Streitbeilegung gemäss dem Abkommen gehen (Art. 32)
und somit an das Schiedsgericht gelangen. Die übrigen Beschwerdeführenden (z. B.
Schweizer Unternehmen) gelangen dagegen an die EU-Instanzen, also an das Gericht
der EU und den EuGH (und zuvor im Falle von ACER an den ACER-
Beschwerdeausschuss). Beschreiten in einem Geschäft sowohl die Schweiz als auch
ein Unternehmen und zusätzlich allenfalls auch Akteure in der EU den Rechtsweg,
müssen die befassten Gerichte für eine sachdienliche Verfahrenskoordination sorgen,
gegebenenfalls auch mit Sistierungen. Die Anfechtung nationaler Entscheide, zum
Beispiel solche der ElCom, erfolgt selbstverständlich bei schweizerischen Gerichten.
In den Eingangsbemerkungen der Anhänge I und VI werden zwei Grundsätze festge-
halten, welche die Anwendung der in die Anhänge I und VI integrierten EU-
Rechtsakte und die Behandlung der Schweiz wie ein EU-Mitgliedsstaat konkretisie-
ren.
Der erste Grundsatz hält fest, dass die in den in Anhänge I und VI integrierten EU-
Rechtsakten für die Mitgliedstaaten der EU vorgesehenen Rechte und Pflichten auch
für die Schweiz gelten. Diese Bestimmung gilt grundsätzlich auch in den anderen Bin-
nenmarktabkommen des Pakets Schweiz-EU (s. Ziff. 2.1.5.7). Sie stellt sicher, dass
die Schweiz die gleichen Rechte wie die EU-Mitgliedstaaten hat und nicht als «Dritt-
staat» schlechter gestellt werden kann. Der zweite Grundsatz hält schliesslich fest,
dass Bezugnahmen auf natürliche oder juristische Personen mit Wohnsitz oder Nie-
derlassung in den Mitgliedstaaten der EU auch als Bezugnahmen auf natürliche oder
juristische Personen mit Wohnsitz oder Niederlassung in der Schweiz gelten. Diese
Bestimmung, die auch im Lebensmittelsicherheitsabkommen vorgesehen ist, sieht
vor, dass im Geltungsbereich des Stromabkommens für natürliche und juristische Per-
sonen mit Wohnsitz oder Niederlassung in der Schweiz grundsätzlich dieselben Re-
geln zur Anwendung kommen sollen wie für natürliche und juristische Personen mit
Wohnsitz oder Niederlassung in den Mitgliedsstaaten der EU. Beide Grundsätze müs-
sen in vollständiger Beachtung der institutionellen Bestimmungen angewendet wer-
den, das heisst insbesondere unter Beachtung des Zwei-Pfeiler-Ansatzes und nicht im
627 / 931
Anwendungsbereich einer Ausnahme nach Artikel 27 Absatz 8 Stromabkommen. Zu-
dem gelten die Grundsätze nur, sofern in technischen Anpassungen nicht etwas ande-
res vorgesehen ist.
Ein Hinweis ist sodann zu den Verweisen zu machen, die in den übernommenen EU-
Rechtsakten auf nicht übernommene EU-Rechtsakte enthalten sind. Da die Rechts-
akte, auf die verwiesen wird, nicht in die Anhänge integriert wurden, gelten solche
Weiterverweise auf nicht integrierte Rechtsakte nach langer Praxis in den Abkommen
Schweiz-EU nicht für die Schweiz, sofern dies nicht explizit vorgesehen ist. Dies gilt
auch im Stromabkommen, wo dies ebenfalls nicht explizit steht
2.11.6.15.2
Risikovorsorge
Mit der Verordnung (EU) 2019/941 über die Risikovorsorge im Elektrizitätssektor hat
die EU einen Rahmen aufgestellt, der sicherstellen soll, dass die Mitgliedstaaten für
alle Arten von Risiken für die Versorgungssicherheit ausreichend sensibilisiert und
vorbereitet sind. Des Weiteren sind die Aufgaben und Zuständigkeiten für den Notfall
geklärt und grenzüberschreitende Auswirkungen werden berücksichtigt, wenn
Schutzmassnahmen ergriffen werden. Die Verordnung definiert auch, was unter einer
Stromversorgungskrise zu verstehen ist, etwa bei aussergewöhnlicher Nachfragelast
oder Ausfällen wesentlicher Erzeugungs- oder Übertragungsinfrastruktur. Als Kern-
element wird die Krisenprävention, -vorsorge und -bewältigung auf europäische
Ebene gehoben und in Kooperation mehrerer Akteure, unter anderem mit den natio-
nalen zuständigen Behörden ENTSO-E und ACER, werden regionale, das heisst län-
derübergreifende Krisenszenarien bestimmt. Gestützt darauf erstellen die Staaten Ri-
sikovorsorgepläne mit klar definierten, transparenten, verhältnismässigen und nicht-
diskriminierenden Präventions- und Bewältigungsmassnahmen, die auch regional
harmonisierte Bewältigungsmassnahmen umfassen sollen. Die Schweiz wird mit dem
Abkommen Teil dieser Risikovorsorge-Kooperation, was die Stromversorgung resi-
lienter macht. Bei mehreren nicht dringlichen Aspekten hat die Schweiz eine Über-
gangsfrist, so dass deren Umsetzung im zweiten Paket erfolgen wird. Deutschland,
Frankreich, Belgien, die Niederlande, Luxemburg und Österreich setzen die unter der
Verordnung geforderte regionale Kooperation der Krisenvorsorge und -bewältigung
im Rahmen des Pentalateralen Energieforums um. Die Schweiz wirkt dort bereits jetzt
als Beobachterin mit. Mit dem Stromabkommen wird die Schweiz vollwertiges Mit-
glied dieser Kooperation.
2.11.6.15.3
ACER-Verordnung
ACER ist die EU-Agentur für die Kooperation der nationalen Energieregulierungsbe-
hörden der EU-Mitgliedsstaaten für Strom und Gas. Die entsprechende ebenfalls zum
EU-
Acquis
des Strombinnenmarktrechts gehörende ACER-Verordnung (EU
2019/942) errichtet diese Agentur und regelt die Aufgaben von ACER, unter anderem
im Zusammenhang mit der Erarbeitung und Umsetzung der Netzkodizes (s. Ziff.
2.11.6.14.5), mit der Angemessenheit der Stromerzeugung und der Risikovorsorge
sowie der Überwachung der Integrität und Transparenz des Grosshandelsmarkts
(REMIT). Netzkodizes sind EU-übergreifende technische Regeln für den Betrieb, die
Planung und den Zugang zu Strom- und Gasnetzen (s. Ziff. 2.11.6.14.5). Ferner regelt
die ACER-Verordnung mehrere Zuständigkeiten (siehe oben) und die Organe von
628 / 931
ACER, wobei vor allem der Regulierungsrat bedeutsam ist, wo die Vertreter der na-
tionalen Regulatoren Entscheide per qualifizierter Mehrheit treffen. Die ElCom hat
basierend auf einem
Memorandum of Understanding
(MoU) seit 2017 mit ACER zu-
sammengearbeitet und konnte als Beobachterin in den Gremien teilnehmen. Seit der
Kündigung des MoU im Sommer 2021 durch ACER fand diese Zusammenarbeit nicht
mehr statt. Mit dem Stromabkommen wird die ElCom für den Bereich Strom, nicht
aber Gas, bei ACER teilnehmen, und so bei der Erstellung wichtiger Regelwerke und
Entscheide mitgestalten können, dies aber ohne Stimmrecht (auch die EWR-Staaten
haben kein Stimmrecht). Die Anstellung bei ACER steht auch Schweizer Staatsange-
hörigen offen. Weiteres zum Status von ACER ergibt sich aus der Anlage zu Anhang
I.
2.11.6.15.4
Elektrizitätsbinnenmarkt-Verordnung
Die Elektrizitätsbinnenmarkt-Verordnung (EU) 2019/943 bildet zusammen mit der
entsprechenden Richtlinie den eigentlichen Kern des relevanten EU-
Acquis
. Sie ent-
hält teilweise sehr detaillierte Regeln zu einer Vielzahl von Themen. Die meisten die-
ser Regeln würden in der Schweiz unmittelbar Anwendung finden. Das gilt vorder-
hand nicht, wenn die Schweiz eine Übergangsfrist ausgehandelt hat, wie zum Beispiel
für Detailregeln für die priorisierte Einspeisung von Produktionsanlagen für erneuer-
bare Energien (Art. 12 Abs. 2-7) oder zu neuen Verbindungsleitungen (Art. 63). The-
men, zu denen die EU-Verordnung 2019/943 Regeln enthält, sind unter anderem die
folgenden: Bilanzgruppenverantwortung, Regeln zu verschiedenen Markttypen wie
Day-Ahead
,
Intraday
, Terminmärkte und Regelenergiemärkte, Dispatch und Redis-
patch, Kapazitätsvergabe, Engpassmanagement und Engpasserlöse, Strombezugsver-
träge und Netzplanung. Enthalten sind ferner die (auch in der Schweiz in den letzten
Jahren) viel diskutierte Regel, wonach 70 Prozent der für den grenzüberschreitenden
Austausch von Strom relevanten Übertragungskapazitäten für den Handel zur Verfü-
gung stehen müssen (Art. 16). Der Umgang mit Übertragungskapazitäten in Richtung
Drittstaaten ist im EU-Recht nicht geregelt. Mit dem Stromabkommen wird klarge-
macht, dass die Schweiz in den Regeln für die Kapazitätsberechnung und -allokation
mitberücksichtigt ist, womit das Risiko beseitigt ist, dass diese Regeln zum Nachteil
der Schweiz angewendet werden. Das heisst auch, dass die Swissgrid die Vorgabe ab
Inkrafttreten des Stromabkommens erfüllen muss, was technisch für die Schweiz
machbar ist. Ebenso enthalten sind Vorgaben zur Angemessenheit der Ressourcen und
Kapazitätsmechanismen/strategischen Reserven (Art. 20 ff.), was für die Schweizer
Stromreserve relevant ist. Schliesslich sind auch zahlreiche Gremien geregelt, wie
ENTSO-E, die regionalen Koordinierungszentren und die Organisation für Verteil-
netzbetreiber (EU-VNBO).
2.11.6.15.5
Netzkodizes (Networkcodes)
Von grosser praktischer Relevanz sind die sogenannten Netzkodizes beziehungsweise
Networkcodes, die sich auf die Verordnung (EU) 2019/943 stützen und in Verordnun-
gen der Europäischen Kommission enthalten sind, weshalb diese Verordnungen auch
zum relevanten
Acquis
gehören. Es handelt sich um spezifische Vorgaben zur Rege-
lung technischer, operationeller und wirtschaftlicher Sachverhalte bei Betrieb und
Nutzung der grenzüberschreitenden Netzinfrastruktur für einen effizienten und offe-
629 / 931
nen EU-Strombinnenmarkt. Die traditionellen Netzkodizes lassen sich in drei Kate-
gorien einordnen: a) marktbezogene Codes zu Kapazitätsvergabe und Engpassma-
nagement, zur Vergabe langfristiger Kapazität und zum Systemausgleich des Elektri-
zitätsversorgungssystems,
b)
Codes
mit
technischen
Bedingungen
des
Netzanschlusses und c) Codes zum Netzbetrieb. Die Netzkodizes enthalten detaillierte
Regeln, die in der Schweiz, da es sich um ins Stromabkommen integrierte EU-
Verordnungen handelt, gelten und grundsätzlich direkt anwendbar sind. Die marktbe-
zogenen Codes regeln unter anderem die Etablierung und die Funktionsweise der je-
weiligen Plattformen der EU, beispielsweise für die Marktkopplung. Von diesen war
die Schweiz zuletzt ausgeschlossen. Dazu enthält das Abkommen Klauseln, die eine
Teilnahme der Schweiz in der Marktkopplung innert neun Monaten nach Inkrafttreten
ermöglichen.
Die Teilnahme an der Marktkopplung erfordert auch, dass die Schweiz einen neuen
Akteur einführt. Dieser nominierte Strommarktbetreiber (
Nominated Electricity Mar-
ket Operator
, NEMO) betreibt die Strombörse für die Schweizer Gebotszone und in
Zusammenarbeit mit den NEMO der benachbarten Gebotszonen die Marktkopplung.
Aktuell bietet die Strombörse EPEX-Spot-Produkte für die Schweizer Gebotszone an.
Unter dem Stromabkommen ist der Strombörsenbetreiber durch den Regulator for-
mell zu bezeichnen, wobei auch mehrere Strombörsenbetreiber bezeichnet werden
und parallel Produkte für die Schweizer Gebotszone anbieten können. Der NEMO
finanziert sich wie bis anhin über Gebühren der Handelsteilnehmer.
Gestützt auf die Netzkodizes werden ausserdem die technischen Umsetzungsbedin-
gungen und Methodologien (
Terms and Conditions or Methodologies
, TCMs) erlas-
sen, die zum gesamten Regelwerk dazugehören. Bei der Erarbeitung neuer TCM wird
die Schweiz dank des Abkommens vollwertig mitwirken können. Für die Schweiz
wird die ElCom die TCM per Weisung zu einem Teil des relevanten Regulierungsbe-
stands machen. Bis dies erfolgt ist, sind die TCM in der Schweiz kraft des Abkom-
mens (ohne Schweizer Beschluss) provisorisch anwendbar.
Etwas anders geartet ist der neue, ebenfalls übernommene Netzkodex zur Cybersi-
cherheit. Der Kodex ist auf den Strombereich beschränkt, gleichzeitig aber in einen
grösseren EU-Rechtsrahmen zur Cybersicherheit eingebettet, unter anderem mit Akt-
euren mit bestimmten Rollen. Mit dem Abkommen werden diese Akteure, seien sie
nun im Cybersicherheit-Netzkodex oder im allgemeinen EU-Recht zur Cybersicher-
heit begründet, nachgebildet, wobei bewusst vermieden wird, dass das allgemeine Cy-
bersicherheitsrecht der EU für die Schweiz anwendbar wird. Für die Umsetzung des
Netzkodizes wird die Schweiz diverse Stellen mit bestimmten Aufgaben bezeichnen
müssen. Nicht vorgesehen ist eine Teilnahme der Schweiz bei der EU-Agentur für
Cybersicherheit (ENISA), weil die Schweiz nicht in den weiteren rechtlichen Cyber-
rahmen ausserhalb des Strombereichs eingebunden ist.
2.11.6.15.6
ENTSO-E-Transparenzplattform
Die Verordnung (EU) Nr. 543/2013 will die Transparenz der Strommärkte stärken
und sieht dazu detaillierte Pflichten in Bezug auf die Übermittlung und die Veröffent-
lichung von Daten vor. Die Verordnung bildet die Grundlage für den Datenaustausch
über die Transparenzplattform ENTSO-E und legt den gesetzlichen Auftrag für die
630 / 931
Plattform fest. Mit dem Stromabkommen wird diese Verordnung für die Schweiz
ohne nationale Umsetzung anwendbar. Die Verordnung wird von der Swissgrid schon
heute zu einem grossen Teil angewandt, soweit dies auf freiwilliger Basis möglich ist.
Künftig gilt sie für die Swissgrid vollumfänglich. Mit der Übernahme der Verordnung
(EU) Nr. 543/2013 werden zudem die Dateneigentümer, insbesondere die VNB, dazu
verpflichtet, der nationalen Netzgesellschaft die massgebenden Daten zu übermitteln.
2.11.6.15.7
Elektrizitätsbinnenmarkt-Richtlinie
Weitere Kernthemen sind in der Elektrizitätsbinnenmarkt-Richtlinie (EU) 2019/944
geregelt, so zum Beispiel die freie Lieferantenwahl (Marktöffnung für alle Endver-
braucherinnen und Endverbraucher) und die damit zusammenhängenden Rechte von
Konsumentinnen und Konsumenten. Die Schweiz hat eine dreijährige Übergangsfrist
für die Einführung in der EU geltenden der kurzen Wechselfristen. Der Rahmen ist
ferner dafür gesetzt, welche Interventionen beziehungsweise Regulierungen die Staa-
ten vornehmen dürfen. Die oben erwähnte Entflechtung der VNB und die Modelle für
den ÜNBs (TSO-Modelle) sind ebenfalls in der Richtlinie geregelt. Weitere Themen
sind auch die Arealnetze (in der EU: geschlossene Verteilnetze), Flexibilität, Speicher
und Elektromobilität. Schliesslich sind die Anforderungen an den unabhängigen Re-
gulator und seine zahlreichen Aufgaben geregelt. Dazu gehört auch, dass der Regula-
tor Anschluss und Zugang zum Netz, inklusive Tarifierung festlegt. Das ist für die
Schweiz eine wichtige Änderung gegenüber heute. Die Schweiz wird die Kompetenz
aber erst nach einer Übergangsfrist von fünf Jahren ab Inkrafttreten an den Regulator
übertragen müssen. Die meisten Regeln der Richtlinie sind in der Schweiz (gleich wie
in den EU-Staaten) nicht direkt anwendbar, sondern bedürfen der Umsetzung ins
Schweizer Recht.
2.11.6.15.8
Integrität und Transparenz des Grosshandelsmarktes
(REMIT)
Die REMIT-Verordnung (EU) 1227/2011 schafft einen harmonisierten Rahmen, der
die Transparenz und Integrität der Energiegrosshandelsmärkte gewährleisten soll. Es
ist wichtig, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher sowie andere Marktteilneh-
mer Vertrauen in die Integrität dieser Märkte haben können, wo die Preise ein ausge-
wogenes und wettbewerbsorientiertes Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage
widerspiegeln und wo kein Marktmissbrauch stattfindet. Die REMIT-Verordnung
verbietet daher Insiderhandel und Marktmanipulation und enthält Verpflichtungen zur
Registrierung, zur Veröffentlichung von Insiderinformationen und zur Weitergabe
von Informationen über Transaktionen auf den Energiegrosshandelsmärkten. Diese
sind grenzüberschreitend und ACER hat daher Überwachungskompetenzen.
Sonderlösungen
für
die
Schweiz
im
Abkommen
betreffen
ACER-
Unterschungsbefugnisse. Solche gibt es neben der Überwachung durch die nationalen
Regulatoren (wenn diese nicht tätig werden) und in grenzüberschreitenden Fällen.
ACER kann in diesen Fällen Untersuchungen in der Schweiz anstossen. Die eigentli-
chen Untersuchungsmassnahmen, teilweise polizeilicher Natur, wie Hausdurchsu-
chungen oder Beschlagnahmungen, werden aber durch Schweizer Behörden, vor al-
lem die ElCom, durchgeführt. ACER kann diese aber eng begleiten.
631 / 931
Die Schweiz übernimmt die REMIT-Verordnung nur im Bereich Strom, nicht aber
beim Gas. Derweil deckt in der Schweiz das Bundesgesetz über die Aufsicht und
Transparenz auf den Energiegrosshandelsmärkten vom 28. März 2025 (BATE, AS…)
beide Bereiche ab. Der Teil Strom, der REMIT-relevant ist, ist bereits kompatibel mit
dem Stromabkommen. Trotzdem sind, da mit dem Abkommen Ausgangslage und Op-
tik ändern, im Rahmen von dessen Umsetzung Anpassungen am BATE erforderlich
(s. Ziff. 2.11.8.3).
2.11.6.16
Anhänge III, IV und V
Die Anhänge zu den staatlichen Beihilfen (III und IV) und zur Umwelt (V) sind vorne
beim jeweiligen Thema erläutert (s. Ziff. 2.11.6.10 und Ziff. 2.11.6.9).
2.11.6.17
Erneuerbare Energien (Anhang VI)
2.11.6.17.1
Erneuerbaren-Ziel
Die Schweiz übernimmt mit dem Abkommen schliesslich in inhaltlich bedeutendem,
aber im Umfang eingeschränktem Ausmass Teile der Richtline (EU) 2018/2001 zur
Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen (Erneuerbare-Ener-
gien-Richtlinie, RED II). Dies ist ein weiterer Kooperationsbereich mit Bezug zum
Strombinnenmarkt (Art. 21 und Anhang VI). Die mit der RED II angestrebte ver-
mehrte Nutzung erneuerbarer Energien dient unter anderem dem Ziel, bis 2050 eine
ausgeglichene Treibhausgasbilanz zu erreichen. Dieses langfristige Ziel teilen die
Schweiz und die EU. Dafür sieht die RED II unter anderem als Gesamtziel für die EU
vor, einen Anteil von 42,5 Prozent und falls möglich 45 Prozent von erneuerbaren
Energien am Bruttoendenergieverbrauch zu erreichen. Das aktuelle RED-Regime
sieht Beiträge der einzelnen Mitgliedstaaten zur Gesamtzielerreichung vor. Für die
Schweiz gilt nach dem Abkommen ein Richtwert beziehungsweise indikatives Ziel
von 48,4 Prozent am Bruttoendenergieverbrauch, ohne sektorielle Ziele oder Vorga-
ben beispielsweise für Strom, Wärme oder Transport. Das Ziel für die Schweiz ist
ambitioniert, steht aber im Einklang mit der aktuellen Energie- und Klimapolitik der
Schweiz mit ihren Zielen und Instrumenten. Die Berechnung zum Monitoring der Zie-
lerreichung richtet sich nach dem sogenannten SHARES-Tool der EU-
Statistikagentur Eurostat. Das im Abkommen definierte Schweizer Ziel ist ein eigen-
ständiges und wird nicht an das der EU angerechnet. Technisch ist es nur ein Richt-
wert und das Engagement der Schweiz somit politischer Natur, sodass eine allfällige
Nichterreichung keine völkerrechtlichen Folgen hätte. Die EU könnte nicht via die
Streitbeilegung des Abkommens auf Erfüllung bestehen. Wenn die EU ihr Ziel für die
Zeit nach 2030 bestimmt hat, wird das Schweizer Ziel im Lichte des neuen EU-Ziels
beziehungsweise -RED-Regimes aktualisiert werden müssen.
2.11.6.17.2
Herkunftsnachweise (HKN) und Erneuerbare-Energie-
Gemeinschaften
Mangels Stromabkommen wurden Schweizer Herkunftsnachweise* (HKN) in der EU
seit 2021 nicht mehr anerkannt. Mit dem Abkommen ist die Anerkennung wieder ge-
geben, nebst Strom sind auch HKN für Wärme, sowie Erneuerbare Brenn- und Treib-
stoffe anerkannt.
632 / 931
Das EU-Recht sieht verschiedene Gemeinschaftsformen zur besseren Etablierung von
erneuerbaren Energien an der Basis vor, sogenannte «Erneuerbare-Energie-Gemein-
schaften». Anhang VI sieht vor, dass die betreffenden RED-Bestimmungen für die
Schweiz nicht anwendbar sind. Die Schweiz muss aber vergleichbare Regeln haben.
Die Schweiz, die ebenfalls mehrere ähnliche Gemeinschaftsformen kennt, so den Zu-
sammenschluss zum Eigenverbrauch und die lokalen Elektrizitätsgemeinschaften
(LEG), kann mit diesen Formen, die denen der EU ähnlich sind, weiterarbeiten. Sie
kann aber auch eine Neustrukturierung der Instrumente und eine grössere Annäherung
an die EU vornehmen.
2.11.6.17.3
Besonderheiten im Bereich Holz
Gemäss RED II ist für Säge-, Furnier- und Industrierundholz sowie Stümpfe und Wur-
zeln bei der Verbrennung zur Energieerzeugung die finanzielle Unterstützung verbo-
ten. Für die Schweiz wird dieser Förderausschluss nur hinsichtlich Stromproduktion
übernommen. Da aber bei der Wärmeproduktion auf einen HKN verzichtet wird, be-
darf es für die Wärmeproduktion keiner Umsetzung.
Holz-Biomasse darf nur entsprechend ihres höchsten wirtschaftlichen und ökologi-
schen Mehrwerts in der Reihenfolge der so genannten Kaskadennutzung genutzt wer-
den (ressourceneffiziente Nutzung nach dem Kreislaufprinzip): Holz muss zuerst
stofflich verwendet werden, bevor es in letzter Instanz der Energiegewinnung dient.
Da die Kaskadennutzung in der Schweiz sinngemäss bereits gängige Praxis ist, wird
auf zusätzliche Regulierung, die Vollzugsaufwand mit sich brächte, verzichtet.
2.11.6.17.4
Kriterien für Nachhaltigkeit und
Treibhausgaseinsparungen für Biotreibstoffe und
Biobrennstoffe
Für eine Anrechnung an das Ziel für erneuerbare Energien müssen bestimmte Anfor-
derungen erfüllt werden. Insbesondere Biotreibstoffe sowie flüssige Brennstoffe und
feste Biomasse-Brennstoffe müssen Nachhaltigkeitskriterien und Kriterien für Treib-
hausgaseinsparungen erfüllen, wenn sie in Anlagen zur Produktion von Strom,
Wärme und Kälte mit einer Leistung über 7,5 MW verwendet werden. Dies gilt un-
abhängig von der geographischen Herkunft des Brennstoffes und auch dann, wenn er
innerhalb der Schweizer Landesgrenzen erwirtschaftet und anschliessend auch dort
verbraucht wird. Der Nachweis der Einhaltung von Nachhaltigkeitskriterien und Kri-
terien für Treibhausgaseinsparungen ist ebenfalls Voraussetzung für eine finanzielle
Förderung dieser Anlagen. Die Erfüllung der verlangten Kriterien geschieht mittels
Zertifizierung. In der Schweiz soll diese Zertifizierung vorerst auf freiwilliger Basis
erfolgen. Grundsätzlich stellen die nationalen und kantonalen Gesetze im Umwelt-
schutzbereich die Einhaltung der Kriterien bereits sicher.
2.11.6.17.5
Bewilligungsverfahren und Raumplanung bei den
erneuerbaren Energien
Die RED II macht Vorgaben zur Raumplanung (sog. Beschleunigungsgebiete) und zu
den Bewilligungsverfahren für Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien, vor
allem mit dem Ziel der Beschleunigung. Die Stossrichtung der Schweizer Bestim-
633 / 931
mungen ist die gleiche wie diejenige der RED II, ausser was die strategische Umwelt-
prüfung betrifft, die die Schweiz als spezifisches obligatorisches Verfahren nicht
kennt, aber durch verschiedene Raumplanungsinstrumente umsetzt. Insgesamt liegen
die Unterschiede zwar im Kleinen, dennoch wurde von einer eigentlichen Übernahme
der Regeln der RED II zu Raumplanung und Verfahren abgesehen. So wurde vermie-
den, dass die einschlägigen Normen im StromVG und EnG, welche die Schweiz am
9. Juni 2024 angenommen hat, gleich wieder geändert und die Verfahren, die kantonal
sind, angepasst werden müssten. Die Schweiz ist nur verpflichtet, Regeln zu haben,
die mit denen der RED II vergleichbar sind. Das ist mit den heutigen Schweizer Re-
geln und denjenigen, die im Rahmen der Revision des EnG zur Beschleunigung der
Planungs-, Baubewilligungs- und Gerichtsverfahren (Beschleunigungserlass) und der
Vorlage zur Beschleunigung beim Aus- und Umbau der Stromnetze in Vorbereitung
(Revision des Elektrizitätsgesetzes) gegeben. Die Schweiz kann ausserdem weiterhin
ihre eigenen Regelungen für Umweltverträglichkeitsprüfungen anwenden, ohne die
strategische Umweltprüfung der EU einzuführen.
2.11.7
Grundzüge des Umsetzungserlasses
2.11.7.1
Etappierte Umsetzung
2.11.7.1.1
Grundsatz eines etappierten Vorgehens
Die Umsetzung des Stromabkommens im Schweizer Recht erfolgt in zwei Etappen.
Dem Parlament sollen zusammen mit der Botschaft zum Paket Schweiz–EU und der
Genehmigung des Stromabkommens in einem ersten Paket die inhaltlich und zeitlich
wichtigen Gesetzesänderungen unterbreitet werden. Dazu zählen die für das Funktio-
nieren des Strombinnenmarktes notwendigen Elemente, wie die Strommarktöffnung
für alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher. Spätestens drei Jahre später, sollen
in einem zweiten Paket weitere Gesetzesänderungen zur Umsetzung des Stromab-
kommens folgen. Dazu enthält das Abkommen Übergangsfristen.
2.11.7.1.2
Überblick der wichtigsten Themen des zweiten Pakets
Richtlinie (EU) 2019/944
Der wichtigste Punkt des zweiten Pakets betrifft eine zentrale Kompetenz des Regu-
lators (Art. 6, 57–59 RL), das heisst der ElCom. Das EU-Recht räumt dem Regulator
umfassende Kompetenzen in Bezug auf die Bedingungen für den Anschluss und den
Zugang zum Netz einschliesslich der Tarife ein. Hier bedarf es einer Festlegung oder
Genehmigung der entsprechenden Methoden durch die ElCom. Nicht nur die Netzta-
rifierung inklusive Verzinsung (
Weighted Average Cost of Capital
, WACC), sondern
auch weitere Aspekte des Netznutzungsentgelts werden künftig in der Kompetenz der
ElCom sein. Der Gesetzeber kann diese Aspekte künftig nicht mehr regeln. Damit
sind die heutigen Regeln zum Netznutzungsentgelt grundsätzlich nicht materiell in
Frage gestellt. Trotzdem wird in diesem Rahmen geprüft werden müssen, ob sie den
Prinzipien, die das EU-Recht aufstellt, nicht widersprechen. Beim ebenfalls erfassten
Netzanschluss haben bisher vor allem die Kantone und Gemeinden die entsprechen-
den Festlegungen gemacht. Diese Aufgabe wechselt mit dem Abkommen zur ElCom
beziehungsweise zum Bund, wofür dieser mit Artikel 91 der BV über eine Zuständig-
keit verfügt. Die Schweiz hat für diesen Systemwechsel eine Übergangsfrist von fünf
634 / 931
Jahren ausgehandelt. Zu prüfen wird ferner sein, ob das Sanktionssystem des
StromVG zu verschärfen ist (z.B. mit generellen umsatzabhängigen Verwaltungs-
sanktionen), damit wirksam sichergestellt ist, dass sich die Unternehmen an die Re-
geln halten.
Was die Einführung intelligenter Messsysteme (Art. 19–22 der Richtlinie) betrifft,
sind nur kleinere Anpassungen hinsichtlich der Fristen für die Ausserbetriebsetzung
der alten Systeme nötig.
Gesetzliche Anpassungen sind ferner erforderlich in Bezug auf die Interoperabilitäts-
anforderungen und die Verfahren für den Zugang zu Daten (Art. 24 der Richtlinie),
damit der Wettbewerb auf dem Endkundenmarkt gefördert wird und den Beteiligten
keine übermässigen Verwaltungskosten entstehen. Die VNB und die Dienstleister
müssen künftig die vollständige Interoperabilität der Energiedienstleistungen erleich-
tern. Betreffend Datenverwaltung (Art. 23 der Richtlinie) sind nur geringe Anpassun-
gen notwendig.
Ein weiterer Unterschied zum EU-Recht, die eine Anpassung des StromVG erforder-
lich macht, betrifft die Arealnetze. Bei den «geschlossenen Verteilnetzen» in der EU
ist die Ausnahme von der Netzregulierung weniger weitgehend als in der Schweiz und
den Status als solches Netz erlangt man nicht automatisch, sondern nur aufgrund einer
durch den Regulator erteilten Freistellung.
Das EU-Recht sieht weiter Bürgerenergiegemeinschaften vor. Es ist abzuwarten, wie
sich diese in das Gesamtsystem der bestehenden und teilweise erst neu geschaffenen
Schweizer Gefässe, wie z. B. Lokale Elektriztitätsgemeinschaften (LEG), einfügen
werden. Im Gegensatz zu den in der Schweiz bereits bestehenden LEGs dürfen diese
Bürgerenergiegemeinschaften alle Netzebenen nutzen und können sich über mehrere
Netzgebiete erstrecken. Das Recht auf gemeinsame Energienutzung (Art. 15a RL) er-
möglicht zudem die gemeinsame Nutzung von Energie durch Haushalte und KMU als
aktive Kunden. Die Schweiz könnte ein solches Recht auch Grossverbrauchern geben.
Derartige Gemeinschaften gibt es bislang noch nicht.
Was die Veröffentlichung von Flexibilitätsleistungen anbelangt, muss das Schweizer
Recht ebenfalls leicht angepasst werden. Ausserdem sind die rechtlichen Rahmenbe-
dingungen dafür zu schaffen, dass die Swissgrid und die VNB in Netzgebieten mit
beschränkter oder nicht vorhandener Netzkapazität für Neuanschlüsse den Abschluss
von flexiblen Netzanschlussverträgen ermöglichen können.
Im Hinblick auf die Vorgaben der EU zu den schutzbedürftigen Kunden wird näher
zu definieren sein, was in der Schweiz unter dem Begriff «schutzbedürftiger Kunde»
zu verstehen ist. Dabei wird auch zu prüfen sein, ob neben den bereits bestehenden
Transparenz- und Informationspflichten weitere Massnahmen zum Schutz dieser
Kunden zu ergreifen sind.
Verordnung (EU) 2019/943
Weiter werden die Vorgaben zu den grenzüberschreitenden Übertragungsleitungen
(Merchant Lines) mit Blick auf die entsprechende EU-Regelung zu den Verbindungs-
leitungen moderat angepasst werden müssen, insbesondere bezüglich des Verfahrens
und der von der Regelung betroffenen Elektrizitätsnetzen (Wechselstromleitungen).
635 / 931
Richtlinie (EU) 2018/2001 (Erneuerbare-Energien-Richtlinie RED)
Ein rechtlicher Handlungsbedarf in Bezug auf die Vorgaben der Erneuerbare-Ener-
gien-Richtlinie RED II könnte sich punktuell in Bezug auf die Datenplattform erge-
ben. So sind die aktuellen Regelungen des StromVG zur Datenplattform derzeit nicht
auf die Bereitstellung von Messdaten in Echtzeit oder von Funktionen, welche auf
Basis der Messdaten den Gehalt an Treibhausgasemissionen der Elektrizität in Echt-
zeit bereitstellen könnten, ausgelegt. Auch im Bereich der Datenverfügbarkeit und
insbesondere bei der Einbindung von Messdaten neuer Akteure werden Anpassungen
erforderlich sein. Während viele dieser Anliegen durch die Anbindung dieser Akteure
an die Datenplattform und die damit einhergehende regulatorische Ausweitung ihrer
Aufgaben und Funktionalitäten aufgefangen werden können, ist es nicht ausgeschlos-
sen, dass auch grundlegende Prämissen im Messwesen der Schweizer Stromwirtschaft
überdacht werden müssen.
Verordnung (EU) 2019/941 (Risk Preparedness Regulation)
Die EU-Verordnung sieht vor, dass eine zuständige Behörde benannt wird, welche die
Aufgaben in Bezug auf die Risikovorsorgeplanung und das Risikomanagement sowie
die Koordination mit dem Ausland übernimmt (Art. 3 VO). Diese Behörde ist für die
Schweiz zu bezeichnen.
2.11.7.2
Umsetzung des Stromabkommens im nationalen Recht
Um das Abkommen umzusetzen, sind Anpassungen des StromVG, des EnG, des
BATE und des Anhangs A des bilateralen Statistikabkommens zwischen der Schweiz
und der EU notwendig.
2.11.7.2.1
Marktregulierung – Grosshandelsmarkt
REMIT
Das schweizerische Bundesgesetz über die Aufsicht und Transparenz in den Ener-
giegrosshandelsmärkten (BATE) wurde im März 2025
559
verabschiedet. Mit dem
BATE soll das Vertrauen in die Energiegrosshandelsmärkte, auf denen mit schweize-
rischen Energiegrosshandelsprodukten gehandelt wird, gefestigt und eine Annähe-
rung an das EU-Recht erreicht werden. In der Version vom März 2025 beinhaltet das
BATE jedoch weder eine Integration in den EU-Binnenmarkt noch eine Zusammen-
arbeit bei der Marktaufsicht (System REMIT). Die Regelungen des BATE sind aber
bereits vollständig kompatibel mit der Verordnung (EU) Nr. 1227/2011 (REMIT-
Verordnung).
Mit dem Stromabkommen muss die Schweiz die REMIT-Verordnung übernehmen.
Diese wird allerdings nur für den Stromhandel gelten. Damit bleiben für den Strom-
bereich nur noch gewisse Ausführungsbestimmungen des BATE anwendbar (insbe-
sondere die Bestimmungen zu den Aufsichtsinstrumenten, zu den Sanktionen und zur
Amts- und Rechtshilfe), während für den Gasbereich das BATE seine Geltung voll-
ständig behält. Da das BATE schon vor der Übernahme der REMIT-Verordnung mit
dieser kompatibel ist, sind nur kleinere Anpassungen nötig.
559
BBl
2025
1102
636 / 931
2.11.7.2.2
Marktregulierung – Entflechtung und
Endverbrauchermarkt
Unabhängigkeit des Übertragungsnetzbetreibers
Das Schweizer Übertragungsnetz liegt in der Hand (Eigentum und Betrieb) eines ein-
zigen ÜNB, nämlich Swissgrid. Nach StromVG ist Swissgrid bereits als eigenständi-
ges Unternehmen organisiert. Nach EU-Recht muss ein ÜNB aber einem der drei dort
aufgestellten – entflechtungsrechtlich motivierten – ÜNB-Modellen entsprechen: 1)
das Ownership Unbundling (OU), bei dem der ÜNB vollständig unabhängig von Ver-
sorgung und Erzeugung ist; 2) der Independent System Operator (ISO), bei dem das
Netz im Eigentum des integrierten Unternehmens verbleibt, der Betrieb aber durch
einen unabhängigen Betreiber geführt wird und 3) der Independent Transmission
Operator (ITO), bei dem der ÜNB im integrierten Unternehmen verbleiben darf, aber
strenge Vorgaben zur organisatorischen und operativen Unabhängigkeit einhalten
muss. Das verlangt für Swissgrid in jedem Fall nach einer gegenüber heute konse-
quenteren Separierung von an ihr beteiligten Unternehmen, die in der Stromerzeugung
oder -versorgung tätig sind. Swissgrid ist heute am nächsten am ITO-Modell (unab-
hängiger Übertragungsnetzbetreiber). Dieses Modell ist für die Schweiz am sinnvolls-
ten, trotz heutiger Nähe muss das StromVG aber so verschärft werden, dass Swissgrid
die Anforderungen an das ITO-Modell gänzlich erfüllt. Es wird davon abgesehen, das
Modell der eigentumsrechtlichen Entflechtung (
Ownership Unbundling
, OU) der
Swissgrid einzuführen, bei dem die EVUs, die heute Aktionäre von Swissgrid sind,
die Aktien veräussern müssten. Denn das würde, wenn man gleichzeitig die Beherr-
schung durch die öffentliche Hand beibehalten will (schweizerische Beherrschung),
für die Kantone und Gemeinden sehr kapitalintensiv.
Die ElCom wird Swissgrid unter dem gewählten ÜNB-Modell zertifizieren, damit
diese im Binnenmarkt mit den entsprechenden Aufgaben auftreten kann.
Entflechtung der Verteilnetzbetreiber (VNB)
Die europäischen Vorschriften zur Entflechtung von VNB gehen weiter als das
Schweizer Recht, das bisher nur eine informatorische und buchhalterische Entflech-
tung kennt. Nach EU-Recht müssen VNB, die zu einem vertikal integrierten Unter-
nehmen gehören, in ihrer Rechtsform, Organisation und Entscheidungsgewalt von den
übrigen Tätigkeitsbereichen, die nicht mit dem Netzbetrieb zusammenhängen, unab-
hängig sein. Die EU schreibt dabei eine personelle und organisatorische Trennung
zwischen dem Verteilnetzbetrieb und den übrigen Tätigkeitsbereichen sowie die Si-
cherstellung der Unabhängigkeit der Entscheidbefugnisse des VNB über Vermögens-
werte, die für den Betrieb, die Wartung oder den Ausbau des Netzes erforderlich sind,
vor. Die Schweiz setzt dies im StromVG um und macht dabei von der Möglichkeit
Gebrauch, die erwähnten Anforderungen nur für VNB mit mindestens 100’000 ange-
schlossenen Kundinnen und Kunden anzuwenden, womit in der Schweiz rund 15
VNB betroffen sind. Für kleinere VNB bleibt es beim heutigen Entflechtungsregime.
Nach EU-Recht dürfen VNB ausserdem weder Eigentümer von Energiespeicheranla-
gen sein noch diese betreiben, wobei Ausnahmen möglich sind. Zudem ist zu beach-
ten, dass die Schweiz einen Regulierungsrahmen vorsehen muss, um den Anschluss
637 / 931
von öffentlich zugänglichen und privaten Ladepunkten an die Verteilernetze zu er-
leichtern. VNB dürfen dabei weder Eigentümer von Ladepunkten für Elektrofahr-
zeuge sein noch diese betreiben, ausser wenn sie Eigentümer von privaten Ladepunk-
ten sind, die für die eigene Nutzung reserviert sind (Ausnahmen sind auch hier
möglich).
Marktöffnung und Grundversorgung
Zusammen mit dem Stromabkommen wird die Schweiz die Marktöffnung für alle
Endverbraucherinnen und Endverbraucher einführen. Verbunden ist die Marktöff-
nung mit der Beibehaltung einer Grundversorgung, und zwar einer regulierten Grund-
versorgung mit regulierten Preisen. Diese orientiert sich massgeblich an den Vorga-
ben, die mit dem Bundesgesetz für eine sichere Versorgung mit erneuerbaren
Energien ins StromVG und EnG aufgenommen wurden. Die Tarife in der Grundver-
sorgung bemessen sich wie im aktuellen Gesetz für den über die (erweiterte) Eigen-
produktion abgedeckten Anteil anhand der Gestehungskosten und für den über den
Markt (inkl. langfristige Beschaffungsverträge) beschafften Anteil anhand der Be-
schaffungskosten. Der Vorrang für die Inlandproduktion beim Standardprodukt und
bei den Mindestanteilen für die erneuerbaren Energien entfällt, da er unter dem Strom-
abkommen potenziell diskriminierend ist. Die Grundversorgung gilt für Haushalte
und kleinere Unternehmen bis zu einem Jahresverbrauch von 50 Megawattstunden
(MWh). Dies entspricht der EU-Vorgabe, dass eine Grundversorgung nur Haushalten
und Kleinstunternehmen offensteht. Gleichzeitig werden eine Ersatzversorgung defi-
niert und der Anspruch auf dynamische Stromverträge und Verträge mit fixem Preis
und fester Laufzeit umgesetzt. Der Lieferantenwechsel ist unter Einhaltung der Ver-
tragsbestimmungen so schnell wie möglich durchzuführen. Der Grundversorger kann
für die unterjährigen Ein- und Austritte in die, beziehungsweise aus der Grundversor-
gung heraus, ein Ein- oder Austrittsgeld verlangen, das seine Kosten, unter anderem
für die vorgeschriebene langfristige Strombeschaffung oder für die nachträgliche
Strombeschaffung, abdeckt. Die ElCom macht Vorgaben über die zur Berechnung des
Ein- und Austrittsgelds anrechenbaren Kosten. Lieferanten auf dem freien Markt müs-
sen sich bei der ElCom registrieren lassen und haben ein Risikomanagement zu be-
treiben. Seitens der ElCom wird ein Vergleichsinstrument für die Endverbraucherin-
nen und Endverbraucher geschaffen. Weiter erhöhen Anforderungen an die
Vertragsbedingungen die Transparenz im Strommarkt und verhindern Marktmiss-
brauch. Endverbraucherinnen und Endverbraucher können sich bei Streitigkeiten an
eine neu geschaffene Schlichtungsstelle wenden. Die ElCom soll ein Monitoring zur
wirtschaftlichen Entwicklung unter der Marktöffnung für alle Endverbraucherinnen
und Endverbraucher durchführen und dem Bundesrat alle zwei Jahre Bericht erstatten.
Die ElCom beobachtet zudem während der ersten zehn Jahre wie sich die Marktöff-
nung für alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher auf die Arbeitsbedingungen
in der Strombranche auswirkt und erstattet dem Bundesrat darüber Bericht. Sie macht
dies erstmals spätestens vier Jahre nach Inkrafttreten des Abkommens beziehungs-
weise der Marktöffnung für alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher und da-
nach mindestens alle drei Jahre.
2.11.7.2.3
Netze und Versorgungssicherheit
Einspeisevorränge für langfristige Bezugsverträge und Grenzwasserkraftwerke
638 / 931
Bisher schützt das StromVG physische Vorränge im grenzüberschreitenden Übertra-
gungsnetz, die mit langfristigen Verträgen
(Long Term Contracts
, LTCs) über Strom-
bezüge und -lieferungen verbunden sind, sofern die Verträge vor dem 31. Oktober
2002 abgeschlossen wurden (Art. 17 Abs. 2 StromVG).
In der EU, wo Grenzkapazitäten verauktioniert werden, wurden solche Vorränge be-
reits ab 2003, innert kurzen Fristen und ohne Entschädigung abgeschafft. Mit dem
Abkommen erfolgt die Abschaffung nun auch für die Schweizer Grenzen (s. Ziff.
2.11.6.5), weshalb die Vorränge im StromVG zu streichen sind.
Netzkodizes
Die Bestimmungen zu den Netzkodizes gelten ab Inkrafttreten des Stromabkommens
in der Schweiz. Sie sind direkt anwendbar und eine Umsetzung in Schweizer Recht
ist daher nicht notwendig.
Des Weiteren sind im Zusammenhang mit dem Netzkodex zur Cybersicherheit meh-
rere Behörden und Stellen zu bezeichnen.
Engpasserlöse und finanzieller Ausgleichsmechanismus für Stromtransite
Die grenzüberschreitenden Transportkapazitäten werden im EU-Strombinnenmarkt
verauktioniert (langfristige Kapazität) oder implizit an die optimalen Marktgebote
vergeben (Day Ahead, Intraday). Da diese Transportkapazitäten beschränkt sind, er-
geben sich Preisunterschiede zwischen den unterschiedlichen Gebotszonen und dar-
aus Engpasserlöse auf den Grenzen. Die Engpasserlöse werden zentral von den Markt-
betreibern (Gemeinsames Allokationsbüro, NEMOs) gesammelt und mittels einer
definierten EU-Methodologie auf die einzelnen Grenzen zwischen den Gebotszonen
aufgeteilt, wobei sie hälftig den ÜNB der entsprechenden Grenze zukommen. Die
Erlöse müssen gemäss EU-Recht für bestimmte Zwecke eingesetzt werden. Die EU
definiert diese und das StromVG ist daran anzupassen.
Der Inter TSO Compensation (ITC) Mechanismus ist ein finanzieller Ausgleichsme-
chanismus zwischen den TSO für die durch Stromtransite resultierenden Kosten, na-
mentlich für die Breitstellung der Netzinfrastruktur und entstehende Netzverluste. Die
Schweiz ist schon lange Teilnehmerin am ITC Mechanismus. Aufgrund ihrer engen
Einbindung ins europäische Stromsystem und dem gut ausgebauten Übertragungsnetz
ist die Swissgrid Nettoempfängerin des Mechanismus. Mit Abschluss des Stromab-
kommens wird diese Teilnahme abgesichert. Die heutige StromVG-Regelung steht –
trotz der schon bisherigen Schweizer Teilnahme – teilweise im Widerspruch zu den
EU-Prinzipien und ist daher anzupassen. Des Weiteren hat sich gezeigt, dass eine
klare Aufteilung der Netzinvestitionen zwischen grenzüberschreitenden Transiten und
inländischen Anforderungen praktisch unmöglich ist, weswegen dieser Abschnitt
ebenfalls angepasst wird.
Reserven
Die Verordnung (EU) 2019/943 legt Regeln zur Gewährleistung eines adäquaten
Stromsystems fest, darunter auch solche für Stromreserven. Zur Umsetzung dieser
Regeln ist die Zuweisung von neuen Rollen und Verantwortlichkeiten auf Schweizer
Institutionen, respektive die Anpassung von bestehenden Zuweisungen notwendig.
Diese Aufgabenverteilung wird direkt im StromVG vorgenommen. Hierzu braucht es
639 / 931
Anpassungen bestimmter Artikel des StromVG und der Winterreserveverordnung
(WResV), an die Regeln im Stromabkommen, insbesondere im Hinblick auf die Ak-
tivierung der Reserven und die grenzüberschreitenden Interaktionen bei der Erstellung
und Verwaltung der Reserven und ihrer Energieressourcen. Auch Artikel, die sich mit
dem Reservegesetz noch in der parlamentarischen Debatte befinden, werden gegebe-
nenfalls angepasst werden müssen.
2.11.7.2.4
Erneuerbare Energien und Statistik
Themen betr. die Erneuerbaren-Richtlinie
Bei den durch die Schweiz mit dem Abkommen übernommenen Bestimmungen der
Richtlinie für erneuerbare Energien besteht kein Bedarf für Anpassungen auf Geset-
zesstufe. Für bestimmte Bereiche könnten aber Anpassungen auf Verordnungsstufe
nötig sein.
Statistik
Die Schweiz liefert bereits heute energiestatistische Daten an die Internationale Ener-
gieagentur (IEA) und nimmt an Arbeitsgruppensitzungen des statistischen Amts der
EU Eurostat teil. Eine Datenlieferung direkt an Eurostat findet aber nicht statt. Für die
Umsetzung und Weiterentwicklung des EU-Strombinnenmarktes sowie zur Messung
des Fortschritts bei der Zielerfüllung des Ziels für Erneuerbare Energien am Brutto-
endenergieverbrauch ist eine Ausweitung der Kooperation der Schweiz mit dem Sta-
tistiksystem der EU auf den Energiebereich notwendig. Hierzu soll das bilaterale Sta-
tistikabkommen der Schweiz mit der EU über einen Entscheid des Gemischten
Ausschusses zum Statistikabkommen ab Inkrafttreten des Stromabkommens um den
Teil Energie ergänzt werden.
Mit der Ergänzung erhält die statistische Zusammenarbeit mit der EU im Energiebe-
reich eine vertragliche Grundlage, in der die Rechte und Pflichten der Vertragspar-
teien festgelegt sind. Statistische Daten aus der Schweiz werden demzufolge auch aus
dem Energiebereich gemäss den Vorgaben des Statistikabkommens zur Speicherung,
Verarbeitung und Verbreitung an Eurostat übermittelt und als Teil der Statistik
Schweiz/EU an die verschiedenen Benutzergruppen verbreitet.
Aufgrund der spezifischen Anforderungen an die Datenlieferung an Eurostat sind An-
passungen beziehungsweise Erweiterungen von bestehenden energiestatistischen
Grundlagen der Schweiz notwendig. Insbesondere sind eine feinere Aufgliederung
beispielsweise der Branchenstrukturen, bei den Technologien der erneuerbaren Ener-
gien oder zeitlich höher aufgelöste Daten zum Beispiel im Bereich des Kohlever-
brauchs gefordert. Primär wird versucht, dies auf Basis bestehender Datengrundlagen
und Erweiterungen bei bestehenden Datenerhebungen zu erreichen. Es ist jedoch nicht
auszuschliessen, dass auch neue zusätzliche Datenerhebungen notwendig sein wer-
den. Es ist mit zusätzlichem personellem und finanziellem Aufwand bei den Erhe-
bungsstellen insbesondere beim BFE zu rechnen und auch eine zusätzliche Belastung
der Wirtschaft aufgrund erweiterter oder neuer Datenerhebungen ist nicht auszu-
schliessen, soll jedoch auf ein Minimum beschränkt werden.
640 / 931
2.11.7.2.5
Staatliche Beihilfen
Wie in Kapitel 2.2 erläutert, enthält das Stromabkommen Beihilfebestimmungen für
Unternehmen, welche im Geltungsbereich des Binnenmarktabkommens tätig sind.
Diese regeln einerseits das direkt anwendbare materielle Beihilfeverbot mit diversen
ebenfalls direkt anwendbaren Ausnahmen, andererseits die Grundpfeiler des Überwa-
chungsverfahrens. Mit dem Stromabkommen werden die wichtigsten bestehenden
Schweizer Beihilferegelungen –unter Vorbehalt geringfügiger Anpassungen – als mit
dem Abkommen kompatibel erklärt und für mehrere Jahre abgesichert.
Daneben gibt es auf den verschiedenen Schweizer Staatsebenen weitere bestehende
Beihilferegelungen. Für diejenigen, die beim Inkrafttreten des Stromabkommens be-
stehend sind, gibt es eine Übergangsphase. Nach Inkrafttreten des Schweizer Beihil-
feüberwachungsgesetzes (s. Ziff. 2.2.), voraussichtlich und spätestens fünf Jahre nach
Inkrafttreten des Stromabkommens, wird die Überwachungsbehörde innert einem
Jahr eine Übersicht bestehender Beihilferegelungen erstellen. Dabei wird sie eine
erste Einschätzung durchführen, ob diese bestehenden Beihilferegelungen mit dem
materiellen Beihilferecht vereinbar sind (s. Ziff. 2.2.5.5). Nach dieser Übergangs-
phase unterliegen alle bestehenden Beihilferegelungen der fortlaufenden Prüfung
durch die Überwachungsbehörde. Je nach ihrer Beurteilung und allenfalls derjenigen
von Schweizer Gerichten kann für bestimmte Beihilferegelungen ein Anpassungsbe-
darf resultieren oder sie müssen ganz aufgehoben werden. In diese Prüfung kommen
nach Ablauf der jeweiligen Frist auch die im Stromabkommen für beihilferechtskon-
form erklärten Beihilfen. Bei der Konzipierung künftiger Beihilfen von Bund, Kanto-
nen und Gemeinden wird das Beihilferecht von Anfang an einzubeziehen sein, insbe-
sondere auch die im Stromsektor relevanten EU-Leitlinien für Klima-, Umweltschutz-
und Energiebeihilfen von 2022, die in Anhang IV des Abkommens nicht aufgeführt
sind. Gleich wie in der EU wird auch die Schweizer Beihilfeüberwachungsbehörde
bereits im Stadium der Konzipierung einer Beihilfe einbezogen werden können, um
präventiv zu erreichen, dass die geplanten Beihilfen möglichst so ausgestaltet werden,
dass keine Widersprüche zum Abkommen entstehen (s. Erläuterungen zu Art. 6 VE-
BHÜG in Ziff. 2.2.7).
2.11.7.3
Begleitmassnahmen mit Gesetzesanpassungen
Die Strommarktöffnung für alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher wird mit
inländischen Begleitmassnahmen flankiert. Haushalte und kleinere Unternehmen mit
einem Jahresverbrauch von weniger als 50 MWh können ihren Lieferanten frei wäh-
len oder in einer regulierten Grundversorgung mit regulierten Preisen bleiben respek-
tive in diese zurückkehren. Die Tarife in der Grundversorgung sind für ein Jahr fixiert.
Bei einem unterjährigen Wechsel in den Markt darf der Grundversorger eine kosten-
deckende Wechselgebühr verlangen. Lieferanten auf dem freien Markt müssen sich
bei der ElCom registrieren und haben ein Risikomanagement zu betreiben. Für Aus-
fälle von Lieferanten im Strommarkt wird eine regulierte Ersatzversorgung definiert.
Endverbraucher im Markt haben Anspruch auf dynamische Stromverträge oder Ver-
träge mit fixem Preis und fester Laufzeit. Um Transparenz zu gewährleisten und Miss-
brauch zu verhindern macht das StromVG Vorgaben an die Vertragsinhalte im freien
Markt. Für die Endverbraucher wird mindestens eine Vergleichsplattform und eine
Schlichtungsstelle eingerichtet. Die ElCom soll ein Monitoring zur wirtschaftlichen
641 / 931
Entwicklung und der Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen durchführen und
dem Bundesrat Bericht erstatten.
Die Rechte der Konsumenten hinsichtlich Auswahl des Stromprodukts und der Kon-
sumentenschutz werden gestärkt. Im Falle allfälliger negativer Auswirkungen auf das
Personal der Stromwirtschaft, trifft der Bundesrat geeignete Gegenmassnahmen.
Aufgrund der Erfahrungen in der EU, der hohen Wertschöpfung im Stromsektor, des
aktuellen Fachkräftemangels in der Strombranche und der Ausgestaltung der Markt-
öffnung mit einer regulierten Grundversorgung ist nicht davon auszugehen, dass
grosse negative Auswirkungen auf das Personal der Stromwirtschaft eintreten. Die
ElCom beobachtet wie sich die Marktöffnung auf die Arbeitsbedingungen im Strom-
markt auswirkt und erstattet dem Bundesrat darüber Bericht. Falls negative Auswir-
kungen festgestellt werden, trifft der Bundesrat geeignete Gegenmassnahmen. So
könnte er beispielsweise Massnahmen im Bereich der Umschulung sowie der Aus-
und Weiterbildung treffen.
Bei der Umsetzung des Stromabkommens ist nicht eindeutig trennbar, was sich aus
der Umsetzung des Abkommens ergibt und was Begleitmassnahmen mit und ohne
Gesetzesanpassungen sind. Deswegen sind die Begleitmassnahmen in «Umsetzungs-
gesetzgebung» unter Ziffer 2.11.7.2 integriert.
2.11.7.4
Begleitmassnahmen ohne Gesetzesanpassungen
Bei der Umsetzung des Stromabkommens ist nicht eindeutig trennbar, was sich aus
der Umsetzung des Abkommens ergibt und was Begleitmassnahmen mit und ohne
Gesetzesanpassungen sind. Deswegen sind die Begleitmassnahmen in «Umsetzungs-
gesetzgebung» unter Ziffer 2.11.7.2 integriert.
2.11.7.5
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
In Anbetracht der volkswirtschaftlichen Kosten, welche ohne ein Stromabkommen
aufgrund unsicherer Import- und Exporttransportkapazitäten entstehen können, sind
die im Stromabkommen enthaltenen finanziellen Beiträge gerechtfertigt. Der Schwei-
zer Beitrag an ACER (s. Ziff. 2.11.9.1) stellt eine Voraussetzung für den Abschluss
des Stromabkommens dar, welches eine gleichberechtigte Teilnahme am EU-
Strombinnenmarkt ermöglicht, den Stromhandel fördert und zur Versorgungssicher-
heit und Netzstabilität beiträgt. Der Beitrag ist keine wesentliche Zusatzbelastung für
die Stromkonsumentinnen und -konsumenten dar.
2.11.7.6
Umsetzungsfragen
Im EU-Recht gelten Verordnungen in allen EU-Mitgliedstaaten unmittelbar nach der
Inkraftsetzung. Daher sind die Bestimmungen einer EU-Verordnung in der Regel so
präzise, dass sie direkt angewendet werden können und nicht in der schweizerischen
Rechtsordnung konkretisiert werden müssen. Dennoch wird im Gesetz, wenn nötig,
explizit auf die relevanten Artikel der EU-Verordnungen verwiesen, ohne dass dabei
jedoch der Inhalt der Bestimmungen wiederholt wird.
Richtlinien sind im EU-Recht in der Regel nicht direkt anwendbar. Eine Richtlinie ist
für die EU-Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, die
Wahl der Form und der Mittel bleibt jedoch ihnen überlassen. Die Anpassungen im
642 / 931
innerstaatlichen Recht ergeben sich somit hauptsächlich aus den grundsätzlich nicht
direkt anwendbaren EU-Richtlinien. So stammen die im innerstaatlichen Recht um-
gesetzten Elemente vor allem aus den EU-Richtlinien, deren Bestimmungen sich
grundsätzlich an die Gesetzgebungsorgane der Staaten richten.
Das StromVG, das EnG und das BATE werden im Übrigen auch angepasst, um all-
fällige Widersprüche zum geltenden EU-Recht, das in den Anhängen des Stromab-
kommens aufgeführt ist, zu beseitigen.
2.11.8
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des
Umsetzungserlasses
2.11.8.1
Energiegesetz (EnG)
Art. 15
Abnahme- und Vergütungspflicht
Alle Marktteilnehmer sind grundsätzlich für die von ihnen im System verursachten
Bilanzkreisabweichungen verantwortlich (Art. 5 der Strombinnenmarkt-Verord-
nung). Ausgenommen sind Stromproduktionsanlagen aus erneuerbaren Quellen bis
zu einer Leistung von 400 kW (für ab 1. Januar 2026 in Betrieb genommene Anlagen
bis 200 kW). In der Schweiz müssen bislang Netzbetreiber die Elektrizität aus erneu-
erbaren Energien oder fossilen Wärme-Kraft-Kopplungsanlagen (WKK-Anlagen) mit
einer Leistung von bis zu 3 MW abnehmen und vergüten; somit tragen die Betreiber
dieser Anlagen keine Bilanzverantwortung. Die Abnahme- und Vergütungspflicht
muss aufgrund von Artikel 5 der Strombinnenmarkt-Verordnung angepasst werden
(Abs. 1).
Wären den Grundversorgern höhere Vergütungen als die Höhe der Marktpreise vor-
geschrieben, so würden sie zu systematischen Verlusten gezwungen. Die geltende
Vorgabe, wonach sich die Vergütung für Elektrizität aus fossil und teilweise fossil
befeuerten WKK-Anlagen nach dem Marktpreis im Zeitpunkt der Einspeisung richtet,
wird somit auch auf Elektrizität aus erneuerbaren Energien ausgedehnt (Art. 15 Abs. 1
und 2). Wie bei Elektrizität aus den erfassten WKK-Anlagen, sollen auch bei Elektri-
zität aus erneuerbaren Energien die Stundenpreise an der Strombörse für den Folgetag
im Marktgebiet Schweiz massgebend sein (vgl. Art. 12 Abs. 2 der Energieverordnung
vom 1. November 2017
560
[EnV]).
Absatz 3 entspricht Artikel 15 Absatz 4 des EnG in der Fassung, die am 1. Januar
2026 in Kraft treten wird. Die Grundversorger können die übernommene und vergü-
tete Elektrizität über die Belieferung ihren Endverbrauchern in der Grundversorgung
nach Artikel 6
a
Absatz 1 StromVG in die Grundversorgungstarife einrechnen. Der
entsprechende Absatz 3 des EnG wird aufgehoben, da dies bereits in Artikel 7 Ab-
satz 1 Buchstabe c VE-StromVG geregelt ist.
Art. 29d Abs. 4 und Art. 33a Abs. 2
bis
560
SR
730.01
643 / 931
Gemäss EU-Recht müssen Anreize gesetzt werden zur marktbasierten und marktori-
entierten Integration von Strom aus erneuerbaren Energien, wobei unnötige Wettbe-
werbsverzerrungen zu vermeiden und die Netzstabilität zu berücksichtigen ist. Es
muss deshalb sichergestellt werden, dass die Produzenten von Elektrizität aus erneu-
erbaren Energien auf die Preissignale des Marktes reagieren. In Negativpreisperioden
zu fördern, widerspricht diesen Vorgaben diametral und die Schweiz hat sich im Ab-
kommen im Rahmen der Absicherung von staatlichen Beihilfen auch zur Beseitigung
dieses Fehlanreizes verpflichtet (s. Anhang III Teil A Absatz 2). Aus diesem Grund
erhalten Anlagen ab einer Leistung von 150 kW, die mit der gleitenden Marktprämie
oder einem Betriebskostenbeitrag gefördert werden, während der Dauer von negati-
ven Preisen keine Prämie bzw. keinen Beitrag ausbezahlt, wenn der Preis für die
Elektrizität mindestens für eine Stunde ununterbrochen negativ ist. Massgebend sind
die Stundenpreise an der Strombörse für den Folgetag im Marktgebiet Schweiz (Day-
Ahead-Preis). Die Day-Ahead-Preise sind für den Folgetag bekannt und somit kann
der Produzent seine Anlage optimal steuern. Für die gleitende Marktprämie gilt diese
Bestimmung für Anlagen, die ab 1. Januar 2027 in Betrieb gehen. Dagegen gilt die
Änderung für die Anlagen, die einen Betriebskostenbeitrag erhalten ab Inkrafttreten
der Bestimmung.
Art. 75d
Übergangsbestimmung zur Abnahme- und Vergütungspflicht
Eine ähnliche Bestimmung war bereits im Rahmen der Botschaft zum Bundesgesetz
über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien vom 18. Juni 2021 vor-
gesehen (Art. 75
b
E-EnG
561
). Die Betreiber von Anlagen zur Produktion von Elektri-
zität, die ihre Anlage nach dem 1. Januar 2026 und vor dem Inkrafttreten dieser Vor-
lage in Betrieb nehmen, sollen eine gewisse finanzielle Stabilität haben, weshalb sie
während drei Jahren eine Mindestvergütung erhalten.
2.11.8.2
Stromversorgungsgesetz (StromVG)
Art. 1 Abs. 2 Bst c
Im zusätzlichen Buchstaben c gelangt das Konzept der «aktiven Kunden» zum Aus-
druck. Die entsprechenden Anforderungen von Artikel 15 der Strombinnenmarkt-
Richtlinie sind im Schweizer Recht bereits mehrheitlich erfüllt: Insbesondere kann
selbst erzeugte Elektrizität im Rahmen der Vertragsfreiheit bereits jetzt frei abgesetzt
werden; was die Einspeisung ins Elektrizitätsnetz anbelangt, gibt es keine besonderen
Einschränkungen beim Netzzugang (Art. 13 Abs. 1 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 Bst. d). Die
Abnahme- und Vergütungspflicht (Art. 15 EnG) ist dabei aus Sicht des Erzeugers ein
Recht und kein Pflichtprogramm. Alternativ zur Einspeisung kann selbst erzeugte
Elektrizität auch direkt vor Ort verbraucht werden (vgl. Art. 16–18 EnG). Was die
aktive Teilnahme am Elektrizitätsmarkt anbelangt, steht es den Endverbraucherinnen
und Endverbrauchern sowie auch den Erzeugern und Speicherbetreibern überdies frei,
Flexibilitätsdienstleistungen zu erbringen (vgl. Art. 17
c
Abs. 1).
561
BBl
2021
1666
644 / 931
Neu kommt die ausdrückliche Regelung zur Aggregierung hinzu (Art. 17
c
bis
). Diese
bietet den Endverbrauchern und den Erzeugern weitere Opportunitäten für eine aktive
Teilnahme am Elektrizitätsmarkt.
Ferner sei darauf hingewiesen, dass ins Netz eingespeiste und aus dem Netz bezogene
Elektrizität bei der Ermittlung des Netznutzungsentgelts getrennt behandelt wird (vgl.
Art. 14 Abs. 2), so wie dies das EU-Recht auch im vorliegenden Kontext betont
(Art. 15 Abs. 2 Bst. e Abs. 4 Strombinnenmarkt-Richtlinie). Weiter sei angemerkt,
dass auch Endverbraucher und Erzeuger, die über eine Speicheranlage verfügen, nicht
an einer aktiven Teilnahme am Elektrizitätsmarkt gehindert sind (vgl. dazu Art. 15
Abs. 5 Strombinnenmarkt-Richtlinie). Insbesondere gilt die Netzanschlussgarantie
(Art. 5 Abs. 2–4) auch für diese Kundengruppe.
Art. 4 Abs. 1 Bst. bbis
Das EU-Recht enthält zahlreiche Definitionen, die für die Schweiz mit dem Stromab-
kommen relevant werden. Das StromVG erhält neu eine Definition des Elektrizitäts-
versorgungsunternehmens. Nicht definiert wird der Lieferant; das Konzept ist aber so,
dass sowohl Lieferant ist, wer im freien Markt Strom liefert als auch der Grundver-
sorger, der (als spezieller Lieferant) die Lieferung der Grundversorgung vornimmt.
Art. 4a
Freie Lieferantenwahl
Mit der Übernahme des EU-Rechts wird der Strommarkt für alle Endverbraucherin-
nen und Endverbraucher geöffnet. Fortan werden folglich auch die kleineren Endver-
braucherinnen und Endverbraucher ihren Lieferanten frei wählen können. Ohne ak-
tive Wahl eines Lieferanten werden sie weiterhin in der Grundversorgung (Art. 6–6
c
)
vom lokalen Versorger beliefert. Die Bestimmungen im neuen Kapitel 1a gelten für
die Stromlieferungen im freien Markt; auf die Grundversorgung sind sie, sofern es
dort nicht abweichend geregelt ist, nicht anwendbar.
Art. 4b
Organisation und Registrierung der Lieferanten
Die Anforderungen an die Organisation und Tätigkeit der Stromlieferanten sind auf
Ebene des Gesetzes nur in den Grundzügen enthalten; sie werden auf Verordnungs-
stufe näher ausgeführt (
Abs. 1
). Die Vorgaben müssen selbstredend jederzeit und nicht
nur zum Zeitpunkt der Registrierung (vgl.
Abs. 2)
erfüllt sein. Von besonderer Bedeu-
tung ist das Risikomanagement, wozu nach EU-Recht verlangt, dass spezifische An-
forderungen gestellt werden (vgl. Art. 18
a
Strombinnenmarkt-Richtlinie). Dabei geht
es um Absicherungsstrategien, welche die Resilienz der Lieferanten stärken. Risiko-
reiche Strategien (insb. das Anbieten von langfristigen Fixpreisverträgen ohne ent-
sprechende Absicherung) können bei hoher Marktpreisvolatilität zum Ausfall des Lie-
feranten oder zu massiven Preisaufschlägen bei Endverbraucherinnen und
Endverbrauchern mit einem laufenden Vertrag führen. Dies gilt es möglichst zu ver-
hindern, zumal auch Kosten für die Allgemeinheit entstehen können (u.a. unbezahlte
Netzkosten und Ausgleichsenergie sowie Ersatzversorgung).
Von Bedeutung ist weiter der Kundendienst der Stromlieferanten, der zweckmässig
sein und den Bedürfnissen der Kundschaft gerecht werden soll: Beispielsweise sollen
645 / 931
sich die Endverbraucherinnen und Endverbraucher auch bei im Ausland domizilierten
Unternehmen an einen Ansprechpartner im Inland und zu hier üblichen Geschäftszei-
ten wenden können. Der Bundesrat kann zum Kundendienst Vorgaben machen.
Im Zuge der Marktöffnung für alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher müssen
sich die im Schweizer Strommarkt tätigen Lieferanten bei der ElCom registrieren las-
sen
(Abs. 2)
, dies insbesondere aus Gründen des Konsumentenschutzes. Ähnliche Re-
gistrierungspflichten finden sich im Finanzmarktsektor (z.B. Art. 30 des Finanz-
dienstleistungsgesetzes vom 15. Juni 2018
562
). Das Verfahren zur Registrierung wird
auf Verordnungsstufe geregelt, insbesondere die Fristen und der Inhalt der Gesuche.
Dabei kann der Bundesrat den bereits in der Schweiz tätigen Lieferanten einen vo-
rübergehenden Bestandsschutz gewähren und entsprechende Übergangsfristen vorse-
hen. Weiter ist auf Verordnungsstufe zu regeln, wie mit einer Beendigung der Tätig-
keit als Lieferant umzugehen ist.
Art. 4c
Stromlieferverträge
Absatz 1
: Artikel 11 Absatz 1 der Strombinnenmarkt-Richtlinie verlangt, dass das na-
tionale Recht Stromlieferverträge mit fester Laufzeit und Festpreisen und Verträge
mit dynamischen Strompreisen vorgeben muss..
Absatz 1
stellt diese Anforderung si-
cher: Ab einem Kundenstamm von 50 000 Endverbrauchern müssen die Lieferanten
solche Vertragsprodukte anbieten. Aufgrund der Grössenverhältnisse der Schweiz ist
diese Schwelle etwas tiefer angesetzt als in der Richtlinie, wo sie bei 200 000 End-
verbrauchern liegt. Beliefert ein EVU auch Endverbraucher in der Grundversorgung,
werden diese mitgezählt; die Pflicht bezieht sich indes lediglich auf die Tätigkeit im
freien Markt.
Anzumerken ist, dass die Lieferanten ihren Endverbraucherinnen und Endverbrau-
chern keine dynamischen Strompreise aufzwingen dürfen, da deren Zustimmung vo-
rausgesetzt ist (vgl. Art. 11 Abs. 3 Strombinnenmarkt-Richtlinie). Zu beachten ist in
diesem Zusammenhang auch die Pflicht zur Information vor dem Vertragsschluss und
zur Orientierung über die Chancen, Kosten und Risiken der jeweiligen Arten von
Stromlieferverträgen (vgl. Art. 10 Abs. 3 und 5 sowie insb. auch Art. 11 Abs. 1a und
2 Strombinnenmarkt-Richtlinie). Weiter sei mit Blick auf Artikel 11 Absatz 1 Unter-
absatz 3 der Strombinnenmarkt-Richtlinie angemerkt, dass Verträge mit einer festen
Laufzeit (und Festpreis) aufgrund der fest vereinbarten Vertragsdauer weder einseitig
geändert noch vor dem Ende ihrer Laufzeit ordentlich gekündigt werden können.
Absatz 2 Buchstabe a
: Die Stromlieferverträge, die im freien Markt abgeschlossen
werden, müssen nach Artikel 10 Absätze 3 und 5 der Strombinnenmarkt-Richtlinie
bestimmte Inhalte aufweisen und Anforderungen erfüllen. Diese lassen sich de facto
nur mit einem schriftlichen Vertragsschluss einhalten. Ein gesetzliches Schrifterfor-
dernis («einfache Schriftlichkeit») gibt es indes nicht. Ansonsten könnten die Verträge
auf elektronischem Weg nur noch mittels qualifizierter elektronischer Signatur abge-
schlossen werden. Auf rein telefonischem Weg lassen sich die Anforderungen zu den
Inhalten aber nicht abdecken. Dies bietet den Endverbraucherinnen und Endverbrau-
562
SR
950.1
646 / 931
chern einen gewissen Schutz vor ungewollter Telefonwerbung. Hinsichtlich der Kün-
digungsmodalitäten hält das Gesetz keine besonderen Vorgaben bereit. Angemerkt sei
ausserdem, dass das Widerrufsrecht bei Haustürgeschäften (vgl. Art. 40
a
–40
c
OR)
auch auf Stromlieferverträge anwendbar ist. Die konkreten Anforderungen an den
(obligatorischen) Mindestinhalt der Verträge werden in den Ausführungsvorschriften
nach Massgabe von Artikel 10 Absätze 3 und 5 der Strombinnenmarkt-Richtlinie fest-
gelegt (v. a. Leistungen, Qualitätsstufen, Tarife, Vertragsdauer, Kündigungsmodali-
täten, Haftung, Streitbeilegung).
Buchstabe b
: Was genau unter einem Vertrag mit fester Laufzeit und Festpreis
(Abs. 1
Bst. a)
und einem dynamischen Strompreis
(Abs. 1 Bst. b)
zu verstehen ist, wird auf
Verordnungsebene konkretisiert. Der Massstab bilden die Legaldefinitionen in Arti-
kel 2 Ziffern 15 und 15a der Strombinnenmarkt-Richtlinie.
Gestützt auf
Buchstabe c
kann der Bundesrat Ausführungsvorschriften zur Umset-
zung von Artikel 10 Absatz 4 der Strombinnenmarkt-Richtlinie erlassen. Diese Vor-
gabe kommt dann zum Tragen, wenn sich die Lieferanten in den Stromlieferverträgen
ein Recht auf eine einseitige Vertragsanpassung einräumen lassen. Der Bundesrat
kann einseitige Anpassungen für bestimmte Gründe auch für unzulässig erklären. Das
EU-Recht verlangt sodann, dass eine einseitige Vertragsanpassung dem Endverbrau-
cher oder der Endverbraucherin rechtzeitig angekündigt und auf transparente und ver-
ständliche Weise erläutert werden muss. Die konkreten Fristen können auf der Ver-
ordnungsstufe festgelegt werden. Betrifft die Änderung den Lieferpreis muss die
Änderung mindestens zwei Wochen im Voraus angekündigt werden, bei Haushalts-
kunden gar einen Monat im Voraus. Weiter verlangt das EU-Recht, dass die Endver-
braucherin oder der Endverbraucher im Falle einer einseitigen Vertragsänderung das
Recht hat, den Vertrag auf den betreffenden Zeitpunkt hin aufzulösen.
Artikel 4
c
handelt vom Stromliefervertrag und nicht von der Netznutzung. Anders als
bei der Grundversorgung, wo für beide Aspekte eine gemeinsame Rechnung stipuliert
wird (Art. 7 Abs. 4), gibt es im freien Markt keine entsprechende Vorgabe. Dass in
der Praxis zusammen Rechnung gestellt wird, ist gleichwohl möglich. Der Bundesrat
wird ferner Vorgaben für die Rechnung und vor allem zu damit einhergehenden In-
formationen machen (vgl. insgesamt bei Art. 12 und Strombinnenmarkt-Richtlinie).
Art. 4d
Lieferantenwechsel
In
Absatz 1
gelangt Artikel 12 Absatz 1 der Strombinnenmarkt-Richtlinie zum Aus-
druck, wonach der operative Vorgang zum Wechsel des Lieferanten nicht länger als
24 Stunden dauern darf und an jedem Werktag möglich sein muss. Die Vorgabe wird,
auch unter Berücksichtigung der im Abkommen ausgehandelten Übergangsfrist von
drei Jahren, in der Verordnung näher auszuführen sein, insbesondere die Aufgaben
der Beteiligten bei der operativen Abwicklung
(Abs. 3)
. Es ist zu betonen, dass es in
diesem Zusammenhang nicht um die Dauer der Stromlieferverträge und die Modali-
täten zu ihrer Auflösung geht.
Nach
Absatz 2
darf einem Endverbraucher kein besonderes Entgelt auferlegt werden,
wenn er nach Ablauf der Vertragsdauer zu einem anderen Lieferanten wechselt. Ent-
sprechende Vertragsklauseln sind nichtig. Bis anhin war diese Vorgabe nur an die
647 / 931
Netzbetreiber adressiert (Art 12 Abs. 2 StromVG). Nunmehr gilt sie universell, auch
im Verhältnis zu den Lieferanten und den Aggregatoren (vgl. auch Art. 17
c
bis
Abs. 5).
Art. 6
Grundversorgung
In materieller Hinsicht erfahren die Bestimmungen zur Grundversorgung nur gering-
fügige Änderungen. Die wichtigste Änderung betrifft den Kreis der Endverbrauche-
rinnen und Endverbraucher mit Anspruch auf Grundversorgung. Im Zuge der Markt-
öffnung für alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher fällt die massgebende
Verbrauchsschwelle (Jahresverbrauch) von derzeit 100 MWh auf 50 MWh. Diese Ab-
senkung steht auch in Zusammenhang mit den Vorgaben des EU-Rechts, in welchem
der Anspruch auf Grundversorgung nur für Haushaltskunden und Kleinunternehmen
vorgesehen ist (Art. 27 Abs. 1 Strombinnenmarkt-Richtlinie). Neu sind weiter auch
die Regelungen zum Ein- und Austritt bei der Grundversorgung
(Abs. 4 und 5)
und
zur Ersatzversorgung (Art. 7
c
). Die weiteren Änderungen sind formeller Natur, unter
anderem wird der heutige Artikel 6 auf mehrere Artikel verteilt.
Absatz 1
: Am Grundsatz der Pflicht zur Gewährleistung der Grundversorgung ändert
sich nichts. Aus terminologischen Gründen im Zuge der Entflechtung ist indes nicht
mehr vom «Netzbetreiber», sondern vom «Grundversorger» die Rede. Die Pflicht ori-
entiert sich weiterhin an der kantonalen Netzgebietszuteilung (Art. 5 Abs. 1). Auch
wenn diese formal bisher auf den Netzbetreiber ging, ist sie neu so zu verstehen, dass
sie für diejenige EVU-Sparte gilt, die die Grundversorgung besorgt (nicht mehr für
die Netzsparte). Eine neuerliche Zuteilung ist dafür nicht erforderlich. Pro Netzgebiet
gibt es nur einen Grundversorger.
Absatz 2
: Nach Artikel 27 Absatz 1 der Strombinnenmarkt-Richtlinie ist der An-
spruch auf Grundversorgung allen Haushaltskunden einzuräumen. Der Anspruch
kann auf Kleinstunternehmen ausgedehnt werden. Indem der Anspruch auf Grundver-
sorgung erst ab einem Jahresverbrauch von 50 MWh entfällt, ist sichergestellt, dass
der Anspruch in der Schweiz allen Haushaltskunden und auch den kleineren Unter-
nehmen zukommt. Zusammenschlüsse zum Eigenverbrauch (Art. 17 EnG) gelten
weiterhin als ein einziger Endverbraucher. Ab einem Jahresverbrauch von 50'000
kWh (durchschnittlich ca. zehn Haushalte) entfällt der Anspruch auf die Grundver-
sorgung, selbst wenn der Zusammenschluss zum Eigenverbrauch nur Haushaltskun-
den umfasst.
Die Grundversorgung gilt gewissermassen als Standard der Versorgung für Endver-
braucherinnen und Endverbraucher, die ihren Lieferanten nicht aktiv wählen. Das gilt
insbesondere bei Neuanschlüssen. Weiter sei angemerkt, dass diejenigen Endverbrau-
cherinnen und Endverbraucher, die nach Inkrafttreten der Vorlage keinen Anspruch
auf Grundversorgung mehr haben, fortan im freien Markt versorgt werden – es ist
hierzu keine Übergangsbestimmung vorgesehen. Dies schliesst nicht aus, dass sie
weiterhin vom selben Unternehmen und zu denselben Konditionen versorgt werden
können. Das Lieferverhältnis wäre dann indes nicht (mehr) reguliert und unterstünde
mithin nicht der Aufsicht der ElCom.
Absatz 3
: In Übereinstimmung mit der bisherigen Praxis können die EVUs, denen ein
Netzgebiet zugeteilt wurde, die Durchführung der Grundversorgung auf einen Dritten
übertragen, indem sie entsprechende Aufträge erteilen. Dass das Lieferverhältnis in
648 / 931
solchen Fällen zwischen diesem Dritten und den Endverbraucherinnen und Endver-
brauchern besteht, ändert nichts an der Gewährleistungsverantwortung desjenigen
Unternehmens, an das die kantonale Netzgebietszuteilung gerichtet ist. Für allfällige
Verfehlungen des Dritten muss subsidiär dieses Unternehmen einstehen.
Absätze 4 und 5
: Bis anhin konnten Endverbraucher mit Anspruch auf freie Wahl des
Lieferanten nur auf Anfang eines Kalenderjahres in den freien Markt wechseln
(Art. 11 Abs. 2 Satz 1 StromVV). Ausserdem waren im Regime der Teilmarktöffnung
Wiedereintritte in die Grundversorgung nicht möglich (Art. 11 Abs. 2 Satz 2: «einmal
frei, immer frei»). Beides ändert sich nun. Neu soll ein Austritt aus der Grundversor-
gung auch unterjährig möglich sein. Ebenso ist für Endverbraucherinnen und Endver-
braucher mit Anspruch auf die Grundversorgung ein unterjähriger Wiedereintritt
möglich. Ihr Anspruch auf Grundversorgung geht mit der Ausübung des Rechts auf
freie Wahl des Lieferanten nicht unter.
Falls der unterjährige Austritt aus der Grundversorgung für den Grundversorger mit
einem ökonomischen Nachteil verbunden ist, so kann er diesen über einen adäquaten
finanziellen Ausgleich verlangen (das EU-Recht spricht von «Wechselgebühr»). Die
ElCom macht Vorgaben zur Bemessung und entscheidet auch über Streitfälle (Art. 22
Abs. 1). Analog dazu wäre auch beim Eintritt ein solcher Ausgleich möglich. Die
Einzelheiten des Ein- und Austritts regelt der Bundesrat, namentlich die Fristen und
Termine. Dabei kann er die Grundversorger auch dazu verpflichten, die des finanzi-
ellen Ausgleichs oder die Methodik zu dessen Berechnung vor dem Tarifjahr festzu-
legen und zu veröffentlichen.
Art. 6a
Stromlieferverträge
Zahlreiche Vorgaben zu den Verträgen im freien Markt, wie sie sich aus dem EU-
Recht ergeben, schützen die Endverbraucherinnen und Endverbraucher. In der Grund-
versorgung soll kein tieferer Schutz greifen, weshalb Grundversorger mit einem Kun-
denstamm analog zu Artikel 4c Absatz 1 die gleichen Vertragsvorgaben beachten
müssen. Die Artikel 7 ff. bringen für die Grundversorgung zusätzliche Vorgaben.
Art. 7
Tarifgestaltung und Rechnungsstellung
Die Vorgaben zur Tarifgestaltung erfahren keine materielle Änderung.
Absatz 1
über-
nimmt die Vorgaben, die derzeit in Artikel 6 Absatz 5
bis
Buchstabe d
enthalten sind.
Auch in
Absatz 2
werden Bestimmungen aus dem aktuellen Artikel 6 unverändert
übernommen:
Buchstabe a
korrespondiert mit Absatz 3 Satz 2 des geltenden Rechts,
Buchstabe b
mit Absatz 3 des geltenden Rechts,
Buchstabe c
mit Absatz 4 Satz 2 und
Buchstabe d
mit Absatz 5
ter
des geltenden Rechts.
Neu ist die Vorgabe zur Rechnungsstellung (Abs. 4). In der Grundversorgung soll es
im Sinne einer Dienstleistung des Service Public eine Rechnung aus einer Hand vom
Grundversorger geben. Dieser erledigt somit per Rechnung des Netzbetreibers auch
das Inkasso für die Netznutzung und die übrigen mit dem Netz verbundenen Kosten-
positionen. Die genauen Vorgaben und Anforderungen richten sich nach Artikel 12.
649 / 931
Art. 7a
Mindestanteile an erneuerbarer Energie
Sowohl das Standardstromprodukt gemäss
Absatz 1
(aktueller Artikel 6 Absatz 2
bis
)
als auch die beiden Mindestanteile gemäss
Absatz 2
(aktueller Artikel 6 Absatz 5) sind
nur noch auf erneuerbare Energien bezogen, ohne eine inländische Produktion voraus-
zusetzen. Ansonsten übernehmen die neuen Vorgaben den Gehalt des bisherigen
Rechts unverändert.
Art. 7b
Beschaffung der Elektrizität
Auch hinsichtlich der Beschaffung der Elektrizität für die Grundversorgung gibt es
keinerlei Änderungen gegenüber dem bisherigen Recht. Die
Absätze 1–3
dieser Be-
stimmung entsprechen den Vorgaben, die derzeit in Artikel 6 Absatz 5
bis
Buchsta-
ben a –c enthalten sind.
Art. 7c
Ersatzversorgung
Absatz 1
: Zur Ersatzversorgung kommt es zum einen dann, wenn ein Endverbraucher
nach Beendigung seines Elektrizitätslieferverhältnisses, sei es infolge einer Kündi-
gung oder aufgrund einer anfänglichen Befristung, nicht rechtzeitig einen neuen Lie-
fervertrag abgeschlossen hat. Zum anderen wird die Ersatzversorgung dann aktuell,
wenn der vom Endverbraucher gewählte Elektrizitätslieferant ausfällt, er also seine
vertragliche Lieferpflicht nicht mehr gehörig erfüllt (z.B. im Konkursfall).
Weil die Ersatzversorger in der Lage sein müssen, mitunter auch sehr kurzfristige
Dispositionen zu treffen, untersteht die Ersatzversorgung keiner gesetzlichen Tarif-
ordnung. Es besteht lediglich eine Missbrauchskontrolle (Art. 22 Abs. 2 Bst.
b
bis
), mit
welcher die ElCom in offensichtlich übersetzte Tarife eingreifen kann.
Absatz 4
: Auch bei der Ersatzversorgung braucht es Ausführungsvorschriften. Es er-
scheint sinnvoll, dass die Endverbraucherinnen und Endverbraucher die Ersatzversor-
gung möglichst rasch wieder verlassen können, sei es in die Grundversorgung oder
den freien Markt. Ausserdem ist festzuhalten, dass die Ersatzversorgung als ultima
ratio nicht zwingend stattfinden muss; es bleibt den Endverbraucherinnen und End-
verbrauchern unbenommen, vorab oder ad hoc eine andere (vertragliche) Lösung zu
treffen. Der Ersatzversorger muss aber in der Lage sein, die Ersatzversorgung wäh-
rend mindestens sechs Monaten aufrecht zu erhalten (vgl. Art. 11 Abs. 3 Strombin-
nenmarkt-Richtlinie).
Art. 8a Abs. 3
Artikel 8a Absatz 3 regelt die Frage nach den zuständigen Behörden und Stellen ge-
mäss der Delegierten Verordnung (EU) 2024/1366
563
, die in der Schweiz gemäss An-
hang I des Stromabkommens anwendbar ist. Damit die Schweiz die ihr nach dieser
Verordnung obliegenden Aufgaben erfüllen kann, muss der Bundesrat namentlich die
563
Delegierte Verordnung (EU) 2024/1366 der Kommission vom 11. März 2024 zur Ergän-
zung der Verordnung (EU) 2019/943 des Europäischen Parlaments und des Rates durch
Festlegung eines Netzkodex mit sektorspezifischen Vorschriften für Cybersicherheitsas-
pekte grenzüberschreitender Stromflüsse, ABl. L, 2024/1366, 24.5.2024.
650 / 931
zuständigen nationalen Behörden und Stellen bezeichnen. Er wird dies in seiner künf-
tigen Verordnung tun.
2a. Abschnitt: Angemessenheit der Ressourcen für die Stromversorgung und
Energiereserve
Art. 8a
bis
Rahmenbedingungen für die Gewährleistung der
Versorgungssicherheit
Absatz 1
: Artikel 25 Absatz 1 der Elektrizitätsbinnenmarkt-Verordnung (EU)
2019/943 (Strombinnenmarkt-Verordnung) verlangt, dass ein Mitgliedstaat, der Ka-
pazitätsmechanismen anwenden will, über einen Zuverlässigkeitsstandard verfügt. In
der Schweiz gibt es seit dem Jahr 2022 einen solchen Kapazitätsmechanismus: die
sogenannte Stromreserve. Sie wurde für den Winter und den Frühling zur Absiche-
rung der Stromversorgung in ausserordentlichen Situationen wie zum Beispiel kriti-
sche Versorgungsengpässe oder -ausfälle geschaffen und soll auch in den kommenden
Jahren fortgeführt werden. Der Zuverlässigkeitsstandard ist ein europäisch vorgege-
benes Mass für die volkswirtschaftliche Effizienz im Stromsystem. Damit soll sicher-
gestellt werden, dass langfristig nur diejenigen Kapazitäten im Strommarkt vorgehal-
ten werden, deren Nutzung für die Verbraucher die dafür entstehenden Kosten
übersteigt. Demzufolge berechnet sich der Zuverlässigkeitsstandard aus einer Abwä-
gung zwischen den Investitionskosten für neue steuerbare Kapazitäten und der Zah-
lungsbereitschaft der Stromkunden für eine vollständige, unterbrechungsfreie Strom-
versorgung. Die Zahlungsbereitschaft der Stromkunden ist jedoch nicht unbegrenzt.
Würden die Kosten für neue Kapazitäten die Zahlungsbereitschaft übersteigen, wäre
es ökonomisch rational, auf einen (kleinen) Teil des Stromverbrauchs für einen kurzen
Zeitraum zu verzichten. Der Zuverlässigkeitsstandard beschreibt, wie lange dieser
Zeitraum ist. Gleichzeitig dient er als Grundlage für die Beurteilung der Angemessen-
heit der bestehenden Ressourcen der Stromversorgung (Verfügbarkeit von Energie-
trägern, Produktionsanlagen, Netzinfrastruktur etc.). Für die Bestimmung des Zuver-
lässigkeitsstandards muss die in Artikel 23 Absatz 6 Strombinnenmarkt-Verordnung
festgelegte Methode angewendet werden. Diese Berechnungsmethode wurde von
ENTSO-E ausgearbeitet und von ACER genehmigt (Art. 23 Abs. 6 Bst. c und Abs. 7
Strombinnenmarkt-Verordnung). Die Festlegung des Standards erfolgt in Form einer
Verordnung des Bundesrats, auf der Grundlage eines Vorschlags der ElCom.
Absatz 2:
Die Strombinnenmarkt-Verordnung verlangt, dass die Mitgliedstaaten die
Angemessenheit der Ressourcen in ihrem Hoheitsgebiet beobachten (Art. 20 Abs. 1).
Dabei wird untersucht, ob die Nachfrage nach Strom durch das vorhandene Angebot
an den europäischen Strommärkten ausreichend gedeckt werden kann. Die Strombin-
nenmarkt-Verordnung unterscheidet dabei zwischen einer Betrachtung auf europäi-
scher Ebene (vgl. Art. 23) und einer Betrachtung auf nationaler Ebene (vgl. Art. 24).
Auf europäischer Ebene erfolgt die Abschätzung Jahr für Jahr durch ENTSO-E. Die
Übertragungsnetzbetreiber sind dabei gehalten, ENTSO-E die erforderlichen Daten
zur Verfügung zu stellen. In Zukunft wird diesbezüglich auch die nationale Netzge-
sellschaft in der Pflicht stehen. Nach Artikel 20 Absatz 1 der Strombinnenmarkt-Ver-
ordnung steht es den EU-Mitgliedstaaten frei, ergänzend zur Betrachtung auf europä-
ischer Ebene auch eine Abschätzung auf nationaler Ebene durchzuführen. In dieser
651 / 931
können zusätzliche Sensitivitäten berücksichtigt werden. Namentlich, indem Annah-
men über die Besonderheiten von Stromangebot und Stromnachfrage auf nationaler
Ebene getroffen werden (Art. 24 Abs. 1 Strombinnenmarkt-Verordnung, vgl. hierzu
auch Art. 9 Ziff. 3 des Stromabkommens).
Mit der neuen Bestimmung
macht die Schweiz von der Möglichkeit zur ergänzenden
Ressourcenabschätzung auf nationaler Ebene Gebrauch. Diese Aufgabe wird der El-
Com zugewiesen, wobei die Prüfung in Absprache mit dem Bundesamt für Energie
(BFE) erfolgt. Insbesondere sind dem BFE alle relevanten Unterlagen vorzulegen,
und es ist ihm die Gelegenheit zu bieten, Stellung zu nehmen. Von Bedeutung sind
weiter die prozeduralen Vorgaben gemäss Artikel 24 Absätze 2 und 3 der Strombin-
nenmarkt-Verordnung. Darin ist vorgegeben, dass das Ergebnis der Ressourcenab-
schätzung zu veröffentlichen ist. Bestehen Bedenken zur Angemessenheit der Res-
source, die sich bei der Abschätzung auf europäischer Ebene so nicht ergeben haben,
muss die ElCom ihre Ressourcenabschätzung begründen, die Begründung veröffent-
lichen und ACER zur Stellungnahme vorlegen. Falls die ElCom deren Stellungnahme
sodann nicht vollumfänglich Rechnung trägt, muss sie dies in einem zu veröffentli-
chenden Bericht darlegen und im Detail begründen.
Absatz 3
: Bestehen Bedenken bezüglich der Angemessenheit der Ressourcen, sei es
zufolge der Abschätzung auf der europäischen oder jener auf der nationalen Ebene,
so gilt es gemäss Artikel 20 Absätze 2 und 3 der Strombinnenmarkt-Verordnung alle
regulatorischen Verzerrungen oder Fälle von Marktversagen zu ermitteln, die diese
Bedenken verursachen oder begünstigen. Gestützt darauf ist ein sog. Umsetzungsplan
zu entwickeln und zu veröffentlichen. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um ei-
nen Zeitplan für die Verabschiedung geeigneter Massnahmen zur Beseitigung der re-
gulatorischen Defizite oder des festgestellten Marktversagens. Das EU-Recht enthält
einen Katalog möglicher Massnahmen (z.B. Erhöhung der Verbundkapazität, Steige-
rung der Energieeffizienz, Abschaffung regulierter Preise). Für die Zwecke der
Schweiz obliegt die Entwicklung des Umsetzungsplans dem BFE.
Vor seiner Veröffentlichung ist der Umsetzungsplan der Europäischen Kommission
zur Stellungnahme vorzulegen (Art. 20 Abs. 4 Strombinnenmarkt-Verordnung). In ih-
rer nicht bindenden Stellungnahme eruiert die Europäische Kommission, ob die im
Umsetzungsplanenthaltenen Massnahmen ausreichen, um die regulatorischen Verzer-
rungen oder das Marktversagen zu beseitigen. Dabei kann sie die Schweiz auffordern,
Anpassungen vorzunehmen, diese aber nicht verbindlich einfordern (Art. 20 Abs. 5
Strombinnenmarkt-Verordnung). Für die Umsetzung des Umsetzungsplans hat der
Bundesrat zu sorgen. Je nach Art der zu ergreifenden Massnahme setzen diese Ver-
ordnungs- oder Gesetzesänderungen voraus.
Art. 8b
Bildung, Dimensionierung und Auflösung der Energiereserve
Bestehen auch mit den Massnahmen des Umsetzungsplans Bedenken bezüglich der
Angemessenheit der Ressourcen, kann eine Energiereserve gebildet werden. Mit die-
ser Umformulierung in
Absatz 1
wird der bisherige Gesetzeswortlaut auf die Vorga-
ben des EU-Rechts abgestimmt. Nach diesen darf eine Energiereserve, wie sie heute
im StromVG vorgesehen ist, nicht einfach nur zur Absicherung gegen ausserordentli-
652 / 931
che Situationen gebildet werden. Vielmehr kommt die Bildung einer solchen soge-
nannten «strategischen Reserve» erst dann in Betracht, wenn zufolge der Abschätzung
der Ressourcen, sei es auf der europäischen oder auf der nationalen Ebene (Art. 23
und 24 Strombinnenmarkt-Verordnung), begründete Bedenken bestehen und ein Um-
setzungsplan mit geeigneten Massnahmen entwickelt wurde (vgl. Art. 20 Abs. 1 und
2 sowie Art. 21 Abs. 4 Strombinnenmarkt-Verordnung). Bei der sogenannten "strate-
gische Reserve" handelt es sich um einen Kapazitätsmechanismus im Sinn von Artikel
21 Absatz 1 der Strombinnenmarkt-Verordnung. Der Begriff bezeichnet das Vorhal-
ten von Kraftwerken, die nur in Notsituationen mit sehr knappem Stromangebot und
somit sehr hohen Strompreisen zum Einsatz kommen. Eine solche Reserve kann die
Versorgungssicherheit für die Verbraucher erhöhen. Mit der strategischen Reserve
kann in einer Notsituation eine vom Markt nicht gedeckte Stromnachfrage weiter be-
dient werden. Damit kann eine Abschaltung von Strom für Haushalte oder industriel-
len Stromkunden vermieden werden. Artikel 21 Absatz 1 der Strombinnenmarkt-Ver-
ordnung stellt diesbezüglich klar, dass Kapazitätsmechanismen und strategische
Reserven bereits während der Umsetzung des Umsetzungsplans gebildet werden dür-
fen. Der Entscheid zur Bildung der Reserven liegt aber bei der Schweiz und nicht bei
der EU. Weiter ist zu beachten, dass nach Artikel 21 Absatz 3 Strombinnenmarkt-
Verordnung strategische Reserven einer anderen Art von Kapazitätsmechanismus
vorzuziehen sind. Die Energiereserve gemäss Artikel 8
b
ist denn auch als strategische
Reserve konzipiert: Sie wird ausschliesslich für Notsituationen bereitgehalten. Daraus
folgt, dass die Kraftwerke der strategischen Reserve ihren Strom nicht am regulären
Strommarkt anbieten dürfen. Die aus der Teilnahme an der Reserve resultierenden
Gewinnausfälle werden durch eine gesonderte Vergütung kompensiert. Die anfallen-
den Kosten für diese Massnahme zur Sicherung der Stromversorgung werden auf die
Endkunden überwälzt.
Absätze 2 und 3
: Das Stromabkommen lässt offen, welche Instanz innerstaatlich über
die Bildung und Dimensionierung einer strategischen Reserve entscheidet, wenn die
Voraussetzungen für die Bildung einer solchen erfüllt sind.
Absatz 3
stellt den Ent-
scheid darüber in die Kompetenz des UVEK. Bisher lag die Entscheidkompetenz bei
der ElCom. Dies erscheint nun mit dem Stromabkommen nicht mehr sachgerecht, da
dem Entscheid zur Bildung und Dimensionierung der Reserve auch eine politische
Beurteilung erfordert. Vor diesem Hintergrund ist eine Verschiebung der Entscheid-
kompetenz zum UVEK angezeigt. Eine Zuweisung an das UVEK (und nicht an den
Bundesrat) als das fachlich zuständige Departement ist zudem stufengerecht, zumal
es sich beim Entscheid um einen Akt der Rechtsanwendung handelt. Grundlage bzw.
Ausgangspunkt für seinen Entscheid ist der Vorschlag der ElCom. Somit kann das
UVEK den Vorschlag der ElCom genehmigen oder aber die Reserve in geänderter
Form beschliessen (beide diese Möglichkeiten sind vom Abkommen gedeckt, das in
dieser Frage im gemeinsamen Verständnis mit der EU weit zu verstehen ist). Das
UVEK berücksichtigt bei seinem Entscheid die relevanten Stellungnahmen, darunter
insbesondere diejenige der Überwachungsbehörde für staatliche Beihilfen. Was die
Dimensionierung anbelangt, ist der Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu beachten.
Diesbezüglich stellt Artikel 22 Absatz 1 Buchstabe c der Strombinnenmarkt-Verord-
nung klar, dass die Reserve nicht über das hinausgehen darf, was zum Angehen der
Bedenken bezüglich der Angemessenheit der Ressourcen erforderlich ist.
653 / 931
Absatz 4:
Analog zum bisherigen Recht (Art. 8
b
Abs. 3 StromVG) wird die ElCom
die übrigen Eckwerte der Reserve festlegen. Dabei hat sie unter anderem an die Ge-
staltungsgrundsätze für strategische Reserven gemäss Artikel 22 Absatz 2 der Strom-
binnenmarkt-Verordnung zu beachten.
Absatz 5
dient der Umsetzung der Vorgaben des EU-Rechts, die von den Mitglied-
staaten verlangen, dass sie die Notwendigkeit von Kapazitätsmechanismen regelmäs-
sig überprüfen und keine neuen Verträge mehr abschliessen, wenn die Notwendigkeit
nicht mehr gegeben ist (vgl. Art. 21 Abs. 6 und 8 Strombinnenmarkt-Verordnung).
Die Einzelheiten hierzu können, falls notwendig, auf Verordnungsstufe geregelt wer-
den (Art. 8
b
quater
Abs. 4).
Absatz 6
: Die Möglichkeit zur Auflösung ist schon im bisherigen Schweizer Recht
vorgesehen. Das UVEK kann analog zur Entscheidkompetenz bei der Reservebildung
auch über die vorzeitige Auflösung der Reserve entscheiden und dazu Anordnungen
treffen. Aus dem Stromabkommen ergibt sich keine Pflicht, die Reserve als solche
aufzulösen, sondern nur Konformität mit dem Abkommen herzustellen.
Art. 8b
bis
Teilnehmer der Stromreserve
Diese Bestimmung übernimmt den Inhalt des bisherigen Artikels 8
b
Absatz 2 und
wurde neu strukturiert, um die formale Kohärenz der Bestimmungen über die Reserve
zu gewährleisten. Die geringfügige redaktionelle Anpassung hat keine Änderung der
Pflichten der Teilnehmer an der Stromreserve zur Folge.
Art 8
ter
Operative Abwicklung der Energiereserve
Diese Bestimmung übernimmt den Inhalt des bisherigen Artikels 8
b
Absatz 4, der neu
in drei Absätze gegliedert wird. In
Absatz 1
wurde zur besseren Verständlichkeit ein
neuer Verweis eingefügt.
Absatz 2
: Aufgrund der Neustrukturierung des Artikels
wurde der Verweis angepasst.
Art. 8b
quater
Abruf der Energiereserve
Absatz 1
: Die Voraussetzungen zum Abruf der Energiereserve werden an die Vorga-
ben des EU-Rechts angepasst.
Buchstabe a
lässt den Abruf der strategischen Reserve
zu, wenn die Stromnachfrage nicht durch das Angebot gedeckt werden kann.
Buch-
stabe b
hält explizit fest, dass die nationale Netzgesellschaft auf die strategische Re-
serve zurückgreifen kann, wenn die Regelenergie nicht ausreicht, um das Stromnetz
stabil zu halten. Neu ist ausserdem, dass die nationale Netzgesellschaft das UVEK
über einen Abruf der Reserve zu orientieren hat.
Bei
Absatz 3
wird das Verbot gestrichen, die aus der Reserve abgerufene Energie ins
Ausland zu verkaufen. Dieses Verbot ist nicht mit dem EU-Recht vereinbar.
Absatz 4
hält fest, dass dem Bundesrat die Kompetenz zum Erlass von Verordnungs-
bestimmungen zukommt. Diese Bestimmung wird aus dem geltenden Recht übernom-
men. Einzig die bisher in
Buchstaben f
vorgesehene Möglichkeit zum ausnahmswei-
sen Abruf der Energiereserve auch ohne fehlende Markträumung wird aufgehoben,
654 / 931
da sie nicht sind mit dem EU-Recht zu vereinbaren ist (vgl. insb. Art. 22 Abs. 1 Bst.
b
und Abs. 2 Bst.
a
und
e
Strombinnenmarkt-Verordnung).
Art. 8c Abs. 2 erster Satz
Diese Änderung ist rein redaktioneller Natur.
Art. 9d
Bisher waren lediglich die nationale Netzgesellschaft sowie die Netzbetreiber, die
Netze mit einer Nennspannung von über 36 kV betreiben (Netzebene 3), verpflichtet,
einen solchen Mehrjahresplan zu erstellen. Mit dem Stromabkommen müssen auf-
grund der Artikel 32 Absätze 3–5 sowie 51 der Richtlinie (EU) 2019/944 auf Geset-
zesstufe neue Pflichten umgesetzt werden.
Abs. 1: Die Mehrjahrespläne müssen auf der Grundlage des geltenden Szenariorah-
mens erstellt werden. Die Pflichten in Bezug auf die Mehrjahrespläne gelten nicht
mehr nur für die nationale Netzgesellschaft (Netzebene 1) und die Netzbetreiber, die
Netze mit einer Nennspannung von über 36 kV betreiben (Netzebene 3), sondern wer-
den auf alle Netzbetreiber ausgeweitet, die mehr als 100 000 Endkunden versorgen.
Diese Regelung, die in Artikel 32 Absatz 5 der Richtlinie (EU) 2019/944 vorgesehen
ist, wurde direkt ins Gesetz aufgenommen.
Abs. 2: Die nationale Netzgesellschaft erstellt nach Artikel 51 Absatz 2 Buchstabe a
der Richtlinie (EU) 2019/944 einen Mehrjahresplan für die kommenden zehn Jahre.
Abs. 3: Die Delegationsnorm zur Ermächtigung des Bundesrates in Absatz 3 wird
überarbeitet. In seiner Verordnung wird der Bundesrat die Artikel 32 und 51 der
Richtlinie (EU) 2019/944 konkretisieren.
Abs. 4: Der bisherige Absatz 4 wird aufgehoben, da Artikel 51 Absatz 1 der Richtlinie
(EU) 2019/944 die Veröffentlichung von Mehrjahresplänen bereits regelt.
Art. 10
Entflechtung
Bisher beschränkten sich die Entflechtungsvorgaben im Wesentlichen auf ein Gebot
zur buchhalterischen und informatorischen Entflechtung. Mit dem Stromabkommen
sind die zusätzliche Entflechtungsvorgaben nach Artikel 35 der Strombinnenmarkt-
Richtlinie auf Gesetzesebene umzusetzen. Ziel dabei ist, wie bisher, die diskriminie-
rungsfreie Organisation und Abwicklung des Netzbetriebs, um allen Netzzugangsbe-
rechtigten unter gleichen Bedingungen die Nutzung des Netzes zu gewähren. Ebenso
sollen missbräuchliche Querfinanzierungen durch diese weitergehenden Massnahmen
besser eingedämmt werden.
Absatz 1
wird entsprechend dem Absatz 1 von Artikel 35 des Strombinnenmarkt-
Richtline ergänzt. Namentlich wird klargestellt, welche übrigen Tätigkeitsbereiche
vom Netzbetrieb zu trennen sind. Aus systematischen Gründen wird das Verbot der
Querfinanzierung neu in der Auflistung in
Absatz 2
integriert. Der vormalige
Absatz
655 / 931
3
wird neu zusammen mit dem vorgenannten Verbot der Querfinanzierung in
Buch-
stabe a
geregelt. In
Buchstabe b
werden andere leitungsgebundene Infrastrukturen,
die keine Elektrizitätsnetze sind, explizit von den strengen Entflechtungsvorgaben
ausgenommen. Damit sind andere Energienetze gemeint, wie bspw. Gas- oder Fern-
wärmenetz. Diese Bereiche haben zwar nicht mit der Elektrizitätserzeugung, -über-
tragung und -versorgung im engeren Sinn zu tun, gleichwohl müssen sie aus Trans-
parenzgründen vom Netzbereich getrennt werden, weshalb mindesten eine
buchhalterische Trennung gefordert wird. Der vormalige
Absatz 2
wird neu in
Buch-
stabe b
abgebildet.
In
Absatz 3
werden die konkreten Vorgaben von Artikel 35 Strombinnenmarkt-Richt-
line umgesetzt. Zusätzlich zu den allgemeinen Vorgaben nach
Absatz 2
müssen nach
Buchstabe a
Verteilnetzbetriebe in einem EVU ab Erreichung von insgesamt 100 000
angeschlossenen Endverbraucherinnen und Endverbraucher, organisatorisch, perso-
nell und rechtlich von den Bereichen, die mit der Elektrizitätserzeugung und -versor-
gung zu tun haben, entflochten sein.
Massgebend für die Ermittlung der angeschlos-
senen
Endverbrauchermenge,
ist
die
gesamte
Anzahl
angeschlossener
Endverbraucherinnen und Endverbraucher des gesamten EVU, in welchem der VNB
eingegliedert ist, oder des Konzerns, dessen Teil der VNB ist.
Zur organisatorischen Entflechtung gehört, dass die Leitung des Netzbetreibers nicht
an den anderen Teilbereichen des EVU beteiligt sein darf. Umgekehrt dürfen die an-
deren Teilbereiche nicht am Tagesgeschäft der Netzgesellschaft beteiligt sein.
Zur personellen Entflechtung gehört, dass strategische Leistungen, wie Rechtsdienst-
leistungen, Regulierungs- und Kontrollfunktionen vom VNB eigenständig erbracht
werden müssen. Angehörige der Geschäftsleitung des VNB dürfen nicht der Ge-
schäftsleitung oder sonstigen betrieblichen Einrichtungen einer für die anderen Tätig-
keitsbereiche zuständigen Einheit angehören, unabhängig davon, wo sie sich befinden
(Holding oder verbundenes Unternehmen).
Rechtliche Entflechtung bedeutet konkret, dass der Verteilnetzbetrieb funktional und
materiell von den anderen Tätigkeitsbereichen getrennt sein muss. Die Rechtsform
des VNB kann grundsätzlich frei gewählt werden, sofern diese Rechtsform ein aus-
reichendes Mass an Unabhängigkeit der Unternehmensführung des VNB von anderen
Teilen des EVU gewährleistet, um die Anforderungen der funktionalen Entflechtung
zu erfüllen.
Weiter müssen die VNB nach
Buchstabe b
in ihrer Entscheidungsgewalt vom allfäl-
ligen Mutterkonzern oder von den Eignern des EVU unabhängig sein. Dies bedeutet,
dass der VNB über Vermögenswerte, die für den Betrieb, die Wartung, oder den Aus-
bau des Netzes erforderlich sind, die tatsächlichen Entscheidungsbefugnisse haben
muss. Jedoch heisst das nicht, dass die jeweiligen Eigner das Eigentum an den VNB
abgeben müssen, oder dass diese allfälligen Aufsichtsfunktionen nicht mehr nach-
kommen können. Es soll insbesondere weiterhin möglich sein, dass ein Mutterkon-
zern allgemeine Budget- oder Verschuldungsvorgaben machen kann.
Die Entflechtung von VNB mit mehr als 100'000 Kundinnen und Kunden, die entwe-
der als öffentlich-rechtliche Anstalten (Industrielle Werke Basel [IWB]; Service in-
dustriels de Genève [SIG]; Elektrizitätswerk des Kanton Zürich [EKZ]) oder Verwal-
tungseinheiten (Elektrizitätswerk der Stadt Zürich [ewz]; Services industriels de
656 / 931
Lausanne [SiL]) organisiert sind, stellt einen Spezialfall dar und dürfte sich insbeson-
dere aufgrund der dafür notwendigen politischen Prozesse aufwendiger gestalten.
Deshalb wurde im Abkommen für diese Fälle eine Übergangsfrist von drei Jahren
ausgehandelt. Solche Unternehmen führen ebenfalls in der Regel neben dem Netzbe-
trieb weitere Tätigkeitsbereiche, zumeist sowohl im Elektrizitätsbereich als auch in
anderen Infrastrukturbereichen (Wasserversorgung, Fernwärme, Telekommunika-
tion), was zu einer zusätzlichen Komplexität des Entflechtungsverfahren beitragen
kann.
Eine öffentlich-rechtliche Anstalt wird mittels Spezialgesetz errichtet. Dieses hält fest,
welche Aufgaben die Anstalt erfüllen muss, wie sie organisiert ist und welche Ver-
mögenswerte ihr zugewiesen werden. Im Unterschied zur privatrechtlich organisier-
ten Gesellschaft können daher öffentlich-rechtliche Anstalten nicht nach Belieben
umorganisiert werden oder sogar Bereiche auslagern, sofern dies nicht im entspre-
chenden Spezialgesetz vorgesehen ist. Somit können kantonale oder kommunale Ge-
setzesanpassungen notwendig sein. Selbstverständlich kann für den abgespaltenen
Bereich auch eine privatrechtliche Gesellschaft geschaffen werden.
Bei einem als Verwaltungseinheit organisierten VNB kommt als wirksame rechtliche
Entflechtung ebenfalls eine Auslagerung des Netzbereichs aus der Verwaltung durch
Gründung einer privatrechtlichen Gesellschaft oder Schaffung einer öffentlich-recht-
lichen Anstalt infrage. Nicht ganz auszuschliessen ist u.U. die Verschiebung in eine
andere Einheit innerhalb der kommunalen Verwaltung, solange die Entflechtung kon-
sequent umgesetzt ist.
In
Absatz 4
wird der Bundesrat beauftragt eine detaillierte Regelung der strengen Ent-
flechtungsvorgaben nach
Absatz 3
auf Verordnungsstufe vorzunehmen. Namentlich
geht es um die Umsetzung von Artikel 35 Absatz 2 Strombinnenmarkt-Richtlinie, wo-
bei der Bundesrat ebenso die in Artikel 35 Absatz 4 vorgesehene Kompetenz erhält,
Ausnahmen davon vorzusehen.
In
Absatz 5
wird das grundsätzliche Verbot für VNB statuiert, Speicher und Ladesta-
tionen für Elektromobilität zu halten und zu betreiben, wie dies in Artikel 33 und 36
der Strombinnenmarkt-Richtlinie vorgesehen ist, wobei der Bundesrat dazu in An-
wendung von Artikel 33 Absatz 3 (Ladestationen) und Artikel 36 Absatz 2 (Speicher)
der Strombinnenmarkt-Richtlinie Ausnahmen vorsehen kann.
Art. 12 Abs. 1 Bst. b, 2 und 3
Artikel 12
muss im Zuge der Entflechtung bzw. aus terminologischen Gründen (siehe
dazu die Erläuterungen zu Art. 6) neu gefasst werden. So kann die Pflicht zur Veröf-
fentlichung der Energietarife nicht mehr an die Netzbetreiber gerichtet sein, weshalb
sie in Artikel 12 gestrichen wird. Für die Grundversorgung sind es die Grundversor-
ger, die die Elektrizitätstarife publizieren (Art. 7 Abs. 3). Was die Tarife der Ersatz-
versorgung anbelangt, die nicht zwingend für die Dauer des Kalenderjahres festgelegt
werden müssen, sind fortlaufend die jeweils aktuellsten Tarife zu veröffentlichen. Der
Bundesrat kann die Ersatzversorger gestützt auf Artikel 7
c
Absatz 2 zu einer Veröf-
fentlichung verpflichten.
657 / 931
Absatz 2
macht wie bis anhin Vorgaben zur Rechnung. Gegenüber heute sind weniger,
d.h. nur noch die wichtigsten Posten genannt: (a) Netznutzungsentgelt und b) Abga-
ben und Leistungen an Gemeinwesen). Der Bundesrat kann indes das Ausweisen wei-
terer Posten vorsehen (
Bst. c
). Dabei beachtet er insbesondere das Bedürfnis nach
Transparenz, aber auch auf das Anliegen Übersichtlichkeit und Aufwand für die Netz-
betreiber.
Was die Rechnungsstellung anbelangt, ist ausserdem auf zweierlei hinzuweisen: Ers-
tens ist in der Grundversorgung eine gemeinsame Rechnung vorgegeben (Energie und
Netz; vgl. Art. 7 Abs. 4). Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die Anforderungen an
die Darstellung auf Verordnungsebene nach Massgabe der entsprechenden Anforde-
rungen des EU-Rechts noch weiter zu konkretisieren sind (Abs. 3). Dabei geht es bei-
spielsweise um Dinge, wie elektronisch zugestellte Rechnungen oder das Spektrum
an Zahlungsmodalitäten (vgl. u.a. Art. 10 und 18 der Strombinnenmarkt-Richtlinie).
Ausserdem müssen den Endverbraucherinnen und Endverbrauchern zusammen mit
der Rechnung gewisse Informationen zukommen wie Hinweise auf Streitbeilegungs-
verfahren und Preisvergleichsinstrumente (vgl. Anhang 1 Strombinnenmarkt-Richtli-
nie sowie die nachfolgenden Art. 23
a
und 23
b
StromVG).
Der Regelungsgehalt des bisherigen
Absatz 3
ist neu in Artikel 4
d
Absatz 2 enthalten.
Die neue Bestimmung hat indes einen breiteren Adressatenkreis und gilt nicht mehr
nur für die Netzbetreiber.
Art. 13 Abs. 2 Bst. c
Mit dem Stromabkommen ist der aktuell in
Buchstabe c
enthaltene Vorbehalt, wonach
der Netzzugang verweigert werden kann, wenn vom ausländischen Staat bei grenz-
überschreitender Netznutzung kein Gegenrecht gewährt wird, nicht mehr angezeigt.
Die grenzüberschreitende Netznutzung ist einer der zentralen Gegenstände des Ab-
kommens.
Art. 14
bis
Abs. 6
Die Änderung ist rein redaktioneller Natur. Sie rührt daher, dass die Abkürzung
«UVEK» nunmehr bereits in Artikel 8
b
Absatz 3 eingeführt wird.
Art. 16 Abs. 1 zweiter Satz, Abs. 2 und 3
Mit dem Stromabkommen wird Artikel 49 der Verordnung (EU) 2019/943
564
in der
Schweiz anwendbar. Um Widersprüche zwischen dem EU-Recht und dem Schweizer
Recht auszuschliessen, wird Artikel 16 Absätze 1 zweiter Satz, 2 und 3 StromVG auf-
gehoben. Die bereits existierenden Ausgleichsmechanismen zwischen den europäi-
schen Netzbetreibern werden mit der vorliegenden Änderung beibehalten. Sie müssen
564
Verordnung (EU) 2019/943 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019
über den Elektrizitätsbinnenmarkt (Neufassung), Fassung gemäss ABl. L 158 vom
14.6.2019, S. 54.
658 / 931
nur geringfügig an die aktuelle Praxis angepasst werden. Nähere Ausführungen dazu
finden sich in Ziffer 2.11.7.2.3.
Art. 17 Abs. 1, 2 und 5
Absatz 1:
Bisher konnte die ElCom das Verfahren betreffend die Zuteilung der Ver-
fügbaren Kapazitäten im Falle einer Überschreitung der Nachfrage nach grenzüber-
schreitender Übertragungskapazitäten regeln. Mit Inkrafttreten des Stromabkommens
wird Artikel 19 der Verordnung (EU) 2019/943 in der Schweiz anwendbar. Ange-
sichts des Detaillierungsgrades dieser Bestimmung ist eine abweichende Regelung
nicht möglich. Deshalb wird die entsprechend Kompetenz der ElCom ersatzlos gestri-
chen.
Absatz 2
: Die bisherigen physischen Vorränge der Zuteilung von Kapazitäten im
grenzüberschreitenden Übertragungsnetz aufgrund von internationalen Bezugs- und
Lieferverträgen, die vor dem 31. Oktober 2002 abgeschlossen wurden, standen im
Konflikt mit dem EU-Recht. Diese Vorränge fallen gemäss dem Stromabkommen mit
seinem Inkrafttreten weg und werden für maximal sieben Jahre durch eine finanzielle
Kompensation ersetzt. Die dazu anwendbaren Regeln ergeben sich abschliessend aus
dem Abkommen und im StromVG erfolgt somit nur die nötige Streichung. Weiterhin
bestehen bleiben vorderhand die Vorränge betreffend Lieferungen aus Grenzwasser-
kraftwerken mit einer Kapazitätsreservierung von maximal 65 MW. Nach 15 Jahren
oder bei einem früheren Konzessionsende entfallen diese Vorränge ebenfalls. Soweit
die Vorränge in Staatsverträgen, z.B. mit Frankreich, verankert sind, werden diese
anzupassen sein.
Abs. 5
: Mit dem Stromabkommen wird Artikel 19 der Verordnung (EU) 2019/943
565
in der Schweiz anwendbar. Dieser regelt, wie die Erlöse aus dem Engpassmanagement
zu verwenden sind. Sein Absatz 5 sieht diesbezüglich vor, dass die Übertragungsnetz-
betreiber die geplante Verwendung im Voraus genau festlegen und den Regulierungs-
behörden über die tatsächliche Verwendung der Erlöse Bericht erstatten müssen. Ent-
sprechend wird Artikel 17 Absatz 5 StromVG aufgehoben. Das hat zur Folge, dass
die grenzüberschreitenden Übertragungskapazitäten versteigert werden und die Ein-
nahmen daraus für die Zwecke nach Artikel 19 der Verordnung (EU) 2019/943 ver-
wendet werden können. Nähere Ausführungen dazu finden sich in Ziffer 2.11.7.2.3
dieser Botschaft.
Art. 17c
bis
Die neue Bestimmung in Artikel 17
c
bis
dient der Umsetzung von Artikel 13 der
Strombinnenmarkt-Richtlinie.
Absatz 1
hält deklaratorisch fest, was im Rahmen der Vertragsfreiheit bereits jetzt gilt.
Die einzige Voraussetzung zum Abschluss eines Aggregierungsvertrags ist das Vor-
liegen eines intelligenten Messsystems (Art. 17
a
bis
). Will die Endverbraucherin oder
565
Verordnung (EU) 2019/943 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019
über den Elektrizitätsbinnenmarkt (Neufassung), Fassung gemäss ABl. L 158 vom
14.6.2019, S. 54
.
659 / 931
der Endverbraucher, bzw. der Erzeuger im Rahmen der Aggregierung auch Flexibili-
tätsdienstleistungen erbringen, wird aus operativen Gründen auch ein intelligentes
Steuer- und Regelsystem (Art. 17
b
) erforderlich sein.
Absatz 2
schützt die sog. unabhängigen Aggregatoren, so wie dies in Artikel 13 Ab-
sätze 2 und 4 der Strombinnenmarkt-Richtlinie verlangt ist, vor einer diskriminieren-
den Praxis seitens des bestehenden Lieferanten. Insbesondere bedarf der Aggregie-
rungsvertrag keiner Zustimmung des Lieferanten. Die Bestimmung ist sowohl an die
Lieferanten des freien Markts als auch an die Grundversorger adressiert.
Absatz 3
verdeutlicht, was bereits aufgrund der Datenschutzgesetzgebung gilt: Die
Endverbraucher und Erzeuger haben gegenüber ihrem Aggregator Anspruch auf Her-
ausgabe der sie betreffenden Daten. Im Verhältnis zum Netzbetreiber lassen sich sol-
che Ansprüche auf Artikel 17
a
bis
Absätze 4 Buchstabe a, 5 und 6 stützen.
Absatz 3
dient der Umsetzung von Artikel 13 Absatz 3 der Strombinnenmarkt-Richtlinie. Da-
bei kann auch die zentrale Datenplattform (Art. 17
g
) ihre Funktionen entfalten.
Absatz 4
: Im EU-Recht gestalten sich die Vorgaben zum Wechsel der Lieferanten und
zum Wechsel der Aggregatoren analog zueinander; sie sind in derselben Bestimmung
enthalten (vgl. Art. 12 der Strombinnenmarkt-Richtlinie). Dementsprechend gelangt
Artikel 4
e
sinngemäss auch auf den Wechsel des Aggregators zur Anwendung und es
kann an dieser Stelle auf die dortigen verwiesen werden.
Art. 17e Abs. 2
Die Anpassung in Absatz 2 von Artikel 17
e
, der per 1. Januar 2026 in Kraft treten
wird (AS
2024
679), ist im Wesentlichen terminologischer Natur: Aufgrund der
Strommarktöffnung für alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher gibt es keine
«festen Endverbraucher» mehr.
Art. 18 Abs. 3
bis
, 4
bis
, 6
bis
, 7 und 8
Das EU-Recht kennt drei entflechtungsrechtlich motivierte Modelle zur Ausgestal-
tung des Übertragungsnetzbetreibers (sog. «TSO-Modelle»; vgl. Art. 43 ff. der Strom-
binnenmarkt-Richtlinie). Das Hauptmodell ist die «Eigentumsrechtliche Entflech-
tung, OU-Modell» und für die Schweiz weiter relevant ist das Modell des
«Unabhängigen Übertragungsnetzbetreibers, ITO-Modell». Swissgrid muss auf eines
dieser Modelle abgestimmt und dann als solches von der ElCom zertifiziert werden.
Die Schweiz muss in der Umsetzungsgesetzgebung die Grundlagen nun so legen, dass
Swissgrid in eines der Modelle passt. Dabei sind gleichzeitig die heutige StromVG-
Governance von Swissgrid und ihre Geschichte zu beachten. Das «OU-Modell» ist in
der EU ziemlich verbreitet, erfordert aber eine eigentumsrechtliche Trennung, wenn
vertikal integrierte EVUs die Kontrolle haben. Die Schweiz hat beim Erlass des
StromVG Regeln zu Swissgrid eingeführt, wonach sich diese mehrheitlich im Eigen-
tum der Kantone und Gemeinden befinden muss (schweizerische Beherrschung), liess
aber zu, dass diese Beteiligung bloss indirekt ist, so dass es von Anfang an tatsächlich
die kantonalen und kommunalen EVUs waren bzw. sind, die die Swissgrid-Aktien
halten. Eine direkte Beteiligung lehnten die Kantone als zu kapitalintensiv ab. Eine
direkte öffentliche Beteiligung wäre auch heute kapitalintensiv, so dass davon auszu-
gehen ist, dass die einstige ablehnende Haltung fortbesteht. Somit rückt das «ITO-
660 / 931
Modell» in den Vordergrund, dem Swissgrid heute nach verbreiteter Meinung in der
Schweiz, die in den Verhandlungen explizit auch von der Europäischen Kommission
geteilt wurde, mit Abstand am nächsten ist.
Änderungen an der heutigen StromVG-Governance sind jedoch auch beim ITO-
Modell nötig, auch sie sind beträchtlich, aber deutlich weniger einschneidend als z.B.
beim OU-Modell. Kern des ITO-Modells ist, dass der Übertragungsnetzbetreiber kon-
sequent vom
einen
beherrschenden EVU separiert wird, um unabhängig zu sein. Bei
Swissgrid muss dies – analog – bezogen auf
die mehreren
an ihr beteiligten EVUs
geschehen. Teilweise ist die Separierung schon heute ohne weiteres gegeben (Swiss-
grid funktioniert als eigenständiges Unternehmen mit entsprechender Ausstattung),
bei vielen Aspekten muss aber nachgeschärft werden, so z.B. beim Nutzen gemeinsa-
mer Dienste oder in personeller Hinsicht, indem Doppelmandate und gegenseitige Be-
teiligungen gezielt untersagt werden. Trotzdem soll es einem EVU aber erlaubt sein,
jemanden in den Verwaltungsrat von Swissgrid zu entsenden (
Abs. 7
), um dort die
Interessen des EVUs einzubringen. Die Funktion dieser Person ist aber auf diese Ver-
tretung beschränkt; im Übrigen darf sie, damit das Doppelmandatsverbot eingehalten
ist, nicht für das entsendende EVU tätig sein. Zudem muss Swissgrid Karenzfristen
einführen, d.h. Wartezeiten während derer jemand, der bei einem beteiligten EVU
beschäftigt war, nicht bei Swissgrid arbeiten darf und nach dem Weggang von Swiss-
grid nicht bei einem beteiligten EVU. Schliesslich muss ein Organ die Funktion des
nach EU-Recht vorgeschriebenen Aufsichtsorgans wahrnehmen, wofür der Verwal-
tungsrat, auch wenn nicht vollkommen passend, am besten geeignet ist. Dieses hat
bestimmte Aufgaben, so die Wahrung übergeordneter finanzieller Interessen der be-
teiligten EVUs und bestimmte Personalentscheide usw., darf hingegen nicht das ope-
rative Geschäft leiten und die Netzplanung ausführen. Die Vorgaben machen in der
Summe bei Swissgrid wahrscheinlich eine interne Neuverteilung von Aufgaben nötig.
Eventuell kann es hilfreich sein, statutarisch ein weiteres Organ zu schaffen, dem ge-
wisse Aufgaben übertragen werden (Art. 19 Abs. 1 Bst. b).
Das EU-Recht lässt im ITO-Modell zwar genau zu, dass ein EVU dominiert bzw. den
TSO beherrscht. Trotzdem erscheint es aus einer Schweizer Innensicht für Swissgrid
sinnvoll, hier Schranken zu setzen und eine Mehrheitsbeteiligung (präventiv) zu un-
tersagen (Abs. 3
bis
). Heute enthält Artikel 18 zahlreiche Vorgaben zum Statuteninhalt
(z.B. zum Vorkaufsrecht), obschon dies Thema von Artikel 19 ist. Diese Aspekte wer-
den mit der Revision (ohne inhaltliche Änderung) dorthin verschoben.
Art. 19 Abs. 1 und 1
bis
Artikel 19 zählt neu mehrere Statuteninhalte auf, neben den Inhalten, die sich aus dem
Aktienrecht nach Obligationenrecht ergeben (Einleitungssatz), teilweise solche, die
unverändert von Artikel 18 hierher verschoben werden. Teilweise stehen die Inhalte
im Zusammenhang mit dem TSO-Modell (ITO) des EU-Rechts aus dem Stromab-
kommen. Somit steht bei Swissgrid eine gewichtige Statutenänderung an. Der Bun-
desrat wird diese genehmigen müssen und wird bei dieser Gelegenheit darauf achten,
ob die Statuten insgesamt, auch in nicht neuen Punkten, rechtskonform sind. Während
die Genehmigung durch den Bundesrat im StromVG wurzelt, ist die Swissgrid-Zerti-
fizierung, die die ElCom machen muss, EU-rechtlich motiviert. Allenfalls kann eine
inhaltliche und zeitliche Abstimmung der beiden Prozesse sinnvoll sein.
661 / 931
Art. 22 Abs. 2 Bst. b
bis ,
c und d
bis
, Abs. 3, Abs. 4
bis
In
Absatz 2 Buchstabe b
bis
erhält die ElCom die Kompetenz, bei missbräuchlichen Be-
dingungen in der Ersatzversorgung einzuschreiten. In Anbetracht des Ausnahmecha-
rakters der Ersatzversorgung und des Fehlens von Tarifvorgaben hat sie jedoch keine
flächendeckende Prüfung vorzunehmen, sondern nur dann einzuschreiten, wenn es
Anzeichen für tatsächlich missbräuchliche Bedingungen gibt (sei es auf Anzeige hin
oder von Amtes wegen). Als Richtschnur können hierzu bspw. die Grundversorgungs-
tarife und die aktuellen Grosshandelsmarktpreise herangezogen werden.
Absatz 2 Buchstabe c:
Artikel 17 Absatz 5 wird mit der vorliegenden Änderung auf-
gehoben, sodass der Verweis in Artikel 22 Absatz 2 Buchstabe c ins Leere läuft. Neu
muss auf Artikel 19 Absatz 5 erster Satz der Verordnung (EU) 2019/943
566
verwiesen
werden. Diese rein formelle Änderung hat keinerlei Auswirkungen auf die Zuständig-
keiten der ElCom.
Bst. d
bis
: Mit dieser Ergänzung erhält die ElCom die nach dem EU-Recht nötigen Be-
fugnisse im Zusammenhang mit dem TSO-Modell, ausgedrückt mit dem Begriffspaar
«Organisation und Unabhängigkeit», dem Swissgrid entsprechen muss. Zentral ist die
Zertifizierung der Swissgrid als ITO. Die sich aus dem EU-Recht ergebenden Einzel-
heiten zum Verfahren werden nötigenfalls in der StromVV aufgeführt; einzuholen ist
u.a. eine Stellungnahme der Europäischen Kommission. Beim ITO-Modell muss für
zahlreiche Fälle bzw. Geschäfte der Regulator einbezogen werden, mitunter für Ge-
nehmigungen. Das EU-Recht enthält weitere Vorkehren, die der Regulator vorneh-
men können muss. Die StromVV wird dies weiter konkretisieren können. Inhaltlich
ergeben sich die Einzelheiten aber ohnehin aus dem Abkommen, aus den Artikeln 46
ff. der Strombinnenmarkt-Richtlinie.
Absatz 2
bis
: Die Erweiterung der Kompetenzen der ElCom ergibt sich aus der Umset-
zung von Artikel 51 der Richtlinie (EU) 2019/944. Insbesondere dessen
Absätze 7–9
räumen der nationalen Regulierungsbehörde die Möglichkeit ein, die im vorliegenden
Absatz genannten Massnahmen zu ergreifen.
Die Ergänzung in
Absatz 3
hält die ElCom dazu an, auch die Investitionen in die Er-
zeugungs- und Speicherkapazitäten zu betrachten, so wie dies den Regulierungsbe-
hörden in Artikel 59 Absatz 1 Buchstabe v der Strombinnenmarkt-Richtlinie mit
Blick auf die Versorgungssicherheit als Aufgabe zugetragen ist.
Art. 22b
Monitoring
Bereits jetzt gehört die Beobachtung der Entwicklung der Elektrizitätsmärkte im Hin-
blick auf eine sichere und erschwingliche Versorgung in allen Landesteilen zu den
Aufgaben der ElCom (Art. 22 Abs. 3). Wegen des Stromabkommens wird die Be-
obachtungsaufgabe mit dem neuen Artikel 22b auf weitere Bereiche ausgedehnt.
Während es bei Artikel 22 Absatz 3 um die Versorgungssicherheit geht, geht es hier
566
Verordnung (EU) 2019/943 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019
über den Elektrizitätsbinnenmarkt (Neufassung), Fassung gemäss ABl. L 158 vom
14.6.2019, S. 54.
662 / 931
insbesondere um die Wettbewerbsbedingungen. Es geht hauptsächlich um die Be-
obachtungsaufgabengemäss Artikel 59 Absatz 1 der Strombinnenmarkt-Richtlinie,
namentlich gemäss den Buchstaben n, o, p und z.
Nach
Absatz 2
ist Wettbewerbskommission (WEKO) zu informieren (vgl. Art. 59
Abs. 1 Bst. p der Strombinnenmarkt-Richtlinie).
Die Schlüsse aus dem Monitoring können auch zu einer Umjustierung der Regulie-
rung führen (
Abs. 3
): Es gibt verschiedene Möglichkeiten der Ausgestaltung der
Grundversorgung. Von diesen können je unterschiedliche Auswirkungen auf das
Wettbewerbsgeschehen im freien Markt ausgehen. Anzustreben ist eine Ausgestal-
tung, welche den Wettbewerb im freien Markt möglichst wenig tangiert (vgl. Art. 5
und 27 Abs. 2 Strombinnenmarkt-Richtlinie). Die Massnahmen, die der Bundesrat er-
greifen kann, sind verschiedenartig. Sie können bis zum Vorschlag an das Parlament
für eine Gesetzesänderung gehen.
Abs
atz
4: Die Möglichkeit zur Ausdehnung des Monitorings auf weitere Themenfel-
der, die der Aufsichtsfunktion der ElCom unterstehen, könnte etwa dann nützlich sein,
wenn in der Strombinnenmarkt-Richtlinie zusätzliche Beobachtungsgegenstände hin-
zugefügt werden.
Die für das Monitoring benötigten Informationen kann die ElCom von den verschie-
denen Akteuren (Lieferanten und Grundversorger, Verteilnetzbetreiber, Bilanzgrup-
pen, nationale Netzgesellschaft, Strombörsen, zentrale Datenplattform, Ombudsstelle
etc.) gestützt auf die Auskunftspflicht nach Artikel 25 einverlangen. Bezüglich der
Daten darf keine Zweckentfremdung stattfinden und falls es Auswertungen braucht,
ist das Datenschutzrecht zu beachten (Art. 39 Datenschutzgesetz
567
).
4
a.
Kapitel: Weitere Massnahmen im Zusammenhang mit der Marktöffnung
Art. 23a
Vergleichsinstrument
Absatz 1
: Die ElCom ist verantwortlich, dass ein Vergleichsinstrument entwickelt
wird, um Endverbrauchern die Wahl eines Liefer- und Abnahmeverträge zu erleich-
tern. Sie kann dies selbst machen oder Aufträge an Dritte erteilen. Der Kreis der Ver-
braucher, denen unentgeltlich zum Vergleich der verschiedenen Vertragsprodukte ein
zuverlässiges Instrument zur Verfügung stehen soll, ist im Vergleich zu Artikel 14
Absatz 1 der Strombinnenmarkt-Richtlinie noch etwas weitergezogen. Namentlich
gibt es keine Einschränkung auf Haushaltskunden und Kleinstunternehmen.
Absatz 2
: Die Anforderungen an das Vergleichsinstrument sind in Artikel 14 Absatz 1
Buchstabe a–h der Strombinnenmarkt-Richtlinie aufgeführt. Anzustreben ist eine
möglichst vollständige Marktabdeckung. Hervorzuheben ist weiter das Erfordernis
der Unabhängigkeit. Diese trägt zur Gleichbehandlung aller Marktteilnehmer bei und
verlangt insbesondere, dass der Betreiber des Vergleichsinstruments keine direkte
Vermittlung anbietet und keine Vermittlungsprovisionen einnimmt. Eine Verlinkung
auf die Internet-Seite des jeweiligen Anbieters ist nicht als Vermittlung anzusehen.
Sodann muss sich der Vergleich auf klare, transparente und objektive Kriterien stüt-
567
SR
235.1
663 / 931
zen. Damit sind Algorithmen ausgeschlossen, mit welchen die Reihenfolge der Ange-
bote von individuellen Eigenschaften der Endverbraucherin oder des Endverbrauchers
(z.B. Einkommensniveau) oder von Parametern abhängig sind, die für den Vergleich
nicht relevant sind. Weiter muss der Stand der letzten Aktualisierung der Vergleichs-
resultate angegeben sein und es muss eine Meldeverfahren für unzutreffende Angaben
geben.
Gestützt auf
Satz 2
kann der Bundesrat die Lieferanten verpflichten, ihre Produkte
dem Betreiber des Vergleichsinstruments zu melden, falls dies nicht auf freiwilliger
Basis geschieht.
In den Ausführungsvorschriften (zu Art. 12) ist ferner vorzusehen, dass die Endver-
braucher zusammen mit der Stromrechnung oder auf andere Weise über die Möglich-
keit zum Vergleich der verschiedenen Vertragsprodukte informiert werden.
Art. 23b
Ombudsstelle
Diese Bestimmung dient der Umsetzung von Artikel 26 der Strombinnenmarkt-Richt-
linie. Endverbraucherinnen und Endverbraucher mit Anspruch auf Grundversorgung
erhalten die Möglichkeit, Streitigkeiten mit Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft
vor eine zentrale Ombudsstelle zu bringen. Der Begriff der Unternehmen der Elektri-
zitätswirtschaft ist weit zu verstehen, neben Elektrizitätslieferanten und Netzbetrei-
bern sind beispielsweise auch Aggregatoren erfasst. Im Vermittlungsverfahren kön-
nen sachgerechte Einigungen erreicht werden, wenn sich der Gang zum Richter bzw.
zu einer Schlichtungsstelle nach ZPO angesichts des Streitwerts sonst nicht lohnen
würde. Die ElCom versucht bereits heute Streitigkeiten in ihrem Kompetenzbereich
wie der Grundversorgung oder dem Netzzugang zu schlichten. Mit der Marktöffnung
sowie mit der zunehmenden Möglichkeit für Kundinnen und Kunden aktiv zu werden
(z.B. Flexibilität, Aggregierung) gibt es neue Vertragsverhältnisse, was wiederum
dazu führt, dass sich die Anzahl Streitigkeiten erhöhen dürfte (
Abs. 1
).
Die Vermittlung bei der Ombudsstelle ist freiwillig, ausser wenn es sich bei einer der
Parteien um Endverbraucherinnen und Endverbraucher mit Anspruch auf Grundver-
sorgung handelt (
Abs. 2
). Als Endverbraucherinnen und Endverbraucher mit An-
spruch auf Grundversorgung gelten gemäss Artikel 6 Absatz 1 diejenigen mit einem
Jahresverbrauch von weniger als 50 MWh.
Um einen Missbrauch der Vermittlungsmöglichkeit zu verhindern, ist sie für den An-
tragsteller nicht kostenlos. Die Bearbeitungspauschale soll aber niedrig genug sein,
damit die Anrufung der Ombudsstelle auch bei geringen Streitwerten möglich ist. Die
Ombudsstelle soll vor allem durch die Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft finan-
ziert werden (Abs. 3). Die Finanzierung durch Verfahrenskosten ist verursacherge-
recht, denn nur Elektrizitätsunternehmen, die es zum Streit mit Kundinnen oder Kun-
den
kommen
lassen,
finanzieren
die
Schlichtungsstelle.
Mit
der
Verfahrenskostenregelung werden den Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft An-
reize gesetzt, einvernehmliche Lösungen mit ihren Kundinnen und Kunden zu suchen.
Es sollen nur Schlichtungsverfahren durchgeführt werden, bei denen die Kundin oder
der Kunde vorgängig erste Schritte unternommen hat, um eine Einigung mit dem Un-
ternehmen der Elektrizitätswirtschaft zu finden und die nicht offensichtlich miss-
bräuchlich eingeleitet wurden.
664 / 931
Die Ombudsstelle veröffentlicht einen Bericht zu ihrer Aktivität (
Abs. 5
). Diese Infor-
mationen kann die ElCom für das Monitoring verwenden. In ihrem Bericht kann die
Ombudsstelle auf bestimmte Geschäftspraktiken hinweisen, die wiederholt Gegen-
stand von Verfahren vor der Ombudsstelle sind unter Angabe von Namen und Adresse
der Anbieterinnen und Anbieter, die diese Geschäftspraktiken anwenden. Dies dient
der Transparenz, da die Konsumentinnen und Konsumenten einen informierten Ent-
scheid bei der Wahl ihres Anbieters treffen können.
Die Ombudsstelle soll in Umsetzung von Artikel 25 der Strombinnenmarkt-Richtlinie
auch als zentrale Anlaufstelle Endverbraucherinnen und Endverbraucher über ihre
Rechte gestützt auf dieses Gesetz und die Artikel 15–18 EnG informieren.
Der Bundesrat bezeichnet die Ombudsstelle. Möglich ist eine Lösung wie im Fern-
meldebereich (Zusammenarbeit der Branche und des Konsumentenschutzes) oder die
Ombudsstelle kann bei der ElCom angegliedert werden.
Art. 23c
Auswirkungen des Stromabkommens auf die Arbeitsbedingungen
Eine ähnliche Bestimmung war bereits im Rahmen der Botschaft zum Bundesgesetz
über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien vom 18. Juni 2021 vor-
gesehen (Art. 33 Abs. 4 E-StromVG
568
). Bei Bedarf kann der Bundesrat auch früher
und öfters einen Bericht über ihre Beobachtungen vorlegen.
Absatz 1
enthält diesbe-
züglich nur die Mindestanforderungen.
Absatz 2
: Wirkt sich die Marktöffnung für alle Endverbraucherinnen und Endverbrau-
cher negativ auf die Arbeitsbedingungen im Elektrizitätsmarkt aus, so ergreift der
Bundesrat geeignete Gegenmassnahmen (z.B. Umschulungen) oder kann die tripartite
Kommission des Bundes im Sinne von Artikel 360
b
OR über die Arbeitsbedingungen
im Elektrizitätsmarkt informieren.
4b. Kapitel: Pilotprojekte
Art. 23d
Bisheriger Artikel 23a
6. Kapitel: Auskunftspflicht, Umgang mit Daten, Rechtsverhältnisse und Auf-
sichtsabgabe
Art. 25 Abs. 1
In
Absatz 1
wird die Aufzählung der Akteure erweitert, die auskunftspflichtig sind und
Unterlagen zur Verfügung stellen müssen, v.a. gegenüber der ElCom, aber letztlich
generell gegenüber den mit dem Vollzug des StromVG betrauten Stellen. Die Erwei-
terung ist v.a. wegen des Monitorings nach Artikel 22
b
nötig, weil die ElCom für ihre
betreffenden Beobachtungsaufgaben gegebenenfalls Auskünfte und Unterlagen
braucht, die sie nicht auf anderem Weg schon hat. Ergänzt werden die Betreiber von
568
BBl
2021
1667
665 / 931
Strombörsen und die Ombudsstelle. Von der Pflicht ebenfalls erfasst sind die Bilanz-
gruppen; sie fallen aber unter die «Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft».
Art. 26a
Rechtsverhältnisse und Rechtsweg
Abs. 1:
Bisher regelte das StromVG nicht, ob die Vertrags- und Rechtsverhältnisse
gemäss dem Gesetz öffentlich- oder privatrechtlich sind. Die Gerichte haben sukzes-
sive viele dieser Fälle geklärt, meist mit dem Resultat, das Verhältnis sei öffentlich-
rechtlich, z.B. bei der Grundversorgung. Diese Rechtsnatur hat jedoch Nachteile, v.a.
kann sie schwerfällig sein, wenn die betroffenen Akteure wie die Grundversorger oder
Verteilnetzbetreiber Änderungen innert nützlicher Frist abwickeln müssen; da ist die
Verfügung oder erst recht der öffentlich-rechtliche Vertrag umständlich. Das Strom-
abkommen bringt viele Neuerungen, auch neue Verträge und bei der Grundversor-
gung namentlich das Recht zum raschen Wechsel (in den freien Markt). Es ist daher
für die Rechtssicherheit angezeigt, die Rechtsnatur zu klären. Materiell ist die Unter-
stellung der verschiedenen Rechtsverhältnisse, also Grundversorgung, Netznutzung,
Flexibilität, Aggregierung und vieles mehr, unter das Privatrecht die bessere, da pra-
xistauglichere Lösung. Der Schutz der Kundinnen und Kunden wird so nicht ge-
schwächt, da für einen wirksamen Schutz viel wichtiger ist, dass inhaltliche Vorgaben
bestehen, die Schutz bringen, was mit der Umsetzung des Stromabkommens der Fall
ist (vgl. u.a. auch die Ombudsstelle). Auch in anderen Bereich des Schweizer Service
Public sind die Verhältnisse teilweise privatrechtlich geordnet. Im öffentlichen Ver-
kehr unterstehen z.B. vermögensrechtliche Streitigkeiten zwischen der Kundschaft
und den Transportunternehmen der Zivilgerichtsbarkeit. Im Bereich der Post sind ge-
wisse Ansprüche wie der Abschluss eines Vertrags über den Zugang zu einem Post-
fach über den Regulator (PostCom) durchzusetzen sind; Streitigkeiten aus den Ver-
trägen werden aber durch die Zivilgerichte beurteilt. Beim StromVG müssen gewisse
Ansprüche, z.B. die Absenkung eines Tarifs ebenfalls über den Regulator, die ElCom,
durchgesetzt werden. Das sind aber nicht Streitigkeiten aus Vertrag. Für solche ist mit
dem neuen Artikel 26
a
geklärt, dass sie ebenfalls durch die Zivilgerichte beurteilt
werden.
Diese neue Lösung im StromVG gilt auch für öffentlich-rechtlich organsierte Unter-
nehmen wie Anstalten.
Diese Zuweisung zum Privatrecht darf nichts an den zuvor erwähnten Zuständigkeiten
der ElCom als Regulator ändern und tut dies auch nicht;
Absatz 2
behält diese (dekla-
ratorisch) ausdrücklich vor. Es mag mitunter schwierige Abgrenzungsfragen geben
zwischen dem, was die Zivilgerichte und dem, was die ElCom entscheiden müssen.
Da wo diese nach dem StromVG als Regulator zuständig ist, muss man an sie gelan-
gen; ihre Zuständigkeit geht vor. Das davon nicht Abgedeckte kann, wenn es sich
zugleich um eine «Streitigkeit aus Vertrag» handelt, vor ein Zivilgericht gebracht wer-
den. Die erwähnten Abgrenzungsfragen stellen sich schon heute bzw. genau gleich,
egal welches die Handlungsform der Unternehmen ist, also auch wenn die Verhält-
nisse öffentlich-rechtlich beherrscht sind.
Art. 29 Abs. 1 Bst. b und f
bis
666 / 931
Absatz 1 Buchstabe b
: Die bisherige Strafbestimmung wird analog den verschärften
Entflechtungsvorgaben angepasst. Folglich wird nicht nur eine falsche oder fehlende
buchhalterische Trennung unter Strafe gestellt, sondern ebenfalls eine falsche oder
fehlende organisatorische, personelle oder rechtliche Trennung. Um dem Be-
stimmtheitsgebot besser Rechnung zu tragen, wird neu jeweils bei den einzelnen Tat-
beständen auf die konkrete Bestimmung verwiesen. Ebenso wird neu der Tatbestand
der Missachtung des Verbots zur Querfinanzierung explizit erwähnt, der bisher ledig-
lich implizit mitenthalten war.
Zu Buchstabe f
bis
: Das im aktuellen Recht enthaltene Verbot, aus der Reserve abgeru-
fene Energie ins Ausland zu verkaufen, ist mit dem EU-Recht nicht vereinbar. Analog
zu Artikel 8
b
Absatz 6 wird der Verbotsgehalt deshalb auch hier reduziert.
Art. 33d
Übergangsbestimmung zur Änderung vom …
Absatz 1:
Für die Implementierung der verschärften Entflechtungsvorgaben, wird eine
Übergangsfrist von 1 Jahr ab Inkrafttreten vorgesehen.
Absatz 2:
Öffentlich-rechtlich organisierten VNB wird angesichts der zu durchlaufen-
den langwierigen politischen Prozesse eine Übergangsfrist von drei Jahren ab Inkraft-
treten eingeräumt.
2.11.8.3
Bundesgesetz über die Aufsicht und Transparenz in den
Energiegrosshandelsmärkten (BATE)
Das Bundesgesetz über die Aufsicht und Transparenz in den Energiegrosshandels-
märkten (BATE)
569
wurde am 21. März 2025 verabschiedet.
570
Es soll zwischen 2026
und 2027 in Kraft treten.
Mit dem BATE in seiner 2025 verabschiedeten Fassung soll das Vertrauen in die
Energiegrosshandelsmärkte, auf denen mit schweizerischen Energiegrosshandelspro-
dukten (Strom und Gas) gehandelt wird, gefestigt und eine Annäherung an das EU-
Recht erreicht werden. Das BATE in der Fassung von 2025 sieht jedoch weder eine
Integration in den EU-Binnenmarkt noch eine Zusammenarbeit bei der Marktaufsicht
(REMIT-System) vor. Seine Regelungen stehen aber schon vollständig im Einklang
mit der Verordnung (EU) Nr. 1227/2011
571
(REMIT-Verordnung). Die Bestimmun-
gen zu den Pflichten und zum unzulässigen Marktverhalten beispielsweise entspre-
chen denen der REMIT-Verordnung.
Mit dem Stromabkommen muss die Schweiz nun aber künftig gewährleisten, dass
direkt die in der REMIT-Verordnung vorgesehenen Pflichten und Verbote eingehal-
ten und ausgeübt werden. Die REMIT-Verordnung gilt gemäss Stromabkommen in
der Schweiz allerdings nur für den Stromgrosshandel (so aufgenommen in Art. 1
Abs. 6 der REMIT-Verordnung).
569
BBl
2023
2865
570
Geschäft des Bundesrates 23.083 «Aufsicht und Transparenz in den Energiegrosshandels-
märkten (BATE)»
571
Verordnung (EU) Nr. 1227/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Ok-
tober 2011 über die Integrität und Transparenz des Energiegrosshandelsmarkts, Fassung
gemäss ABl. L 2024/1106 vom 17.4.2024.
667 / 931
Für den Gasbereich hat die vorliegende Revision keine materiellen Änderungen zur
Folge, da der Schweizer Gasgrosshandel nicht unter das Stromabkommen fällt. Im
Gasbereich behält die ElCom daher ihre Funktion als Aufsichtsbehörde. Ausserdem
bleiben die Bestimmungen zu den Pflichten, dem unzulässigen Marktverhalten, den
Aufsichtsinstrumenten, den Verwaltungssanktionen, den strafrechtlichen Sanktionen
und der Rechtshilfe inhaltlich unverändert. Diese Bestimmungen werden lediglich re-
daktionell angepasst, dies infolge der Trennung zwischen dem Gas- und dem Strom-
bereich. Das für den Gasbereich geltende System des BATE bleibt somit unverän-
dert.
572
Was den Strombereich betrifft, ist die ElCom nicht mehr nur Aufsichtsbehörde, son-
dern es kommt ihr zusätzlich die Funktion der nationalen Regulierungsbehörde zu.
Die Funktion der Aufsichtsbehörde geht an die ACER über. Die Pflichten sowie die
Regeln betreffend das unzulässige Marktverhalten sind zwar vergleichbar mit jenen,
die das BATE in der Fassung von 2025 vorsieht, sie ergeben sich neu aber direkt aus
der Anwendung der REMIT-Verordnung. Die Richtlinien von der ACER vom 18. De-
zember 2024 präzisieren die einzelnen Pflichten und Verbote gemäss der REMIT-
Verordnung in detaillierter Weise.
573
Die ElCom hat in ihrer neuen Funktion die Auf-
gabe, die Einhaltung und Ausübung der von der REMIT-Verordnung vorgesehenen
Pflichten und Verbote zu gewährleisten. Dazu stellt das BATE der ElCom verschie-
dene Mittel zur Verfügung, etwa Aufsichtsinstrumente, Sanktionen sowie Amts- und
Rechtshilfe. In Bezug auf solche Regelungen gesteht die REMIT-Verordnung der
Schweiz einen gewissen Handlungsspielraum zu.
Ersatz von Ausdrücken
Der Ersatz verschiedener Ausdrücke im ganzen Erlass ergibt sich direkt aus der vom
Stromabkommen ausgehenden Trennung zwischen dem Gas- und dem Strombereich.
Der 1. Abschnitt enthält gemeinsame Bestimmungen für den Gas- und den Strombe-
reich.
Art. 1 Abs. 1 Einleitungssatz, 2 und 3
Die Absätze 1 und 2 Buchstabe a entsprechen weitgehend der bisherigen Regelung.
Sie werden lediglich redaktionell angepasst, dies infolge der Trennung zwischen dem
Gas- und dem Strombereich.
Der neue Gegenstand in Absatz 2 Buchstabe b ergibt sich direkt daraus, dass die
REMIT-Verordnung mit dem BATE ausgeführt wird (vgl. Bemerkungen zu Art. 20
a
).
Absatz 3
umschreibt die Bezeichnung der ElCom als Behörde, die für die Ausübung
der Aufsicht über die Stromgrosshandelsmärkte und die Wahrnehmung der Aufgaben,
die nach der REMIT-Verordnung der nationalen Regulierungsbehörde obliegen, zu-
ständig ist.
572
BBl
2023
2864
573
ACER Guidance on the application of Regulation (EU) No 1227/2011 on wholesale en-
ergy market integrity and transparency, 6.1st Edition.
668 / 931
Art. 2
Persönlicher und sachlicher Geltungsbereich
Abs. 1 und 2
Gemäss Stromabkommen gilt die REMIT-Verordnung nur für den Stromhandel. Da-
her ist eine klare Trennung zwischen den Akteuren aufgrund ihres Tätigkeitsbereichs
nötig (Strom oder Gas). Dazu dienen diese Änderungen.
Absatz 1
entspricht weitgehend der aktuellen Fassung. Neu regelt er die Anwendbar-
keit des BATE für Akteure, die auf einem Gasgrosshandelsmarkt (vgl. Art. 3 Abs. 1
Bst. a E-BATE) tätig sind, der schweizerische Gasgrosshandelsprodukte betrifft (vgl.
Art. 3 Abs. 1 Bst. b E-BATE).
Absatz 2 statuiert die Anwendbarkeit des BATE für Akteure, die auf einem Strom-
grosshandelsmarkt (vgl. Art. 3 Abs. 1 Bst. a
bis
E-BATE) tätig sind, der Stromgross-
handelsprodukte (vgl. Art. 3 Abs. 1 Bst. b
ter
E-BATE) betrifft, und die damit der
REMIT-Verordnung unterstehen.
Diese neue Unterscheidung ermöglicht es, klar festzulegen, welche Bestimmungen
des BATE für welche Kategorien von Akteuren gelten:
–
Für die Teilnehmer am Schweizer Gasmarkt, die Teilnehmer am europäi-
schen Gasmarkt und die Vermittler am Schweizer Gasmarkt gelten die ge-
nau gleichen Bestimmungen wie nach dem aktuellen BATE.
–
Die Teilnehmer am Strommarkt und die Vermittler am Strommarkt hinge-
gen unterstehen gemäss dem Stromabkommen der REMIT-Verordnung.
Entsprechend sind für sie nur noch einzelne Bestimmungen des BATE, die
die REMIT-Verordnung ausführen, anwendbar (insbesondere die Bestim-
mungen über Massnahmen und Sanktionen).
Abs. 3
Absatz 3
entspricht weitgehend der bisherigen Regelung in Artikel 2 Absatz 2 BATE.
Jedoch fällt nur noch das unzulässige Marktverhalten auf Gasgrosshandelsmärkten,
das im 3. Abschnitt des BATE geregelt ist, unter diese Bestimmung. Unzulässiges
Marktverhalten auf Stromgrosshandelsmärkten gemäss den Artikeln 2 Absätze 2 und
3, 3 und 5 der REMIT-Verordnung, das zugleich gegen das Finanzmarktinfrastruktur-
gesetz vom 19. Juni 2015
574
(FinfraG) verstösst, wird somit gemäss dem BATE unter-
sucht und sanktioniert. Denn nur das BATE sieht Massnahmen und Sanktionen vor,
die denjenigen entsprechen, die die REMIT-Verordnung von den Mitgliedstaaten ver-
langt.
Art. 3 Abs. 1 Bst. a–b
ter
Die Aufsplittung des Begriffs «Energiegrosshandelsmarkt» in die beiden separaten
Begriffe «Gasgrosshandelsmarkt» (Bst. a) und «Stromgrosshandelsmarkt» (Bst. a
bis
)
574
SR
958.1
669 / 931
ergibt sich aus der vom Stromabkommen ausgehenden Trennung zwischen dem Gas-
und dem Strombereich.
Buchstabe b entspricht weitgehend der aktuellen Fassung. Die Aufsplittung des Be-
griffs «Energiegrosshandelsprodukt» in die beiden separaten Begriffe «schweizeri-
sches Gasgrosshandelsprodukt» (Bst. b) und «Stromgrosshandelsprodukt» (Bst. b
bis
)
ergibt sich aus der vom Stromabkommen ausgehenden Trennung zwischen dem Gas-
und dem Strombereich. Diese Trennung ermöglicht es, die Akteure, die mit den einen
oder den anderen Produkten handeln, eindeutig zu identifizieren und sie so den pas-
senden Bestimmungen zu unterstellen.
Die Buchstaben b
bis
und b
ter
verweisen auf den Begriff «Energiegrosshandelsprodukt»
nach Artikel 2 Absatz 4 der REMIT-Verordnung. Auch hier ermöglicht es die Tren-
nung zwischen europäischen Gasgrosshandelsprodukten (Bst. b
bis
) und Stromgross-
handelsprodukten (Bst. b
ter
), die Akteure, die mit den einen oder den anderen Produk-
ten handeln, eindeutig zu identifizieren und sie so den passenden Bestimmungen zu
unterstellen.
2. Abschnitt:
Pflichten der Teilnehmer am Gasmarkt und der
Vermittler am Gasmarkt sowie Zulassung von
Plattformen für Insiderinformationen und von
Meldemechanismen
Der 2. Abschnitt gilt ausschliesslich für den Gasbereich.
Er entspricht weitgehend der geltenden Regelung. Die Bestimmungen werden ledig-
lich redaktionell angepasst, dies infolge der Trennung zwischen dem Gas- und dem
Strombereich. Die Anpassungen dienen der Präzisierung, dass der 2. Abschnitt aus-
schliesslich auf diejenigen Akteure anwendbar ist, die im Gasbereich tätig sind. Die
Begriffe «schweizerisches Energiegrosshandelsprodukt», «Teilnehmer am Schweizer
Markt», «Teilnehmer am europäischen Markt» und «Vermittler am Schweizer Markt»
werden entsprechend ersetzt durch «schweizerisches Gasgrosshandelsprodukt»,
«Teilnehmer am Schweizer Gasmarkt», «Teilnehmer am europäischen Gasmarkt»
und «Vermittler am Schweizer Gasmarkt». Die damit zusammenhängenden Änderun-
gen ergeben sich direkt aus der Generalanweisung zum Ersatz von Ausdrücken.
Art. 4 Abs. 7
Der Verweis auf Artikel 12 Absatz 9 Buchstabe b wird gestrichen, da dieser Buch-
stabe aufgehoben wird (vgl. Erläuterungen zu Art. 12 Abs. 9 BATE).
Art. 7 Abs. 3 Bst. a
Bei den Marktteilnehmern, die die Veröffentlichungspflicht bereits erfüllt haben, wird
nicht mehr präzisiert, auf welchem Markt sie tätig sind. Entscheidend ist die Veröf-
fentlichung an sich.
Art. 8 Abs. 2
670 / 931
Die nationale Netzgesellschaft nach Artikel 18 StromVG wird nicht mehr erwähnt, da
der 2. Abschnitt nur noch für den Gasbereich gilt.
Art. 12 Abs. 3 Einleitungssatz und Bst. a, 7 sowie 11 Bst. b und d
Absatz 3 Buchstabe a verwendet nun den in Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe b
bis
neu ein-
geführten Begriff «europäisches Gasgrosshandelsprodukt».
Die Absätze 6 und 11 Buchstabe b werden aufgehoben, da der 2. Abschnitt nur noch
für den Gasbereich gilt. Aus dem gleichen Grund wird in Absatz 11 Buchstabe d das
Wort «Strom» gestrichen.
3. Abschnitt:
Unzulässiges Marktverhalten an den
Gasgrosshandelsmärkten
Der 3. Abschnitt gilt ausschliesslich für den Gasbereich.
Er entspricht weitgehend der bisherigen Regelung. Die Bestimmungen werden ledig-
lich redaktionell angepasst, dies infolge der Trennung zwischen dem Gas- und dem
Strombereich. Die Begriffe «schweizerisches Energiegrosshandelsprodukt» und
«Teilnehmer am Schweizer Markt» werden entsprechend ersetzt durch «schweizeri-
sches Gasgrosshandelsprodukt» und «Teilnehmer am Schweizer Gasmarkt». Die da-
mit zusammenhängenden Änderungen ergeben sich direkt aus der Generalanweisung
zum Ersatz von Ausdrücken.
Art. 19 Abs. 3
Die nationale Netzgesellschaft nach Artikel 18 StromVG wird nicht mehr erwähnt, da
der 3. Abschnitt nur noch für den Gasbereich gilt.
3
a
. Abschnitt:
Für die Teilnehmer und die Vermittler am
Strommarkt geltende Pflichten sowie unzulässiges
Marktverhalten an den Stromgrosshandelsmärkten
Der 3a. Abschnitt gilt ausschliesslich für den Strombereich.
Art. 20a
Abs. 1
In
Absatz 1
werden die wichtigsten Pflichten und Verbote benannt, die die Teilneh-
mer am Strommarkt und die Vermittler am Strommarkt gemäss der REMIT-
Verordnung einhalten müssen. Da das BATE bei Verstössen gegen diese Pflichten
oder Verbote der REMIT-Verordnung verschiedene Sanktionen, einschliesslich
Strafbestimmungen, vorsieht (vgl. Art. 25 ff. und 44 ff. BATE), wird mit den Ver-
weisen auf die entsprechenden Bestimmungen der REMIT-Verordnung in Absatz 1
dem Gebot der Bestimmtheit der Rechtsgrundlage
(nulla poena sine lege certa)
ent-
sprochen.
671 / 931
Die Teilnehmer am Strommarkt und die Vermittler am Strommarkt unterstehen ge-
mäss dem Stromabkommen neu der REMIT-Verordnung und müssen daher sämtliche
dort vorgesehenen Pflichten erfüllen. Unzulässiges Marktverhalten im Zusammen-
hang mit Stromgrosshandelsprodukten ist gemäss der REMIT-Verordnung verboten
(für nähere Informationen vgl. die Richtlinien von der ACER
575
). Da das BATE aber
schon in seiner aktuellen Fassung, also vor dem Inkrafttreten des Stromabkommens,
mit der REMIT-Verordnung kompatibel ist, findet für die betroffenen Akteure eigent-
lich nur ein Paradigmenwechsel statt. Die Pflichten selbst ändern sich aus materieller
Sicht nicht, nur einige formale Aspekte werden neu geregelt, unter anderem die Auf-
sichtsbehörde (die ACER tritt an die Stelle der ElCom).
Registrierungspflicht
Artikel 9 Absatz 1 der REMIT-Verordnung präzisiert, dass sich ein Marktteilnehmer
nur bei einer einzigen nationalen Regulierungsbehörde (NRB) registrieren muss. Da
die REMIT-Verordnung für die Schweiz nicht galt, war es bislang nicht möglich, eine
Doppelregistrierung (bei der ElCom und der betreffenden NRB) zu vermeiden. Mit
dem Stromabkommen und der Anwendbarkeit der REMIT-Verordnung gilt nun Fol-
gendes:
-
Neue Marktteilnehmer müssen sich direkt bei der NRB des Mitgliedstaats re-
gistrieren, in dem sie niedergelassen oder ansässig sind (Art. 9 Abs. 1 der
REMIT-Verordnung). Die ElCom hat gemäss Artikel 9 Absatz 3 der REMIT-
Verordnung in allen Fällen einen vollständigen Zugang zum gesamten Ver-
zeichnis von der ACER.
-
Die ElCom (der die Funktion einer NRB zukommt) muss ACER die Informa-
tionen derjenigen Teilnehmer am Strommarkt übermitteln, die zum Zeitpunkt
des Inkrafttretens des Stromabkommens bei ihr registriert sind (Art. 9 Abs. 3
der REMIT-Verordnung).
Veröffentlichungspflicht
Die Veröffentlichungspflicht bleibt mit dem Stromabkommen und der Anwendbarkeit
der REMIT-Verordnung im Wesentlichen gleich ausgestaltet wie bisher nach dem
BATE, da dieses bereits eine einseitige Anerkennung vorsah für Plattformen für Insi-
derinformationen, die bei der ACER registriert und von ihr gemäss den Regelungen
der EU zugelassen sind.
Übermittlungspflicht
Mit dem Stromabkommen und der Anwendbarkeit der REMIT-Verordnung müssen
die Teilnehmer am Strommarkt Informationen neu direkt an die ACER übermitteln
(Art. 8 Abs. 1 der REMIT-Verordnung). Anders als nach der heutigen Regelung ge-
mäss BATE hat die ElCom künftig über ACER Zugang zu den Informationen über
die Teilnehmer am Strommarkt. Gemäss Artikel 10 Absatz 1 der REMIT-Verordnung
muss die ACER die bei ihr eingehenden Informationen mit den NRB austauschen, im
Fall der Schweiz also mit der ElCom.
575
ACER, Guidance on the application of REMIT, 6.1st Edition
672 / 931
Die folgenden beiden Tabellen geben einen Überblick über die verschiedenen Pflich-
ten und die Bestimmungen betreffend unzulässiges Marktverhalten im BATE sowie
ihre Entsprechungen in der REMIT-Verordnung.
Vergleichstabelle zu den Pflichten
Vergleichstabelle zum unzulässigen Marktverhalten
BATE
REMIT
Ausnützung und Wei-
tergabe von Insiderin-
formationen
Art. 19
Art. 3
Marktmanipulation
Art. 20
Art. 2 Abs. 2 und
Art. 5
Abs. 2
Um sicherzustellen, dass die direkt in der REMIT-Verordnung vorgesehenen Pflich-
ten und Verbote eingehalten und ausgeübt werden, muss der Bundesrat die Möglich-
keit haben, Ausführungsbestimmungen zu erlassen und darin gewisse Einzelheiten zu
regeln oder auch Ausnahmen von den Pflichten und Verboten gemäss der REMIT-
Verordnung vorzusehen. Diese Möglichkeit ist jedoch auf Fälle beschränkt, in denen
die Schweiz über einen Handlungsspielraum verfügt, weil ein solcher von der
REMIT-Verordnung vorgesehen ist und die Europäische Kommission keine gegen-
teiligen Bestimmungen erlassen hat. Bei seinen Ausführungsbestimmungen kann sich
BATE
REMIT
Registrierungspflicht
Art. 4 und 5
Art. 9
Pflicht zur Bezeichnung
einer Vertretung
Art. 6
Art. 9
Veröffentlichungs-
pflicht
Art. 7 und 8
Art. 4
Plattformen für Insider-
informationen
Art. 9–11
Art. 4
a
Übermittlungspflicht
Art. 12
Art. 8 und Durchfüh-
rungsverordnung (EU)
Nr. 1348/2014
Meldemechanismen
Art. 13–15
Art. 9
a
Algorithmischer Handel
Art. 16
Art. 5
a
Direkter elektronischer
Zugang
Art. 17
Art. 5
a
Pflichten der Vermittler
Art. 18
Art. 15
673 / 931
der Bundesrat an den Bestimmungen im 2. Abschnitt BATE zum Gasbereich orien-
tieren. Er muss dabei die REMIT-Verordnung sowie die Durchführungsverordnung
(EU) Nr. 1348/2014 einhalten.
4. Abschnitt: Aufgaben der ElCom und Datenbearbeitung
Der 4. Abschnitt enthält gemeinsame Bestimmungen für den Gas- und den Strombe-
reich.
Art. 21 Abs. 1–3
Absatz 1
entspricht weitgehend Artikel 21 Absätze 1 und 2 BATE, die zu einem ein-
zigen Absatz zusammengefasst werden. Die Bestimmung wird lediglich redaktionell
angepasst, dies infolge der Trennung zwischen dem Gas- und dem Strombereich.
Absatz 2
stellt klar, welche neuen Aufgaben sich aufgrund der Anwendbarkeit der
REMIT-Verordnung für die ElCom ergeben. Neu ist im Strombereich nicht mehr die
ElCom die Aufsichtsbehörde; diese Funktion wird auf die ACER übertragen. Hinge-
gen wird die ElCom zur NRB. In dieser Funktion muss sie die Einhaltung und Aus-
übung der Pflichten und Verbote nach der REMIT-Verordnung sicherstellen. Dazu
stellt ihr das BATE verschiedene Mittel zur Verfügung, etwa Aufsichtsinstrumente,
Sanktionen oder die Amts- und die Rechtshilfe.
Absatz 3
entspricht weitgehend der bisherigen Regelung. Er wird lediglich redaktio-
nell angepasst, dies infolge der Trennung zwischen dem Gas- und dem Strombereich
und aufgrund der Anwendbarkeit der REMIT-Verordnung.
Art. 23 Abs. 2 und 3
Die Teilnehmer am Schweizer Gasmarkt müssen weiterhin eine Aufsichtsabgabe an
die ElCom entrichten. Die Aufsichtsabgabe der Teilnehmer am Strommarkt ist ge-
mäss dem Beschluss (EU) 2020/2152
576
hingegen an die ACER zu entrichten.
Art. 24 Abs. 1 Einleitungssatz sowie Abs. 2 Bst. a
bis
und b
Artikel 24 entspricht weitgehend der bisherigen Regelung. Er wird lediglich redakti-
onell angepasst, dies infolge der Trennung zwischen dem Gas- und dem Strombereich
und aufgrund der Anwendbarkeit der REMIT-Verordnung.
Der 5. Abschnitt enthält gemeinsame Bestimmungen für den Gas- und den Strombe-
reich.
Da die bestehenden Aufsichtsinstrumente nach dem BATE mit Artikel 18 der
REMIT-Verordnung kompatibel sind, sind sie weiterhin sowohl für die Teilnehmer
am Gasmarkt als auch für die Teilnehmer am Strommarkt anwendbar. Die ElCom ist
demnach dafür zuständig, eine Untersuchung bei schwerwiegendem unzulässigem
576
Beschluss (EU) 2020/2152 der Kommission vom 17. Dezember 2020 über die an die
Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehör-
den zu entrichtenden Gebühren für die Erhebung, Bearbeitung, Verarbeitung und Analyse
von gemäss der Verordnung (EU) Nr. 1227/2011 des Europäischen Parlaments und des
Rates gemeldeten Informationen, ABl. L 428 vom 18.12.2020, S. 68.
674 / 931
Marktverhalten nach dem BATE oder nach der REMIT-Verordnung oder einem
schweren Verstoss gegen die vom BATE oder von der REMIT-Verordnung vorgese-
henen Pflichten durchzuführen. Artikel 30 Absatz 3 bleibt dabei vorbehalten.
Art. 25─30
Die Artikel 25–30 entsprechen weitgehend der bisherigen Regelung. Sie werden le-
diglich redaktionell angepasst, dies infolge der Trennung zwischen dem Gas- und dem
Strombereich und aufgrund der Anwendbarkeit der REMIT-Verordnung.
Art. 30a
Gemeinsame Bestimmungen
Da die REMIT-Verordnung nur für den Stromhandel gilt, ist allein die ElCom dafür
zuständig, schwerwiegendes unzulässiges Marktverhalten auf den Gasgrosshandels-
märkten nach dem 3. Abschnitt und Verstösse gegen die Pflichten nach dem 2. Ab-
schnitt BATE zu untersuchen.
Im Strombereich werden unzulässiges Marktverhalten auf den Stromgrosshandels-
märkten und Verstösse gegen die Pflichten nach der REMIT-Verordnung in der Regel
von der ElCom untersucht, vorbehaltlich der in Artikel 13 Absätze 5–8 der REMIT-
Verordnung genannten Sonderfälle, die Auswirkungen in der Schweiz und in mindes-
tens einem EU-Mitgliedstaat haben (grenzüberschreitende Auswirkungen).
Gibt es keine grenzüberschreitenden Auswirkungen, so obliegt es der ElCom, das un-
zulässige Verhalten und die Verstösse zu untersuchen. Denn gemäss Artikel 13 Ab-
satz 1 der REMIT-Verordnung sind die NRB dafür zuständig, alle auf ihren nationalen
Energiegrosshandelsmärkten vorgenommenen Handlungen zu untersuchen und die
Verordnung durchzusetzen, und zwar unabhängig davon, wo der Marktteilnehmer,
der diese Handlungen vornimmt, registriert oder zur Registrierung gemäss Artikel 9
Absatz 1 der Verordnung verpflichtet ist. Dabei gilt allerdings Folgendes: Will die
ElCom konkret eine Untersuchung durchführen, so muss sie die ACER mitteilen, dass
sie Widerspruch dagegen erhebt, dass diese in der Schweiz Untersuchungsmassnah-
men nach den Artikeln 13
a
–13
c
der REMIT-Verordnung durchführt. Dafür hat sie
gemäss Artikel 13 Absatz 4 der REMIT-Verordnung drei Monate Zeit.
Handelt es sich hingegen um einen Fall mit grenzüberschreitenden Auswirkungen, so
wird dieser nach Artikel 13 Absatz 8
a
der REMIT-Verordnung untersucht. Das be-
deutet Folgendes:
–
Die ACER führt die grenzüberschreitenden Untersuchungen gemäss Arti-
kel 13 Absätze 5–8 der REMIT-Verordnung in enger und aktiver Zusam-
menarbeit mit der ElCom.
–
Die zuständigen schweizerischen Behörden, insbesondere die ElCom, set-
zen die Untersuchungsmassnahmen nach den Artikeln 13
a
, 13
b
Absatz 2
und 13
c
der REMIT-Verordnung in der Schweiz um.
–
Die ACER kann die ElCom dazu auffordern, konkrete Untersuchungsmass-
nahmen zu ergreifen, und sie kann die zuständigen schweizerischen Behör-
675 / 931
den dazu auffordern, diese Massnahmen auszuführen. Sie kann sich auf Er-
suchen der schweizerischen Behörden an der Umsetzung der Massnahmen
beteiligen.
–
Die ElCom holt die Informationen ein, die ACER für eine wirksame Durch-
führung ihrer Untersuchung benötigt, und übermittelt sie ihr unverzüglich
nach Abschluss der betreffenden Untersuchungsmassnahme.
–
Will die ACER mit Personen in der Schweiz kommunizieren, insbesondere
im Rahmen von Informationsersuchen nach Artikel 13
b
Absatz 1 der
REMIT-Verordnung, so werden die entsprechenden Informationen diesen
Personen beziehungsweise ACER über die ElCom übermittelt.
–
Der Untersuchungsbericht nach Artikel 13 Absatz 11 der REMIT-
Verordnung wird von der ACER erstellt, die im genannten Absatz vorgese-
henen Massnahmen werden von der ElCom ergriffen.
Nach Artikel 13
k
der REMIT-Verordnung sind die von den schweizerischen Behör-
den gemäss den Artikeln 13 Absatz 8
a
und 13
g
der REMIT-Verordnung ergriffenen
Massnahmen vor Schweizer Gerichten anfechtbar.
Der 6. Abschnitt enthält gemeinsame Bestimmungen für den Gas- und den Strombe-
reich.
Da die bestehenden Verwaltungssanktionen nach dem BATE mit Artikel 18 der
REMIT-Verordnung kompatibel sind, sind sie weiterhin sowohl für die Teilnehmer
am Gasmarkt als auch für die Teilnehmer am Strommarkt anwendbar. Für die Teil-
nehmer am Strommarkt und die Vermittler am Strommarkt wird allerdings ein
Höchstbetrag in Franken eingeführt, damit die Regelung vereinbar ist mit Artikel 18
Absätze 4 und 5 der REMIT-Verordnung.
Art. 31 Abs. 1 und 1
bis
Absatz 1
entspricht weitgehend der bisherigen Regelung, gilt aber nur noch für den
Gasbereich. Die Bestimmung sanktioniert schwerwiegendes unzulässiges Marktver-
halten im Gasbereich nach dem 3. Abschnitt BATE.
Der neue
Absatz 1
bis
sieht Sanktionen für schweres unzulässiges Marktverhalten im
Strombereich vor, das gegen die REMIT-Verordnung verstösst. Zudem wurde der Be-
trag von 5 Millionen Franken ergänzt, damit die Bestimmung mit Artikel 18 Ab-
sätze 4 und 5 der REMIT-Verordnung kompatibel ist.
Art. 32 Sachüberschrift sowie Abs. 1
bis
und 3
Sanktionen bei schweren Verstössen
Die
Absätze 1 und 3
entsprechen weitgehend der bisherigen Regelung, erfassen aber
nur noch den Gasbereich. Die Bestimmung sanktioniert Verstösse gegen die Pflichten
nach dem 2. Abschnitt des BATE.
Der neue
Absatz 1
bis
sieht Sanktionen für Verstösse gegen Pflichten nach der REMIT-
Verordnung vor. Zudem wurden die Beträge von 1 Million Franken und von 500 000
676 / 931
Franken ergänzt, damit die Bestimmung mit Artikel 18 Absätze 4 und 5 der REMIT-
Verordnung kompatibel ist.
Art. 33
Gemeinsame Bestimmungen
Die ElCom ist befugt, eine Untersuchung durchzuführen und die nach den Artikeln 31
und 32 vorgesehenen Sanktionen zu ergreifen, wenn sie schwerwiegendes unzulässi-
ges Marktverhalten nach dem BATE oder nach der REMIT-Verordnung oder einen
schweren Verstoss gegen die vom BATE oder von der REMIT-Verordnung vorgese-
henen Pflichten feststellt. Artikel 33 Absatz 3 bleibt dabei vorbehalten. Artikel 33 Ab-
satz 3 ist gleich aufgebaut wie Artikel 30
a
Absatz 3 E-BATE. Aus diesem Grund kann
hier auf die Erläuterungen zu Letzterem verwiesen werden.
Was die
Absätze 1 und
2 betrifft, so entsprechen diese weitgehend der bisherigen Re-
gelung. Sie werden lediglich redaktionell angepasst, dies infolge der Trennung zwi-
schen dem Gas- und dem Strombereich und aufgrund der Anwendbarkeit der REMIT-
Verordnung.
Der 7. Abschnitt enthält gemeinsame Bestimmungen für den Gas- und den Strombe-
reich.
Art. 34 Abs. 1 erster Satz und Abs. 3 Bst. a
Artikel 34
a
entspricht weitgehend Artikel 34 BATE. Der Artikel wird lediglich re-
daktionell angepasst, dies infolge der Trennung zwischen dem Gas- und dem Strom-
bereich und aufgrund der Anwendbarkeit der REMIT-Verordnung.
Der 8. Abschnitt enthält gemeinsame Bestimmungen für den Gas- und den Strombe-
reich.
Art. 40 Abs. 5
Absatz 5
wird lediglich redaktionell angepasst, dies aufgrund des Stromabkommens.
Art. 42 Abs. 1 Einleitungssatz
Absatz 1
entspricht weitgehend der bisherigen Regelung. Er wird lediglich redaktio-
nell angepasst, dies infolge der Trennung zwischen dem Gas- und dem Strombereich
und aufgrund der Anwendbarkeit der REMIT-Verordnung.
Der 9. Abschnitt enthält gemeinsame Bestimmungen für den Gas- und den Strombe-
reich.
Artikel 18 der REMIT-Verordnung lässt der Schweiz in Bezug auf die strafrechtlichen
Sanktionen einen gewissen Handlungsspielraum. Daher gelten die bisherigen Sankti-
onen weiterhin sowohl für die Teilnehmer am Gasmarkt als auch für die Teilnehmer
am Strommarkt.
Gemäss Artikel 21
a
Absatz 2 der REMIT-Verordnung bewertet die Kommission bis
zum 1. Juni 2025 die Wirksamkeit der Einführung strafrechtlicher Sanktionen durch
die Mitgliedstaaten für vorsätzliche und schwerwiegende Fälle von Marktmissbrauch
auf den Energiegrosshandelsmärkten der Union und legt dem Europäischen Parlament
677 / 931
und dem Rat einen Bericht vor. Im Bericht können geeignete Massnahmen vorge-
schlagen werden, darunter auch die Vorlage eines Gesetzgebungsvorschlags.
Art. 44 Abs. 1 Einleitungssatz und Bst. a und c sowie Abs. 3 und 4
Artikel 44 entspricht weitgehend der bisherigen Regelung. Der Artikel wird lediglich
ergänzt, dies infolge der Trennung zwischen dem Gas- und dem Strombereich und
aufgrund der Anwendbarkeit der REMIT-Verordnung.
Art. 45 Abs. 1 Einleitungssatz
Artikel 45 entspricht weitgehend der bisherigen Regelung. Der Artikel wird lediglich
ergänzt, dies infolge der Trennung zwischen dem Gas- und dem Strombereich und
aufgrund der Anwendbarkeit der REMIT-Verordnung.
2.11.9
Auswirkungen des Paketelements
2.11.9.1
Auswirkungen auf den Bund
Mit dem Stromabkommen entsteht ein zusätzlicher Aufwand. Nachfolgend sind die
personellen und finanziellen Auswirkungen auf den Bund dargestellt. Der Bundesrat
wird den ausgewiesenen Ressourcenbedarf zu gegebener Zeit überprüfen und darauf
achten, dass ein allfälliger Mehrbedarf an Personalaufwand innerhalb des Eigenbe-
reichs des Bundes kompensiert wird.
2.11.9.1.1
Finanzielle Auswirkungen
Ab dem Inkrafttreten des Stromabkommens wird die Schweiz jährlich einen finanzi-
ellen Beitrag an die Aktivitäten von ACER leisten müssen. Der finanzielle Beitrag
besteht aus einem Betriebskostenbeitrag und einer Teilnahmegebühr. Der Betriebs-
kostenbeitrag berechnet sich anhand des jährlichen ACER-Budgets (beispielsweise
33 Millionen Franken im Jahr 2024), reduziert um 15 Prozent, weil die Schweiz mit
dem Abkommen nicht an den Aktivitäten im Gasbereich teilnimmt und multipliziert
mit dem Verhältnis des Schweizer BIPs zu jenem der EU (im Jahr 2023 rund 4,75
Prozent). Die Teilnahmegebühr entspricht 4 Prozent des Betriebskostenbeitrags. Da-
mit entspricht der finanzielle Beitrag in Abhängigkeit des Budgets von ACER jährlich
rund 1,4 Millionen Franken. Der Betrag wird über die Aufsichtsabgabe nach Art. 28
StromVG gegenfinanziert.
Für die Umsetzung von Marktöffnung und Grundversorgung, darunter die Registrie-
rungspflicht für die Lieferanten und ein Vergleichsportal für Angebote im Strom-
markt, hat die ElCom einen Bedarf an finanziellen Ressourcen für IT-Systeme von
einmalig 900'000 Franken und sowie jährlich wiederkehrend 200'000 Franken pro
Jahr.
Darüber hinaus wird ein jährlicher Beitrag der Schweiz an die Unionsdatenbank für
flüssige und gasförmige erneuerbare Brennstoffe (UDB) nach Art. 31 der EU-
Richtlinie für Erneuerbare Energien vorgesehen, die ab dem Inkrafttreten des Abkom-
mens auf rund 50'000 Franken pro Jahr geschätzt werden. Mit der Teilnahme an der
UDB werden der Export und Import von solchen Energieträgern durch die Schweizer
Branchenakteure vereinfacht.
678 / 931
2.11.9.1.2
Personelle Auswirkungen
Um die neuen Aufgaben aus dem Abkommen zu erfüllen, entstehen beim BFE, dem
Bundesamt für Umwelt (BAFU), der ElCom und der WEKO ein Zusatzaufwand, wel-
cher personelle Ressourcen im Umfang von 18 Vollzeitäquivalenten erfordert.
Gemäss Annex I Electricity, Ziffer 16 Buchstabe d Stromabkommen geht die Kom-
petenz für die Netzregulierung spätestens 5 Jahre nach Inkrafttreten des Stromabkom-
mens, voraussichtlich am 1.1.2033 vom BFE an die ElCom über. Hierzu werden künf-
tig zwei Vollzeitäquivalente vom BFE an die ElCom transferiert.
Neue Aufgabenbereiche
Amt/Stel
le(n)
Jahr des Be-
darfs
Gegenfi-
nanzierung
Verwaltung und Weiterentwicklung
des Stromabkommens / Planung
und Durchführung von Sitzungen
des Gemischten Ausschusses
BFE / 1
FTE
1 Jahr vor In-
krafttreten
(IKT) (vo-
raussichtlich
1.1.2027)
-
Politische Mitgestaltung (Policy
Shaping) Weiterentwicklung
Strombinnenmarkt / Austausch mit
EU-Behörden und Behörden der
Nachbarstaaten
BFE / 1
FTE
1 Jahr vor In-
krafttreten
(IKT) (vo-
raussichtlich
1.1.2027)
-
Erfassung und Auswertung neuer
statistischer Daten (Berechnung Er-
füllung des Erneuerbaren Ziels)
BFE / 2
FTE
1 Jahr vor
IKT (voraus-
sichtlich
1.1.2027)
-
Umsetzung der übernommenen Ar-
tikel der Erneuerbaren Richtlinie II
(RED II), u. a. Integration erneuer-
bare Energien ins Energiesystem,
Zertifizierung Erneuerbare Ener-
gien, Berichterstattung
BFE / 2
FTE
1 Jahr vor
IKT (voraus-
sichtlich
1.1.2027)
-
Umsetzung Networkcode zu Cyber-
sicherheit (Zuständigkeit wird auf
Verordnungsebene festgelegt)
BFE
oder El-
Com / 1
FTE
Ab IKT des
Abkommens
(voraussicht-
lich 1.1.2028)
Falls bei El-
com ja, über
int. Auf-
sichtsabgabe
nach Art. 28
StromVG
Zusammenarbeit und Einsitz bei
ACER und anderen Institutionen
bzw. Gremien nach Art. 10 Strom-
abkommen.
ElCom /
2 FTE
Ab IKT des
Abkommens
(voraussicht-
lich 1.1.2028)
Ja, über int.
Aufsichtsab-
gabe nach
679 / 931
Art. 28
StromVG
Umsetzung Marktöffnung, Grund-
versorgung, Begleitmassnahmen:
-
Berechnung und Kontrolle
finanzieller Ausgleich bei
unterjährigem Lieferanten-
wechsel
-
Registrierung von Lieferan-
ten im freien Markt
-
Kontrolle Risikomanage-
ment Lieferanten
-
Kontrolle Kundendienst
Lieferanten
-
Zurverfügungsstellung Ver-
gleichsportal für Lieferan-
gebote
-
Monitoring der wirtschaftli-
chen Entwicklung von
Markt und Grundversor-
gung
-
Monitoring über Auswir-
kungen der Marktöffnung
auf das Personal der Strom-
wirtschaft und Berichter-
stattung an Bundesrat
-
Überprüfung der Mindest-
anforderungen an die Ver-
tragsbedingungen im Markt
ElCom /
7 FTE
Ab IKT des
Abkommens
(voraussicht-
lich 1.1.2028)
-
Neue Aufgaben im Zusammenhang
mit Übernahme RED II, u. a. Zerti-
fizierung erneuerbare Energien,
Monitoring Einhaltung Kriterien
Nachhaltigkeit und Treibhausga-
seinsparungen, Überwachung Zerti-
fizierungsstellen
BAFU /
2 FTE
1 Jahr vor
IKT (voraus-
sichtlich
1.1.2027)
-
680 / 931
2.11.9.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf
urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete
Entsprechend dem Verhandlungsmandat schenkte die Schweiz den kantonalen Ho-
heiten bei den Verhandlungen eines Abkommens im Bereich Strom besondere Beach-
tung. Die direkten Auswirkungen insbesondere auf die Kantone, aber auch auf städti-
sche Zentren, Agglomerationen und Berggebiete, beschränken sich auf einzelne
Elemente der Vorlage.
Die Stromtarife variieren regional stark, insbesondere für Haushalte und KMU. Die
Marktöffnung für alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher, die Teil der Umset-
zung des Stromabkommens ist, dürfte die heute regional sehr unterschiedlich hohen
Stromtarife tendenziell ausgleichen. Dies, weil alle Kundinnen und Kunden die Mög-
lichkeit haben, Strom bei einem Anbieter ihrer Wahl einzukaufen und dabei auch auf
den Preis achten werden. Dieser Wettbewerbsdruck kann auch finanzielle Rückwir-
kungen für die Stromunternehmen im Eigentum von Kantonen, Städten und Gemein-
den haben. Auf der anderen Seite führen zusätzliche Handelsgewinne insbesondere
bei Betreibern von Speicher- und Pumpspeicherkraftwerken (s.Ziff. 2.11.9.3) tenden-
ziell zu höheren Steuer- und Dividendeneinnahmen bei Kantonen und Gemeinden.
Eine besonderer und einmaliger Umstellungsaufwand ergibt sich mit den weiterge-
henden Entflechtungsvorgaben für grosse VNB. Dies trifft vor allem bei denjenigen
Kantonen und Städten zu, deren Energieversorger als Verwaltungseinheit oder als öf-
fentlich-rechtliche Anstalt ausgestaltet sind. Sie müssen den Netzbetrieb nicht nur als
separate rechtliche Einheit einrichten, sondern die Organisation insgesamt so anpas-
sen, dass der Netzbetrieb organisatorisch komplett von den anderen Geschäftseinhei-
ten getrennt ist. Zusammen mit der VNB-Entflechtung wechseln auch die Rollen bei
der Grundversorgung: der VNB kann nicht Grundversorger bleiben. Die Aufgabe
wird aber einfach unternehmensintern übertragen. Es braucht daher keine neue Netz-
gebietszuteilung. Wenig Änderung ist für die Kantone und Städte auch bei Swissgrid
zu erwarten; die heutigen öffentlich beherrschten Energieversorger können Aktionäre
von Swissgrid bleiben.
Den VNB wird es ausserdem grundsätzlich nicht möglich sein, Eigentum an Spei-
chern oder Ladeinfrastrukturen für Elektromobilität zu halten und solche Anlagen zu
betreiben.
Beim Netzanschluss müssen die Anschlusskosten und die weiteren Anschlussbedin-
gungen durch die ElCom festgelegt werden, mindestens die entsprechende Methodik.
Zurzeit regeln die Kantone und Gemeinden diese Aspekte. Der Aufgabentransfer zur
ElCom wird spätestens fünf Jahre nach Inkrafttreten des Stromabkommens erfolgen.
Das bringt einmalige Umstellungen mit sich. Der Transfer ist von der Bundeskompe-
tenz nach Artikel 91 BV gedeckt.
Bei der Richtlinie 2018/2001 (Erneuerbaren-Richtlinie, RED II) wurden durch die
Verhandlungen zahlreiche Bereiche vom Abkommen ausgeklammert, die die Kantone
stark betroffen hätten, so unter anderem der Gebäudebereich. Ebenso werden die RED
II-Vorgaben zur Raumplanung und zu den Bewilligungsverfahren für Anlagen der
erneuerbaren Energien, unter anderem zu Fristen und Interessenabwägung, nicht über-
nommen – trotz gleicher Stossrichtung in der Schweiz. Vielmehr muss die Schweiz
681 / 931
nur vergleichbare Regeln haben und kann somit bei den eigenen heutigen Regeln blei-
ben.
Das Abkommen enthält ferner keine Vorgaben zur Vergabe von Wasserkraftkonzes-
sionen und auch der Wasserzins ist mit dem Abkommen nicht in Frage gestellt. Auch
hält das Stromabkommen explizit fest, dass die Schweiz selber über die Nutzung ihrer
Energieresourcen (inkl. Wasserkraft) bestimmen kann. Damit sind die Kantone, Ge-
meinde und Berggebiete, die bei ihrer Energieinfrastruktur stark auf Wasserkraft aus-
gerichtet sind, nicht speziell vom neuen Stromabkommen betroffen. Über die Stär-
kung des Stromaustausches und die Integration der Schweiz in den EU-
Strombinnenmarkt steigt zudem der Wert der Schweizer Wasserkraft.
Grundsätzlich haben Kantone und Gemeinden, welche die Installation von Anlagen
zur Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Quellen fördern, bei der Ausgestaltung
ihrer Förderprogramme die RED II-Förderregeln zu beachten. Dies betrifft je nach
Umsetzung etwa kantonale Förderprogramme oder eigene Aktivitäten der Kantone
bei der Nutzung erneuerbarer Energien. Zu berücksichtigen sind ausserdem die Best-
immungen zu staatlichen Beihilfen, falls eine geplante Unterstützung eine Beihilfe
gemäss Artikel 13 Absatz 1 Stromabkommen darstellt. Dabei ist nicht davon auszu-
gehen, dass es für kantonale oder kommunale Instrumente, die analog zu den im Ab-
kommen für kompatibel erklärten Fördermassnahmen des Bundes ausgestaltet sind,
Anpassungen braucht.
2.11.9.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
2.11.9.3.1
Auswirkungen auf das Stromsystem
Das Stromabkommen verbessert die Einbindung der Schweiz in das Stromsystem der
EU und sichert diese völkerrechtlich ab. Es ermöglicht der Schweiz eine gleichbe-
rechtigte Teilnahme am EU-Strombinnenmarkt, fördert den Stromhandel und trägt zur
Versorgungssicherheit und Netzstabilität bei. Mit dem Stromabkommen erhält die
Schweiz Zugang zur europäischen Marktkopplung. Damit wird sie auch in die EU-
Mechanismen zur Berechnung und Zuteilung der grenzüberschreitenden Kapazitäten
des Übertragungsnetzes (Grenzkapazitäten) eingebunden. Ebenso erhält sie Zugang
zu den europäischen Regelenergieplattformen. Dies erhöht die Effizienz des
Stromsystems, insbesondere indem die Handelsflüsse optimiert und ungeplante Last-
flüsse und Bedarf für kostspielige Eingriffe in den Netzbetrieb (sog. Redispatch) re-
duziert werden.
Ausserdem sichert das Abkommen Import- und Exporttransportkapazitäten für die
Schweiz völkerrechtlich ab. Dies schützt Handelsmöglichkeiten, auch in Zeiten von
Energiekrisen. Zudem wird über die Absicherung der Importtransportkapazitäten die
Versorgungssicherheit gestärkt. Aktuell handelt Swissgrid mit den benachbarten
Übertragungsnetzbetreibern privatrechtliche Verträge aus, um grenzübergreifend die
Netzstabilität und die Importfähigkeit sicherzustellen. Diese Verträge müssen jedoch
periodisch neu verhandelt werden. Es besteht das Risiko, dass sie in Zukunft weniger
vorteilhaft ausfallen oder ganz wegfallen. In diesem Fall besteht eine grosse Unsi-
cherheit bezüglich der Verfügbarkeit von Grenzkapazitäten.
682 / 931
Im Auftrag des BFE hat Ecoplan in einer Studie
577
die volkswirtschaftlichen Auswir-
kungen des Stromabkommens untersucht. Ein wesentlicher Nutzen des Stromabkom-
mens ergibt sich aus der völkerrechtlichen Absicherung der Strom-Grenzkapazitäten
für die Schweiz. Die Studie quantifiziert die Auswirkungen dieser Absicherung mo-
dellbasiert. Die weiteren Auswirkungen werden mangels Quantifizierbarkeit oder auf-
grund von deren geringen Auswirkungen qualitativ beschrieben.
Zur Absicherung der Grenzkapazitäten vergleicht die Studie zwei Szenarien: Das Sze-
nario KEINE KOOPERATION und das Szenario MARKTKOPPLUNG. Das Szena-
rio KEINE KOOPERATION ist ein Extremszenario. Es beschreibt eine Entwicklung
ohne Stromabkommen, in der die Grenzkapazitäten stark reduziert werden, was die
Import- und Exportmöglichkeiten der Schweiz erheblich einschränkt. Solche Ein-
schränkungen sind unwahrscheinlich, aber bei einem Nichtzustandekommen des
Stromabkommens nicht vollständig auszuschliessen. Die EU-Mitgliedsstaaten und
insbesondere die Schweizer Nachbarstaaten haben auch ohne Stromabkommen ein
grosses Eigeninteresse an einem effizient funktionierenden Stromhandel mit der
Schweiz. Es gibt jedoch regulatorische, technische, wirtschaftliche und politische
Gründe, die zum Eintreten eines solchen Szenarios führen könnten. Zu den regulato-
rischen Gründen gehören die Umsetzung des EU-Kriteriums, dass 70 Prozent der für
den Austausch von Strom relevanten Netzkapazitäten dem Handel zur Verfügung ste-
hen müssen sowie der Ausschluss aus den gemeinsamen Mechanismen für die Kapa-
zitätsberechnung und den Kooperationen zum Betrieb der Übertragungsnetze. Konk-
ret kann es sein, dass die Nachbarstaaten Grenzkapazitäten zur Schweiz reduzieren,
um das Einhalten der 70-Prozent-Regel gewährleisten zu können. Ausserdem werden
ohne Stromabkommen die Grenzkapazitäten weiterhin explizit (und nicht implizit wie
im Falle einer Marktkopplung) für die Schweiz vergeben. Je nach Berechnungsme-
thode können mehr oder weniger geringe Grenzkapazitäten für die Schweiz resultie-
ren. Technische Gründe können die Einspeisung erneuerbarer Energien und die Ver-
meidung von Netzengpässen sein. Bei den wirtschaftlichen Gründen kommen die
Reduktion von Redispatchkosten in Nachbarstaaten zum Tragen. Zu den politischen
Gründen könnte gehören, dass die EU die Zusammenarbeit mit der Schweiz im Strom-
bereich einschränkt, auch wenn das für sie ebenfalls nicht vorteilhaft ist. Das Szenario
MARKTKOPPLUNG stellt eine Situation mit Stromabkommen dar. Aufgrund der
weiter oben aufgeführten Gründe ist unklar, inwiefern eine für die Schweiz vorteil-
hafte technische Kooperation bei einem Scheitern des Abkommens noch möglich ist,
und welche Grenzkapazitäten aus dieser Kooperation resultieren könnten. Die Studie
quantifiziert diese Unsicherheit: ohne Stromabkommen wird die Schweiz sich in einer
Lage wiederfinden, die sich je nach Erfolg der technischen Kooperation irgendwo
zwischen den Szenarien KEINE KOOPERATION und MARKTKOPPLUNG befin-
den würde. Auf jeden Fall bietet eine technische Kooperation durch privatrechtliche
Verträge eine deutlich geringere Rechtssicherheit als ein Stromabkommen.
Laut Studie kann das Stromabkommen die Handelsgewinne steigern und die Energie-
systemkosten senken. So könnten mit dem Stromabkommen (MARKTKOPPLUNG)
im Zeitraum 2030 bis 2050 potenziell zusätzliche Handelsgewinne im Strombereich
577
Ecoplan im Auftrag des BFE (14.05.2025): Stromabkommen zwischen der Schweiz und
der EU. Volkswirtschaftliche Auswirkungen. Abrufbar unter: www.bfe.admin.ch > Ver-
sorgung > Stromversorgung > Stromabkommen Schweiz – EU.
683 / 931
im Umfang von jährlich rund 0.5 bis 1.2 Milliarden Franken erzielt werden. Dies im
Vergleich zu einem Szenario KEINE KOOPERATION. Ohne völkerrechtliche Absi-
cherung der Grenzkapazitäten muss die Schweiz zudem mit höheren Stromsystem-
kosten rechnen. Stellt man diese in Form von zusätzlicher Stromproduktion im Inland
dar, so könnten bis ins Jahr 2050 zusätzliche heimische Kraftwerke zur Produktion
von Winterstrom mit jährlichen Kosten in der Grössenordnung von bis zu rund einer
Milliarde Franken notwendig werden, um eine dem Szenario MARKTKOPPLUNG
äquivalente Versorgungslage zu erreichen. Dies zusätzlich zum Ausbau der erneuer-
baren Energien und der Wasserkraft gemäss geltenden gesetzlichen Zielen nach dem
Bundesgesetz für eine sichere Versorgung mit erneuerbaren Energien, der in beiden
Szenarien umgesetzt wird. Ob sich diese Umsetzung realisieren wird, ist unsicher.
2.11.9.3.2
Auswirkungen auf Strompreise, Bruttoinlandsprodukt
(BIP) und Wohlfahrt
Dank der Absicherung der Grenzkapazitäten führt das Stromabkommen in der
Schweiz in der Tendenz zu tieferen Strompreisen, sofern mit einem Stromabkommen
vor allem die Import-Grenzkapazitäten höher liegen als ohne Stromabkommen. So
würden im Szenario MARKTKOPPLUNG beispielsweise im Jahr 2050 die Strom-
preise um rund 14 Prozent niedriger liegen als im Extremszenario KEINE
KOOPERATION. Mit den tieferen Strompreisen würde sich auch das BIP erhöhen –
also die Wirtschaftsaktivität.
Tiefere Strompreise erhöhen die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft und
verbessern die Kaufkraft der Haushalte, was für ein höheres BIP verantwortlich ist.
Auch auf die Wohlfahrt zeigen sich leicht positive Auswirkungen, wie Abbildung 1
entnommen werden kann.
Abbildung 2.11.9.3.2 (1): Potenzielle Auswirkungen des Stromabkommens auf
Strompreise, BIP und Wohlfahrt
684 / 931
Lesehilfe: Es ist unsicher, mit welchen Grenzkapazitäten die Schweiz ohne Stromabkommen mit
oder ohne technische Kooperation rechnen könnte. Daher ist auch unsicher, wie hoch der poten-
zielle Nutzen mittels Stromabkommen und den damit abgesicherten Grenzkapazitäten ist. Der
Farbverlauf der Abbildung illustriert diese Unsicherheit.
578
2.11.9.3.3
Auswirkungen auf Endverbraucher
Von potenziell tieferen Strompreisen würden Firmen und Haushalte profitieren. So
könnte das Stromabkommen die Wettbewerbsfähigkeit sichern und stärken. Laut Be-
rechnungen liegt der Bruttoproduktionswert bei hohen Grenzkapazitäten (gemäss dem
Szenario MARKTKOPPLUNG) im Jahr 2050 bei den stromintensiven Sektoren um
rund 2 Prozent höher als bei eingeschränkten Grenzkapazitäten (gemäss dem Szenario
KEINE KOOPERATION). Auch Haushalte profitieren leicht. Potenziell tiefere
Strompreise und höhere Wirtschaftsaktivität führen zu leicht höheren Löhnen und in
der Tendenz zu einer höheren Beschäftigung.
Die bisher insbesondere unter Ziff. 2.11.9.3.1 und 2.11.9.3.2 beschriebenen Effekte
beziehen sich auf quantitative Analysen
579
. Diese beziffern allein die Auswirkungen
der völkerrechtlichen Absicherung der Grenzkapazitäten. Die volkswirtschaftlichen
Auswirkungen der anderen Massnahmen des Stromabkommens können nicht belast-
bar quantifiziert werden. Neben der Absicherung der Grenzkapazitäten können jedoch
auch der Zugang zum EU-Strombinnenmarkt, die Einbindung in die Mechanismen
zur Vergabe der grenzüberschreitenden Kapazitäten (Kapazitätsallokation), der Zu-
gang zu Regelenergieplattformen sowie die Strommarktöffnung für alle Endverbrau-
cherinnen und Endverbraucher die Endverbraucherpreise für Strom senken. Im ge-
koppelten EU-Strombinnenmarkt werden die Grenzkapazitäten heute anhand
einheitlicher Regeln berechnet und implizit an die optimalen Marktangebote zugeteilt.
Dies reduziert Transaktionskosten und Risiken im Stromhandel und erhöht die öko-
nomische Effizienz des Stromsystems. Die Teilnahme an den Regelenergiemärkten
reduziert die Beschaffungskosten für die Swissgrid, ermöglicht den Schweizer
Stromhändlern Handelsopportunitäten und verringert das Risiko von Instabilität im
Stromnetz. Entsprechend fallen Folgekosten für Eingriffe in den operativen Netzbe-
trieb, Netzverstärkungen und Netzausbauten in der Tendenz geringer aus. Auch sinkt
der Bedarf für die Bereitstellung von Regelenergie für die Regelzone Schweiz. Dies
dürfte sich im Vergleich zu einer Situation ohne Stromabkommen für die Konsumen-
ten in einer Reduktion der Höhe des Energieteils und der Übertragungsnetzkosten auf
der Stromrechnung niederschlagen.
Die Strommarktöffnung für alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher mit Mög-
lichkeit zum Verbleib in der Grundversorgung fördert den Wettbewerb und gibt den
Stromlieferanten Effizienzanreize. Es ist weiterhin eine regulierte Grundversorgung
in weitgehender Anlehnung an das Bundesgesetz für eine sichere Stromversorgung
mit erneuerbaren Energien vorgesehen. Sowohl bei den Mindestanteilen als auch beim
Standardstromprodukt entfällt die Vorgabe hinsichtlich der inländischen Herkunft der
578
Abrufbar unter: www.bfe.admin.ch > Versorgung > Stromversorgung > Stromabkommen
Schweiz – EU.
579
Abrufbar unter: www.bfe.admin.ch > Versorgung > Stromversorgung > Stromabkommen
Schweiz – EU.
685 / 931
Energie. Der Schwellenwert für die regulierte Grundversorgung wird auf einen Jah-
resverbrauch pro Verbrauchsstätte von 50 MWh gesenkt. Aufgrund der Möglichkeit
für die Verbraucher, den Anbieter zu wechseln, werden heutige regionale Strompreis-
unterschiede über die Marktangebote reduziert, und es kann aufgrund des stärkeren
Wettbewerbs ein Druck auf die Preise entstehen. Davon können v.a. die KMU und
die Haushalte profitieren, die bislang in der Grundversorgung beim lokalen Energie-
versorger gebunden waren. Allerdings dürfte bei den kleineren Kunden eine begrenzte
Wechselbereitschaft bestehen. Insgesamt dürfte die Strommarktöffnung zwar positive
Effekte auf Preise und Vielfalt des Angebotes haben. Die zu erwartenden wirtschaft-
lichen Vorteile könnten aber eher gering ausfallen. Profitieren könnten am ehesten
wechselwillige Kleinbetriebe sowie Haushalte in derzeit teuren Versorgungsgebieten.
Bei den Grosskunden entfällt oberhalb von 50 MWh ein Grundversorgungsangebot.
Sie können sich über eine strukturierte Beschaffung gegen Marktpreisschwankungen
schützen.
Auch künftig sind geo- oder energiepolitische Verwerfungen mit temporär stark stei-
genden Strompreisen nicht auszuschliessen. Um die Auswirkungen solcher Perioden
auf den Strommarkt und die Endverbraucher zu lindern, werden die Grundversorger
analog zum aktuell geltenden StromVG zu einer strukturierten Beschaffung und einer
Absicherung gegenüber Marktpreisschwankungen verpflichtet. Zudem sichern die
weitgehende Kostenregulierung, die Preisfixierung für ein Jahr und die Vorgaben an
die Nutzung des eigenerzeugten Stroms in der Grundversorgung ein attraktives An-
gebot ab, speziell wenn es eine relevante Eigenerzeugung gibt. Darüber hinaus wird
der Bundesrat ermächtigt, Vorgaben für das Risikomanagement für die Lieferanten
im Markt zu treffen.
2.11.9.3.4
Auswirkungen auf die Strombranche
Das Stromabkommen ermöglicht insbesondere den Betreibern von Speicher- und
Pumpspeicherkraftwerken zusätzliche Handelsgewinne (siehe Ziff. 2.11.9.3.1). Eine
gegenseitige Anerkennung von HKN aufgrund eines Stromabkommens kann zudem
Mehreinnahmen durch HKN-Exporte in die EU ermöglichen und zu positiven Effek-
ten in Form einer höheren Produzentenrente für die Schweizer Produzenten von er-
neuerbarem Strom führen. Allerdings geht das Stromabkommen auch mit dem Weg-
fall des Pflichtanteils an einheimischem Strom in der Grundversorgung einher. Dies
könnte die Preise von Schweizer HKN senken. Die gesamthaften Auswirkungen des
Stromabkommens auf das Preisniveau der Schweizer HKN sind somit unsicher.
Mit Inkrafttreten des Stromabkommens werden die noch bestehenden Einspeisevor-
ränge für Strom aus langfristigen Verträgen (Long Term Contracts, LTCs) zwischen
französischen und schweizerischen Stromproduzenten sowie Händlern abgeschafft.
Diese Verträge profitieren von einer Reservierung von grenzüberschreitenden Über-
tragungskapazitäten und gewähren den Vertragsinhabern einen Vorteil gegenüber an-
deren Marktteilnehmern. Die Abschaffung dieser Einspeisevorränge ermöglicht den
Übertragungsnetzbetreibern, Engpasserlöse zu generieren, die zur Senkung der Netz-
kosten und somit zur Reduktion der Strompreise für Endverbraucher beitragen kön-
nen. Die Vermeidung von Marktverzerrungen kann zudem anderen Marktteilnehmern
Chancen eröffnen. Die Abschaffung der Einspeisevorränge für LTC bedeutet höhere
686 / 931
Kosten für LTC-Halter, da sie ihre bisherige Besserstellung verlieren. Im Stromab-
kommen ist jedoch eine finanzielle Entschädigung der LTC-Halter während einer
Übergangsfrist von sieben Jahren ab Inkrafttreten vorgesehen. Wasserkraftwerke an
der Schweizer Grenze mit bestehenden und geringfügigen Einspeisevorrängen unter
65 MW können diese während einer Übergangsfrist von 15 Jahren ab Inkrafttreten
beibehalten. Im Anschluss entfallen die Vorränge, was teilweise zu Anpassungsbedarf
in bilateralen Staatsverträgen und den Konzessionen der entsprechenden Kraftwerke
führt.
Die europäischen Vorschriften im Zusammenhang mit der Entflechtung von Vertei-
lernetzbetreibern gehen weiter als das Schweizer Recht (siehe auch «Auswirkungen
auf die Kantone sowie Städte» unter Ziff. 2.11.9.2). Die weitergehende Entflechtung
von VNB dürfte im Rahmen eines Stromabkommens mit der EU tendenziell positive
Effekte auf den Wettbewerb und die Effizienz ausüben, aber gleichzeitig zu einmali-
gen Transformationskosten sowie allfällig verminderten Synergien bei den betroffe-
nen Unternehmen führen. Insgesamt dürfte die Entflechtung von VNB zu geringen
volkswirtschaftlichen Auswirkungen führen, auch weil nur eine geringe Zahl der
VNB betroffen ist.
Die Schweiz hat sich unter dem Pariser Klimaübereinkommen
580
völkerrechtlich zu
Netto-Null-Treibhausgasemissionen im Jahr 2050 verpflichtet. Dies bedeutet eine
umfassende Transformation des Energiesystems. So muss die erneuerbare Erzeu-
gungskapazität in der Schweiz massiv zugebaut werden. Der Anteil von Strom am
Endenergieverbrauch wird gemäss Energieperspektiven 2050+ von heute 26 Prozent
längerfristig auf ungefähr 45 Prozent steigen. Insbesondere beim Wärmebedarf von
Haushalten und im Strassenverkehr ist eine weitgehende Elektrifizierung des Ener-
giebedarfs notwendig. Die Wichtigkeit der Strombranche nimmt entsprechend zu, und
im Schweizer Energiesektor ist aufgrund der Dekarbonisierung mit positiven Beschäf-
tigungseffekten zu rechnen
581
. Das Stromabkommen schafft mit der Marktöffnung für
alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher ein breiteres Feld für Produkt- und
Prozessinnovationen, sowie die Entwicklung von neuen Geschäftsmodellen. Die
Marktöffnung bringt entsprechend für die Strombranche mehr Wettbewerb und einen
gesteigerten Effizienzdruck. Die kumulierten Beschäftigungseffekte des Stromab-
kommens für die Strombranche sind schwer zu bestimmen. Sie entfalten sich jedoch
in einem sehr dynamischen Marktumfeld.
Die Regulierungskosten für die Strombranche fallen vor allem aufgrund der Umset-
zung der weiterreichenden Entflechtung an. Zudem gibt es relevante Anpassungskos-
ten bei den Prozessen aufgrund der Marktöffnung für alle Endverbraucherinnen und
Endverbraucher und der Harmonisierung mit den Vorschriften der EU im Bereich
Marktintegrität und Transparenz bzw. den Anpassungen beim BATE. Diese Umset-
zungskosten entstehen vor allem während der Einführung der Strommarktöffnung.
580
SR
0.814.012
581
Bericht des Bundesrates (2023): Arbeitsplatzpotenzial durch Förderung erneuerbarer Ener-
gien und Energieeffizienz. In Erfüllung des Postulates 19.3562 Nadine Masshardt vom 6.
Juni 2019.
687 / 931
Aufgrund des aktuellen Fachkräftemangels in der Strombranche und der Ausgestal-
tung der Marktöffnung mit einer regulierten Grundversorgung ist nicht davon auszu-
gehen, dass grosse negative Auswirkungen auf das Personal der Stromwirtschaft ein-
treten. Falls dies dennoch der Fall sein wird, trifft der Bundesrat geeignete
Gegenmassnahmen.
2.11.9.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
Die Marktöffnung für alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher führt grundsätz-
lich zu einem dynamischeren Umfeld, aus der sich neue Herausforderungen aber auch
Chancen sowohl für die Endverbraucherinnen und Endverbraucher wie auch für die
Beschäftigten in der Strombranche ergeben. Diese können vor allem von der Dynamik
neuer Marktideen profitieren. Die Innovationen aus der Strommarktöffnung tragen zu
einer besseren gesellschaftlichen Integration der erneuerbaren Energien bei.
2.11.9.5
Auswirkungen auf die Umwelt
Die Umwelteffekte des Stromabkommens ergeben sich vor allem aufgrund der zu er-
wartenden Steigerung der Effizienz des Stromsystems sowie der völkerrechtlichen
Absicherung der Grenzkapazitäten, die den notwendigen Ausbau der Energieinfra-
struktur während der Transition zu Netto-Null-Emissionen gegenüber einem Szenario
ohne Stromabkommen reduzieren könnte (s. Ziff. 2.11.9.3«Auswirkungen auf die
Volkswirtschaft»). Allgemein stärkt das Stromabkommen zwischen der Schweiz und
der EU die Versorgungssicherheit und unterstützt damit die Elektrifizierung und De-
karbonisierung der Schweiz.
Die Äquivalenz des Schweizer Umweltrechts mit dem
im Stromabkommen aufgeführten EU-Umweltrecht im Strombereich ist aktuell gege-
ben. Es gibt keinen Anpassungsbedarf im Schweizer Umweltrecht auf Gesetzesstufe.
Deswegen ergeben sich daraus keine nennenswerten Auswirkungen auf die Schweiz.
2.11.9.6
Andere Auswirkungen
Die Schweiz ist auf die technische Einbindung ins europäische Stromsystem angewie-
sen. Swissgrid steht dazu als Betreiberin des Übertragungsnetzes in engem Austausch
mit den Betreibergesellschaften der Nachbarstaaten. Dabei stösst die Swissgrid auf-
grund der mangelnden Integration der Schweiz in den EU-Strombinnenmarkt immer
häufiger auf Widerstand seitens der EU. Mit dem Stromabkommen werden die ent-
sprechenden Rahmenbedingungen für eine bessere technische Einbindung geschaf-
fen.
2.11.10
Rechtliche Aspekte des Paketelements
2.11.10.1
Verfassungsmässigkeit des Abkommens
Das Stromabkommen stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 der BV, wonach der Bund
für die auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV ermäch-
tigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu ratifizieren.
Die Bundesversammlung ist nach Artikel 166 Absatz 2 BV für die Genehmigung völ-
kerrechtlicher Verträge zuständig, sofern für deren Abschluss nicht aufgrund von Ge-
setz oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (Art. 24 Abs. 2 ParlG;
688 / 931
Art. 7
a
Abs. 1 RVOG). Beim Stromabkommen handelt es sich nicht um einen völker-
rechtlichen Vertrag, für dessen selbstständigen Abschluss der Bundesrat aufgrund ei-
nes Gesetzes oder eines von der Bundesversammlung genehmigten völkerrechtlichen
Vertrags ermächtigt ist. Insbesondere gestatten die Artikel 24 StromVG, Artikel 54
EnG und Artikel 45 E-BATE dem Bundesrat nur, Verträge von beschränkter Trag-
weite nach Artikel 7
a
Absatz 2 RVOG abzuschliessen, bzw. solche, die nicht dem
Referendum unterliegen. Zudem erfordert die Umsetzung des Stromabkommens den
Erlass von Bundesgesetzen. Das Stromabkommen ist folglich der Bundesversamm-
lung zur Genehmigung zu unterbreiten.
2.11.10.2
Verfassungsmässigkeit der Umsetzungsgesetzgebung und
Begleitmassnahmen
2.11.10.2.1
Zuständigkeit
Die Änderungen im StromVG umfassen insbesondere Vorgaben zur Öffnung des
Elektrizitätsmarktes für alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher, die Ausge-
staltung der Grundversorgung, die Einspeisevorränge bei Grenzkapazitäten im Zu-
sammenhang mit Langfristbezugsverträgen (LTC-Vorränge), die Entflechtung der
Netzbetreiber, die EU-konforme Ausgestaltung der nationalen Netzgesellschaft, die
Angemessenheit der Ressourcen und die Energiereserve. Diese Gesetzesbestimmun-
gen stützen sich in erster Linie auf Artikel 91 Absatz 1 BV, welcher dem Bund eine
umfassende Gesetzgebungskompetenz zum Erlass von Vorschriften über den Trans-
port und die Lieferung elektrischer Energie verleiht. In den beiden Sachbereichen
kann der Bundesgesetzgeber alle Fragen regeln, die einen Bezug dazu haben. Er kann
namentlich die Übertragung monopolisieren, Tarifvorschriften erlassen, Regelungen
betreffend Unternehmungen der Elektrizitätswirtschaft aufstellen, ein Netzzugangs-
recht verankern sowie Massnahmen betreffend Versorgungssicherheit, wie An-
schluss- und Lieferpflichten, vorsehen
582
. Die Vorgaben zur Grundversorgung (Re-
gistrierungspflicht
für
Lieferanten,
Vergleichsinstrumente,
Monitoring,
Ersatzversorgung und Schlichtung) stützen sich zudem auf Artikel 97 Absatz 1 BV,
der dem Bund die Kompetenz einräumt, Massnahmen zum Schutz der Konsumentin-
nen und Konsumenten zu treffen. Für die Änderung der Vorgaben zur Energiereserve
dient ferner Artikel 102 Absatz 1 BV über die wirtschaftliche Landesversorgung als
Grundlage.
Die im EnG vorgesehenen Anpassungen zur Abnahme- und Vergütungspflicht sowie
die Anpassung der Förderungen stützen sich auf die Verfassungsbestimmungen zur
Energiepolitik (Art. 89 Abs. 2 und 3 BV), zum Transport von Energie (Art. 91 Abs. 1
BV) und zum Umweltschutz (Art. 74 Abs. 1 und 2 BV).
583
Die Änderungen des BATE stützen sich in erster Linie auf Artikel 91 Absatz 1 BV.
Des Weiteren dient auch Artikel 95 Absatz 1 BV als Grundlage, womit dem Bund die
582
René Schaffhauser in: Ehrenzeller et al., St. Galler Kommentar zur Schweizerischen Bun-
desverfassung (2023), Rz. 3 zu Art. 91; Riccardo Jagmetti, in: Schweizerisches Bundes-
verwaltungsrecht, Band VII Energierecht, § 6, N 6111, Basel 2005.
583
Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen in der Botschaft vom 4. September 2013 zum
ersten Massnahmenpaket der Energiestrategie 2050, BBl 2013 7561, hier 7740–7742.
689 / 931
Kompetenz übertragen wird, Vorschriften über die privatwirtschaftliche Erwerbstä-
tigkeit zu erlassen sowie Artikel 96 BV, der dem Bund erlaubt, Vorgaben zur Wett-
bewerbspolitik zu treffen. Artikel 101 BV bildet schliesslich die verfassungsrechtliche
Grundlage in Bezug auf die grenzüberschreitenden Auswirkungen der im BATE vor-
gesehenen Regelungen.
2.11.10.2.2
Vereinbarkeit mit Grundrechten
Die Vorlage wahrt die verfassungsmässigen Grundrechte, insbesondere die Eigen-
tumsgarantie (Art. 26 BV) und die Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV). Sie enthält keine
Vorschriften, die sich gegen den Wettbewerb richten, wie dies etwa bei wirtschafts-
oder standespolitischen Massnahmen der Fall ist. Die im StromVG vorgesehenen Än-
derungen stehen vielmehr im Interesse der freien Gestaltung der Geschäftsbeziehun-
gen, so namentlich die Strommarktöffnung für alle Endverbraucherinnen und Endver-
braucher und die Entflechtungsmassnahmen. Die Energiereserve spielt sich
ausserhalb des Marktgeschehens ab. Auf die (reguläre) Stromproduktion zeitigt sie
keinerlei Einfluss. Zu einem Eingriff in die Eigentumsgarantie und die Wirtschafts-
freiheit käme es erst dann, wenn das UVEK den Betreiber eines Reservekraftwerks,
einer Notstromgruppe oder einer WKK-Anlage zur Teilnahme an der Energiereserve
verpflichten würde. Dieser allfällige Grundrechtseingriff wäre im Lichte von Artikel
36 BV zulässig
584
.
Auch die Rechtsgleichheit bleibt vorliegend gewahrt. Die vorgenommenen Differen-
zierungen sind alle sachlich begründet. Dies gilt insbesondere für die Ausgestaltung
der Marktöffnung. Dass die Grundversorgung in Zukunft nur noch den kleineren End-
verbrauchern (Jahresverbrauch von weniger als 50 MWh) offensteht, begründet sich
mit dem erhöhten Schutzbedarf, insbesondere der Haushaltskunden, und entspricht im
Übrigen auch den Vorgaben des EU-Rechts.
2.11.10.3
Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der
Schweiz
Elektrizität gilt im Welthandelsrecht als gewöhnliche Handelsware. Die Prinzipien
des Abkommens vom 15. April 1994
585
zur Errichtung der Welthandelsorganisation
bzw. des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens vom 30. Oktober 1947
586
(GATT) finden somit auch auf den Stromhandel Anwendung. Aufgaben mit Dienst-
leistungscharakter unterstehen dem Allgemeinen Abkommen über den Handel mit
Dienstleistungen
587
. Der Umgang mit staatlichen Beihilfen wiederum richtet sich nach
dem Übereinkommen über Subventionen und Ausgleichsmassnahmen
588
(SCM) und
die Einführung von technischen Vorschriften und Standards unterliegen den Bestim-
mungen des Übereinkommens über technische Handelshemmnisse
589
(TBT). Im Ver-
hältnis zur EU sowie zu den EFTA-Staaten sind überdies das Abkommen vom 22. Juli
584
Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen in der Botschaft vom 1. März 2024 zur Ände-
rung des Stromversorgungsgesetztes, BBl 2024 710, Kap. 7.1.2.
585
SR
0.632.20
586
SR
0.632.21
587
SR
0.632.20
, Anhang 1B
588
SR
0.632.20
, Anhang 1A.13
589
SR
0.632.20
, Anhang 1A.6
690 / 931
1972
590
zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft zu beachten.
Aus diesen Abkommen lässt sich für die Schweiz kein Zugang zum Strombinnen-
markt der EU ableiten, da sie namentlich keine Vorgaben über den grenzüberschrei-
tenden Netzzugang oder die Teilnahme an der EU-Marktkopplung enthalten. Solche
Bestimmungen finden sich in spezifischen EU-Rechtsakten, die nun aufgrund des
Stromabkommens im entsprechenden Umfang auch für die Schweiz gelten werden.
Auch mit dem revidierten Übereinkommen zur Errichtung der Europäischen Freihan-
delsassoziation (EFTA-Übereinkommen)
591
ist das Stromabkommen vereinbar. Das
Stromabkommen findet nur im Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU und ih-
ren Mitgliedstaaten, nicht aber im Verhältnis zu den EFTA-Staaten Anwendung.
Um weiterhin möglichst einheitliche Regeln zwischen den EU- und EFTA-
Mitgliedstaaten zu gewährleisten, wird eine Anpassung des EFTA-Übereinkommens
an das Stromabkommen Schweiz-EU zu prüfen sein.
Das Stromabkommen und die Vorentwürfe für die Umsetzungsgesetzgebung tragen
den bestehenden internationalen Verpflichtungen Rechnung. Im Sinne des internatio-
nalen Handelsrechts steht insbesondere die Strommarktöffnung für alle Endverbrau-
cherinnen und Endverbraucher.
Bei der Zuteilung von Kapazitäten im grenzüberschreitenden Übertragungsnetz wur-
den bisher gewissen Lieferungen ein Vorrang eingeräumt (Art. 17 Abs. 2 StromVG).
Dies betrifft zum einen die Lieferungen aus internationalen Bezugs- und Lieferverträ-
gen, die vor dem 31. Oktober 2002 abgeschlossen worden sind und zum anderen Lie-
ferungen aus Grenzwasserkraftwerken, soweit die grenzüberschreitende Übertragung
zur Sicherstellung der jeweiligen Hoheitsanteile nötig ist. In Umsetzung des Strom-
abkommens
592
fallen diese Vorränge nun dahin, mit Ausnahme der Lieferungen aus
Grenzwasserkraftwerken mit einer Kapazitätsreservierung von maximal 65 MW. In-
folge dieser Änderung muss das Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidge-
nossenschaft und der Französischen Republik über den Ausbau der Wasserkräfte bei
Emosson vom 23. August 1963 entsprechend angepasst werden.
2.11.10.4
Erlassform
Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 der BV unterliegen völkerrechtliche
Verträge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige rechtsetzende Bestimmun-
gen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Nach
Artikel 22 Absatz 4 des Parlamentsgesetzes (ParlG; SR 171.10) sind unter rechtset-
zenden Normen jene Bestimmungen zu verstehen, die in unmittelbar verbindlicher
und generell-abstrakter Weise Pflichten auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständig-
keiten festlegen. Als wichtig gelten Bestimmungen, die auf der Grundlage von Artikel
164 Absatz 1 BV in der Form eines Bundesgesetzes erlassen werden müssten.
590
SR
0.632.401
591
SR
0.632.31
592
Annex II Section B und C
691 / 931
Das Stromabkommen enthält wichtige rechtsetzende Bestimmungen und erfordert für
seine Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen. Der Bundesbeschluss über die Ge-
nehmigung des Vertrages ist deshalb dem fakultativen Referendum nach Artikel 141
Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV zu unterstellen (siehe aber die Varianten in
Ziff. 4.1). Zur Frage der Bündelung der Umsetzungsgesetzgebung, siehe Ziff. 4.3.
2.11.10.5
Vorläufige Anwendung
Es ist keine vorläufige Anwendung vorgesehen.
2.11.10.6
Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass
2.11.10.6.1
Unterstellung unter die Ausgabenbremse
Mit der Vorlage werden keine Ausgaben, die über einem der Schwellenwerte liegen
geschaffen noch neue Verpflichtungskredite oder Zahlungsrahmen mit Ausgaben
über einem der Schwellenwerte beschlossen. Die Vorlage ist somit nicht der Ausga-
benbremse (Art. 159 Abs. 3 Bst. b BV) unterstellt.
2.11.10.6.2
Einhaltung der Grundsätze des Subventionsgesetzes
Mit der Vorlage werden keine neuen Subventionsbestimmungen geschaffen. Im Ge-
genteil, es werden Fehlanreize bei bestehenden Unterstützungen eliminiert.
2.11.10.6.3
Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen
Die dem Bundesrat übertragenen Rechtsetzungsbefugnisse beschränken sich jeweils
auf einen bestimmten Regelungsgegenstand und sind nach Inhalt, Zweck und Aus-
mass hinreichend konkretisiert.
Die Delegationen, die im StromVG vorgesehen sind, betreffen die Stromlieferverträge
(Art. 4
c
Abs. 2), den Lieferantenwechsel (Art. 4
d
Abs. 3), die Grundversorgung
(Art. 6 Abs. 5), die Tarifgestaltung und Rechnungsstellung (Art. 7 Abs. 4), die Min-
destanteile an erneuerbarer Energie (Art. 7
a
Abs. 3), die Ersatzversorgung (Art. 7
c
Abs. 2), den Abruf der Energiereserve (Art. 8
b
quater
Abs. 4), die Mehrjahrespläne
(Art. 9
d
Abs. 3), die Entflechtungsvorgaben (Art. 10 Abs. 4 und 5), die Information
und Rechnungsstellung (Art. 12 Abs. 3), die nationale Netzgesellschaft (Art. 18
Abs. 8), das Monitoring (Art. 22
b
Abs. 4) und das Vergleichsinstrument (Art. 23
a
Abs. 2).
Im BATE betreffen die Delegationen die bestehende Bestimmung zur Übermittlung
von Informationen an die ElCom (Art. 12 Abs. 11) sowie die Umsetzung der Pflichten
und der Verbote nach der Verordnung (EU) Nr. 1227/2011 (Art. 20
a
Abs. 2).
Im EnG werden keine neuen Delegationsbestimmungen vorgesehen.
2.11.10.7
Datenschutz
In Artikel 25 Absatz 1 wird der Kreis der Auskunftspflichtigen um die Betreiber von
Strombörsen und die Ombudsstelle erweitert. Bei den betroffenen Daten handelt es
sich nicht um besonders schützenswerte Daten im Sinne von Artikel 5 Buchstabe c
DSG.
692 / 931
Eine weitere Pflicht zur Lieferung von Daten ergibt sich aus der Registrierungspflicht
für Lieferanten nach Artikel 4
b
StromVG. Von dieser Regelung sind lediglich die
Daten juristischer Personen betroffen (Art. 57
r
RVOG).
Im BATE wird die Rechtsgrundlage für die Datenbearbeitung (Art. 24 Abs. 1) er-
gänzt. Die ElCom kann gestützt darauf neu auch alle Daten bearbeiten, die sie für die
Erfüllung ihrer Aufgaben aus der REMIT-Verordnung benötigt. Dies umfasst auch
die Bearbeitung besonders schützenswerter Personendaten und besonders schützens-
werter Daten juristischer Personen. Im Übrigen kann auf die Botschaft vom 29. No-
vember 2023
593
verwiesen werden.
593
BBl
2023
2864, Kap. 7.5
693 / 931
2.12
Lebensmittelsicherheit
2.12.1
Zusammenfassung
Das Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäi-
schen Gemeinschaft über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen vom
21. Juni 1999
594
(nachfolgend
Landwirtschaftsabkommen
) regelt den Handel mit Ag-
rarerzeugnissen zwischen der Schweiz und der EU. Die EU ist bei den Argrarerzeug-
nissen die wichtigste Handelspartnerin der Schweiz: Im Jahr 2023 gingen 50% der
Exporte in die EU, 74% der Importe stammten aus der EU. Allerdings werden we-
sentliche Bereiche dieses Handels – wie namentlich die nichttierischen Lebensmittel
– vom Landwirtschaftsabkommen bisher nicht erfasst.
Im Bereich der Lebensmittelsicherheit war es daher das Ziel des Bundesrates, das
Landwirtschaftsabkommen um diesen Bereich zu erweitern. Damit soll mittels An-
wendung derselben Rechtsvorschriften ein gemeinsamer Lebensmittelsicherheits-
raum mit der EU geschaffen werden, der alle pflanzengesundheitsrelevanten, veteri-
när- und lebensmittelrechtlichen Aspekte entlang der Lebensmittelkette umfasst. Der
gemeinsame Lebensmittelsicherheitsraum zielt einerseits darauf ab, den Verbraucher-
schutz zu stärken, so zum Beispiel durch die Beteiligung der Schweiz an den Warn-
systemen der EU und an der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA.
Andererseits wird die Binnenmarktbeteiligung im Lebensmittelbereich für Schweizer
Produzentinnen und Produzenten durch einen umfassenden Abbau nichttarifärer Han-
delshemmnisse weiter erleichtert und deckt neu auch nicht-tierische Lebensmittel so-
wie Pflanzenschutzmittel ab. Ausnahmen verhindern eine Senkung der in der Schweiz
geltenden Standards, insbesondere in den Bereichen des Tierschutzes und der neuen
Technologien in der Lebensmittelproduktion (hinsichtlich gentechnisch veränderter
Organismen). Auch eine Harmonisierung der Agrarpolitiken bleibt ausgeschlossen.
In diesen Bereichen bleibt die Schweiz weiterhin eigenständig.
Im Verlauf der Verhandlungen sind die Parteien übereingekommen, das Landwirt-
schaftsabkommen in zwei Teile zu gliedern: Einen sogenannten Agrarteil (s. Ziff. 2.7)
und einen Teil «Lebensmittelsicherheit», der durch ein Protokoll zum Landwirt-
schaftsabkommen zur Errichtung eines gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums
(nachstehend
Protokoll zur Lebensmittelsicherheit
) geregelt wird.
Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt. Er beantragt
im Rahmen des Weiterentwicklungsteils des Pakets Schweiz–EU die Genehmigung
des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit und der dazugehörenden Umsetzungsge-
setzgebung.
2.12.2
Ausgangslage
Zwischen der Schweiz und der EU werden jedes Jahr Agrarprodukte und Lebensmittel
im Wert von über 16 Milliarden Franken gehandelt. Die EU ist auch bei den Agrarer-
zeugnissen die wichtigste Handelspartnerin der Schweiz: Im Jahr 2023 gingen 50 %
der Exporte in die EU, 74 % der Importe stammten aus der EU. Leider kommt es auch
bei Lebensmitteln immer wieder zu Fälschungen oder Betrug und es gelangen nicht
594
SR
0.916.026.81
694 / 931
sichere, gesundheitsgefährdende Produkte auf den Markt. Um die Sicherheit von Ag-
rarerzeugnissen und Lebensmitteln langfristig zu gewährleisten und die Konsumen-
tinnen und Konsumenten vor Täuschungen und Betrug zu schützen, ist es ein Anlie-
gen für die Schweiz, im Bereich der Lebensmittelsicherheit enger mit der EU
zusammenzuarbeiten. Über die gesamte Lebensmittelkette soll ein umfassender ge-
meinsamer Lebensmittelsicherheitsraum geschaffen werden.
Der Begriff der Lebensmittelkette umfasst dabei die rechtlichen Aspekte hinsichtlich
Lebensmittelsicherheit, Tier- und Pflanzengesundheit, Futtermittel, Saatgut und Zu-
lassung von Pflanzenschutzmitteln. Die auf der Basis des Landwirtschaftsabkommens
bereits bestehende enge Zusammenarbeit in den Bereichen Pflanzengesundheit, Fut-
termittel und Saatgut sowie im gemeinsamen Veterinärraum betreffend den Handel
mit Tieren und tierischen Erzeugnissen einschliesslich Lebensmittel tierischer Her-
kunft soll weitergeführt und gestärkt werden. Die Bereiche Pflanzenschutzmittel und
nichttierische Lebensmittel kommen neu dazu. Das erweiterte Abkommen deckt da-
mit den überwiegenden Teil des Handels mit Agrargütern mit der EU ab. Die erleich-
terte Binnenmarktbeteiligung für die Schweizer Lebensmittelproduzentinnen und -
produzenten und die engere Zusammenarbeit bei neuartigen Lebensmitteln stärken
den Standort Schweiz.
2.12.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
2.12.3.1
Zielsetzung
Die Schweiz und die EU hatten bereits 2008 Verhandlungen für eine engere Zusam-
menarbeit unter anderem im Bereich der Lebensmittelsicherheit aufgenommen. Diese
Verhandlungen konnten nie abgeschlossen werden. Im Rahmen der exploratorischen
Gespräche (s. Ziff. 1.3.1) kamen die Schweiz und die EU zum Schluss, die Verhand-
lungen zur Erweiterung des Landwirtschaftsabkommens im Bereich Lebensmittelsi-
cherheit wieder aufzunehmen. Dabei sollten die neuen institutionellen Elemente auch
im Landwirtschaftsabkommen verankert werden.
Die Verhandlungsziele der Schweiz wurden im Verhandlungsmandat vom 8. März
2024 festgelegt: Im Bereich Lebensmittelsicherheit strebte die Schweiz eine Auswei-
tung des Geltungsbereichs des Landwirtschaftsabkommens auf die gesamte Lebens-
mittelkette an. Die Ausweitung zielte darauf ab, den Verbraucherschutz zu stärken
und den Marktzugang durch einen umfassenden Abbau nichttarifärer Handelshemm-
nisse zu verbessern.
Die Ziele sahen weiter vor, dass die bestehenden Ausnahmen des Landwirtschaftsab-
kommens – unter anderem das Verbot von gentechnisch verändertem Saatgut und das
Tiertransitverbot – erhalten bleiben. Neue Ausnahmen zur Absicherung der Schwei-
zer Standards, insbesondere im Bereich des Tierschutzes und der neuen Technologien
in der Lebensmittelproduktion, sollten im Abkommen verankert werden. Gleichzeitig
sollten die neuen institutionellen Elemente für den Bereich Lebensmittelsicherheit in
das Abkommen integriert werden.
Weiter zielte die Schweiz darauf ab, Zugang zu den relevanten Komitees und Arbeits-
gruppen der EU, ihren Warnsystemen (u. a. Täuschungsschutz, Schnellwarnsystem
695 / 931
für Lebens- und Futtermittel RASFF) und zur Europäischen Behörde für Lebensmit-
telsicherheit (EFSA
595
) zu erhalten. Die Schweiz war bereit, sich am Budget der Platt-
formen zu beteiligen, zu denen sie Zugang erhält, einschliesslich der EFSA und des
Warn- und Kooperationsnetzes. Diese finanzielle Beteiligung sollte angemessen sein
und insbesondere die Grösse der Schweizer Wirtschaft widerspiegeln. Schweizer Le-
bensmittelproduzentinnen und -produzenten sollen von einer erleichterten Beteili-
gung am EU-Binnenmarkt profitieren (und EU- Produzentinnen und Produzenten um-
gekehrt am Schweizer Markt) und die Zusammenarbeit bei der Zulassung von
neuartigen Lebensmitteln sollte gestärkt werden. Unternehmen, die ihre Produkte in
der Schweiz und in der EU in Verkehr bringen, profitieren, weil sie sowohl in der
Schweiz als auch in der EU jederzeit den gleichen Regelungen unterstellt sind. Damit
erübrigen sich zum Beispiel Anpassungen der Verpackungen oder an der Rezeptur.
2.12.3.2
Verhandlungsverlauf
Die Verhandlungen mit der EU wurden am 21. März 2024 aufgenommen. Insgesamt
fanden elf formelle Verhandlungsrunden sowie zahlreiche Treffen auf technischer
Ebene statt. Über das grundsätzliche Ziel der Errichtung eines gemeinsamen Lebens-
mittelsicherheitsraums und das aufgrund des erweiterten Geltungsbereichs des Ab-
kommens darin zu integrierende EU-Recht erreichten die Parteien rasch Einigkeit.
Mehr Zeit nahmen Fragen zur Struktur des künftigen Abkommens sowie zur Ausge-
staltung der neuen institutionellen Elemente in Anspruch.
Im Ergebnis einigten sich die Parteien auf ein Protokoll zur Lebensmittelsicherheit
zum bestehenden Landwirtschaftsabkommen. Es beinhaltet die Grundsätze zur Er-
richtung eines gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums, die neuen institutionellen
Bestimmungen sowie, in einem Anhang I, die Auflistung der im gemeinsamen Le-
bensmittelsicherheitsraum anwendbaren EU-Rechtsakte.
Das bestehende Landwirtschaftsabkommen enthält heute mit den Anhängen 4 (Pflan-
zengesundheit), 5 (Futtermittel), 6 (Saatgut) und 11 (Veterinäranhang) Bereiche, die
künftig im Protokoll zur Lebensmittelsicherheit geregelt werden. Bislang kommt bei
diesen Anhängen bei der Rechtsübernahme die sogenannte Äquivalenzmethode (s.
Ziff. 2.1.5.2.2) zur Anwendung. Das heisst, dass die Schweiz zum in diesen Anhängen
aufgeführten EU-Recht äquivalentes Schweizer Recht erlässt, mit welchem der-selbe
Zweck und die gleiche Wirkung erreicht wird. Angesichts der Zielsetzung eines ge-
meinsamen Lebensmittelsicherheitsraums, in dem jederzeit dieselben Regeln gelten
sollen, wurde die dynamische Rechtsübernahme im Protokoll zur Lebensmittelsicher-
heit nach der sogenannten Integrationsmethode (s. Ziff. 2.1.5.2.2) ausgestaltet. Neu
werden die für den gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraum einschlägigen EU-
Rechtsakte mit ihrer Integration in den Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsi-
cherheit direkt anwendbar, sofern sie hinreichend konkret sind. Müssen einzelne ihrer
Bestimmungen für die Anwendung im Einzelfall konkretisiert werden, ist nach wie
vor der Erlass von Detailregelungen im innerstaatlichen Recht nötig. Die Integration
von EU-Rechtsakten in den Anhang I erfordert wie bisher einen Beschluss des Ge-
mischten Ausschusses, dem die Schweiz und die EU zustimmen müssen.
595
Siehe www.efsa.europa.eu.
696 / 931
Zum ausgehandelten Protokoll zur Lebensmittelsicherheit gehören nebst den bereits
bestehenden Bereichen Pflanzengesundheit, Futtermittel, Saatgut und dem Veterinär-
bereich betreffend den Handel mit Tieren und tierischen Erzeugnissen einschliesslich
Lebensmittel tierischer Herkunft neu auch der Handel mit nichttierischen Lebensmit-
teln und die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln. Die Schweiz erhält den gewünsch-
ten Zugang zur EFSA und den relevanten Netzwerken der EU. Ebenso wird die
Schweiz in das Zulassungssystem für Pflanzenschutzmittel der EU involviert. Dabei
konnten bisherige Ausnahmen aus dem bestehenden Landwirtschaftsabkommen ab-
gesichert und neue Ausnahmen von der dynamischen Rechtsübernahme insbesondere
im Bereich Tierschutz und der neuen Technologien in der Lebensmittelproduktion
vereinbart werden, die eine Senkung der Schweizer Standards verhindern. Das Ver-
handlungsergebnis entspricht den Schweizer Verhandlungszielen gemäss dem Man-
dat vom 8. März 2024.
2.12.4
Vorverfahren
Die Arbeiten basierten zu Beginn auf der Annahme, dass im Protokoll zur Lebensmit-
telsicherheit weiterhin die Äquivalenzmethode (s. Ziff. 2.12.3.2) gelten würde. Bei
der Äquivalenzmethode erlässt die Schweiz in ihrer Rechtsordnung Bestimmungen
oder behält solche bei, um das Ergebnis zu erreichen, das durch die in das Abkommen
integrierten EU-Rechtsakte erzielt werden soll, vorbehaltlich der vom Gemischten
Ausschuss beschlossenen Anpassungen. Bei einer Beibehaltung der Äquivalenzme-
thode hätte auch die bestehende Rechtspraxis fortgeführt werden können. Grössere
Gesetzesanpassungen waren nicht angedacht, weshalb im Bereich Lebensmittelsi-
cherheit auf eine Regulierungsfolgeabschätzung (RFA) verzichtet wurde.
In den Verhandlungen verständigten sich die Parteien in der Folge darauf, die dyna-
mische Rechtsübernahme im Protokoll zur Lebensmittelsicherheit nach der Integrati-
onsmethode auszugestalten (s. Ziff. 2.12.3.2). Die EU-Rechtsakte werden mit ihrer
Integration in den Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit durch einen
Beschluss des Gemischten Ausschusses für Lebensmittelsicherheit Teil der schwei-
zerischen Rechtsordnung und können direkt von den rechtsanwendenden Behörden
angewendet werden, sofern die Bestimmungen hinreichend konkret sind. Damit wird
sichergestellt, dass im gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraum grundsätzlich die
gleichen Regeln gelten. Angesichts der künftigen direkten Anwendung der ins Proto-
koll zur Lebensmittelsicherheit aufgenommenen EU-Rechtsakte erweist sich eine Re-
vision der folgenden Gesetze als sinnvoll, um Struktur und Gliederung optimal aufei-
nander abzustimmen, und um zu vermeiden, dass derselbe Inhalt doppelt geregelt
wird:
–
Tierschutzgesetz vom 16. Dezember 2005
596
(TSchG), Teilrevision
–
Bundesgesetz über Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände vom 20. Juni
2014
597
(Lebensmittelgesetz, LMG), Totalrevision
596
SR
455
597
SR
817.0
697 / 931
–
Bundesgesetz über die Landwirtschaft vom 29. April 1998
598
(Land-
wirtschaftsgesetz, LwG), Teilrevision
–
Tierseuchengesetz vom 1. Juli 1966
599
(TSG), Teilrevision
–
Bundesgesetz über den Wald vom 4. Oktober 1991
600
(Waldgesetz, WaG),
Teilrevision
Für das LMG liegt eine vertiefte RFA vom 18. Oktober 2023 vor. Vertiefte RFAs zum
TSchG, LwG, TSG und WaG wurden, wie oben begründet, nicht durchgeführt. Fol-
gestudien wurden keine in Auftrag gegeben.
2.12.5
Grundzüge des Protokolls
Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit sieht vor, die Lebensmittelsicherheit in der
EU und der Schweiz über die gesamte Lebensmittelkette zu stärken und den Geltungs-
bereich des Landwirtschaftsabkommens auszuweiten, indem ein gemeinsamer Le-
bensmittelsicherheitsraum geschaffen wird.
Der gemeinsame Lebensmittelsicherheitsraum umfasst einerseits die im Landwirt-
schaftsabkommen bereits bestehenden Bereiche Pflanzengesundheit, Futtermittel und
Saatgut, sowie den Veterinärbereich betreffend den Handel mit Tieren und tierischen
Erzeugnissen einschliesslich Lebensmittel tierischer Herkunft. Andererseits wird da-
rin neu auch der Handel mit nichttierischen Lebensmitteln und die Zulassung von
Pflanzenschutzmitteln geregelt. Die Schweiz wird den gewünschten Zugang zur
EFSA und den relevanten Netzwerken der EU erhalten. Ebenso wird die Schweiz in
das Zulassungssystem für Pflanzenschutzmittel der EU eingebunden werden.
Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit gliedert sich in 5 Teile. Es umfasst zwei An-
hänge sowie zwei Anlagen.
Teil I definiert Ziel und Zweck des Protokolls. Teil II enthält wichtige Bestimmungen
für das Funktionieren des gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums. Für die
Schweiz von besonderer Bedeutung sind in diesem Teil die Ausnahmen von der Ver-
pflichtung zur dynamischen Rechtsübernahme der EU-Gesetzgebung im Geltungsbe-
reich des Protokolls, darunter die Ausnahme betreffend gentechnisch veränderte Or-
ganismen. In Teil III werden die neuen institutionellen Elemente festgelegt, die für
alle Binnenmarktabkommen des Pakets Schweiz-EU weitgehend gleich lauten, insbe-
sondere der Prozess zur Integration des einschlägigen EU-Rechts ins Protokoll, das
Mitspracherecht (
decision shaping
), die einheitliche Auslegung der Abkommen, de-
ren Anwendung und Überwachung sowie die Streitbeilegung. Teil IV regelt weitere
Bestimmungen und Teil V legt die Schlussbestimmungen fest. Sie sehen insbesondere
eine Übergangsfrist von maximal 2 Jahren für die Anwendung der Bestimmungen des
Protokolls zur Lebensmittelsicherheit vor.
598
SR
910.1
599
SR
916.40
600
SR
921.0
698 / 931
In Anhang I des Protokolls sind sämtliche EU-Erlasse aufgeführt, welche für den ge-
meinsamen Lebensmittelsicherheitsraum gelten und künftig auch in der Schweiz An-
wendung finden werden. Anhang II legt die Modalitäten der finanziellen Beteiligung
der Schweiz an den Agenturen (EFSA) und Informationssystemen im Bereich der Le-
bensmittelsicherheit fest. Auch die Modalitäten der finanziellen Beteiligung lauten für
alle Binnenmarktabkommen des Pakets Schweiz-EU weitgehend gleich.
Anlage 1 legt die Regelungen für das Schiedsverfahren fest, Anlage 2 regelt Vorrechte
und Immunitäten in der Zusammenarbeit mit der EFSA. Auch diese Bestimmungen
lauten für alle betroffenen Binnenmarktabkommen des Pakets Schweiz-EU gleich.
2.12.6
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Protokolls
Präambel
Die Präambel beschreibt die Absicht der Parteien, die Lebens- und Futtermittelsicher-
heit in der EU und der Schweiz zu stärken, indem ein gemeinsamer Lebensmittelsi-
cherheitsraum geschaffen wird. Ziel ist es, Tierseuchen und Pflanzenkrankheiten zu
verhindern, sowie antimikrobielle Resistenzen zu bekämpfen. Zudem wird die Bereit-
schaft betont, den Tierschutz weiter zu verbessern und das Wohlergehen der Tiere zu
fördern. Faire Handelspraktiken in der Lebensmittelkette sollen gewährleistet und be-
trügerische Praktiken bekämpft werden. Die Koordinierung der Standpunkte und die
gegenseitige Unterstützung in internationalen Organisationen werden als wichtig er-
achtet. Es wird in Erinnerung gerufen, dass die EU und die Schweiz durch zahlreiche
bilaterale Abkommen miteinander verbunden sind.
Für die weiteren Absätze der Präambel kann auf die entsprechenden Ausführungen
des Kapitels 2.1 verwiesen werden (s. Ziff. 2.1.5.1.1).
Teil I: Allgemeine Bestimmungen
Art. 1
Zweck
Artikel 1 definiert den Zweck des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit. Der Gel-
tungsbereich des Landwirtschaftsabkommens soll mittels Errichtung eines gemeinsa-
men Lebensmittelsicherheitsraums zwischen der Schweiz und der EU auf die gesamte
Lebensmittelkette ausgedehnt werden. Damit soll Unternehmen wie Privatpersonen
gleichermassen im Rahmen der Binnenmarktbeteiligung der Schweiz grössere
Rechtssicherheit, Gleichbehandlung und gleiche Voraussetzungen garantiert werden
(s. Ziff. 2.1.5.1.2).
Art. 2
Geltungsbereich
In Artikel 2 wird der Geltungsbereich des gemeinsamen Lebensmittelsicherheits-
raums festgelegt. Dieser umfasst die gesamte Lebensmittelkette von der Produktion
von Lebensmitteln bis zu deren Abgabe an die Konsumentinnen und Konsumenten.
Abgedeckt werden:
–
alle Stufen der Produktion, Bearbeitung und Verteilung von Lebensmitteln,
Futtermitteln und tierischen Nebenprodukten
699 / 931
–
Tiergesundheit und Tierwohl
–
Pflanzengesundheit und Pflanzenschutzmittel
–
Pflanzenvermehrungsmaterial
–
Antimikrobielle Resistenzen
–
Tierzucht
–
Kontaminanten und Rückstände
–
Materialien und Gegenstände, die mit Lebensmitteln in Berührung kommen
–
Kennzeichnung
Ebenfalls zum Geltungsbereich gehören die amtlichen Kontrollen in diesen Berei-
chen.
Art. 3
Bilaterale Abkommen in den Bereichen betreffend den Binnenmarkt,
an denen die Schweiz teilnimmt
Artikel 3 präzisiert, dass bestehende und künftige bilaterale Abkommen zwischen der
der Schweiz und der EU betreffend den Binnenmarkt, an welchem die Schweiz teil-
nimmt, als «kohärentes Ganzes» betrachtet werden, welches ein Gleichgewicht der
Rechten
und
Pflichten
zwischen
den
Vertragsparteien
gewährleistet
(s.
Ziff. 2.1.6.1.4). Auch das vorliegende Protokoll stellt ein solches bilaterales Abkom-
men dar.
Art. 4
Begriffsbestimmungen
Artikel 4 enthält die Definition des sogenannten «Tertiärrechts». Bei diesem Aus-
druck handelt es sich nicht um einen formalen Begriff des EU-Rechts. «Tertiärrecht»
wird jedoch allgemein zur Benennung sogenannter nichtlegislativer Rechtsakte ver-
wendet, welche gestützt auf vom ordentlichen Gesetzgeber der EU erteilte Kompe-
tenzdelegationen in der Regel von der Europäischen Kommission erlassen werden. Es
handelt sich dabei in erster Linie um als delegierte Rechtsakte (s. Art. 290 AEUV
601
)
oder Durchführungsrechtsakte (s. Art. 291 AEUV) bezeichnete Rechtsakte. Dele-
gierte Rechtsakte werden zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentli-
cher Vorschriften eines Gesetzgebungsakts erlassen (Art. 290 AEUV). Mit Durchfüh-
rungsrechtsakten erlässt die Europäische Kommission einheitliche Bedingungen für
die Durchführung von verbindlichen Gesetzgebungsakten, wenn dies erforderlich ist
(Art. 291 Abs. 2 AEUV). Ebenfalls von der Definition erfasst werden alle weiteren
nichtlegislativen Rechtsakte mit der Rechtswirkung von delegierten Rechtsakten oder
Durchführungsrechtsakten, welche aber im EU-Recht nicht als solche bezeichnet wer-
den. Dies betrifft insbesondere ältere nichtlegislative Rechtsakte, welche vor der Ein-
601
Vertrag über die Europäische Union und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen
Union, ABl. C 202 vom 7. Juni 2016, S. 1.
700 / 931
führung der Bezeichnung «delegierte Rechtsakte» und «Durchführungsrechtsakte» er-
lassen wurden. Die Definition des Tertiärrechts ist relevant mit Blick auf Artikel 15,
welcher den Umgang mit diesen Rechtsakten speziell regelt (s. Ausführungen zu Art.
15).
Teil II: Gemeinsamer Lebensmittelsicherheitsraum
Art. 5
Errichtung und Ziele des gemeinsamen
Lebensmittelsicherheitsraums
In Artikel 5 wird der gemeinsame Lebensmittelsicherheitsraum geschaffen und des-
sen Ziele festgelegt. Oberstes Ziel ist es, die Lebens- und Futtermittelsicherheit über
die gesamte Lebensmittelkette hinweg zu verbessern. Ein hohes Schutzniveau für die
Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen soll unter anderem mit der gleichzei-
tigen Anwendung gleicher Normen, verstärkter Anstrengungen zur Bekämpfung an-
timikrobieller Resistenzen und der Verbesserung des Tierschutzes gewährleistet wer-
den.
Art. 6
Funktionieren des gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums
Artikel 6 umschreibt die Funktionsweise des gemeinsamen Lebensmittelsicherheits-
raums. Im Zentrum steht hier das Prinzip, dass die EU die Schweiz in Bezug auf die
ins Protokoll zur Lebensmittelsicherheit aufgenommenen einschlägigen EU-
Rechtsakte nicht als Drittland behandelt, sofern die Schweiz ihre Verpflichtungen ge-
mäss dem Protokoll erfüllt. Die Behandlung der Schweiz wie ein EU-Mitgliedsstaat
im Rahmen des gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums wird hier im Grundsatz
festgehalten und in weiteren Bestimmungen konkretisiert (s. insb. Ausführungen zum
Anhang I, Abschnitt 1).
Art. 7
Ausnahmen
Artikel 7 regelt in Absatz 1 die Ausnahmen von der Verpflichtung zur dynamischen
Rechtsübernahme (s. Ziff. 2.1.6.2.1). In den in diesem Artikel aufgeführten Bereichen
ist die Schweiz nicht zur Integration von EU-Rechtsakten gemäss Artikel 13 oder zur
vorübergehenden Anwendung gemäss Artikel 15 verpflichtet. Das heisst, dass die
Schweiz in diesen Bereichen ihre eigenen, sich vom einschlägigen EU-Recht unter-
scheidenden gesetzlichen Vorschriften anwenden kann.
Die erste Ausnahme (Bst. a) betrifft die absichtliche Freisetzung gentechnisch verän-
derter Organismen (GVO) in die Umwelt und das Inverkehrbringen von Produkten,
die gentechnisch veränderte Organismen enthalten oder aus solchen bestehen, sowie
von aus gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel und Futter-
mittel. In diesen Bereichen kann die Schweiz weiterhin ihre eigenen gesetzlichen Vor-
schriften anwenden. Dabei gelten zwei Bedingungen: Erstens muss die Schweiz das
Inverkehrbringen von in der EU gemäss Verordnung Nr. 1829/2003 über genetisch
veränderte Lebensmittel und Futtermittel zugelassenen Lebens- und Futtermitteln,
welche gentechnisch veränderte Organismen enthalten, ohne spezifische Kennzeich-
nung erlauben, sofern diese den vorgesehenen Schwellenwert nicht überschreiten.
701 / 931
Dieser Schwellenwert von 0,9 Prozent ist in Artikel 12 Absatz 2 der Verordnung Nr.
1829/2003
602
festgelegt und gilt nur, sofern die Spuren zufällig sind oder sich tech-
nisch nicht vermeiden lassen (s. Anhang I, Abschnitt 2, Bst. O). Zweitens lässt die
Schweiz das Inverkehrbringen und die Verwendung von in der EU zugelassenen Fut-
termitteln zu, die nicht aus vermehrungsfähigen gentechnisch veränderten Organis-
men bestehen. Dies ist allerdings bereits heute der Fall und stellt somit kein neues
Zugeständnis von Seiten der Schweiz dar. Mit diesen beiden Bedingungen sollen Han-
delshemmnisse vermieden werden, während die Ausnahme das Schweizer Kerninte-
resse einer eigenständigen Regelung von GVO schützt.
Weitere Ausnahmen betreffen den Tierschutz und bestimmte obligatorische Kenn-
zeichnungspflichten (Bst. b). So kann die Schweiz weiterhin ihre eigenen gesetzlichen
Vorschriften zum Schutz von landwirtschaftlichen Nutztieren sowie betreffend den
nationalen Tiertransport erlassen. Das geltende Tiertransitverbot auf der Strasse bleibt
bestehen (s.
Fussnote zu Art. 15a Abs. 3 TSchG
). Auch die in der Schweiz obligatori-
sche Kennzeichnung von tierischen Produkten, welche durch schmerzhafte Verfahren
ohne Betäubung oder Zwangsernährung hergestellt wurden, bleibt erhalten. Von der
Kennzeichnungspflicht ausgenommen sind allein Produkte, in deren Herkunftsland
solche Praktiken ebenfalls verboten sind oder deren Produktion als frei von solchen
Praktiken zertifiziert ist. Zudem fallen die Kennzeichnungspflichten betreffend die
Aufzucht von Hauskaninchen und Legehennen für die Eierproduktion sowie das ge-
plante Importverbot von tierquälerisch erzeugten Pelzen und Pelzprodukten unter die
Ausnahmen von der Verpflichtung zur dynamischen Rechtsübernahme.
Eine bereits bestehende Ausnahme betrifft den Import von Fleisch von Rindern, die
möglicherweise mit hormonellen Wachstumsförderern behandelt wurden (Bst. c). In
diesem Bereich kann die Schweiz unter den im Protokoll aufgeführten Bedingungen
weiterhin ihre eigenen gesetzlichen Vorschriften anwenden.
Abschliessend wird in Artikel 7 Absatz 2 festgehalten, dass auf Anfrage einer Partei
relevante rechtliche Entwicklungen in den als Ausnahmen aufgeführten Bereichen im
Gemischten Ausschuss für Lebensmittelsicherheit besprochen werden sollen. Die
Ausnahmen haben zum Ziel, im Fall eines Deltas zwischen dem einschlägigen Recht
in der EU und in der Schweiz im Geltungsbereich des Abkommens diesen Bereich
von der Verpflichtung zur dynamischen Rechtsübernahme auszunehmen. Gleicht sich
das einschlägige Recht jedoch an und verringert sich infolgedessen dieses Delta oder
fällt es gar ganz weg, kann über eine Anpassung beziehungsweise Streichung einer
Ausnahme im Gemischten Ausschuss diskutiert werden. Eine Anpassung des Proto-
kolls erfordert dabei immer die Zustimmung beider Parteien.
Art. 8
Unterstützung in internationalen Organisationen
In Artikel 8 wird das Bestreben der Parteien festgehalten, im Rahmen ihrer multilate-
ralen Zusammenarbeit eine Koordinierung ihrer Standpunkte anzustreben und sich
602
Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.
September 2003 über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel, ABl. L 268 vom
18.10.2003, S. 1.
702 / 931
gegenseitig bei ihrer Arbeit in internationalen Organisationen (z. B.
World Organisa-
tion for Animal Health
WOAH,
Codex Alimentarius
) in den vom gemeinsamen Le-
bensmittelsicherheitsraum erfassten Bereichen zu unterstützen. Dies erfolgt im Rah-
men der bestehenden Arbeitsgruppen und im Gemischten Ausschuss für
Lebensmittelsicherheit. Über die konkrete Ausgestaltung dieser Zusammenarbeit ent-
scheiden die Parteien eigenständig und fallweise.
Art. 9
Finanzieller Beitrag
Artikel 9 regelt in Absatz 1 die finanzielle Beteiligung der Schweiz an Aktivitäten der
Agenturen und an Informationssystemen der EU, zu welchen sie durch das Protokoll
zur Lebensmittelsicherheit Zugang erhält. Darunter fallen gemäss Anhang II die
EFSA, das Mitteilungssystem der Europäischen Union zur Überwachung der Pflan-
zengesundheit (EUROPHYT), das Schnellwarnsystem für Lebens- und Futtermittel
(TE), die Onlineplattform für Gesundheits- und Pflanzenschutzzertifikate (TRACES)
sowie das Tierseuchen-Informationssystem ADIS. Der Gemischte Ausschuss für Le-
bensmittelsicherheit erhält zudem die Kompetenz, einen Beschluss zur Änderung des
Anhangs 2 betreffend die Modalitäten für die Umsetzung von Artikel 9 zu erlassen.
Sollte die Schweiz eine Zahlungsfrist nicht einhalten, kann die EU gemäss Absatz 2
die Teilnahme an der EFSA sowie den Zugang zu den Informationssystemen ausset-
zen. Absatz 2 legt auch das in einem solchen Fall anwendbare Verfahren fest.
Die finanzielle Beteiligung entspricht dem in Ziff. 2.1.5.5.1 dargelegten Ansatz und
setzt sich aus einem Betriebsbeitrag und einer Teilnahmegebühr zusammen. Der Be-
triebsbeitrag basiert auf einem Beitragsschlüssel, der als Verhältnis des Bruttoinlands-
produkts (BIP) der Schweiz zu Marktpreisen zum BIP der EU zu Marktpreisen defi-
niert ist. Hinzu kommt eine jährliche Teilnahmegebühr von 4 % des gemäss den
Absätzen 5 und 6 dieses Artikels berechneten Betriebsbeitrags. Eine Übersicht zu der
jährlichen Kostenbeteiligung findet sich in Ziffer 2.12.9.
Weiter enthält Artikel 9 Regelungen zum Informationsfluss betreffend die Berech-
nung des Finanzbeitrags, zur massgeblichen Währung (Euro) sowie Übergangsbe-
stimmungen im Falle eines Inkrafttretens des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit
während einem laufenden Kalenderjahr. Der Gemischte Ausschuss für Lebensmittel-
sicherheit überprüft alle drei Jahre die Teilnahme der Schweiz gemäss Artikel 1 von
Anhang II dieses Protokolls und passt sie gegebenenfalls an.
Teil III: Institutionelle Bestimmungen
Kapitel 1: Allgemeine Bestimmungen
Art. 10
Ziele
Artikel 10 regelt die Ziele der institutionellen Bestimmungen, die in Ziffer 2.1.6.1.2
erläutert werden.
703 / 931
Art. 11
Gemischter Ausschuss für Lebensmittelsicherheit
Artikel 11 schafft den Gemischten Ausschuss für Lebensmittelsicherheit und legt des-
sen Zuständigkeiten und Kompetenzen fest. Der Artikel zum Gemischten Ausschuss
wurde für alle Abkommen des Pakets Schweiz–EU weitgehend vereinheitlicht (s.
Ziff. 2.1.6.7).
Kapitel 2: Angleichung des Protokolls an die Rechtsakte der Union
Art. 12
Mitwirkung bei der Erarbeitung von Rechtsakten der Union
(Mitspracherecht)
Artikel 12 regelt die Mitwirkung der Schweiz bei der Erarbeitung neuer EU-
Rechtsakte durch die Europäische Kommission (sog. "
decision shaping"
). Die Be-
stimmung wird in Ziffer 2.1.6.2.1 erläutert.
Art. 13
Integration von Rechtsakten der Union
Artikel 13 regelt die Integration von EU-Rechtsakten in das Protokoll zur Lebensmit-
telsicherheit. Dieser Artikel wird in Ziffer 2.1.6.2.2 erläutert.
Art. 14
Erfüllung verfassungsrechtlicher Verpflichtungen durch die Schweiz
Artikel 14 regelt die Fälle, in denen die Schweiz bei der Integration von EU-
Rechtsakten in das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit verfassungsrechtliche Ver-
pflichtungen erfüllen muss. Das ist dann der Fall, wenn die Integration des neuen EU-
Rechtsakts in das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit vom Parlament oder gegebe-
nenfalls vom Volk in der Schweiz genehmigt werden muss. Dieser Artikel wird in
Ziffer 2.1.6.2.2 erläutert.
Art. 15
Vorübergehende Anwendung von auf der Grundlage der in Anhang I
genannten Rechtsakte erlassenen Rechtsakten
Artikel 15 regelt die vorübergehende Anwendung von Tertiärrechtsakten, das heisst
von Rechtsakten, die auf der Grundlage eines der in Anhang I aufgeführten Rechts-
akte erlassen wurden (s. Art. 4). Damit wird der Notwendigkeit Rechnung getragen,
dass im gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraum jederzeit die gleichen Vorschrif-
ten angewendet werden. Bei der Bekämpfung von Tierseuchen oder beim Rückruf
schädlicher Lebensmittel ist ein sofortiges Handeln erforderlich. Solche Massnahmen,
die eine sofortige Umsetzung erfordern, werden im EU-Recht regelmässig in Tertiär-
rechtsakten erlassen. Der in Artikel 13 vorgesehene «ordentliche» Prozess zur In-
tegration von EU-Rechtsakten in den Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicher-
heit ist für die gleichzeitige Anwendung von Tertiärrechtsakten in der Schweiz und in
der EU in der Regel nicht schnell genug und wird regelmässig eine gleichzeitige An-
wendung nicht sicherstellen können. Deshalb legt Artikel 15 Absatz 1 fest, dass die
Schweiz Tertiärrechtsakte im Geltungsbereich des Protokolls zur Lebensmittelsicher-
704 / 931
heit bis zum ordentlichen Beschluss des Gemischten Ausschusses für Lebensmittelsi-
cherheit zur Integration dieser Rechtsakte in Anhang I des Protokolls zur Lebensmit-
telsicherheit gemäss Artikel 13 Absatz 8 vorübergehend anwendet. Damit ist eine
gleichzeitige Anwendung der Tertiärrechtsakte im gesamten Lebensmittelsicherheits-
raum sichergestellt. Die vorübergehende Anwendung endet mit dem Inkrafttreten des
Beschlusses des Gemischten Ausschusses für Lebensmittelsicherheit zur Integration
des Tertiärrechtsakts in Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit nach Ar-
tikel 13 Absatz 8 oder ausnahmsweise mit der vorläufigen Anwendung nach Arti-
kel 14 Absatz 3.
Absatz 2 regelt den Fall, wenn die Schweiz ausnahmsweise einmal einen Tertiär-
rechtsakt nicht vorübergehend anwenden kann. Damit wird das in Artikel 13 etablierte
Prinzip, dass die Schweiz eigenständig über die Integration jedes EU-Rechtsaktes in
Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit entscheidet, auch bei der vorüber-
gehenden Anwendung von Tertiärrechtsakten abgesichert. Beim Tertiärrecht dürften
Fälle, in denen die Schweiz einen Tertiärrechtsakt nicht vorübergehend anwenden
kann, äusserst selten sein. In einem solchen Fall muss die Schweiz den Gemischten
Ausschuss unverzüglich informieren und ausdrücklich die Gründe erläutern, warum
die vorübergehende Anwendung des betreffenden Rechtsakts nicht möglich ist.
Absatz 3 legt fest, dass die EU bei ausbleibender vorübergehender Anwendung eines
Tertiärrechtsakts Massnahmen ergreifen kann, um die dadurch allenfalls gestörte In-
tegrität des Lebensmittelsicherheitsraums wiederherzustellen. In einem solchen Fall
muss auch die EU den Gemischten Ausschuss unverzüglich über die Massnahmen
informieren und ausdrücklich die Gründe dafür angeben.
Art. 16
Veröffentlichung der auf der Grundlage der in Anhang I genannten
Rechtsakte erlassenen Rechtsakten
Artikel 16 regelt die Publikation von Tertiärrechtsakten, das heisst von Rechtsakten,
die auf der Grundlage eines der in Anhang I aufgeführten Rechtsakte erlassen (s. Art.
4) und in das Protokoll aufgenommen oder vorübergehend angewendet werden. Eine
Liste dieser Tertiärrechtsakte soll umgehend und in leicht zugänglicher Weise veröf-
fentlicht werden. Die Vertragsparteien haben diesbezüglich einen grossen Gestal-
tungsspielraum. Es ist vorgesehen, diese Liste auf der Internetseite des Bundesamtes
für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) zu publizieren und nachzufüh-
ren. Damit werden die Prinzipien der Transparenz und der Rechtssicherheit auch mit
Blick auf die vorübergehend angewendeten Tertiärrechtsakte, die noch nicht in den
Anhang I des Protokolls aufgenommen sind, sichergestellt.
Kapitel 3: Auslegung und Anwendung des Protokolls
Art. 17
Grundsatz der einheitlichen Auslegung
Die in Artikel 17 geregelte einheitliche Auslegung wird in Ziffer 2.1.6.3.1 erläutert.
705 / 931
Art. 18
Grundsatz der wirksamen und harmonischen Anwendung
Das in Artikel 18 geregelte Prinzip der effektiven und harmonischen Anwendung wird
in Ziffer 2.1.6.3.2 erläutert. Betreffend Absatz 4 wird eine nötige Anpassung, um dem
besonderen Charakter des gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums Rechnung zu
tragen, unten bei den Ausführungen zum Anhang I, Abschnitt 1 erläutert.
Art. 19
Ausschliesslichkeitsgrundsatz
Artikel 19 regelt das Ausschliesslichkeitsprinzip, das in Ziffer 2.1.6.4.1 erläutert wird.
Art. 20
Verfahren bei Auslegungs- oder Anwendungsschwierigkeiten
Artikel 20 regelt die Grundsätze des Streitbeilegungsverfahren und wird in Zif-
fer 2.1.6.4.2 erläutert.
Art. 21
Ausgleichsmassnahmen
Artikel 21 regelt die Ausgleichsmassnahmen und wird in Ziffer 2.1.6.4.3 erläutert. Da
das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit nicht nur den Geltungsbereich des Landwirt-
schaftsabkommens erweitert (vgl. Art. 1), sondern auch ein bilaterales Abkommen in
einem Bereich betreffend den Binnenmarkt darstellt, an dem die Schweiz teilnimmt
(vgl. Art. 3), können die auf der Grundlage von Art. 21 getroffenen Ausgleichsmass-
nahmen nicht nur im Rahmen des Protokolls selbst und im Rahmen des Landwirt-
schaftsabkommens, sondern auch im Rahmen jedes anderen Abkommens in den Be-
reichen betreffend den Binnenmarkt, an denen die Schweiz teilnimmt, getroffen
werden (Art. 21 Abs. 1).
Art. 22
Zusammenarbeit zwischen Gerichten
Artikel 22 regelt die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten und wird in Zif-
fer 2.1.6.4.4 erläutert.
Teil IV: Weitere Bestimmungen
Die Artikel 23, 24, 25 und 26 regeln Bezugnahmen auf Gebiete und Staatsangehörige
sowie Bestimmungen über das Inkrafttreten, die Umsetzung und Adressaten der EU-
Rechtsakte und werden in Ziffer 2.1.6.5.2 erläutert.
Teil V: Schlussbestimmungen
Art. 27
Berufsgeheimnis
Unter dem Titel «Berufsgeheimnis» wird in Artikel 27 festgehalten, dass Vertreterin-
nen und Vertreter, Sachverständige und sonstige Beauftragte der Vertragsparteien
706 / 931
verpflichtet sind, auch nach Beendigung ihrer Tätigkeit unter die Geheimhaltungs-
pflicht fallende Informationen nicht weiterzugeben.
Art. 28
Verschlusssachen und nicht als Verschlusssache eingestufte sensible
Informationen
Artikel 28 regelt den Umgang der Vertragsparteien mit Verschlusssachen und ver-
traulichen Informationen oder Materialien und verweist betreffend Verschlusssachen
auf die geltenden Regeln gemäss dem Abkommen zwischen der Schweiz und der EU
über Sicherheitsverfahren für den Austausch von Verschlusssachen
603
. Der Gemischte
Ausschuss für Lebensmittelsicherheit wird beauftragt, Handlungsanweisungen für
den geschützten Austausch von vertraulichen Informationen unter den Vertragspar-
teien festzulegen.
Art. 29
Umsetzung
Artikel 29 betreffend die Umsetzung enthält das grundsätzliche Bekenntnis beider
Vertragsparteien, alle geeigneten Massnahmen zur Erfüllung der Verpflichtungen aus
diesem Protokoll zu ergreifen und von allen Handlungen abzusehen, welche die Ver-
wirklichung ihrer Ziele gefährden könnten. Dies betrifft gemäss Absatz 2 insbeson-
dere die Verpflichtung der Parteien, alle erforderlichen Massnahmen zu ergreifen, um
das beabsichtigte Ergebnis der in diesem Protokoll aufgeführten EU-Rechtsakte zu
gewährleisten.
Art. 30
Anhänge und Anlagen
Artikel 30 legt fest, dass die beiden Anhänge sowie die beiden Anlagen einen integ-
rierenden Bestandteil des Protokolls bilden.
Art. 31
Räumlicher Geltungsbereich
Artikel 31 hält fest, dass dieses Protokoll für die in Artikel 16 des Landwirtschaftsab-
kommens aufgeführten Gebiete gilt.
Art. 32
Übergangsregelungen
Artikel 32 bestimmt die Übergangsregelungen. Ab Inkrafttreten des Protokolls gilt
eine Übergangsfrist von längstens 24 Monaten. Während dieser Übergangsfrist gelan-
gen die Bestimmungen des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit noch nicht zur An-
wendung. Ausgenommen von dieser Regelung sind allein die Bestimmungen zum Ge-
mischten Ausschuss für Lebensmittelsicherheit (Artikel 11) sowie zu den
Pflanzenschutzmitteln (Anhang I, Abschnitt 2, Überschrift C, Ziffer 14 und 15). Der
Gemischte Ausschuss für Lebensmittelsicherheit wird ab Inkrafttreten des Protokolls
etabliert, um seine Aufgaben wahrnehmen zu können. Ebenso wird die Schweiz ab
Inkrafttreten des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit in das europäische System für
603
SR
0.514.126.81
707 / 931
das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln integriert und wird ab diesem Zeit-
punkt die im Anhang I Ziffer 14 und 15 aufgeführten EU-Erlasse anwenden. Die An-
wendung der Regelung für Pflanzenschutzmittel bereits ab Inkrafttreten rechtfertigt
sich damit, dass dieser Bereich bisher nicht vom Landwirtschaftsabkommen erfasst
war und daher keiner Übergangsfrist bedarf. Während der Übergangsfrist werden die
bestehenden Anhänge 4, 5, 6 und 11 des Landwirtschaftsabkommens wie bisher an-
gewendet, und unterstehen in diesem Zeitraum noch nicht den Bestimmungen des
Protokolls zur Lebensmittelsicherheit. Dies gilt so lange, bis entweder die 24 Monate
abgelaufen sind oder die Schweiz dem Gemischten Ausschuss für Lebensmittelsicher-
heit mittels Notifikation mitteilt, dass sie die Übergangsfrist früher beenden möchte.
In diesem Fall legt der Gemischte Ausschuss für Lebensmittelsicherheit das Endda-
tum der Übergangsfrist fest und informiert den Gemischten Ausschuss für Landwirt-
schaft entsprechend. Am Tag 1 nach Beendigung der Übergangsfrist sind sämtliche
Bestimmungen des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit sowie die in Anhang I auf-
geführten EU-Erlasse (Stand 31. Dezember 2024) anwendbar. Zudem wird der Ge-
mischte Ausschuss für Lebensmittelsicherheit auf diesen Zeitpunkt einen Beschluss
zur Integration der in der Zwischenzeit in der EU neu zur Anwendung gelangenden
Sekundär- und Tertiärrechtsakte im Geltungsbereich des Protokolls zur Lebensmittel-
sicherheit fassen.
Artikel 33
Inkrafttreten
Artikel 33 enthält Bestimmungen zur Ratifikation und zum Inkrafttreten (s.
Ziff. 2.1.6.6).
Als Instrument des Weiterentwicklungsteils des Pakets Schweiz–EU
kann das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit nur in Kraft treten, sofern die Instru-
mente des Stabilisierungsteils in Kraft gesetzt werden.
Artikel 34
Änderungen und Kündigung
Artikel 34 enthält Vorgaben zur Änderung und Kündigung des Protokolls (s. Ziff.
2.1.5.6).
Anhang I: Rechtsakte im gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraum
Abschnitt 1: Allgemeine Bestimmungen
In den allgemeinen Bestimmungen in Abschnitt 1 werden drei Grundsätze festgehal-
ten, welche im Rahmen des gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums die Behand-
lung der Schweiz wie ein EU-Mitgliedsstaat konkretisieren. Der erste Grundsatz hält
fest, dass die in den im Anhang I gelisteten Rechtsakten für die Mitgliedstaaten der
EU vorgesehenen Rechte und Pflichten auch für die Schweiz gelten. Diese Bestim-
mung gilt grundsätzlich auch in den anderen Binnenmarktabkommen des Pakets
Schweiz-EU (s. Ziff. 2.1.5.7). Sie stellt sicher, dass die Schweiz die gleichen Rechte
wie die EU-Mitgliedstaaten hat und nicht als «Drittstaat» schlechter gestellt werden
kann. Der zweite Grundsatz ergänzt den ersten dahingehend, dass auch jede sonstige
Bezugnahme auf die Mitgliedstaaten unabhängig von Rechten und Pflichten auch als
Bezugnahme auf die Schweiz verstanden wird. Auch diese Bestimmung ist wichtig,
708 / 931
damit im gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraum für die Schweiz dieselben Re-
geln gelten wie für die Mitgliedsstaaten. Der dritte Grundsatz sieht schliesslich vor,
dass Bezugnahmen auf natürliche oder juristische Personen mit Wohnsitz oder Nie-
derlassung in den Mitgliedstaaten der EU auch als Bezugnahmen auf natürliche oder
juristische Personen mit Wohnsitz oder Niederlassung in der Schweiz gelten. Diese
Bestimmung, die auch im Stromabkommen vorgesehen ist, hält fest, dass im Gel-
tungsbereich des Protokolls für Lebensmittelsicherheit für natürliche und juristische
Personen mit Wohnsitz oder Niederlassung in der Schweiz grundsätzlich dieselben
Regeln zur Anwendung kommen sollen wie für natürliche und juristische Personen
mit Wohnsitz oder Niederlassung in den Mitgliedsstaaten der EU. Alle drei Grunds-
ätze gelten, sofern in technischen Anpassungen nicht etwas anderes vorgesehen ist
und sofern die einschlägigen Rechtsbestimmungen nicht in den Anwendungsbereich
einer Ausnahme nach Artikel 7 fallen. Auch müssen diese Grundsätze in voller Be-
rücksichtigung der institutionellen Bestimmungen angewendet werden.
Weiter wird in Abschnitt 1 eine Abweichung zu dem in Artikel 18 Absatz 4 letzter
Satz festgelegten Grundsatz vereinbart. Dieser Grundsatz sieht vor, dass bestimmte
Überwachungsbefugnisse der EU-Institutionen gegenüber der Schweiz, wie etwa Un-
tersuchungs- und Entscheidungsbefugnisse, ausdrücklich vorgesehen werden müssen.
Um dem besonderen Charakter des gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums
Rechnung zu tragen und dessen Funktionieren sicherzustellen, wird in Anhang I ein-
leitend festgehalten, dass die Europäische Kommission grundsätzlich gegenüber der
Schweiz über die ihr in diesen Rechtsakten übertragenen Zuständigkeiten verfügt, so-
fern in den technischen Anpassungen nichts anderes vorgesehen ist. Beispiel für eine
solche Untersuchungsbefugnis sind die Kontrollen und Audits der Europäischen
Kommission in den Mitgliedstaaten nach Artikel 116 der Verordnung
(EU) 2017/625
604
über amtliche Kontrollen und andere amtliche Tätigkeiten zur Ge-
währleistung der Anwendung des Lebens- und Futtermittelrechts und der Vorschrif-
ten über Tiergesundheit und Tierschutz, Pflanzengesundheit und Pflanzenschutzmittel
(EU-Kontrollverordnung). Es wird in Abschnitt 1 ausdrücklich festgehalten, dass
wenn immer die Europäische Kommission solche Befugnisse ausübt, dies in Koope-
ration mit den zuständigen Schweizer Behörden in Einklang mit der Praxis in Bezug
auf die anwendbaren Rechtsakte zu erfolgen hat. Solche Kontrollen werden von der
Kommission schon heute gestützt auf das Landwirtschaftsabkommen regelmässig
604
Verordnung (EU) 2017/625 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März
2017 über amtliche Kontrollen und andere amtliche Tätigkeiten zur Gewährleistung der
Anwendung des Lebens- und Futtermittelrechts und der Vorschriften über Tiergesundheit
und Tierschutz, Pflanzengesundheit und Pflanzenschutzmittel, zur Änderung der Verord-
nungen (EG) Nr. 999/2001, (EG) Nr. 396/2005, (EG) Nr. 1069/2009, (EG) Nr. 1107/2009,
(EU) Nr. 1151/2012, (EU) Nr. 652/2014, (EU) 2016/429 und (EU) 2016/2031 des Europä-
ischen Parlaments und des Rates, der Verordnungen (EG) Nr. 1/2005 und (EG) Nr.
1099/2009 des Rates sowie der Richtlinien 98/58/EG, 1999/74/EG, 2007/43/EG,
2008/119/EG und 2008/120/EG des Rates und zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr.
854/2004 und (EG) Nr. 882/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates, der Richtli-
nien 89/608/EWG, 89/662/EWG, 90/425/EWG, 91/496/EEG, 96/23/EG, 96/93/EG und
97/78/EG des Rates und des Beschlusses 92/438/EWG des Rates (Verordnung über amtli-
che Kontrollen), ABl. L 95 vom 7.4.2017, S. 1, zuletzt geändert durch die Verordnung
(EU) 2024/3115 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. November 2024,
ABl. L 3115 vom 16.12.2024, S. 1.
709 / 931
durchgeführt (vgl. Art. 16, Anhang 11 Landwirtschaftsabkommen). Damit sollen eine
einheitliche Anwendung des in Anhang I integrierten EU-Rechts im gemeinsamen
Lebensmittelsicherheitsraum und das Funktionieren der nationalen Kontrollsysteme
sichergestellt werden.
Abschnitt 2: Liste der Rechtsakte
Abschnitt 2 von Anhang I enthält die im gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraum
Schweiz–EU anwendbaren EU-Rechtsakte in folgenden Bereichen:
–
Amtliche Kontrollen und Einfuhr
–
Pflanzenvermehrungsmaterial
–
Pflanzenschutzmittel
–
Pflanzengesundheit
–
Futtermittel
–
Tierzucht
–
Lebensmittel (allgemein; Hygiene; Zutaten, Spuren und Vermarktungsnor-
men; Pestizid- und Tierarzneimittelrückstände, Kontaminanten; Kontakt-
materialien; Kennzeichnung, Aufmachung und Werbung sowie nährwert-
und gesundheitsbezogene Angaben)
–
Gentechnisch veränderte Organismen (nur Schwellenwert)
–
Tierwohl
–
Tierische Nebenprodukte
–
Sanitäre und phytosanitäre Vorschriften
–
Antibiotikaresistenz
Die wichtigsten Zielsetzungen dieser EU-Rechtsakte sind die Sicherung eines hohen
Schutzniveaus für die Gesundheit von Mensch und Tier, die Gewährleistung der Le-
bensmittelsicherheit entlang der gesamten Produktionskette sowie einheitliche Rege-
lungen für die Beteiligung der Schweiz am Binnenmarkt, um den freien Warenverkehr
zu ermöglichen. Zudem soll ein einheitlicher Rahmen für amtliche Kontrollen ge-
schaffen werden, um die wirksame Überwachung und Durchsetzung der Vorschriften
in der Lebensmittelsicherheit, der Tiergesundheit, beim Pflanzenschutz und beim
Tierwohl sicherzustellen.
In Abschnitt 2 von Anhang I aufgelistet werden nur die anwendbaren EU-
Sekundärrechtsakte. Zudem legt Abschnitt 2 einleitend fest, wie das auf Basis der auf-
710 / 931
geführten EU-Sekundärrechtsakte erlassene Tertiärrecht abgebildet wird. So wird prä-
zisiert, dass die aufgeführten Sekundärrechtsakte auch sämtliche bis zum Inkrafttreten
des Protokolls auf ihrer Grundlage erlassenen Tertiärrechtsakte gemäss der Definition
in Artikel 4 des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit umfassen. Neue, nach Inkraft-
treten des Protokolls erlassene Tertiärrechtsakte werden durch einen Beschluss des
Gemischten Ausschusses für Lebensmittelsicherheit gemäss Artikel 13 Absatz 4 in
dieses Protokoll aufgenommen. Allerdings werden Tertiärrechtsakte nicht mit ihrem
ganzen Titel im Anhang I genannt. Vielmehr wird bei jedem in Anhang I aufgeführten
Sekundärrechtsakt präzisiert, bis zu welchem Datum sämtliche Tertiärrechtsakte, die
auf der Grundlage dieses Sekundärrechtsaktes erlassen wurden, in das Protokoll inte-
griert wurden. Diese Praxis existiert heute schon im Rahmen des MRA
605
. Der Ge-
mischte Ausschusses für Lebensmittelsicherheit passt diese Daten bei den Sekundär-
rechtsakten regelmässig an. Bis zum Entscheid des Gemischten Ausschusses für
Lebensmittelsicherheit zur Integration in den Anhang I des Protokolls zur Lebensmit-
telsicherheit werden die Rechtsakte gemäss Artikel 15 vorübergehend angewendet.
Das BLV publiziert alle Rechtsakte, die auf der Grundlage eines der in Anhang I auf-
geführten Sekundärrechtsakte erlassen und in das Protokoll aufgenommen wurden
oder vorübergehend angewendet werden, auf seiner Internetseite.
Im Verhältnis Schweiz–EU geltende Abweichungen und Präzisierungen werden in
sogenannten technischen Anpassungen zu den im Anhang I aufgeführten Rechtsakten
festgehalten. Zudem wird betreffend Datenschutz allgemein festgehalten, dass Ver-
weise
auf
Verpflichtungen der
Mitgliedstaaten
gemäss
der
Verordnung
(EU) 2016/679
606
oder der Richtlinie 2002/58/EG
607
im Hinblick auf die Schweiz als
Verweis auf die einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften zu verstehen sind.
Anhang II: Modalitäten für die Umsetzung von Artikel 9 des Protokolls zur Errichtung
eines gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums
In Anhang II sind die Agenturen und Informationssysteme aufgeführt, an welchen
sich die Schweiz finanziell beteiligt, sowie die Zahlungsmodalitäten definiert.
605
Siehe Anhang 1, Kapitel 16, Abschnitt I, Ziffer 1 sowie Anhang 1, Kapitel 18, Abschnitt I,
Ziffer 1 MRA, SR
0.946.526.81
.
606
Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April
2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten,
zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG, Abl. L 119 vom
4.5.2016.
607
Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über
die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektro-
nischen Kommunikation, Abl. L 201 vom 31.7.2002 zuletzt geändert durch Richtlinie
2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 zur
Änderung der Richtlinie 2002/22/EG über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elekt-
ronischen Kommunikationsnetzen und -diensten, der Richtlinie 2002/58/EG über die Ver-
arbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen
Kommunikation und der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 über die Zusammenarbeit im
Verbraucherschutz, Abl. L 337 vom 18.12.2009.
711 / 931
Anlage 1: Schiedsgericht
Das Schiedsgerichtsprotokoll entspricht den Schiedsregeln, welche für alle Binnen-
marktabkommen des Pakets Schweiz–EU gelten. Siehe dazu die Erläuterungen in Zif-
fer 2.1.6.4.
Anlage 2: Vorrechte und Immunitäten der Europäischen Behörde für Lebensmittelsi-
cherheit
Die Vorrechte und Immunitäten der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit
(EFSA) wurden ins Protokoll zur Lebensmittelsicherheit aufgenommen, damit für
Schweizer Bürgerinnen und Bürger, welche bei der EFSA arbeiten, die gleichen Best-
immungen wie für EU-Bürgerinnen und -Bürger gelten. Die Reglungen bezüglich
EFSA orientieren sich an anlogen Bestimmungen in anderen Binnenmarktabkommen
des Pakets Schweiz–EU. Siehe die Erläuterungen in Ziffer 2.1.5.7.
2.12.7
Grundzüge der Umsetzungserlasse
EU-Rechtsakte im Geltungsbereich des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit werden
mit ihrer Integration durch einen Beschluss des Gemischten Ausschusses in den An-
hang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit Teil der schweizerischen Rechtsord-
nung. Ihre Bestimmungen können, sofern sie hinreichend konkret sind, direkt von den
rechtsanwendenden Behörden angewendet werden. Eine Umsetzung ins nationale
Recht, wie dies bisher mit der Äquivalenzmethode (s. Ziff. 2.12.3.2) praktiziert
wurde, ist grundsätzlich nicht mehr nötig. Innerstaatlich zu regeln sind lediglich die
nicht in den Geltungsbereich des Protokolls für Lebensmittelsicherheit fallenden Re-
gelungsgegenstände sowie Bereiche, in denen das EU-Recht Umsetzungsspielraum
lässt bzw. einer Konkretisierung bedarf. Entsprechend sind sämtliche betroffene Er-
lasse auf Gesetzes- und Verordnungsstufe zu revidieren. Insbesondere sind sämtliche
Bestimmungen aufzuheben, die künftig direkt anwendbarem EU-Recht entsprechen.
Mit der direkten Anwendung der jeweiligen Bestimmungen des EU-Rechts werden
diese Artikel obsolet. Parallele Regelungen desselben Gegenstandes in zwei anwend-
baren Erlassen sind aus Gründen der Rechtssicherheit zu vermeiden. Aufgrund der im
Lebensmittelrecht bereits weit fortgeschrittenen Harmonisierung des Schweizer
Rechts mit dem EU-Recht werden in diesen Bereichen viele Artikel wegfallen. Dies
erfordert eine grundlegende Anpassung von Struktur und Gliederung dieses Erlasses,
die in einer Totalrevision des Lebensmittelgesetzes umgesetzt wird. Darin müssen zu-
dem auch künftig jene Bereiche geregelt werden, die nicht in den Geltungsbereich des
Protokolls für Lebensmittelsicherheit fallen. Da der Anpassungsbedarf im Tierseu-
chengesetz, Tierschutzgesetz, Landwirtschaftsgesetz und Waldgesetz weniger um-
fangreich ist, beschränken sich die legislatorischen Arbeiten in diesen Bereichen auf
eine Teilrevision.
2.12.8
Umsetzung in der Tierschutzgesetzgebung
2.12.8.1
Tierschutzgesetz und Verordnungsrecht
Die Änderungen aufgrund des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit betreffen im
Tierschutzgesetz die Bestimmungen zu den internationalen Tiertransporten und zum
712 / 931
Töten von Tieren sowie die zugehörigen Bestimmungen auf Verordnungsebene, na-
mentlich die Tierschutzverordnung vom 23. April 2008
608
(TSchV), die Verordnung
des EDI vom 5. September 2008
609
über Ausbildungen in der Tierhaltung und im
Umgang mit Tieren (Tierschutz-Ausbildungsverordnung, TSchAV) sowie die Ver-
ordnung des BLV vom 8. November 2021
610
über den Tierschutz beim Schlachten
(VTSchS). Zudem werden die Bestimmungen zur Ausbildung im Bereich des Voll-
zugs des TSchG, des TSG und des LMG harmonisiert.
Für internationale Tiertransporte (Art. 15
a
TSchG) und das Schlachten beziehungs-
weise neu Töten von Tieren (Art. 21 TSchG) sind künftig die Verordnung (EG) Nr.
1/2005 über den Schutz von Tieren beim Transport und damit zusammenhängenden
Vorgängen
611
beziehungsweise die Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 über den Schutz
von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung
612
direkt anwendbar. Dem wird mit der Anpas-
sung der Artikel 15, 15
a
und 21 TSchG Rechnung getragen, indem auf diese Verord-
nungen verwiesen wird. Zudem findet die Verordnung (EU) 2017/625 Anwendung,
die auch Tierschutz-Kontrollen für die Bereiche Transport und Tötung regelt.
Die Verordnung (EG) Nr. 1/2005 regelt den Schutz von Tieren beim Transport inner-
halb der EU und die spezifischen Kontrollen bei der Ankunft oder beim Verlassen des
Zollgebiets.
613
Sie statuiert eine Zulassungspflicht für Transportunternehmen und ent-
hält Vorgaben zur Zulassung.
614
Entsprechend werden die diesbezüglichen Bestim-
mungen in Art. 15
a
TSchG so wie in der TSchV obsolet. Ebenfalls enthält die Ver-
ordnung detaillierte Vorgaben zur Transportfähigkeit von Tieren
615
, zum Umgang mit
diesen
616
und zu den Transportmitteln
617
. Für rein nationale Tiertransporte findet die
Verordnung (EG) Nr. 1/2005 auch künftig keine Anwendung (vgl. Art. 15 VE-
TSchG).
Im Bereich der Tiertransporte hat die Schweiz in Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe b Zif-
fer ii des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit die bereits bestehende Ausnahme be-
treffend Tiertransitverbot auf der Strasse auch für die Zukunft abgesichert. Das be-
deutet, dass die Schweiz im Bereich der nationalen Tiertransporte weiterhin ihre
eigenen, sich vom einschlägigen EU-Recht unterscheidenden gesetzlichen Vorschrif-
608
SR
455.1
609
SR
455.109.1
610
SR
455.110.2
611
Verordnung (EG) Nr. 1/2005 vom 22. Dezember 2004 über den Schutz von Tieren beim
Transport und damit zusammenhängenden Vorgängen sowie zur Änderung der Richtlinien
64/432/EWG und 93/119/EG und der Verordnung (EG) Nr. 1255/97, Abl. L 3 vom
5.1.2005, S. 1, geändert durch die Verordnung (EU) 2017/625 des Europäischen Parla-
ments und des Rates vom 15. März 2017, Abl. L 95 vom 7.4.2017, S. 1.
612
Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 vom 24. September 2009 über den Schutz von Tieren
zum Zeitpunkt der Tötung, Abl. L 303 vom 18.11.2009, S. 1, geändert durch die Verord-
nung (EU) 2017/625 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2017, Abl.
L 95 vom 7.4.2017, S. 1.
613
Siehe Artikel 1 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1/2005.
614
Siehe Artikel 6 Absatz 1 und Artikel 10 der Verordnung (EG) Nr. 1/2005.
615
Anhang I Kapitel I der Verordnung (EG) Nr. 1/2005.
616
Anhang I Kapitel III der Verordnung (EG) Nr. 1/2005.
617
Anhang I Kapitel II der Verordnung (EG) Nr. 1/2005.
713 / 931
ten anwenden kann (Art. 15 VE-TSchG). Im Bereich der internationalen Tiertrans-
porte wendet die Schweiz weiterhin Art. 15a Absatz 3 TSchG an, welcher in Artikel
15a Absatz 2 VE-TSchG übernommen wird.
Tiertransporte, die nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 1/2005
fallen, kann der Bundesrat künftig weiterhin selbst regeln (Art. 15
a
Absatz 3 VE-
TSchG). Namentlich betreffend Transporte von Tieren, die nicht in Verbindung mit
einer wirtschaftlichen Tätigkeit durchgeführt werden
618
, haben die entsprechenden
Bestimmungen in der TSchV weiterhin Gültigkeit. Im Bereich der Ausbildung des
Transportpersonals werden gewisse Anpassungen in der TSchAV nötig, da das EU-
Recht auch Vorgaben zur Schulung des Personals von Transportunternehmen macht.
Die Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 regelt den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der
Tötung. Der Anwendungsbereich umfasst das Töten von Tieren, die zur Herstellung
von Lebensmitteln, Wolle, Häuten, Pelzen oder anderen Erzeugnissen gezüchtet oder
gehalten werden, sowie die Tötung von Tieren zum Zwecke der Bestandsräumung
und damit zusammenhängenden Tätigkeiten. Demgegenüber hat der heutige Artikel
21 TSchG lediglich die Schlachtung von Tieren zum Gegenstand, womit die Tötung
zur Lebensmittelgewinnung gemeint ist (s. die entsprechende Definition in der
TSchV
619
). Folglich wird durch die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009
und deren Aufnahme in Artikel 21 Absatz 1 VE-TSchG der Geltungsbereich von Ar-
tikel 21 TSchG im Vergleich zu heute ausgeweitet.
Die Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 sieht weiter eine Betäubungspflicht für die Tö-
tung von Tieren vor
620
und regelt auch die für die jeweilige Tierart zulässigen Betäu-
bungsverfahren
621
. Aufgrund dieser Vorschriften werden einige Bestimmungen in der
TSchV und insbesondere der VTSchS obsolet und können folglich gestrichen werden,
andere müssen angepasst werden. Die Kompetenz zur Regelung von Tötungen, die
nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 fallen, ver-
bleibt bei der Schweiz beziehungsweise konkret beim Bundesrat
622
. Zudem erlaubt
die Verordnung die Beibehaltung und in gewissen Bereichen den Erlass neuer stren-
gerer nationaler Vorschriften, wenn durch diese ein umfassenderer Schutz der Tiere
zum Zeitpunkt der Tötung sichergestellt wird.
623
2.12.8.2
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
Die Verabschiedung einer Botschaft zu einem Lebensmittelsicherheitsabkommen mit
der EU in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode ist in der vom Bundesrat verab-
schiedeten Botschaft vom 24. Januar 2024 zur Legislaturplanung 2023–2027
624
ange-
kündigt. Der Abschluss des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit bildet somit Be-
standteil der Strategie des Bundesrates für die Jahre 2023–2027 und hat unter anderem
die Änderung des TSchG zur Folge. Der Bundesrat wird seine finanzpolitischen Ent-
scheidungen im Rahmen der Erstellung des jährlichen Voranschlags treffen.
618
Siehe Artikel 1 Absatz 5 der Verordnung (EG) Nr. 1/2005.
619
Art. 2 Abs. 3 Bst. n.
620
Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009.
621
Siehe Anhang I der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009.
622
Art. 21 Abs. 2 E-TSchG.
623
Siehe Artikel 26.
624
BBl
2024
525
714 / 931
2.12.8.3
Umsetzungsfragen
Für den Vollzug des TSchG sind bis auf wenige Ausnahmen die Kantone zuständig
(s. Art. 32 Abs. 2 und 5). Die direkte Anwendung des ins Protokoll zur Lebensmittel-
sicherheit integrierten EU-Rechts wird unter anderem zu einer Umstellung bei der
Verfügungspraxis der kantonalen Vollzugsorgane führen, da in den Bereichen des in-
ternationalen Transports und dem Töten von Tieren gemäss Verordnung (EG)
Nr. 1099/2009 künftig direkt gestützt auf EU-Recht verfügt wird. Ebenso sind ge-
wisse Anpassungen der Vollzugspraxis der kantonalen Vollzugsorgane zu erwarten.
Diese müssen gegebenenfalls zusätzliche Kontrollen vornehmen oder die bestehenden
Kontrollen anpassen sowie Aktionspläne erstellen (s. Ziff. 2.12.9.7). Damit die Voll-
zugsorgane ausreichend Zeit haben, ihre Praxis anzupassen, wurde in Artikel 31 des
Protokolls zur Lebensmittelsicherheit eine Übergangsfrist von maximal zwei Jahren
nach Inkrafttreten vereinbart (s. Ziff. 2.12.7).
2.12.8.4
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des
Umsetzungserlasses
Ingress
Zu den bereits im geltenden TSchG aufgeführten Artikeln wird neu ebenfalls das Pro-
tokoll zur Lebensmittelsicherheit erwähnt, da das Gesetz u.a. der Umsetzung dieses
Abkommens dient.
Art. 15
Während Artikel 15 heute allgemeine Grundsätze für Tiertransporte regelt, soll er
künftig nur auf nationale Tiertransporte anwendbar sein, da sich internationale Tier-
transporte künftig nach der Verordnung (EG) Nr. 1/2005, welche Bestandteil des An-
hangs I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit ist und in der Schweiz grundsätzlich
direkt angewendet wird, richten. Entsprechend wird die Sachüberschrift geändert und
es werden in den beiden Absätzen explizit die nationalen Tiertransporte erwähnt.
Art. 15a
Aufgrund des bestehenden Anhang 11 des Landwirtschaftsabkommens entspricht das
Schweizer Recht zu internationalen Tiertransporten grösstenteils bereits den Anfor-
derungen der Verordnung (EG) Nr. 1/2005. Für internationale Tiertransporte wird,
gestützt auf das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit, die Verordnung (EG)
Nr. 1/2005, welche Bestandteil des Anhangs I des Protokolls zur Lebensmittelsicher-
heit ist, künftig grundsätzlich direkt angewendet.
Diese gilt für den Transport lebender Wirbeltiere, einschliesslich der spezifischen
Kontrollen, denen Tiersendungen bei der Ankunft im Zollgebiet der EU, und nun auch
715 / 931
der Schweiz, oder bei dessen Verlassen unterzogen werden.
625
Die Kontrollen und
Massnahmen richten sich nach der Verordnung (EU) 2017/625.
626
Wie bisher dürfen Rinder, Schafe, Ziegen, Schweine, Schlachtpferde und Schlachtge-
flügel nur im Bahn- oder Luftverkehr durch die Schweiz durchgeführt werden (Abs.
2). Diese Ausnahme aus dem bestehenden Anhang 11 des Landwirtschaftsabkom-
mens wird mit dem Protokoll zur Lebensmittelsicherheit für die Schweiz weiterge-
führt.
627
Gemäss Absatz 3 der Bestimmung regelt der Bundesrat internationale Tiertransporte,
die nicht unter die Verordnung (EG) Nr. 1/2005 fallen, wie namentlich Tiertransporte,
die nicht in Verbindung mit einer wirtschaftlichen Tätigkeit durchgeführt werden
628
.
Er kann internationale Normen für anwendbar erklären.
Art. 21
Artikel 21 regelt neu nicht nur das Schlachten (gemäss Art. 2 Abs. 3 Bst. n TSchV
das Töten von Tieren zum Zwecke der Lebensmittelgewinnung), sondern, entspre-
chend der Definition in der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009, das Töten von Tieren,
die zur Herstellung von Lebensmitteln oder anderen Erzeugnissen gezüchtet oder ge-
halten werden sowie zum Zwecke der Bestandsräumung und damit zusammenhän-
genden Tätigkeiten. Folglich ist neu auch im Gliederungstitel vor Artikel 21 vom Tö-
ten von Tieren und nicht mehr vom Schlachten die Rede. Auch hier findet für die
amtlichen Kontrollen die Verordnung (EU) 2017/625 Anwendung.
629
Absatz 2 gibt dem Bundesrat die Kompetenz, die Vorschriften zur Umsetzung von
Artikel 20 der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 zu erlassen. Artikel 20 der Verord-
nung verlangt von den Mitgliedstaaten genügend unabhängige Wissenschaftler zur
Verfügung zu stellen, um die zuständigen Behörden auf Verlangen zu unterstützen.
Auch die Schweiz kann diese Bestimmung im Schweizer Recht präzisieren. Soweit
es die Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 erlaubt, kann der Bundesrat auch abweichende
Vorschriften für das Töten von Tieren vorsehen. Dies ist im Rahmen von Artikel 26
Absatz 2 und 3 der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 möglich. Weiter erhält der Bun-
desrat mit Absatz 3 der Bestimmung explizit die Kompetenz, das Töten von Tieren,
die nicht unter die genannte Verordnung fallen, sowie von Tieren, die zu anderen
Zwecken als zur Herstellung von Lebensmitteln oder anderen Erzeugnissen gezüchtet
oder gehalten werden, zu regeln.
625
Artikel 1 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1/2005.
626
Siehe Protokoll zur Lebensmittelsicherheit, Anhang I, Abschnitt 2; s. zu den Kontrollen
Artikel 21 der Verordnung (EU) 2017/625.
627
Artikel 7 Absatz 1 Bst. b Ziff. ii des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit.
628
Siehe Artikel 1 Absatz 5 der Verordnung (EG) 1/2005.
629
Siehe Protokoll zur Lebensmittelsicherheit, Anhang I, sowie Artikel 18 Absatz 1 EU-
Kontrollverordnung.
716 / 931
Art. 28
Da in Artikel 21 neu nicht mehr von schlachten, sondern von töten die Rede ist, muss
die entsprechende Strafbestimmung, Artikel 28 Absatz 1 Buchstabe f TSchG, ange-
passt werden.
Art. 32 Abs. 4
Aufgrund der neuen Bestimmungen zu den Anforderungen sowie der Aus- und Wei-
terbildung der Mitarbeitenden der Fachstellen kann Artikel 32 Absatz 4 aufgehoben
werden.
Art. 33a-33d und 35a
Heute regelt die Verordnung vom 16. November 2011
630
über die Aus-, Weiter- und
Fortbildung der Personen im öffentlichen Veterinärwesen die Anforderungen an die
Personen, die im Vollzug tätig sind. Es ist vorgesehen, gesamtheitliche Regelungen
für die Vollzugsorgane der Veterinär- und der Lebensmittelgesetzgebung zu erlassen.
Auch wird die erforderliche Rechtsgrundlage für die damit zusammenhängende Da-
tenbearbeitung geschaffen, wobei der Bundesrat die nötigen Einzelheiten regelt. Es
werden daher die entsprechenden Bestimmungen im TSG, im TSchG und im LMG
vereinheitlicht. Der aktuelle Artikel 32 Absatz 4 sowie Artikel 35
a
TSchG erübrigen
sich und können aufgehoben werden.
2.12.8.5
Auswirkungen dieses Umsetzungserlasses
2.12.8.5.1
Auswirkungen auf den Bund
Aufgrund des bestehenden Anhangs 11 des Landwirtschaftsabkommens werden die
Anforderungen der Verordnung (EG) Nr. 1/2005 betreffend den Schutz von Tieren
bei internationalen Transporten und damit zusammenhängenden Vorgängen mit den
aktuellen Vorschriften im TSchG und in der TSchV zu internationalen Tiertransporten
bereits erfüllt. Für den Bund sind hier keine Auswirkungen zu erwarten.
Durch die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 betreffend den Schutz
von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung kann sich für den Bund ein gewisser Mehrauf-
wand ergeben. Dies betrifft einerseits die Anforderung der Sicherstellung genügend
unabhängiger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, um die zuständigen Behör-
den
631
auf Verlangen zu unterstützen,
632
und andererseits eine allfällige Prüfung oder
Ausarbeitung von Leitfäden.
Der aufgrund der Änderung des TSchG anfallende Mehraufwand wird voraussichtlich
mit den bestehenden Ressourcen kompensiert werden können.
630
SR
916.402
631
Für den Vollzug sind grundsätzlich die Kantone zuständig, s. Art. 32 Abs. 2 TSchG.
632
Artikel 20 der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009.
717 / 931
2.12.8.5.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf
urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete
Die Kantone sind grundsätzlich im Bereich des TSchG für den Vollzug zuständig.
633
Aufgrund des bestehenden Landwirtschaftsabkommens werden die Anforderungen
der Verordnung (EG) Nr. 1/2005 mit den aktuellen Vorschriften im TSchG und in der
TSchV zu internationalen Tiertransporten zu einem grossen Teil bereits erfüllt. Schon
heute erteilen die Kantone Bewilligungen für gewerbsmässige, internationale Tier-
transporte. Die TSchV legt die Anforderungen fest.
634
Künftig werden diese durch die
Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 1/2005 abgelöst und sind bei der Bewilli-
gungserteilung zu berücksichtigen. Bewilligungen beziehungsweise ganz grundsätz-
lich Verfügungen in dem Bereich werden direkt gestützt auf das in das Protokoll zur
Lebensmittelsicherheit integrierte EU-Recht erlassen werden. Die Notwendigkeit von
Anpassungen kann sich für die Kantone bei den Kontrollen ergeben. Die Verordnung
(EU) 2017/625 findet Anwendung; sie regelt Durchführung und Zweck der amtlichen
Kontrollen (vgl. z.B. Art. 21 dieser Verordnung). Da die amtlichen Kontrollen grund-
sätzlich bereits heute entsprechend durchgeführt werden, ergeben sich keine nennens-
werten Änderungen.
Was die Umsetzung der EU-Vorschriften zum Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der
Tötung anbelangt, so werden auch diese heute in gleicher oder ähnlicher Weise ge-
stützt auf das TSchG, die TSchV, die TSchAV und die VTSchS umgesetzt.
635
Gleich-
wohl ergeben sich gewisse Neuerungen und zusätzliche Aufgaben für die Kantone.
So ist vor dem Beginn einer Bestandsräumung durch die zuständige Behörde ein Ak-
tionsplan zu erstellen, mit dem sichergestellt wird, dass die Bestimmungen der Ver-
ordnung (EG) Nr. 1099/2009 eingehalten werden.
636
Über die durchgeführten Be-
standsräumungen ist zudem jährlich ein Bericht zu erstellen.
637
Die Änderung des TSchG führt bei den Kantonen zu keinen nennenswerten personel-
len Auswirkungen.
2.12.8.5.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
Gestützt auf das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit wird künftig im Bereich der in-
ternationalen Tiertransporte die Verordnung (EG) Nr. 1/2005 grundsätzlich direkt an-
wendbar sein. Die Verordnung gilt grundsätzlich für den Transport von Tieren, der in
Verbindung mit einer wirtschaftlichen Tätigkeit durchgeführt wird. Entsprechend
kann die künftige, grundsätzlich direkte Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 1/2005
aufgrund heute noch bestehender Abweichungen in der Auslegung des Begriffs der
«wirtschaftlichen Tätigkeit» der EU versus die Auslegung des Begriffs «gewerbsmäs-
sig» im geltenden Artikel 15
a
Absatz 1 TSchG dazu führen, dass mehr Transporte
einer Bewilligungspflicht unterstehen werden und dass die zuständigen Personen über
633
Art. 32 Abs. 2 TSchG.
634
Siehe u.a. Art. 170 TSchV.
635
Gemäss bestehendem Landwirtschaftsabkommen entsprechen die Bestimmungen des
Schweizer Rechts in diesem Bereich grundsätzlich bereits heute den Bestimmungen des
einschlägigen EU-Rechts.
636
Artikel 18 der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009.
637
Artikel 18 Absatz 4 der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009.
718 / 931
die entsprechenden Ausbildungen beziehungsweise Befähigungsnachweise verfügen
müssen. Die Pflichten der Personen/Unternehmen, die Tiertransporte durchführen, er-
geben sich sodann ebenfalls direkt aus dem in das Protokoll zur Lebensmittelsicher-
heit integrierten EU-Recht. Dasselbe gilt für die Tierhaltenden am Versand-, Umlade-
oder Bestimmungsort.
638
Da die Bestimmungen zu den internationalen Tiertranspor-
ten im TSchG, in der TSchV und in der TSchAV gestützt auf Anhang 11 des Land-
wirtschaftsabkommens jedoch grossmehrheitlich bereits heute den Vorgaben des EU-
Rechts entsprechen, ist für Transportunternehmen durch die Änderung des TSchG
nicht mit grösseren Auswirkungen zu rechnen.
Auch betreffend den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung entsprechen die
Bestimmungen im TSchG sowie in der TSchV, der TSchAV und der VTSchS bereits
weitgehend der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009. Im Zusammenhang mit der Tötung
von Tieren können sich jedoch für gewisse Unternehmen neue Aufgaben ergeben. Der
bereits heute von Schlachtbetrieben verlangte Erlass von (Standard-)Arbeitsanwei-
sungen
639
wird künftig auch von anderen Betrieben, die von der Verordnung (EG) Nr.
1099/2009 erfasst sind, verlangt werden. In der Schweiz existieren jedoch aktuell
keine oder lediglich einige wenige solcher Betriebe. Für die Ausarbeitung von Leitfä-
den für bewährte Verfahrensweisen, um die Durchführung der Verordnung zu erleich-
tern, nimmt das EU-Recht die Unternehmerorganisationen in die Pflicht.
640
Sofern
nicht bereits ein entsprechender Leitfaden vorliegt, ergibt sich für die Unternehmen
beziehungsweise deren Organisationen ein zusätzlicher Aufwand. Dieser wird
dadurch relativiert, dass die zuständige Behörde eigene Leitfäden ausarbeiten und ver-
öffentlichen kann, wenn die Unternehmerorganisationen keine Leitfäden vorlegen.
641
Zudem werden die Herstellerinnen und Verkäufer von Geräten zur Ruhigstellung und
Betäubung verpflichtet, Gebrauchsanweisungen für die Geräte mitzugeben bezie-
hungsweise über das Internet öffentlich zugänglich zu machen, wobei auch deren In-
halt vorgeschrieben wird.
642
2.12.8.5.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
Die Umsetzung im Bereich der Tierschutzgesetzgebung hat keine Auswirkungen auf
die Gesellschaft.
2.12.8.5.5
Auswirkungen auf die Umwelt
Die Umsetzung im Bereich der Tierschutzgesetzgebung hat keine Auswirkungen auf
die Umwelt.
2.12.8.5.6
Andere Auswirkungen
Es sind keine anderen Auswirkungen zu erwarten.
638
Siehe Artikel 8 der Verordnung (EG) Nr. 1/2005.
639
Art. 179
e
Abs. 1 TSchV.
640
Artikel 13 Absatz 2 der Verordnung (EG) 1099/2009.
641
Artikel 13 Absatz 4 der Verordnung (EG) 1099/2009.
642
Artikel 8 der Verordnung (EG) 1099/2009.
719 / 931
2.12.8.6
Rechtliche Aspekte des Umsetzungserlasses
2.12.8.6.1
Verfassungsmässigkeit
Nach Artikel 80 Absatz 1 BV erlässt der Bund Vorschriften über den Schutz der Tiere.
Der Bund hat in diesem Bereich eine umfassende Gesetzgebungskompetenz.
2.12.8.6.2
Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen
der Schweiz
Aufgrund des bestehenden Landwirtschaftsabkommens mit der EU ist das Schweizer
Recht bereits heute grundsätzlich mit der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 harmoni-
siert. Die Schweiz ist verpflichtet, die Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 1/2005
auf den Handel zwischen der Schweiz und der Europäischen Union und auf die Ein-
fuhr aus Drittländern anzuwenden. Entsprechend ergeben sich aufgrund der vorge-
schlagenen Änderungen keine Widersprüche zu Abkommen mit Vertragspartnern
ausserhalb der EU. Es wird zudem auf die Erläuterungen in Ziffer 2.12.13.3 verwie-
sen.
2.12.8.6.3
Erlassform
Vorliegend wird ein bestehendes Bundesgesetz teilrevidiert. Die Erlassform ist beizu-
behalten. Zur Frage der Bündelung der Umsetzungsgesetzgebung, siehe Ziff. 4.3.
2.12.8.6.4
Vorläufige Anwendung
Es ist keine vorläufige Anwendung des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit vorge-
sehen. Dies gilt ebenfalls mit Bezug auf den VE-TSchG.
2.12.8.6.5
Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass
Unterstellung unter die Ausgabenbremse
Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV sieht zum Zweck der Ausgabenbegrenzung vor,
dass Subventionsbestimmungen sowie Verpflichtungskredite und Zahlungsrahmen,
die neue einmalige Ausgaben von mehr als 20 Millionen Franken oder wiederkeh-
rende Ausgaben von mehr als 2 Millionen Franken nach sich ziehen, in jedem der
beiden Räte der Zustimmung der Mehrheit aller Mitglieder bedürfen. Mit der Umset-
zung im Bereich der Tierschutzgesetzgebung werden weder neue Subventionsbestim-
mungen (die Ausgaben über einem der Schwellenwerte nach sich ziehen) geschaffen,
noch neue Verpflichtungskredite / Zahlungsrahmen (mit Ausgaben über einem der
Schwellenwerte) beschlossen.
Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der fiskalischen Äquivalenz
Die Umsetzung im Bereich der Tierschutzgesetzgebung tangiert die Aufgabenteilung
oder die Aufgabenerfüllung durch Bund und Kantone nicht.
720 / 931
Einhaltung der Grundsätze des Subventionsgesetzes
Mit der Umsetzung im Bereich der Tierschutzgesetzgebung werden keine neuen Sub-
ventionsbestimmungen geschaffen.
Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen
Die geänderten Bestimmungen legen die Grundsätze fest, die gemäss Artikel 164 Ab-
satz 1 BV einer Grundlage in einem formellen Gesetz bedürfen. Nach Artikel 164
Absatz 2 BV können Rechtsetzungsbefugnisse durch Bundesgesetz übertragen wer-
den, soweit dies nicht durch die Bundesverfassung ausgeschlossen wird. Für interna-
tionale Tiertransporte, die nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr.
1/2005 fallen, wird die Rechtsetzungskompetenz an den Bundesrat delegiert.
Die Kompetenz zur Sicherstellung der wissenschaftlichen Unterstützung gemäss Ar-
tikel 20 der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 wird durch Artikel 21 Absatz 2 E-
TSchG an den Bundesrat delegiert. Damit kann der Bundesrat regeln, wie diese Si-
cherstellung der wissenschaftlichen Unterstützung umzusetzen ist.
Im Bereich der Anforderungen an die Mitarbeitenden der Fachstellen, deren Bildung
und der diesbezüglichen Prüfungskommission wird der Bundesrat dazu ermächtigt,
die entsprechenden Ausführungsbestimmungen zu erlassen.
2.12.8.6.6
Datenschutz
Die Umsetzung im Bereich der Tierschutzgesetzgebung tangiert den Datenschutz
nicht.
2.12.9
Umsetzung in der Lebensmittelgesetzgebung
2.12.9.1
Lebensmittelgesetz
Der Bundesrat hat die Angleichung der schweizerischen technischen Vorschriften an
das EU-Recht in den Bereichen Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände bereits 2011
in seiner Botschaft zum geltenden Lebensmittelgesetz (LMG)
643
zu einem der Haupt-
ziele der damaligen Totalrevision des LMG erklärt.
644
Er hat dies damit begründet, dass
die damaligen Verhandlungen über ein Abkommen im Lebensmittelbereich zwischen
der Schweiz und der EU gezeigt hätten, dass die mittelfristig angestrebte Teilnahme
der Schweiz an den Systemen der Lebensmittel- und der übrigen Produktesicherheit
der EU nur dann möglich ist, wenn die Schweiz das für diese Bereiche relevante EU-
Recht übernimmt. Das Parlament ist dieser Zielsetzung gefolgt und hat in Artikel
44 Absatz 1 LMG festgelegt, dass der Bundesrat beim Erlass von Ausführungsbestim-
mungen international harmonisierte Vorschriften, Richtlinien, Empfehlungen und
Normen zu berücksichtigen hat und diese für anwendbar erklären kann.
643
SR
817.02
644
Siehe Ziffer 1.3.1 der Botschaft vom 25. Mai 2011 zum Bundesgesetz über Lebensmittel
und Gebrauchsgegenstände (BBl
2011
5571).
721 / 931
Die Verhandlungen zum Protokoll zur Lebensmittelsicherheit zur Errichtung eines
gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums mit der EU haben die Sichtweise des
Bundesrates bestätigt. Ein gemeinsamer Lebensmittelsicherheitsraum EU/Schweiz
(nachfolgend Lebensmittelsicherheitsraum) ist nur dann möglich, wenn in diesem
Raum für alle beteiligten Staaten grundsätzlich zu jedem Zeitpunkt dasselbe Recht
gilt. Dies gilt auch für die Schweiz.
Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit sieht deshalb vor, dass neues EU-Recht im
Geltungsbereich des Protokolls mittels GA-Beschluss innert solcher Fristen in dessen
Anhang I aufgenommen wird, die eine gleichzeitige Anwendung in der EU und in der
Schweiz sicherstellen. Das in Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit auf-
gelistete EU-Recht kann in der Schweiz grundsätzlich direkt angewendet werden, so-
fern die Bestimmungen hinreichend konkret sind. Ist dies der Fall, braucht es keine
zusätzlichen Bestimmungen im Schweizer Recht. Bei neuem Tertiärrecht (s. dazu
Ziff. 2.12.6, Ausführungen zu Art. 4 des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit) im
Geltungsbereich des Protokolls, welches regelmässig in kurzen Fristen angewendet
werden muss, vereinbarten die Vertragsparteien dessen vorübergehende Anwendung
durch die Schweiz bis zum formellen GA-Beschluss betreffend ihre Aufnahme in den
Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit. Damit wird die gleichzeitige An-
wendung auch im Bereich des Tertiärrechts sichergestellt (s. Ziff. 2.12.6, Ausführun-
gen zu Art. 15 des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit). Im Gegenzug erhält die
Schweiz Gelegenheit, bei der Ausarbeitung von Rechtsakten im Geltungsbereich des
Protokolls zur Lebensmittelsicherheit mitzuwirken (s. Art. 12 des Protokolls zur Le-
bensmittelsicherheit).
In Artikel 7 des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit werden diejenigen Bereiche
aufgelistet, die in den Geltungsbereich des Protokolls fallen, bei denen die Schweiz
jedoch weiterhin vom EU-Recht abweichen und ihre eigenen gesetzlichen Vorschrif-
ten anwenden kann (s. Ziff. 2.12.6, Ausführungen zu Art. 7 des Protokolls zur Le-
bensmittelsicherheit).
Weil die Gebrauchsgegenstände mit Ausnahme der Gegenstände, die mit Lebensmit-
teln in Kontakt gelangen (sog. Bedarfsgegenstände), nicht Teil des Protokolls zur Le-
bensmittelsicherheit sind, ändert in diesem Bereich gegenüber heute materiell nichts.
Für das Inverkehrbringen kosmetischer Mittel, von Spielzeug sowie von Gegenstän-
den, die mit dem Körper in Kontakt gelangen (Schmuck, Tattoo, Permanent-Make-up
etc.), gelten deshalb auch unter dem neuen Recht dieselben Anforderungen wie im
geltenden Recht.
2.12.9.2
Verordnungsrecht
2.12.9.2.1
Allgemeines
Im Rahmen der Umsetzung des bestehenden Landwirtschaftsabkommens (insbeson-
dere in den Bereichen Lebensmittel tierischer Herkunft, Wein und Spirituosen), des
mit der EG abgeschlossenen Abkommens über die gegenseitige Anerkennung von
722 / 931
Konformitätsbewertungen
645
(Spielzeug) sowie in Umsetzung der vom Parlament und
vom Bundesrat vorgegebenen Stossrichtung (s. Ziff. 2.12.9.1) hat die Schweiz ihr Le-
bensmittelrecht in den letzten Jahren fortlaufend an dasjenige der EU angepasst und
dafür gesorgt, dass es nicht zu Handelshemmnissen kommt. Das Verordnungsrecht
zum LMG ist heute deshalb schon weitestgehend auf das EU-Recht abgestimmt.
2.12.9.2.2
Zu den einzelnen Bereichen
Im Folgenden werden die wichtigsten Änderungen dargestellt, die sich durch den Ab-
schluss des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit und die Totalrevision des LMG auf
Verordnungsebene ergeben werden.
Primärproduktion
Aufgrund der Anhänge 5 und 11 des bestehenden Landwirtschaftsabkommens ent-
spricht das Schweizer Recht bezüglich der Hygiene von Futtermitteln und Lebensmit-
teln in der Primärproduktion dem EU-Recht. Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit
bringt somit keine Änderungen in diesem Bereich mit sich. Die direkte Anwendung
des in das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierten EU-Rechts wird jedoch
bei einigen Bestimmungen, die im Schweizer Recht kürzer formuliert sind, einen hö-
heren Grad an Genauigkeit mit sich bringen.
Mit der Verordnung über die Primärproduktion (VPrP) vom 23. November 2005
646
und den daraus abgeleiteten Verordnungen werden die Bestimmungen bezüglich der
Primärproduktion aus der Verordnung (EG)
Nr. 852/2004
647
über die Lebensmittel-
hygiene, der Verordnung (EG) Nr. 853/2004
648
zu Hygienevorschriften für Lebens-
mittel tierischen Ursprungs und der Verordnung (EG) Nr. 183/2005
649
über die Fut-
termittelhygiene übernommen. Mit dem Protokoll zur Lebensmittelsicherheit wird der
Geltungsbereich auf Ebene der Primärproduktion auf den Pflanzenbau zur direkten
menschlichen Ernährung ausgeweitet. Die VPrP wird einer Totalrevision unterzogen,
wobei die vom EU-Recht übernommenen Bestimmungen gestrichen werden (Ver-
pflichtungen der Betriebe, Notfallpläne, Leitlinien für eine gute Verfah-renspraxis
usw.). Gewisse Bestimmungen bleiben jedoch bestehen, insbesondere die Anwen-
dungskriterien der Meldepflicht für Betriebe sowie die Aufgaben der Bundes-ämter
645
Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der
Europäischen Gemeinschaft über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewer-
tungen, SR
0.946.526.81
(MRA).
646
SR
916.020
647
Verordnung (EG) Nr. 852/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April
2004 über Lebensmittelhygiene, ABl. L 139 vom 30.4.2004, S. 1, geändert durch Verord-
nung (EG) 219/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2009,
ABl. L 87, 31.3.2009, S. 109.
648
Verordnung (EG) Nr. 853/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April
2004 mit spezifischen Hygienevorschriften für Lebensmittel tierischen Ursprungs, ABl. L
139 vom 30.4.2004, S. 55, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2021/1756 des Euro-
päischen Parlaments und des Rates vom 6. Oktober 2021, ABl. L 357, 8.10.2021, S. 27.
649
Verordnung (EG) Nr. 183/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Ja-
nuar 2005 mit Vorschriften für die Futtermittelhygiene, ABl. L 35 vom 8.2.2005, S. 1, zu-
letzt geändert durch Verordnung (EU) 2019/1243 des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 20. Juni 2019, ABl. L 198 vom 25.7.2019, S. 241.
723 / 931
und der Kantone. Die Verordnung des WBF über die Hygiene bei der Primär-produk-
tion (VHyPrP) kann gestrichen werden, da sie ausschliesslich aus dem EU-Recht
übernommene Bestimmungen enthält.
Die Milchprüfungsverordnung vom 20. Oktober 2010
650
(MiPV) und die darauf abge-
stützte Verordnung des EDI vom 23. November 2005
651
über die Hygiene bei der
Milchproduktion (VHyMP) orientieren sich heute schon an der für die Primärproduk-
tion von Rohmilch relevanten Verordnung (EG) Nr. 853/2004 sowie der die Kontrolle
von Milch und Milchproduktionsbetrieben regelnden Durchführungsverordnung
(EU) 2019/627
652
. Mit der direkten Anwendung dieser EU-Verordnungen werden
zahlreiche Bestimmungen im schweizerischen Recht obsolet und können entspre-
chend aufgehoben werden. Die konkrete Ausgestaltung des Milchprüfungssystems
überlässt das EU-Recht jedoch den einzelnen Mitgliedstaaten. Die entsprechenden
Regelungen bleiben im Schweizer Recht bestehen.
Die Verordnung vom 16. Dezember 2016653 über das Schlachten und die Fleisch-
kontrolle (VSFK) sowie die Verordnung des EDI vom 23. November 2005654 über
die Hygiene beim Schlachten (VHyS) entsprechen bereits heute dem EU-Recht. Ei-
nige Unterschiede bestehen, die den schweizerischen Eigenheiten Rechnung tragen
(z. B. Begriffsdefinitionen, Betriebsgrössen, Ausweidezeit bei Hof- und Weidetötung,
Fleischuntersuchung etc.). Soweit das EU-Recht den Mitgliedstaaten zur Regelung
solcher Einzelheiten Spielraum lässt, können diese beibehalten werden.
Lebensmittel
Hygiene: Mit den grundlegenden Verordnungen des EU-Hygienerechts (Verordnung
[EG] Nr. 852/2004 und Verordnung [EG] Nr. 853/2004) ist das schweizerische Recht
bereits harmonisiert. Diese Harmonisierung war Voraussetzung dafür, dass im Rah-
men von Anhang 11 des Landwirtschaftsabkommens ein gemeinsamer Veterinärraum
Schweiz/EU geschaffen und die Grenzkontrollen für Tiere und Produkte tierischer
Herkunft zwischen der Schweiz und der EU 2009 aufgehoben werden konnten. Das
Schweizer Hygienerecht wurde seither stets an dasjenige der EU angeglichen. Die
direkte Anwendung der erwähnten Verordnungen und des gestützt darauf erlassenen
Tertiärrechts führt deshalb nicht zu inhaltlichen Änderungen im Schweizer Recht auf
Verordnungsebene.
Kennzeichnung von Lebensmitteln: Die geltende Regelung über unbeabsichtigte Ver-
mischungen oder Kontaminationen bei Allergenen
655
wird beibehalten. In Anhang I
650
SR
916.351.0
651
SR
916.351.021.1
652
Durchführungsverordnung (EU) 2019/627 der Kommission vom 15. März 2019 zur Festle-
gung einheitlicher praktischer Modalitäten für die Durchführung der amtlichen Kontrollen
in Bezug auf für den menschlichen Verzehr bestimmte Erzeugnisse tierischen Ursprungs
gemäss der Verordnung (EU) 2017/625 des Europäischen Parlaments und des Rates und
zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2074/2005 der Kommission in Bezug auf amtliche
Kontrollen, ABl. L 131 vom 17.5.2019, S. 51.
653
SR
817.190
654
SR
817.190.1
655
Artikel 11 Absatz 5 der Verordnung des EDI betreffend die Information über Lebensmit-
tel, SR
817.022.16
.
724 / 931
des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit ist diesbezügliche eine Anpassung für die
Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011
656
durch die Schweiz vorgesehen.
Eine entsprechende Anpassung ist ebenfalls für die Angabe des Produktionslandes
vorgesehen. Dieses muss in der Schweiz auch künftig immer angegeben werden. Wie
oben erwähnt (s. Ziff. 2.12.9.1), wurde in Artikel 7 des Protokolls zur Lebensmittel-
sicherheit eine Ausnahme vorgesehen zur Absicherung der schweizerischen Pflichten
zur Kennzeichnung tierquälerischer Haltungsformen im Zusammenhang mit der Her-
stellung tierischer Lebensmittel (s. dazu auch die landwirtschaftliche Deklarations-
verordnung vom 26. November 2003
657
). So kann die Schweiz an diesen Kennzeich-
nungspflichten festhalten.
Tierische Lebensmittel: Die Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016
658
über Le-
bensmittel tierischer Herkunft ist bereits heute mit dem EU-Recht harmonisiert. So-
weit das EU-Recht den Mitgliedstaaten bei der Regulierung Spielraum überlässt, kann
dieser auch von der Schweiz genutzt werden. So wird sich beispielsweise an den im
EU-Recht nicht harmonisierten schweizerischen Regelungen über Anforderungen an
Gelée Royale und Pollen nichts ändern.
Pflanzliche Lebensmittel: Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit enthält
keine EU-Erlasse, die produktspezifische Anforderungen an pflanzliche Lebensmittel
festlegen. An den diesbezüglichen Bestimmungen der Verordnung des EDI vom
16. Dezember 2016
659
über Lebensmittel pflanzlicher Herkunft, Pilze und Speisesalz
ändert sich somit nichts. Anhang 1 der Verordnung des EDI (Verbotsliste) bleibt eben-
falls bestehen.
Getränke: Von den in der Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016
660
über Ge-
tränke aufgeführten Getränken fällt nur das natürliche Mineralwasser unter das im
Protokoll
zur
Lebensmittelsicherheit
integrierte
EU-Recht
(s.
Richtli-
nie 2009/54/EG
661
über die Gewinnung von und den Handel mit natürlichen Mineral-
wässern sowie gestützt darauf erlassenes Tertiärrecht). Natürliche Mineralwässer
müssen künftig gemäss Artikel 1 der Richtlinie 2009/54/EG anerkannt sein und in die
im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlichte Liste der als natürlich anerkann-
ten Mineralwässer aufgenommen werden. Diese Möglichkeit steht den schweizeri-
schen Mineralwasserproduzentinnen heute schon offen. An den Anforderungen an die
656
Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Ok-
tober 2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel und zur Ände-
rung der Verordnungen (EG) Nr. 1924/2006 und (EG) Nr. 1925/2006 des Europäischen
Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 87/250/EWG der Kommis-
sion, der Richtlinie 90/496/EWG des Rates, der Richtlinie 1999/10/EG der Kommission,
der Richtlinie 2000/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, der Richtlinien
2002/67/EG und 2008/5/EG der Kommission und der Verordnung (EG) Nr. 608/2004 der
Kommission, ABl. L 304 vom 22.11.2011, S. 18, geändert durch Verordnung (EU)
2015/2283 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015, ABl. L
327, 11.12.2015, S. 1.
657
SR
916.51
658
SR
817.022.108
659
SR
817.022.17
660
SR
817.022.12
661
Richtlinie 2009/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009
über die Gewinnung von und den Handel mit natürlichen Mineralwässern, ABl. L 164
vom 26.6.2009, S. 45.
725 / 931
übrigen Getränke, die heute in der Verordnung des EDI über Getränke geregelt sind,
wird sich nichts ändern.
Trinkwasser: Die im EU-Recht für das Trinkwasser zentrale Richtlinie (EU)
2020/2184
662
wird in Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit nicht aufge-
führt. Weil bei der Herstellung von Lebensmitteln, die in den EU-Raum exportiert
werden, bereits heute EU-konformes Trinkwasser verwendet werden muss, harmoni-
siert die Schweiz ihre Vorschriften mit dem einschlägigen EU-Recht im Rahmen des
autonomen Nachvollzugs. Dieser Grundsatz wurde schon bisher befolgt, weshalb es
in diesem Bereich zu keinen Änderungen kommen wird.
Nahrungsergänzungsmittel, Anreicherung von Lebensmitteln, besonderer Ernäh-
rungsbedarf: Die Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016
663
über Nahrungser-
gänzungsmittel (VNem), die Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016
664
über den
Zusatz von Vitaminen, Mineralstoffen und sonstigen Stoffen in Lebensmitteln
(VZVM) und die Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016
665
über Lebensmittel
für Personen mit besonderem Ernährungsbedarf (VLBE) wurden schon bisher regel-
mässig mit dem einschlägigen EU-Recht harmonisiert
666
. Weil die zulässigen Höchst-
mengen für Vitamine und Mineralstoffe im EU-Recht bisher nicht geregelt sind, kann
das Bestandteil der VNem und der VZVM bildende schweizerische Höchstmengen-
modell beibehalten werden. In der VLBE werden heute – anders als im EU-Recht –
auch noch Lebensmittel für Sportlerinnen und Sportler geregelt. Diese Regelung kann
beibehalten werden, denn die in der Verordnung (EU) Nr. 609/2013
667
aufgelisteten
Lebensmittelkategorien sind nicht abschliessend.
662
Richtlinie (EU) 2020/2184 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember
2020 über die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch, ABl. L 435 vom
23.12.2020, S. 1.
663
SR
817.022.14
664
SR
817.022.32
665
SR
817.022.104
666
VNem: Richtlinie 2002/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. Juni
2002 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Nahrungsergän-
zungsmittel, ABl. L 183 vom 12.7.2002, S. 51; VZVM: Verordnung (EG) Nr. 1925/2006
des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Zusatz von
Vitaminen und Mineralstoffen sowie bestimmten anderen Stoffen zu Lebensmitteln, ABl.
L 404 vom 30.12.2006, S. 26; VLBE: Verordnung (EU) Nr. 609/2013 des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 12. Juni 2013 über Lebensmittel für Säuglinge und Klein-
kinder, Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke und Tagesrationen für gewichts-
kontrollierende Ernährung und zur Aufhebung der Richtlinie 92/52/EWG des Rates, der
Richtlinien 96/8/EG, 1999/21/EG, 2006/125/EG und 2006/141/EG der Kommission, der
Richtlinie 2009/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnun-
gen (EG) Nr. 41/2009 und (EG) Nr. 953/2009 des Rates und der Kommission, ABl. L 181
vom 29.6.2013, S. 35.
667
Verordnung (EU) Nr. 609/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juni
2013 über Lebensmittel für Säuglinge und Kleinkinder, Lebensmittel für besondere medi-
zinische Zwecke und Tagesrationen für gewichtskontrollierende Ernährung und zur Auf-
hebung der Richtlinie 92/52/EWG des Rates, der Richtlinien 96/8/EG, 1999/21/EG,
2006/125/EG und 2006/141/EG der Kommission, der Richtlinie 2009/39/EG des Europäi-
schen Parlaments und des Rates sowie der Verordnungen (EG) Nr. 41/2009 und (EG) Nr.
953/2009 des Rates und der Kommission, ABl. L 181 vom 29.6.2013, S. 35.
726 / 931
Neuartige Lebensmittel: Das Schweizer Recht erkennt heute schon die von der Euro-
päischen Kommission erteilten Bewilligungen für neuartige Lebensmittel an.
668
Der
überwiegende Teil, der in der Schweiz heute verkehrsfähigen neuartigen Lebensmittel
verfügt bereits über eine Bewilligung der Europäischen Kommission. Die neuartigen
Lebensmittel werden künftig nicht mehr vom BLV bewilligt, sondern von der Euro-
päischen Kommission im Verfahren nach Artikel 10 ff. der Verordnung
(EU) 2015/2283
669
. Die Bewilligungen der Europäischen Kommission basieren – wie
bisher schon zahlreiche Schweizer Bewilligungen – auf einer Risikobewertung durch
die EFSA. Diese Bewilligungen werden von der Schweiz gestützt auf das Protokoll
zur Lebensmittelsicherheit anerkannt.
Gentechnisch veränderte Organismen: Das schweizerische Recht über das Inverkehr-
bringen und Kennzeichnen gentechnisch veränderter Organismen bleibt weiterhin an-
wendbar. Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit sieht in Artikel 7 für das Inver-
kehrbringen gentechnisch veränderter Lebensmittel explizit eine Ausnahme vor, das
heisst die Schweiz kann diesen Bereich weiterhin eigenständig regulieren. Vorgese-
hen ist einzig, dass in der EU zugelassene Lebensmittel, die zufällige oder technisch
nicht zu vermeidende Spuren von Material enthalten, das genetisch veränderte Orga-
nismen enthält, aus solchen besteht oder aus solchen hergestellt ist, auch in der
Schweiz verkehrsfähig sein sollen. Der Schwellenwert für derartige Spuren ist in Ar-
tikel 12 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1829/2003
670
bei 0.9% festgelegt. Für die
Kennzeichnung gilt, dass GVO sowohl in der Schweiz wie auch in der EU grundsätz-
lich entsprechend gekennzeichnet werden müssen, ausser es handelt sich um unver-
meidbare oder zufällige Spuren unter dem Schwellenwert von 0,9%, bezogen auf die
Zutat (Art. 12 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 sowie Art. 8 Abs. 7 der
Verordnung des EDI vom 27. Mai 2020
671
über gentechnisch veränderte Lebensmit-
tel).
Zusatzstoffe: Die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 1333/2008
672
führt dazu, dass
in der Schweiz künftig dieselben Zusatzstoffe in denselben Mengen und mit denselben
Anwendungsmodalitäten erlaubt sein werden wie in der EU. Sowohl die aufwendige
Harmonisierung des Schweizer Rechts mit dem entsprechenden EU-Recht wie auch
damit verbundenen zeitlichen Verzögerungen für das Verwenden dieser Stoffe wer-
den künftig entfallen.
668
Artikel 6 Absatz 1 der Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016 über neuartige Le-
bensmittel, SR
817.022.2.
669
Verordnung (EU) 2015/2283 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Novem-
ber 2015 über neuartige Lebensmittel, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011
des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr.
258/97 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Verordnung (EG) Nr.
1852/2001 der Kommission, ABl. L 327 vom 11.12.2015, S. 1, geändert durch Verord-
nung (EU) 2019/1381 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019,
ABl. L 231 vom 6.9.2019, S. 1.
670
Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.
September 2003 über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel, ABl. L 268 vom
18.10.2003, S. 1, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2019/1381 des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019, ABl. L 231 vom 6.9.2019, S. 1.
671
SR
817.022.51
672
Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. De-
zember 2008 über Lebensmittelzusatzstoffe, ABl. L 354 vom 31.12.2008, S. 16.
727 / 931
Aromen: Die in Lebensmitteln zugelassenen Aromastoffe und ihre Verwendungsbe-
dingungen sind in einer Liste in Anhang I Teil A der Verordnung (EG)
Nr. 1334/2008
673
über Aromastoffe aufgeführt. Nur die in dieser Liste geführten Aro-
mastoffe sind unter besonderen Bedingungen zugelassen. Die Verbote nach Anhang 6
der Aromenverordnung vom 16. Dezember 2016
674
werden wegfallen.
Rückstände und Kontaminanten: Die Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016
675
über die Höchstgehalte für Pestizidrückstände in oder auf Erzeugnissen pflanzlicher
und tierischer Herkunft (VPRH), die Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016
676
über die Höchstgehalte für Kontaminanten sowie die Verordnung des EDI vom
16. Dezember 2016
677
über die Höchstgehalte für Rückstände von pharmakologisch
wirksamen Stoffen und von Futtermittelzusatzstoffen in Lebensmitteln tierischer Her-
kunft (VRLtH)
wurden schon bisher mit dem einschlägigen EU-Recht harmonisiert.
Bezüglich der im geltenden Schweizer Recht festgelegten Höchstgehalte für Pestizid-
rückstände für in der Schweiz bewilligte Pflanzenschutzanwendungen bietet die Ver-
ordnung (EG) Nr. 396/2005
678
die Möglichkeit, in der EU einen Antrag zu stellen, da-
mit diese Höchstgehalte ins EU-Recht übernommen werden. Diese Möglichkeit steht
künftig auch der Schweiz offen. Wegen der direkten Anwendung des einschlägigen
EU-Rechts werden die schweizerischen Verordnungen weitestgehend aufgehoben
werden können und die regelmässigen Anpassungen an das EU-Recht künftig entfal-
len.
Gebrauchsgegenstände
Materialien und Gegenstände, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln in Berüh-
rung zu kommen (Bedarfsgegenstände): Die Verordnung (EG) Nr. 178/2002
679
erfasst
673
Verordnung (EG) Nr. 1334/2008 des europäischen Parlaments und des Rates vom 16. De-
zember 2008 über Aromen und bestimmte Lebensmittelzutaten mit Aromaeigenschaften
zur Verwendung in und auf Lebensmitteln sowie zur Änderung der Verordnung (EWG)
Nr. 1601/91 des Rates, der Verordnungen (EG) Nr. 2232/96 und (EG) Nr. 110/2008 und
der Richtlinie 2000/13/EG, ABl. L 354 vom 31.12.2008, S. 34, zuletzt geändert durch Ver-
ordnung (EU) 251/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar
2014, ABl. L 84 vom 20.03.2014, S. 14.
674
SR
817.022.41
675
SR
817.021.23
676
SR
817.022.15
677
SR
817.022.13
678
Verordnung (EG) Nr. 396/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Feb-
ruar 2005 über Höchstgehalte an Pestizidrückständen in oder auf Lebens- und Futtermit-
teln pflanzlichen und tierischen Ursprungs und zur Änderung der Richtlinie 91/414/EWG
des Rates, ABl. L 70 vom 16.3.2005, S. 1, zuletzt geändert durch Verordnung (EU)
2017/625 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2017, ABl. L 95 vom
7.4.2017, S. 1.
679
Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Ja-
nuar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmit-
telrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur
Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit, ABl. L 31 vom 1.2.2002, S. 1, zu-
letzt geändert durch Verordnung (EU) 2019/1381 des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 20. Juni 2019, ABl. L 231, 6.9.2019,, S. 1.
728 / 931
nicht nur Lebensmittel, sondern auch Bedarfsgegenstände. Basis-Verordnung in die-
sem Bereich ist die Verordnung (EG) Nr. 1935/2004
680
. Gestützt auf diese Verordnung
hat die Europäische Kommission verschiedene abgeleitete Verordnungen erlassen. So
über die gute Herstellungspraxis für Materialien und Gegenstände, die dazu bestimmt
sind, mit Lebensmitteln in Berührung zu kommen
681
, aktive und intelligente Materia-
lien
682
oder Materialien und Gegenstände aus recyceltem Kunststoff
683
. Das Schweizer
Recht wurde bereits mit diesen Verordnungen harmonisiert. Neu werden diese EU-
Verordnungen direkt anwendbar sein.
Bei den übrigen Gebrauchsgegenständen gibt es keine materiellen Änderungen. Sie
fallen nicht in den Geltungsbereich des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit und
werden wie bisher im Schweizer Recht eigenständig geregelt.
Vollzug
Die Verordnung (EU) 2017/625
684
ist die zentrale Verordnung der EU für die Durch-
führung der amtlichen Kontrollen entlang der gesamten Lebensmittelkette. Sie regelt
die amtlichen Kontrollen der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten und zukünftig
auch der Schweiz, die Finanzierung der Kontrollen, die Amtshilfe zwischen den Mit-
gliedstaaten, die Kontrollen der Tiere und Waren, die aus Drittländern in die EU im-
portiert werden sowie die Einrichtung eines computergestützten Informationssystems
zur Verwaltung von Informationen und Daten über die amtlichen Kontrollen. Sie ent-
hält ebenfalls Vorschriften zur Kontrolle des Online-Handels sowie zur Bekämpfung
680
Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Ok-
tober 2004 über Materialien und Gegenstände, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln
in Berührung zu kommen und zur Aufhebung der Richtlinien 80/590/EWG und
89/109/EWG, ABl. L 338 vom 13.11.2004, S. 4, zuletzt geändert durch Verordnung (EU)
2019/1381 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019, ABl. L 231
vom 6.9.2019, S. 1.
681
Verordnung (EG) Nr. 2023/2006, der Kommission vom 22. Dezember 2006 über gute
Herstellungspraxis für Materialien und Gegenstände, die dazu bestimmt sind, mit Lebens-
mitteln in Berührung zu kommen, ABl. L 384, 29.12.2006, S. 75.
682
Verordnung (EG) Nr. 450/2009 der Kommission vom 29. Mai 2009 über aktive und intel-
ligente Materialien und Gegenstände, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln in Berüh-
rung zu kommen, ABl. L 135 vom 30.5.2009, S. 3.
683
Verordnung (EU) 2022/1616 der Kommission vom 15. September 2022 über Materialien
und Gegenstände aus recyceltem Kunststoff, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln in
Berührung zu kommen, und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 282/2008, ABl. L
243 vom 20.9.2022, S. 3.
684
Verordnung (EU) 2017/625 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März
2017 über amtliche Kontrollen und andere amtliche Tätigkeiten zur Gewährleistung der
Anwendung des Lebens- und Futtermittelrechts und der Vorschriften über Tiergesundheit
und Tierschutz, Pflanzengesundheit und Pflanzenschutzmittel, zur Änderung der Verord-
nungen (EG) Nr. 999/2001, (EG) Nr. 396/2005, (EG) Nr. 1069/2009, (EG) Nr. 1107/2009,
(EU) Nr. 1151/2012, (EU) Nr. 652/2014, (EU) 2016/429 und (EU) 2016/2031 des Europä-
ischen Parlaments und des Rates, der Verordnungen (EG) Nr. 1/2005 und (EG) Nr.
1099/2009 des Rates sowie der Richtlinien 98/58/EG, 1999/74/EG, 2007/43/EG,
2008/119/EG und 2008/120/EG des Rates und zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr.
854/2004 und (EG) Nr. 882/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates, der Richtli-
nien 89/608/EWG, 89/662/EWG, 90/425/EWG, 91/496/EEG, 96/23/EG, 96/93/EG und
97/78/EG des Rates und des Beschlusses 92/438/EWG des Rates, ABl. L 95 vom
7.4.2017, S. 1, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2024/3115 des Europäischen Par-
lament und des Rates vom 27. November 2024, ABl. L 3115 vom 16.12.2024, S. 1.
729 / 931
betrügerischer Machenschaften entlang der Lebensmittelkette (sog.
Food Fraud
). Die
Organisation des Vollzugs überlässt die Verordnung den Mitgliedstaaten. Die
Schweiz wird diese somit auch künftig selbst bestimmen können.
Verordnung vom 27. Mai 2020
685
über den Vollzug der Lebensmittelgesetzgebung
(LMVV): Die LMVV wurde in den vergangenen Jahren stets an die Entwicklungen
des EU-Rechts angepasst. Künftig wird das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit es
der Schweiz ermöglichen, am Informationsaustausch mit den Mitgliedstaaten teilzu-
haben und vollwertiges Mitglied beim
Rapid Alert System for Food and Feed
(iRASFF) zu werden. Damit erreicht die Schweiz ein Ziel, das sie bereits mit dem
geltenden LMG angestrebt hat: Die vollwertige Teilnahme am Lebensmittelsicher-
heitssystem der EU (s. Ziff. 2.12.10.1).
Mehrjähriger nationaler Kontrollplan für die Lebensmittelkette und die Gebrauchsge-
genstände: Den neuen Elementen, welche durch die direkte Anwendung der Verord-
nung (EU) 2017/625 Eingang ins Schweizer Recht finden werden (Kontrolle des On-
linehandels,
Bekämpfung
von
Lebensmittelkriminalität,
Informationsmanagementsystem der EU für amtliche Kontrollen IMSOC, usw.), wird
in der Verordnung vom 27. Mai 2020 über den mehrjährigen nationalen Kontrollplan
für die Lebensmittelkette und die Gebrauchsgegenstände künftig Rechnung getragen
werden müssen. Sie wird entsprechend anzupassen sein.
2.12.9.3
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
Die Verabschiedung einer Botschaft zu einem Lebensmittelsicherheitsabkommen mit
der EU ist in der Botschaft vom 24. Januar 2024
686
zur Legislaturplanung 2023–2027
vorgesehen. Die Änderung des LMG ist auch Bestandteil von Ziel 21 dieser Botschaft.
Der Bundesrat wird seine finanzpolitischen Entscheidungen im Rahmen der Erstel-
lung des jährlichen Voranschlags treffen.
2.12.9.4
Umsetzungsfragen
In Hinblick auf die direkte Anwendung der in Anhang I des Protokolls zur Lebens-
mittelsicherheit aufgeführten EU-Rechtsakte sowie des gestützt darauf erlassenen
Tertiärrechts sind im geltenden Lebensmittelgesetz gewisse Anpassungen erforder-
lich. Zum einen muss das Schweizer Recht angepasst oder aufgehoben werden, wenn
es vom im Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierten EU-Recht abweicht. Zum
anderen sollen Doppelspurigkeiten beseitigt werden, um die Anwendungsfreundlich-
keit und die Rechtssicherheit zu stärken. Des Weiteren erfordert das ins Protokoll zur
Lebensmittelsicherheit integrierte EU-Recht teilweise detaillierte Regelungen im
Schweizer Recht. Diese Anpassungen sowie die Neuregelung des Vollzugs bei den
Gebrauchsgegenständen erfordern eine Neukonzeption des gesamten bisherigen
LMG und damit dessen Totalrevision.
Bei der Erarbeitung des vorliegenden VE-LMG wurde darauf geachtet, dass dieser
aus sich heraus verständlich bleibt. Würden Bestimmungen wie «Zweck», «Geltungs-
bereich», «Definitionen» und so weiter. wegfallen und nur noch das geregelt, was
685
SR
817.042
686
BBl
2024
525
730 / 931
nicht schon im EU-Recht geregelt wird, würde es schwierig, sich im Gesetz zurecht
zu finden. Bei den für das Verständnis des VE-LMG zentralen Bestimmungen wird
jeweils auf diejenige Bestimmung des EU-Rechts verwiesen, welche diese Thematik
konkret regelt.
Im Hinblick auf die direkte Anwendung der im Anhang I des Protokolls zur Lebens-
mittelsicherheit aufgeführten EU-Rechtsakte werden im VE-LMG verschiedene Be-
griffe verwendet, die im LMG bisher anders gelautet haben (z.B. neu «Verbrauche-
rinnen und Verbraucher» statt wie bisher «Konsumentinnen und Konsumenten» in
Deutsch). Zudem wurden im Rahmen der vorliegenden Totalrevision bestimmte Be-
griffe in den drei Amtssprachen vereinheitlicht (z.B. für den Begriff «Unternehmen»
wird in Französisch konsequent «entreprise» und in Italienisch «azienda» verwendet,
für den Begriff «Betrieb» in Französisch «établissement» und in Italienisch «stabili-
mento». Bei der Kommentierung der einzelnen Artikel unter Ziffer 2.12.9.5 wird
punktuell auf diese Thematik eingetreten.
Für den Aufbau des VE-LMG wurden verschiedene ausländische Gesetze analysiert.
Das österreichische Lebensmittelsicherheits- und Verbraucherschutzgesetz hat dem
Anliegen, aus sich heraus verständlich zu sein, am besten entsprochen. Die Konzep-
tion des vorliegenden VE-LMG orientiert sich deshalb weitgehend an diesem Gesetz.
Die vorliegende Revision hat – ausser bei der Überführung bestimmter Gebrauchsge-
genstände unter den Geltungsbereich des Produktesicherheitsgesetzes
687
– keine Aus-
wirkungen auf die Zuständigkeiten im Vollzug. Das bisherige bewährte System kann
auch unter dem Protokoll zur Lebensmittelsicherheit weitergeführt werden.
Um Doppelspurigkeiten zu vermeiden, wird auch im Verordnungsrecht das dem EU-
Recht entsprechende Schweizer Recht aufgehoben werden, weil das einschlägige EU-
Recht kraft des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit künftig direkt angewendet wird.
Nicht im Protokoll zur Lebensmittelsicherheit aufgelistetes EU-Recht, mit welchem
die Schweiz in den letzten Jahren im Rahmen des bilateralen Landwirtschaftsabkom-
mens mit der EU bzw. des MRA oder autonom in ihr Verordnungsrecht übernommen
hat, muss dagegen im Verordnungsrecht bleiben. Dieses ist durch Bestimmungen zu
ergänzen, die sowohl die EU-Mitgliedstaaten wie auch die Schweiz erlassen können,
weil ihnen das EU-Recht in einem konkreten Bereich eine Regelungskompetenz ein-
räumt (Bsp.: Art. 10 Abs. 2 Bst. b VE-LMG betreffend die Anwendung der Hygiene-
vorschriften der EU auf Einzelhandelsbetriebe).
Mit der vorliegenden Revision werden zudem die folgenden parlamentarischen Vor-
stösse umgesetzt:
–
21.3691 Motion Munz Stopp dem Lebensmittelbetrug
–
21.3903 Motion Egger Mike Lebensmittelbetrug stärker bekämpfen zum
Schutz der heimischen Lebensmittelproduktion und der Konsumenten
–
21.3936 Motion Michaud Gigon Verstärkte Anstrengungen zur Bekämp-
fung von Lebensmittelbetrug
687
SR
930.11
731 / 931
In Ergänzung zu den Anpassungen aufgrund des Protokolls zur Lebensmittelsicher-
heit soll daher ein angemessener rechtlicher Rahmen für ein zielgerichtetes Vorgehen
gegen Lebensmittelbetrug geschaffen werden. Damit werden die Grundlagen geschaf-
fen, um im Sinne der Verordnung (EU) 2017/625 auf betrügerische oder irreführende
Praktiken beruhende Verstösse gegen die Lebensmittelgesetzgebung zu bekämpfen
(s. die Art. 9 Abs. 2, 65 Abs. 4, 97 Abs. 2, 102 Abs. 4 sowie 139 Abs. 2 dieser Ver-
ordnung). Vorgesehen ist:
–
Die Vollzugsorgane der Lebensmittelgesetzgebung sollen Fachpersonen
beiziehen können, die den Warenfluss und auch den Geldfluss in einem Be-
trieb überprüfen können (Art. 62 Abs. 2),
–
Die Rechtsgrundlagen für den Daten- und Informationsaustausch sollen er-
weitert werden, was den involvierten Stellen (BLV, BLW, Bundesamt für
Polizei [fedpol], Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit [BAZG], kanto-
naler Lebensmittelvollzug) eine wirkungsvolle Zusammenarbeit ermöglicht
(Art. 73 ff.).
–
Besteht der begründete Verdacht, dass eine natürliche oder eine juristische
Person systematisch und in erheblichem Ausmass gegen dieses Gesetz
verstösst, sollen die mit dem Vollzug der Lebensmittelgesetzgebung beauf-
tragten Behörden beim betroffenen Lebensmittel- oder Gebrauchsgegen-
ständebetrieb eine Betriebsanalyse durchführen können (Art. 74).
–
Der Strafrahmen von Artikel 81 Absatz 2 (gewerbsmässiges Handeln) soll
erweitert werden und es soll dem für die Aufsicht des Bundes über den kan-
tonalen Vollzug zuständigen BLV die Möglichkeit eingeräumt werden, in
Strafverfahren Parteirechte wahrzunehmen (Art. 83 Abs. 2).
–
Die Verjährungsfrist für die Strafverfolgung der in Artikel 81 aufgelisteten
Übertretungsstraftatbestände soll auf fünf Jahre erhöht werden (Art. 84).
2.12.9.5
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des
Umsetzungserlasses
1. Kapitel: Allgemeine Bestimmungen
1. Abschnitt: Zweck, Geltungsbereich und Verhältnis zum Protokoll zur Lebensmittel-
sicherheit
Art. 1
Zweck
Diese Bestimmung entspricht dem geltenden Artikel 1 LMG, mit einer Ausnahme: In
der deutschen Sprachversion wird «Konsumentinnen und Konsumenten» durch «Ver-
braucherinnen und Verbraucher» ersetzt, da in der Verordnung (EG) Nr. 178/2002
diese Terminologie verwendet wird. Der Begriff «Endverbraucher» bezeichnet im
EU-Recht «den letzten Verbraucher eines Lebensmittels, der das Lebensmittel nicht
im Rahmen der Tätigkeit eines Lebensmittelunternehmens verwendet». Ein «Ver-
braucher» kann demzufolge auch eine Person sein, welche das Lebensmittel an einen
732 / 931
«Endverbraucher» weitergibt. Für einen «Verbraucher» gelten somit andere Verant-
wortlichkeiten als für einen «Endverbraucher». Eine einheitliche Terminologie im
Einklang mit dem EU-Recht ist erforderlich, um diesbezüglich Klarheit zu schaffen.
Wie im bisherigen Recht wird in Artikel 1 abschliessend aufgeführt, welches die Ziele
des Lebensmittelgesetzes sind.
Art. 2
Geltungsbereich
Der Geltungsbereich des VE-LMG entspricht demjenigen des geltenden LMG, wird
punktuell aber ausgeweitet.
In Absatz 1 Buchstabe a wird in der deutschen Sprachversion neu auch die «Handha-
bung» als Tätigkeit aufgeführt, die unter den «Umgang mit Lebensmitteln und Ge-
brauchsgegenständen» fällt. Dieser Begriff wird auch in Artikel 1 Absatz 3 (Anwen-
dungsbereich) der Verordnung (EG) Nr. 178/2002
688
erwähnt. Durch die Aufnahme
dieses Begriffs in den VE-LMG soll sichergestellt werden, dass die Geltungsbereiche
des VE-LMG und der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 nicht voneinander abweichen.
In Französisch wird hierfür der Begriff «manipulation» verwendet, in Italienisch «ma-
nipolazione».
Die Herausforderungen durch den globalen Markt nehmen zu. Immer mehr Produkte
werden über den Online-Handel vertrieben, so auch Lebensmittel und Gebrauchsge-
genstände. Damit verbunden sind oft komplexe Lieferketten, die auch Wirtschaftsak-
teure einschliessen, deren Tätigkeit bislang nicht klar einer der in Absatz 1 aufgelis-
teten Tätigkeiten zugeordnet werden konnte. Das LMG war auf diese deshalb nicht
anwendbar. Unabhängig vom Protokoll zur Lebensmittelsicherheit soll Buchstabe a
in Anlehnung an Artikel 3 Ziffer 11 der Verordnung (EU) 2019/1020
689
(Marktüber-
wachungsverordnung), welche in der EU die Marktüberwachung bestimmter Ge-
brauchsgegenstände regelt, die in der Schweiz unter den Geltungsbereich des LMG
fallen (z. B. Spielzeug und kosmetische Mittel), deshalb um die Fulfilment-Dienst-
leistungen erweitert werden (s. Art. 6 VE-LMG). Damit soll geklärt werden, dass auch
Dienstleistungen wie Verpackung, Adressierung oder Versand von Lebensmitteln und
Gebrauchsgegenständen künftig vom Geltungsbereich des LMG erfasst werden.
Wichtige Akteure im Online-Handel sind die Betreiberinnen von Hosting-Diensten
(Bst. b). Sie bieten Speicherplatz an und speichern auf ihren Servern Informationen
ihrer Nutzerinnen und Nutzer. Als Nutzerinnen und Nutzer sind sowohl natürliche wie
auch juristische Personen zu verstehen, die einen Hosting-Dienst in Anspruch neh-
men, um Informationen zu erlangen oder zugänglich zu machen. Zu den Hosting-
Diensten gehören auch die Online-Plattformen. Die Nutzerinnen und Nutzer können
die Dienste für das Anbieten von Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen verwen-
den. Die Betreiberinnen der Online-Plattformen müssen von den Nutzerinnen und
Nutzern unter anderem wichtige Informationen einholen (zur Identität und zur Kon-
688
Artikel 3 Ziffer 18 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002.
689
Verordnung (EU) 2019/1020 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni
2019 über Marktüberwachung und die Konformität von Produkten sowie zur Änderung
der Richtlinie 2004/42/EG und der Verordnungen (EG) Nr. 765/2008 und (EU) Nr.
305/2011, ABl. L 169 vom 25.6.2019, S. 1.
733 / 931
taktadresse von Anbieterinnen, zu Abnehmerinnen und Abnehmern sowie zu den ge-
tätigten Transaktionen). Auf Verlangen müssen die Betreiberinnen der Plattformen
diese Daten der zuständigen Vollzugsbehörde bekannt geben (Art. 37 Abs. 2 VE-
LMG). Ihre Tätigkeit unterstand nach bisherigem Recht nicht dem Geltungsbereich
des LMG. Auch hier soll unabhängig vom Protokoll zur Lebensmittelsicherheit eine
eigenständige Regelung im LMG erfolgen. Diese lehnt sich an die Verordnung
(EU) 2022/2065
690
über den Binnenmarkt für digitale Dienste (DSA) an, welche so-
wohl die Pflichten der Marktakteure im Bereich des Online-Handels wie auch die
Kompetenzen der Kontrollbehörden detailliert regelt.
Buchstabe c entspricht dem geltenden Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b LMG. Unter
Werbung wird die direkte (herkömmliche Werbung wie Anzeigen und Werbespots)
sowie die indirekte (Werbung wird nicht direkt oder bewusst als solche wahrgenom-
men wie Product-Placement, Content-Marketing und Sponsoring von Events) erfasst.
Buchstabe d entspricht dem geltenden Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe c LMG.
Handelsbetriebe mit Sitz in der Schweiz, die Lebensmittel oder Gebrauchsgegen-
stände von der Schweiz aus ausschliesslich im Ausland angeboten haben, ohne dass
die Produkte je in die Schweiz gelangten, wurden vom Geltungsbereich des LMG
bisher nicht erfasst. Der Geltungsbereich des VE-LMG nun explizit um diese Be-
triebskategorie erweitert (Bst. e). Solche Betriebe sollen, wenn sie im Ausland Pro-
dukte vertreiben, die gegen das im betreffenden Land geltende Recht verstossen, in
Amtshilfeverfahren gegenüber den Schweizer Behörden auskunftspflichtig sein (s.
Art. 38 VE-LMG). Dabei handelt es sich um eine eigenständige schweizerische Re-
gelung, die nicht mit dem Protokoll zur Lebensmittelsicherheit zusammenhängt und
sich im Rahmen des autonomen Nachvollzugs an der Stossrichtung der Verordnung
(EU) 2017/625 orientiert.
Die Absätze 2 und 3 wurden unverändert übernommen.
Absatz 4 listet diejenigen Bereiche auf, die vom Geltungsbereich des VE-LMG expli-
zit nicht erfasst werden.
Absatz 4 Buchstabe a wurde an den Wortlaut von Artikel 1 Absatz 3 der Verordnung
(EG) Nr. 178/2002 angepasst. Der bisherige Buchstabe c wurde in Buchstabe a inte-
griert. Dieser soll aber – anders als im EU-Recht – nach wie vor auch für Gebrauchs-
gegenstände gelten.
Die Buchstaben b und d wurden inhaltlich unverändert übernommen. Der bisherige
Buchstabe d wird neu zu Buchstabe c.
Das Abkommen vom 21. Juni 1999
691
zwischen der Schweiz und der EG über die
gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen (MRA) ist ein Instrument
zur Beseitigung technischer Handelshemmnisse bei der Vermarktung zahlreicher Pro-
dukte zwischen der Schweiz und der EU. Die Vermeidung kostspieliger doppelter
Konformitätsbewertungen erleichtert für die Unternehmen den Zugang zum Binnen-
690
Verordnung (EU) 2022/2065 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Oktober
2022 über einen Binnenmarkt für digitale Dienste und zur Änderung der Richtli-
nie 2000/31/EG (Gesetz über digitale Dienste); ABl. L 277 vom 27.10.2022 S. 1.
691
SR
0.946.526.81
734 / 931
markt der EU (s. Ziff. 2.4.1). Unter das MRA fällt auch Spielzeug (Anhang 1 Kapi-
tel 3 MRA). Um die aus diesem Abkommen resultierenden Vorteile aufrechterhalten
zu können, muss die schweizerische Gesetzgebung mit derjenigen der EU gleichwer-
tig sein. Im Bereich Spielzeug müssen die Sicherheitsanforderungen der Richtli-
nie 2009/48/EG
692
entsprechen. Fünf Kategorien von Spielzeug sind vom Geltungs-
bereich dieser Richtlinie ausgenommen: Spielplatzgeräte zur öffentlichen Nutzung,
Spielautomaten zur öffentlichen Nutzung, mit Verbrennungsmotoren ausgerüstete
Spielfahrzeuge, Spielzeugdampfmaschinen, Schleudern und Steinschleudern. In der
Schweiz fallen diese fünf Kategorien heute zwar nicht in den Geltungsbereich der
Spielzeugverordnung des EDI vom 15. August 2012
693
, sie gelten gemäss der Defini-
tion in Artikel 65 der Lebensmittel- und Gebrauchsgegenständeverordnung vom
16. Dezember 2016
694
(LGV) aber trotzdem als «Spielzeug» und müssen damit die
allgemeinen Sicherheitsanforderungen an Spielzeug (Art. 66 LGV) einhalten. Um das
schweizerische Recht mit demjenigen der EU zu harmonisieren, sollen diese fünf
Spielzeugkategorien künftig explizit vom Geltungsbereich des LMG ausgenommen
werden (Bst. d). Sie sollen neu unter den Geltungsbereich des Bundesgesetzes vom
12. Juni 2009
695
über die Produktesicherheit (PrSG) fallen.
Absatz 5 wurde unverändert übernommen.
Art. 3
Verhältnis zum Protokoll zur Lebensmittelsicherheit
Diese Bestimmung stellt klar, dass in der Schweiz auch künftig das Schweizer Le-
bensmittelgesetz gilt. Einzig in den Bereichen, die durch die in Anhang I zum Proto-
koll zur Lebensmittelsicherheit aufgeführten EU-Rechtsakte abgedeckt werden, ge-
langt das entsprechende EU-Recht zur Anwendung. Bei den drei unter den
Buchstaben a–c aufgeführten EU-Rechtsakten handelt es sich um für die Sicherheit
und den Täuschungsschutz bei Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen grundle-
gende Erlasse. Die Aufzählung ist nicht abschliessend. Massgeblich ist das Protokoll
zur Lebensmittelsicherheit.
2. Abschnitt: Begriffe
Art. 4
Lebensmittel
Diese Bestimmung ersetzt den geltenden Artikel 4 LMG. Auf Lebensmittel sind neu
die Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 anwendbar, weshalb auf die
Definition in Artikel 2 dieser Verordnung verwiesen wird. Materiell führt der Verweis
auf das EU-Recht gegenüber heute zu keiner Änderung. Der Wortlaut im bisherigen
Artikel 4 LMG ist mit demjenigen von Artikel 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002
identisch.
692
Richtlinie 2009/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009
über die Sicherheit von Spielzeug, ABl. L 170 vom 30.6.2009, S. 1.
693
SR
817.023.11
694
SR
817.02
695
SR
930.11
735 / 931
Art. 5
Gebrauchsgegenstände
Die Definition der Gebrauchsgegenstände orientiert sich am geltenden Recht. Die
Umschreibung der einzelnen Kategorien wird jedoch einerseits an die künftige direkte
Anwendung der EU-Gesetzgebung im Geltungsbereich des Protokolls für Lebensmit-
telsicherheit angepasst (Bedarfsgegenstände) und anderseits an aktuelle Gegebenhei-
ten und Bedürfnisse. Zudem sollen verschiedene Produkte, die bisher den Gebrauchs-
gegenständen zugeordnet wurden, nicht mehr lebensmittelrechtlich geregelt und
künftig dem Geltungsbereich des Bundesgesetzes über die Produktesicherheit (PrSG)
unterstellt werden (s. unten).
Buchstabe a ersetzt den geltenden Artikel 5 Buchstabe a Ziffern 1–3. Neu wird der
Begriff «Lebensmittelkontakt-Materialien und -Gegenstände» eingeführt. Diese Ter-
minologie entspricht Artikel 1 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004. Als Ab-
kürzung dieses Begriffs wird im Folgenden – wie schon im bisherigen Recht – der
Begriff «Bedarfsgegenstände» verwendet.
Die kosmetischen Mittel werden neu als separate Kategorie aufgeführt. Bei den im
bisherigen Buchstabe b aufgeführten «anderen Gegenständen, Stoffen und Zuberei-
tungen, die nach ihrer Bestimmung äusserlich mit dem Körper, mit den Zähnen oder
den Schleimhäuten in Berührung kommen», war bisher unklar, was genau darunter-
fällt. Dies umso mehr, als der geltende Buchstabe d ebenfalls Gegenstände erfasst, die
nach ihrer Bestimmung mit dem Körper in Berührung kommen. Diese Doppelspurig-
keit wird nun beseitigt.
«Spielzeug und andere Gegenstände, die für den Gebrauch durch Kinder bestimmt
sind» wurde bisher unter Buchstabe e aufgeführt und wird nun in Buchstabe c ver-
schoben. Inhaltlich ändert sich nichts.
Die Gegenstände, die mit Schleimhäuten in Kontakt kommen werden neu als eigene
Kategorie aufgeführt (Bst. d). Im geltenden Recht werden sie zusammen mit den kos-
metischen Mitteln noch unter Buchstabe b erwähnt. Darunter fallen beispielsweise
Zahnbürsten, Zahnstocher, Tampons, Binden, Menstruationstassen, Sextoys und ähn-
lich Gegenstände.
Die Kategorie mit den Kleidungsstücken, den textilen Materialien, dem Schmuck und
ähnlichen Gegenständen, die mit dem Körper in Kontakt kommen, wird neu unter
Buchstabe e aufgeführt. Der Begriff «Kleidungsstücke» wird gestrichen, weil er im
Begriff «textile Materialien» enthalten ist.
Der geltende Buchstabe c (Utensilien und Farben für Tätowierungen und Permanent-
Make-up) wird noch um die Apparate und Instrumente für Piercings ergänzt (Bst. f).
Im Übrigen ändert sich nichts.
In Buchstabe g (Dusch- und Badewasser) wird das Wort «namentlich» im deutschen
Text gestrichen. Das Wort «wie» vor «namentlich» reicht aus, um klarzustellen, dass
es sich um eine beispielhafte Aufzählung handelt. Im geltenden Recht findet sich diese
Bestimmung unter Buchstabe i.
Das Lebensmittelrecht will die Verbraucherinnen und Verbraucher vor gefährlichen
Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen schützen (s. Art. 1 LMG). Bei den Ge-
736 / 931
brauchsgegenständen – mit Ausnahme von Spielzeug – beschränkt sich der Gesund-
heitsschutz nach dem Verordnungsrecht zum LMG hauptsächlich auf sogenannte
«chemische Risiken» (Migration von Substanzen in den menschlichen Körper bei
Hautkontakt, Migration von Substanzen z. B. aus Verpackungsmaterialien in Lebens-
mittel, usw.). Das erste LMG von 1909 erfasste noch zahlreiche weitere Risiken und
hatte zum Ziel, die Sicherheit der Verbraucherinnen und Verbraucher ganzheitlich zu
gewährleisten. Noch heute werden im LMG deshalb Gegenstände des täglichen Be-
darfs geregelt wie Kerzen, Streichhölzer, Feuerzeuge und Scherzartikel (bisheriger
Art. 5 Bst. f LMG), Aerosolpackungen, die Lebensmittel oder andere Gebrauchsge-
genstände enthalten (bisheriger Art. 5 Bst. g LMG) sowie Gegenstände und Materia-
lien, die zur Ausstattung und Auskleidung von Wohnräumen (bisheriger Art. 5 Bst. g
LMG). Da die Risiken, die mit diesen Gegenständen verbunden sind, nicht typischer-
weise lebensmittelrechtlicher Art sind, drängt es sich auf, sie nicht mehr lebensmittel-
rechtlich zu regeln und aus dem LMG zu streichen. Sie sollen künftig über das PrSG
kontrolliert werden, soweit nicht andere Sektorgesetzgebungen Anwendung finden.
Art. 6
Fulfilment-Dienstleistende
Entsprechend dem Bestreben, unabhängig vom Protokoll zur Lebensmittelsicherheit
bestimmte Grundprinzipien der Marktüberwachung in Anlehnung an die Marktüber-
wachungsverordnung der EU in das schweizerische Recht zu überführen, wird daraus
auch die Definition der «Fulfilment-Dienstleistenden» übernommen (Art. 3 Ziff. 11
der Verordnung [EU] 2019/1020). Als solche gelten gemäss Absatz 1 natürliche oder
juristische Personen, die im Rahmen einer Geschäftstätigkeit mindestens zwei der vier
folgenden Dienstleistungen anbieten: Lagerhaltung, Verpackung, Adressierung oder
Versand von Lebensmitteln oder Gebrauchsgegenständen, an denen sie kein Eigen-
tumsrecht haben. Ausgenommen sind Anbieterinnen von Postdiensten nach Artikel 2
Buchstabe a des Postgesetzes vom 17. Dezember 2010
696
. Wie im EU-Recht sollen
solche Postdienste von der Definition der Fulfilment-Dienstleistenden nicht erfasst
werden. Diese Ausnahme gilt nicht nur für die staatlichen Postdienste, sondern auch
für die privaten Marktakteure wie private Kurierdienste (Abs. 2).
Die Tätigkeiten dieser Fulfilment-Dienstleistenden sind in weiten Teilen ähnlich wie
diejenigen von Betrieben, die Lebensmittel oder Gebrauchsgegenstände importieren.
Das LMG wurde in der Praxis jedoch bisher so ausgelegt, dass dessen Geltungsbe-
reich beispielsweise Betriebe, die aus dem Ausland palettenweise Lebensmittel oder
Gebrauchsgegenstände zugestellt erhielten und sie – ohne sie auszupacken – mit der
Adresse der Schweizer Empfängerin oder des Schweizer Empfängers versahen und
danach über private Kurierdienste oder die Post an die Empfängerinnen und Empfän-
ger weiterleiteten, nicht erfasste. Das soll sich nun ändern. Für solche Dienstleistende
sollen grundsätzlich sämtliche Pflichten gelten, welche auch von konventionellen Le-
bensmittel- und Gebrauchsgegenständebetrieben zu beachten sind. Es ist nicht einseh-
bar, weshalb ein Schweizer Importbetrieb strengeren Regeln unterworfen sein soll als
solche Fulfilment-Dienstleistende. Denn weil die Marktüberwachungsverordnung
ihnen nun im EU-Raum Pflichten auferlegt, besteht die Gefahr, dass sie sich diesen
696
SR
783.0
737 / 931
durch die Verlegung des Sitzes aus der EU in die Schweiz auf einfache Weise entzie-
hen können. Diese Lücke muss früher oder später deshalb ohnehin geschlossen wer-
den.
Während Anbieterinnen von Postdiensten nach dem ersten Satz von Absatz 2 nicht
als Fulfilment-Dienstleistende gelten, gibt der zweite Satz von Absatz 2 dem Bundes-
rat die Kompetenz, weitere Dienste von diesem Begriff auszunehmen, wenn sie ana-
loge Tätigkeiten ausführen wie die Postdienste.
Art. 7
Hosting-Dienst
Auch die Definition des «Hosting-Dienstes» wird unabhängig vom Protokoll zur Le-
bensmittelsicherheit eingeführt. Sie entspricht derjenigen nach Artikel 3 Buchstabe g
iii) des DSA. Darunter fallen Dienstleistungen, die darin bestehen, dass Nutzerinnen
und Nutzern Speicherplatz zur Verfügung gestellt wird, damit diese auf Servern In-
formationen speichern können.
Die Nutzung solcher Dienste, auch in Verbindung mit Bereichen, die unter das LMG
fallen, ist exponentiell angestiegen. Sie spielen bei der Vermittlung und Verbreitung
auch rechtswidriger Informationen und Tätigkeiten eine immer wichtigere Rolle und
sollen deshalb vom Geltungsbereich des LMG erfasst werden.
Art. 8
Online-Plattformen
Die Vermarktung von Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen über das Internet,
insbesondere Online-Plattformen, nimmt stetig zu. Die amtliche Überwachung des
Online-Handels von Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen wird in der EU in den
Grundzügen in der Verordnung (EU) 2017/625 geregelt. Einzelheiten zur Überwa-
chung des Online-Handels für alle Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände finden
sich im EU-Recht in der Marktüberwachungsverordnung und im DSA. Diese Verord-
nungen sind nicht Bestandteil des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit, dienen aber
dazu, die in der Verordnung (EU) 2017/625 festgelegten Grundprinzipien umzuset-
zen. Sie regeln sowohl die Pflichten der Marktakteure im Bereich des Online-Handels
wie auch die Kompetenzen der Kontrollbehörden.
Online-Plattformen werden in Anlehnung an Artikel 3 Buchstabe i sowie die Erwä-
gungsgründe 13 und 14 des DSA als eine Unterkategorie von Hosting-Diensten ange-
sehen. Online-Plattformen speichern die Informationen nicht nur, sondern verbreiten
diese auch (Abs. 1). Sie ermöglichen den Verbraucherinnen und Verbrauchern den
Abschluss von Fernabsatzverträgen mit Anbieterinnen und Anbietern beziehungs-
weise Nutzerinnen und Nutzern des Dienstes. Als öffentlich verbreitet gilt, wenn sie
allgemein zugänglich gemacht und von den Empfängerinnen und Empfängern des
Dienstes direkt angefordert werden können.
Um übermässig weit gefasste Verpflichtungen zu vermeiden, sollen Hosting-Dienste
wie im EU-Recht jedoch nicht als Online-Plattformen betrachtet werden, sofern
(Art. 3 Bst. i des DSA):
738 / 931
–
es sich bei dieser Tätigkeit nur um eine unbedeutende und untrennbar mit
einem anderen Dienst verbundene reine Nebenfunktion oder um eine unbe-
deutende Funktion des Hauptdienstes handelt, wobei die Nebenfunktion
oder Funktion aus objektiven und technischen Gründen nicht ohne diesen
anderen Hauptdienst genutzt werden kann; und
–
die Integration der Nebenfunktion oder der Funktion in den anderen Dienst
nicht dazu dient, die Anwendung der Lebensmittelgesetzgebung für Online-
Plattformen zu umgehen (Abs. 2).
Online-Plattformen, bei denen es sich um eine unbedeutende und untrennbar mit ei-
nem anderen Dienst verbundene reine Nebenfunktion oder um eine unbedeutende
Funktion des Hauptdienstes handelt, sollen vom Geltungsbereich des LMG nicht er-
fasst werden.
Erwägungsgrund 13 des DSA nennt als Beispiel für eine Nebenfunktion eines Haupt-
dienstes den Kommentarbereich einer Online-Zeitung, die in erster Linie die Veröf-
fentlichung von Nachrichten unter der redaktionellen Verantwortung der Verlegerin
oder des Verlegers bezweckt. Die Speicherung von Kommentaren in einem sozialen
Netzwerk wäre dagegen als Online-Plattformdienst zu betrachten, wenn klar ist, dass
es sich um ein nicht unwesentliches Merkmal des angebotenen Dienstes handelt, auch
wenn es sich um eine Nebenleistung zur Veröffentlichung der Beiträge der Nutzerin-
nen und Nutzer handelt.
Cloud-Computing- oder Web-Hosting-Dienste, bei denen die öffentliche Verbreitung
bestimmter Informationen eine unbedeutende Nebenfunktion oder eine unbedeutende
Funktion dieser Dienste darstellt, sollen auch im Schweizer Recht nicht als Online-
Plattform gelten.
Der Begriff «öffentliche Verbreitung» soll wie im EU-Recht die Bereitstellung von
Informationen für eine potenziell unbegrenzte Zahl von Personen umfassen, ohne dass
weiteres Tätigwerden durch die Nutzerinnen und Nutzer, welche die Informationen
bereitstellen, erforderlich wäre. Dabei soll es keine Rolle spielen, ob diese Personen
tatsächlich auf die betreffenden Informationen zugreifen.
Interpersonelle Kommunikationsdienste im Sinne der Richtlinie (EU) 2018/1972
697
,
wie E-Mail oder Instant Messaging-Dienste, sollen nicht als Online-Plattformen gel-
ten, da sie für die interpersonelle Kommunikation zwischen einer endlichen Zahl von
Personen verwendet werden, die von der Absenderin oder dem Absender der Kom-
munikation bestimmt wird. Als Online-Plattformen sollen sie jedoch dann gelten,
wenn sie die Bereitstellung von Informationen für eine potenziell unbegrenzte Zahl
von Nutzerinnen und Nutzern ermöglichen, die nicht von der Absenderin oder dem
Absender der Kommunikation bestimmt wird, beispielsweise über öffentliche Grup-
pen oder offene Kanäle. Informationen sollen nur dann als «öffentlich verbreitet» gel-
ten, wenn diese Verbreitung direkt im Auftrag der Nutzerin oder des Nutzers, die oder
der die Informationen bereitgestellt hat, erfolgt (s. dazu auch Erwägungsgrund 14 des
DSA).
697
Richtlinie (EU) 2018/1972 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember
2018 über den europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation, ABl. L 321 vom
17.12.2018, S. 36.
739 / 931
2. Kapitel: Lebensmittel
1. Abschnitt: Anforderungen an Lebensmittel
Art. 9
Lebensmittelsicherheit
Absatz 1 verweist bezüglich der Anforderungen an die Lebensmittelsicherheit auf Ar-
tikel 14 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 einschliesslich der auf der Grundlage die-
ser Verordnung erlassenen Rechtsakte, die diese Bestimmung ausführen und Bestand-
teil von Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit sind. Dazu gehören
insbesondere die gestützt auf diese Verordnung von der Europäischen Kommission
erlassenen Durchführungsrechtsakte und delegierte Rechtsakte.
Nach Absatz 2 Buchstabe a kann der Bundesrat zusätzliche Anforderungen an die Le-
bensmittelsicherheit festlegen. Von dieser Kompetenz kann er namentlich dann Ge-
brauch machen, wenn das einschlägige EU-Recht den Mitgliedstaaten Rechtsetzungs-
spielraum einräumt oder aber wenn es um Sicherheitsanforderungen an Lebensmittel
geht, die nicht in den Geltungsbereich des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit fal-
len. Das in Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit gelistete und in der
Schweiz direkt anwendbare EU-Recht bildet jedoch die Schranke für solche Regelun-
gen.
Buchstabe b entspricht dem bisherigen Artikel 7 Absatz 5 Buchstabe d LMG und Ab-
satz 2 Buchstabe c entspricht Artikel 7 Absatz 6 LMG.
Art. 10
Hygiene
Absatz 1 verweist auf die für das EU-Hygienerecht grundlegenden Verordnungen
(EG) Nr. 852/2004 und (EG) Nr. 853/2004 einschliesslich der auf der Grundlage die-
ser Verordnungen erlassenen Rechtsakte, die deren Bestimmungen ausführen und Be-
standteil von Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit sind. Bereits der gel-
tende Artikel 10 zur Hygiene orientiert sich an diesen Verordnungen.
Dementsprechend wird es materiell nur wenige Anpassungen geben.
Die Übertragung der Kompetenzen an den Bundesrat nach Absatz 2 Buchstaben a–c
ist dort von Bedeutung, wo ein gewisser Spielraum und Flexibilität bei der Umsetzung
von EU-Recht besteht.
Nach Buchstabe a soll der Bundesrat Einzelheiten zur Umsetzung der Verordnungen
(EG) Nr. 852/2004 und (EG) Nr. 853/2004 regeln können, einschliesslich der auf der
Grundlage dieser Verordnungen erlassenen Rechtsakte, die diese Bestimmungen aus-
führen und Bestandteil von Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit sind.
Beispielsweise sind in Artikel 13 Absätze 3 und 4 der Verordnungen (EG)
Nr. 852/2004 Bereiche aufgelistet, in welchen einzelstaatliche Vorschriften zulässig
sind. Darunter fallen zum Beispiel Regelungen, mit welchen die Anwendung traditi-
oneller Methoden bei der Produktion, der Verarbeitung oder dem Vertrieb von Le-
bensmitteln ermöglicht werden, Regelungen, welche den Bedürfnissen von Lebens-
mittelunternehmen in Regionen in schwieriger geografischer Lage Rechnung tragen
740 / 931
oder Regelungen, die den Bau, die Konzeption und die Ausrüstung der Betriebe be-
treffen.
Einzelhandelsunternehmen
sind
vom
Anwendungsbereich
der
Verordnung
(EG) 853/2004 ausgenommen. Der Bund hat jedoch gemäss Artikel 1 Absatz 5 Buch-
stabe a der Verordnung (EG) 853/2004 die Kompetenz, die Einzelhandelsunterneh-
men den Hygienevorschriften zu unterstellen. Dem wird in Buchstabe b Rechnung
getragen.
Buchstabe c entspricht dem geltenden Artikel 10 Absatz 4 LMG.
Art. 11
Melde-, Registrierungs- und Zulassungspflicht
Der Grundsatz, wonach Lebensmittelbetriebe der zuständigen Behörde zwecks Re-
gistrierung gemeldet oder aber von dieser zugelassen werden müssen, findet sich in
Artikel 6 der Verordnung (EG) Nr. 852/2004. Absatz 1 stellt klar, dass die Meldung
an die zuständige kantonale Vollzugsbehörde zu erfolgen hat. Diese hat die gemelde-
ten Betriebe zu registrieren (Abs. 2). Auch die Zulassung von Schlachtbetrieben sowie
Betrieben, die mit Lebensmitteln tierischer Herkunft umgehen, erfolgt durch die Kan-
tone (Abs. 3).
Artikel 6 der Verordnung (EG) Nr. 852/2004 verweist in mehreren Absätzen auf die
Regelungskompetenzen der EU-Mitgliedstaaten, von denen auch die Schweiz Ge-
brauch machen kann. Damit der Bundesrat die Einzelheiten des Melde- und des Zu-
lassungsverfahrens regeln kann, werden ihm in Absatz 4 entsprechende Rechtset-
zungskompetenzen eingeräumt.
Art. 12
Kennzeichnungs- und Auskunftspflicht
Artikel 12 VE-LMG entspricht inhaltlich dem geltenden Artikel 12 LMG. Neu wird
in Absatz 1 auf Artikel 8 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 verwiesen.
Diese Bestimmung beinhaltet die Grundsätze, nach welchen die Kennzeichnung der
Lebensmittel zu erfolgen hat. Sie soll dem Schutz der Verbraucherinteressen dienen
und den Verbraucherinnen und Verbrauchern ermöglichen, in Bezug auf die Lebens-
mittel, die sie verzehren, einen informierten Entscheid zu treffen. Zudem sollen Prak-
tiken des Betrugs oder der Täuschung, der Verfälschung von Lebensmitteln und alle
sonstigen Praktiken, welche die Verbraucherinnen und Verbraucher irreführen kön-
nen, verhindert werden.
Bezüglich der Angabe des Produktionslandes sieht Anhang I des Protokolls bei der
Verordnung (EU) 1169/2011 (Ziff. 50) eine technische Anpassung vor. Wer vorver-
packte Lebensmittel in Verkehr bringt, muss – anders als im EU-Recht – in jedem Fall
über das Produktionsland des Lebensmittels informieren (Abs. 2). In der EU gilt diese
Pflicht nur dann, wenn ohne diese Angabe eine Irreführung der Verbraucherinnen und
Verbraucher über das tatsächliche Ursprungsland oder den tatsächlichen Herkunftsort
des Lebensmittels möglich wäre. Bei Fleisch gilt gemäss Artikel 26 Absatz 2 Buch-
stabe b der Verordnung (EU) 1169/2011 allerdings auch in der EU, dass das Ur-
sprungsland oder der Herkunftsort immer angegeben werden muss.
741 / 931
Die Terminologie «offen in den Verkehr gebrachte Lebensmittel» des geltenden Ar-
tikels 12 Absatz 5 LMG wird entsprechend der Begrifflichkeit des EU-Rechts ange-
passt und lautet neu «nicht vorverpackt» (Abs. 3). An der Pflicht zur Angabe des Pro-
duktionslandes auch im Offenverkauf ändert sich jedoch nichts.
Die Absätze 4 und 5 enthalten Rechtsetzungskompetenzen des Bundesrates.
Absatz 4 Buchstabe a entspricht dem geltenden Artikel 12 Absatz 2 LMG.
Artikel 39 der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 sieht einzelstaatliche Vorschriften
über zusätzliche verpflichtende Angaben vor. Gestützt auf diesen Artikel kann der
Bundesrat zusätzliche Angaben für bestimmte Arten oder Klassen von Lebensmitteln
vorschreiben, wenn Gründe wie der Schutz der öffentlichen Gesundheit, Verbraucher-
schutz, Betrugsvorbeugung oder Schutz von gewerblichen und kommerziellen Eigen-
tumsrechten, Herkunftsbezeichnungen, eingetragenen Ursprungsbezeichnungen so-
wie vor unlauterem Wettbewerb dies rechtfertigen (Bst. b).
Buchstabe c entspricht dem geltenden Artikel 13 Absatz 2 LMG.
Buchstabe d entspricht dem geltenden Artikel 13 Absatz 3 LMG. Diese Delegations-
kompetenz an den Bundesrat erlaubt ihm auch, im Bereich der Allergene die im Pro-
tokoll zur Lebensmittelsicherheit vorgesehenen technischen Anpassungen vorzuneh-
men.
Absatz 5 Buchstabe a bezieht sich auf diejenigen Bereiche der in Anhang I des Proto-
kolls aufgeführten Erlasse, in denen die EU den Mitgliedstaaten Rechtsetzungskom-
petenzen überlässt. Von diesem Spielraum kann auch die Schweiz Gebrauch machen.
Buchstabe b erlaubt dem Bundesrat, die Kennzeichnung von Lebensmitteln zu regeln,
soweit das im Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit aufgelistete EU-
Recht diesbezüglich keine Regelungen enthält. Dies ist beispielsweise bei Lebensmit-
teln der Fall, die in den Vermarktungsnormen der EU geregelt sind (Honig, Frucht-
säfte, Konfitüren, Trockenmilch, usw.) oder auch bei Trinkwasser. Bezüglich Trink-
wasser ist aber darauf hinzuweisen, dass das in Anhang I des Protokolls enthaltende
EU-Hygienerecht verlangt, dass Wasser, das mit Lebensmitteln in Kontakt gelangt,
Trinkwasserqualität nach EU-Recht
698
aufweisen muss. Indirekt ist damit das Trink-
wasserrecht der EU für die Lebensmittelproduzentinnen und -produzenten in der
Schweiz schon heute verbindlich, sofern sie ihre Produkte in die EU exportieren.
Buchstabe c verweist auf die in Artikel 7 des Protokolls aufgeführten Ausnahmen so-
wie die bei den einzelnen Erlassen in Anhang I des Protokolls aufgeführten «techni-
schen Anpassungen». In diesen Bereichen soll der Bundesrat stufengerecht Einzelhei-
ten festlegen dürfen.
Buchstabe d entspricht dem geltenden Artikel 13 Absatz 4 Buchstabe b LMG.
Buchstabe e entspricht inhaltlich dem bisherigen Artikel 12 Absatz 5 LMG. Er erlaubt
dem Bundesrat unter anderem Absatz 3 umzusetzen.
698
Richtlinie (EU) 2020/2184 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember
2020 über die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch, ABl. L 435 vom
23.12.2020, S. 1.
742 / 931
Art. 13
Täuschungsschutz
Zur Konkretisierung des Täuschungsschutzes wird neu auf die Artikel 8 und 16 der
Verordnung (EG) Nr. 178/2002 einschliesslich der auf der Grundlage dieser Verord-
nung erlassenen Rechtsakte, die diese Bestimmungen ausführen und Bestandteil von
Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit sind, verwiesen. In der Praxis
wird sich durch diese Änderung gegenüber dem geltenden Recht nur wenig ändern.
Das Bundesgericht hat in Täuschungsfällen schon bisher die Kriterien des EU-Rechts
miteinbezogen (s. z. B. BGE 2C_761/2017, E. 4.2.5 ff.). Massgeblich ist in diesem
Zusammenhang die mutmassliche Erwartung einer normal informierten, angemessen
aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucherin beziehungsweise eines
Durchschnittsverbrauchers. Diese kann von Land zu Land unterschiedlich sein und ist
einzelfallweise zu ermitteln (Abs. 1). Der zweite Satz von Absatz 1 entspricht dem
zweiten Satz des bisherigen Artikels 18 Absatz 2 LMG.
Absatz 2 entspricht dem bisherigen Artikel 19 Absatz 2 LMG.
Absatz 3 räumt dem Bundesrat dieselben Rechtsetzungskompetenzen ein wie Arti-
kel 18 Absatz 4 des bisherigen Rechts. Mit «Werbung» nach Buchstabe b ist die di-
rekte (Werbespot, Inserat, etc.) und indirekte Werbung (Sponsoring, Product-Place-
ment, etc.) gemeint.
2. Abschnitt: Bestimmungen zu alkoholischen Getränken
Art. 14
Abgabe- und Werbebeschränkungen für alkoholische Getränke
Diese Bestimmung entspricht dem geltenden Artikel 14 und wurde unverändert über-
nommen.
Art. 15
Alkoholtestkäufe
Diese Bestimmung entspricht dem geltenden Artikel 14
a
und wurde inhaltlich unver-
ändert übernommen.
3. Kapitel: Gebrauchsgegenstände
Im EU-Recht werden die einzelnen Produktekategorien in separaten Erlassen produk-
tespezifisch geregelt. Eine Überkategorie «Gebrauchsgegenstände» wie im schweize-
rischen Recht gibt es nicht. Der bisherige Artikel 15 LMG hat kategorienübergreifend
gefordert, dass nur sichere Gebrauchsgegenstände in den Verkehr gebracht werden
dürfen. Dies hat in der Praxis zu Problemen geführt, weil nicht klar war, ob zum Bei-
spiel auf ein Fondue-Caquelon, das unter Hitzeeinwirkung geborsten ist, nun das Le-
bensmittelrecht oder das Produktesicherheitsrecht Anwendung findet. Das Verord-
nungsrecht zum bisherigen LMG hat bei mehreren Produktekategorien nur konkrete
Gefahren wie die Migration von Stoffen in Lebensmittel, den Hautkontakt oder die
Brennbarkeit von Textilien geregelt, nicht aber ebenfalls sicherheitsrelevante Themen
743 / 931
wie die Stabilität eines Produktes oder dessen Wirksamkeit für angepriesenen Eigen-
schaften. Bei anderen Produktekategorien wie Spielzeug oder den kosmetischen Mit-
teln wurden demgegenüber sämtliche Gefahren abgedeckt.
Im VE-LMG wird auf das durch Artikel 15 LMG bisher geforderte kategorienüber-
greifende Erfordernis der Sicherheit verzichtet. Die nach wie vor als Gebrauchsge-
genstände geltenden Produktekategorien werden einzeln aufgelistet und es wird ein-
zeln festgelegt, welche Gefahren durch das Lebensmittelrecht abgedeckt werden.
Weiter wird für jede Kategorie festgelegt, ob die betreffende Produktekategorie le-
bensmittelrechtlich einem Täuschungsverbot unterliegt. Durch dieses neue System
wird die Abgrenzung zwischen dem Lebensmittelrecht, andern Spezialgesetzgebun-
gen und dem als «Auffangbecken» dienenden Produktesicherheitsrecht stark verein-
facht.
1. Abschnitt: Anforderungen an Bedarfsgegenstände
Art. 16
Die für die Regelung der Bedarfsgegenstände im EU-Recht zentrale Verordnung (EG)
Nr. 1935/2004 ist im Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit gelistet und
fällt damit in dessen Geltungsbereich. Das geltende Schweizer Recht über Bedarfsge-
genstände ist heute schon weitestgehend mit der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 har-
monisiert. Die direkte Anwendung des EU-Rechts führt deshalb zu keinen nennens-
werten Änderungen.
Anders als die anderen Gebrauchsgegenstände nach Schweizer Recht fallen die Be-
darfsgegenstände in der EU in den Anwendungsbereich der ansonsten Lebensmitteln
vorbehaltenen Verordnung (EG) Nr. 178/2002 sowie der Verordnung (EU) 2017/625.
Die Neukonzeption des 3. Kapitels über Gebrauchsgegenstände ermöglicht, klarzu-
stellen, dass die Bedarfsgegenstände trotz dieser Zuordnungen im EU-Recht nach
schweizerischem Lebensmittelrecht nach wie vor als Gebrauchsgegenstände betrach-
tet werden. Dies ist deshalb wichtig, weil auf Bedarfsgegenstände, die in der EU spe-
zialrechtlich geregelt werden, nach schweizerischem Lebensmittelrecht für horizon-
tale Aspekte wie die Gebühren oder die Strafbestimmungen dieselben Bestimmungen
Anwendung finden, wie sie auch für die übrigen Gebrauchsgegenstände gelten. Eine
Sonderbehandlung der Bedarfsgegenstände auch bezüglich solcher horizontalen As-
pekte erübrigt sich damit.
Absatz 2 verweist für den Täuschungsschutz auf Artikel 3 Absatz 2 der Verordnung
(EG) Nr. 1935/2004 und nicht auf die für Lebensmittel geltenden und einen breiteren
Anwendungsbereich abdeckenden Täuschungsverbote nach den Artikeln 8 und 16 der
Verordnung (EG) Nr. 178/2002. Im Vordergrund stehen Aspekte wie die Sicherheit,
die Zusammensetzung, die Eignung oder die Eigenschaften von Bedarfsgegenstän-
den. Der zweite Satz von Absatz 2 entspricht dem zweiten Satz des bisherigen Arti-
kels 18 Absatz 2 LMG.
Der Verweis nach Absatz 3 ist notwendig, um dem Bundesrat die Kompetenz zu ge-
ben, den Rechtsetzungsspielraum, den die Artikel 6 und 16 der Verordnung (EG)
744 / 931
Nr. 1935/2004 den EU-Mitgliedstaaten einräumen, bei Bedarf zu nutzen. Darunter
fallen beispielsweise auch spezifisch schweizerische Vorschriften zu Konformitätser-
klärungen für Druckfarben.
2. Abschnitt: Anforderungen an andere Gebrauchsgegenstände
Art. 17
Kosmetische Mittel
Unabhängig vom Protokoll zur Lebensmittelsicherheit ist das schweizerische Kosme-
tikrecht im Rahmen des autonomen Nachvollzugs bereits heute weitestgehend mit der
Verordnung (EG) Nr. 1223/2009
699
harmonisiert. Inhaltlich führt der VE-LMG zu kei-
nen Änderungen. Der zweite Satz von Absatz 2 entspricht dem zweiten Satz des bis-
herigen Artikels 18 Absatz 2 LMG.
Art. 18
Spielzeuge und andere Gegenstände, die für den Gebrauch durch
Kinder bestimmt sind
Spielzeuge fallen auch künftig unter das MRA
700
. Das Schweizer Recht über Spiel-
zeuge wurde vom Gemischten Ausschuss des MRA regelmässig als mit demjenigen
der EU äquivalent beurteilt. Diese Harmonisierung wird auch weiterhin sichergestellt.
Daran ändert der VE-LMG nichts.
Art. 19
Gegenstände, die mit Schleimhäuten in Kontakt kommen
Bei den Gegenständen, die mit Schleimhäuten in Kontakt kommen, wird die Gefahr
der Migration von Stoffen in den menschlichen Körper erfasst (Abs. 1). Andere Ge-
fahren fallen entweder unter andere Sektorgesetzgebungen und, wenn solche nicht
vorhanden sind, das PrSG.
Absatz 2 entspricht Artikel 61 Absatz 2 LGV.
Absatz 3 ermöglicht dem Bundesrat, die unter diese Bestimmung fallenden Schleim-
häute zu bestimmen und Anforderungen an die Sicherheit von Gegenständen, die mit
diesen in Kontakt kommen, festzulegen, so beispielsweise Höchstwerte für die Mig-
ration spezifischer Substanzen.
Art. 20
Textile Materialien, Schmuck und ähnliche Gegenstände, die mit
dem Körper in Kontakt kommen
Der lebensmittelrechtliche Schutz der Gesundheit deckt bei dieser Produktekategorie
unabhängig vom Protokoll zur Lebensmittelsicherheit die Gefahr der Migration von
699
Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. No-
vember 2009 über kosmetische Mittel, ABl. L 342 vom 22.12.2009, S. 59.
700
Siehe die Ausführungen zu Artikel 2 Absatz 4 Buchstabe d oben.
745 / 931
Stoffen in den menschlichen Körper ab, einschliesslich des durch den Hautkontakt
entstehenden Allergierisikos (Abs. 1).
Der lebensmittelrechtliche Schutz des VE-LMG wird unabhängig vom Protokoll zur
Lebensmittelsicherheit – wie im geltenden Recht – auf die Gefahr der Brennbarkeit
von textilen Materialien wie Kleidungsstücke ausgedehnt (Abs. 2).
Der Bundesrat soll die Kompetenz haben, die technischen Einzelheiten in diesen Be-
reichen zu regeln (Abs. 3). Grundsätzlich ist vorgesehen, die heutigen Regelungen auf
Verordnungsstufe beizubehalten.
Art. 21
Farben, Apparate und Instrumente für Tätowierungen und
Permanent-Make-up sowie Apparate und Instrumente für Piercings
Bei den Apparaten und Instrumenten sowie bei Farben für Tätowierungen und Per-
manent-Make-up sowie bei den Apparaten und Instrumenten
für Piercings steht le-
bensmittelrechtlich die Regulierung der Gefahr, die von diesen Gegenständen durch
den Körperkontakt ausgehen kann, im Zentrum. Diese Regelung steht nicht im Zu-
sammenhang mit dem Protokoll zur Lebensmittelsicherheit.
Bei den Farben für Tätowierungen und Permanent-Make-up geht es um Risiken der
stofflichen Zusammensetzung der erwähnten Produkte sowie um Hygienerisiken
(Abs. 1).
Die Gewährleistung des Gesundheitsschutzes erfordert, dass die in diese Produkteka-
tegorie fallenden Apparate und Instrumente oder Teile davon, die in die obersten
Hautschichten eindringen, steril sind (Abs. 2).
Absatz 3 erlaubt dem Bundesrat, für die unter diese Bestimmung fallenden Produkte
Anforderungen an die Sicherheit festzulegen. Grundsätzlich ist vorgesehen, die heu-
tigen Regelungen auf Verordnungsstufe beizubehalten.
Art. 22
Wasser, das dazu bestimmt ist, mit dem menschlichen Körper in
Berührung zu kommen
Absatz 1 ist die gesetzliche Grundlage für die Anforderungen an Dusch- und Bade-
wasser, wie sie im 3. Abschnitt der Verordnung des EDI über Trinkwasser sowie Was-
ser in öffentlich zugänglichen Bädern und Duschanlagen (TBDV)
701
in Einzelheiten
festgelegt sind (Abs. 1). Der Artikel führt zu keinen materiellen Änderungen und steht
in keinem Zusammenhang mit dem Protokoll zur Lebensmittelsicherheit.
Absatz 2 dient als Rechtsgrundlage, damit der Bundesrat beziehungsweise das EDI
diese Vorschriften erlassen kann.
3. Abschnitt: Gemeinsame Bestimmungen
701
SR
817.022.11
746 / 931
Art. 23
Gewährleistung der Sicherheit von Gebrauchsgegenständen
Diese Bestimmung entspricht Artikel 15 Absatz 5 LMG und erlaubt dem Bundesrat,
im Rahmen der Artikel 16–22 VE-LMG die zur Gewährleistung der Sicherheit von
Gebrauchsgegenständen erforderlichen Vorschriften zu erlassen.
Art. 24
Meldepflicht für Betriebe
Diese Bestimmung entspricht Artikel 17 LMG.
4. Kapitel: Gemeinsame Bestimmungen für Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände
Art. 25
Einschränkung der Herstellungs- und Behandlungsverfahren
Diese Bestimmung entspricht Artikel 20 LMG. Artikel 20 Absatz 3 LMG wird in den
neuen Artikel 17 VE-LMG über kosmetische Mittel verschoben (Abs. 4 Bst. b). Ma-
teriell ergeben sich keine Änderungen.
Art. 26
Im Internet angebotene Produkte
Werden im Internet Lebensmittel oder Gebrauchsgegenstände über eine Webseite mit
der länderspezifischen Domain «.ch» oder der generischen «.swiss»-Domain der ers-
ten Ebene angeboten, weckt dies bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern die Er-
wartung, dass die angebotenen Produkte dem Schweizer Recht entsprechen und von
der Schweizer Lebensmittelkontrolle kontrolliert werden. Webseiten mit diesen Do-
mains können jedoch auch von im Ausland ansässigen Personen betrieben werden.
Versenden diese ihre Produkte direkt aus dem Ausland an die Schweizer Kundschaft,
stellt sich die Frage, ob es sich bei der betreffenden Bestellung nun um «die Einfuhr
von Lebensmitteln oder Gebrauchsgegenständen für die private häusliche Verwen-
dung» handelt, die vom Geltungsbereich des VE-LMG nicht erfasst wird (Art. 2
Abs. 4 Bst. b LMG) oder aber um einen Erwerb, der rechtlich wie ein Erwerb in einem
Schweizer Geschäft zu behandeln ist. Das geltende Recht beantwortet diese Frage
nicht. Um diesbezüglich Klarheit und Rechtssicherheit zu schaffen, klärt Artikel 26
VE-LMG diese Frage nun. Werden diese Domains verwendet, soll Schweizer Recht
unabhängig davon gelten, ob das Angebot von der Schweiz oder vom Ausland aus
erfolgt (Abs. 1). Diese Regelung steht in keinem Zusammenhang mit dem Protokoll
zur Lebensmittelsicherheit.
Die Kontrolle, ob Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände, die von im Ausland an-
sässigen Personen über Websites mit den erwähnten Domains betrieben werden, den
Anforderungen des schweizerischen Lebensmittelrechts entsprechen, erfolgt – ge-
stützt auf die Kompetenz des Bundes, die Konformität der Lebensmittel und Ge-
brauchsgegenstände an der Grenze zu kontrollieren (Art. 51 Abs. 1 VE-LMG) – durch
die zuständige Vollzugsbehörde des Bundes. Ergeben sich diesbezüglich Probleme,
kann die zuständige Vollzugsbehörde des Bundes Switch auffordern, von der anbie-
747 / 931
tenden Person in der Schweiz eine Korrespondenzadresse zu verlangen und die Iden-
tität bekannt zu geben. Kommt die anbietende Person dem nicht nach, widerruft
Switch die Zuteilung des Domain-Namens (Art. 16 Abs. 3 der Verordnung vom
5. November 2014
702
über Internet-Domains, VID). Wird eine solche Kontaktadresse
angegeben, übernimmt die für den betreffenden Kanton zuständige Vollzugsbehörde
den Fall.
Mit der Formulierung «mit einer ähnlichen auf die Schweiz bezugnehmenden Do-
main» wird ein Spielraum für zukünftige Entwicklungen in diesem Bereich gelassen.
Damit kann gewährleistet werden, dass auch andere Domains, welche einen Schweiz-
Bezug haben, vom Artikel abgedeckt werden.
Der Bundesrat soll die Kompetenz haben, auf Verordnungsstufe die betroffenen Do-
mains zu regeln. Nur so besteht die Möglichkeit, auf Veränderungen im stets dem
Wandel unterstellten Bereich der Technik flexibel reagieren zu können (Abs. 2).
Art. 27
Ausfuhr
Die Ausfuhr von Lebensmitteln richtet sich nach Artikel 12 der Verordnung (EG)
Nr. 178/2002 einschliesslich der auf der Grundlage dieser Verordnung erlassenen
Rechtsakte, die diese Bestimmung ausführen und Bestandteil von Anhang I des Pro-
tokolls zur Lebensmittelsicherheit sind (Abs. 1). Die EU-Bestimmung regelt aus-
schliesslich Lebensmittel und Futtermittel, nicht aber Bedarfsgegenstände. Materiell
ändert sich gegenüber dem geltenden Recht nichts, weil sich schon die bisherige Re-
gelung am EU-Recht orientiert hat.
An den Anforderungen an zur Ausfuhr bestimmter Gebrauchsgegenstände ändert sich
nichts. Die Absätze 2 und 3 entsprechen dem bisherigen Artikel 3 Absätze 4 und 5.
Gesundheitsschädliche Gebrauchsgegenstände dürfen nach wie vor nicht ausgeführt
werden.
5. Kapitel: Aufgaben der Behörden
Art. 28
Risikoanalyse
Die Risikoanalyse wird im geltenden Recht in Artikel 21 LMG geregelt. Der Text von
Artikel 21 LMG entspricht demjenigen von Artikel 6 der Verordnung (EG)
Nr. 178/2002. Durch die direkte Anwendung des einschlägigen EU-Rechts ergeben
sich gegenüber heute keine Änderungen (Abs. 1).
Schon im geltenden Recht haben die Vorschriften zur Risikoanalyse auch für Ge-
brauchsgegenstände gegolten. Es gibt keinen Grund, davon abzuweichen. Absatz 2
stellt deshalb klar, dass dies auch in Zukunft so bleiben soll.
702
SR
784.104.2
748 / 931
Art. 29
Vorsorgeprinzip
Der bisherige Artikel 22 LMG zum Vorsorgeprinzip entspricht inhaltlich Artikel 7
der Verordnung (EG) Nr. 178/2002. Die direkte Anwendung dieser EU-Bestimmung
führt gegenüber heute zu keinen Änderungen (Abs. 1 und 3).
Wie im bisherigen Recht soll das Vorsorgeprinzip inhaltlich identisch wie bei den
Lebensmitteln auch bei den Gebrauchsgegenständen gelten (Abs. 2).
Art. 30
Schutzmassnahmen
Absatz 1 betrifft das Inverkehrbringen eines Lebensmittels nach geltendem Recht,
wenn neue Erkenntnisse darauf schliessen lassen, dass es trotzdem nicht sicher ist. Er
entspricht dem bisherigen Artikel 23 LMG. Bezüglich der anzuordnenden Massnah-
men verweist Absatz 1 neu auf Artikel 14 Absatz 8 der Verordnung (EG)
Nr. 178/2002. Inhaltlich führt dies jedoch zu keinen Änderungen gegenüber heute.
Obwohl die Bedarfsgegenstände vom Anwendungsbereich der Verordnung (EG)
Nr. 178/2002 erfasst werden, enthält Artikel 18 der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004,
die spezifisch Bedarfsgegenstände regelt, eine eigene Regelung für Schutzmassnah-
men. Weil auch die Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 Bestandteil von Anhang I des
Protokolls zur Lebensmittelsicherheit ist, wird diese Bestimmung künftig in der
Schweiz direkt Anwendung finden. Materiell ergibt sich auch in diesem Bereich je-
doch keine Änderung gegenüber heute (Abs. 2).
Für die übrigen Gebrauchsgegenstände sollen dieselben Grundsätze gelten, wie sie in
Absatz 1 für Lebensmittel festgelegt sind (Abs. 3). Auch dies entspricht dem gelten-
den Recht.
Art. 31
Information der Öffentlichkeit
Sowohl das schweizerische Recht wie auch das EU-Recht messen der Information der
Öffentlichkeit grosse Bedeutung zu. Der bisherige Artikel 24 LMG verlangt, dass die
zuständigen Vollzugsbehörden die Öffentlichkeit sowohl über ihre Kontrolltätigkei-
ten und deren Wirksamkeit informieren wie auch über Lebensmittel und Gebrauchs-
gegenstände, bei denen ein hinreichender Verdacht besteht, dass sie ein Risiko für die
Gesundheit mit sich bringen können. Das einschlägige EU-Recht, das Bestandteil des
Anhangs I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit ist, sieht ebenfalls vor, dass die
zuständigen Vollzugsbehörden über diese beiden Punkte informieren.
703
Dieses EU-
Recht wird künftig in der Schweiz direkt angewendet werden. Die entsprechenden
Formulierungen im LMG werden deshalb nicht in den VE-LMG übernommen. Mate-
riell bleibt die heutige Informationspraxis unverändert (Abs. 1).
Die Information der Öffentlichkeit hat bei den Gebrauchsgegenständen nach densel-
ben Prinzipien zu erfolgen wie bei den Lebensmitteln (Abs. 2).
Die Absätze 3–5 entsprechen dem geltenden Recht (Art. 24 Abs. 2–4 LMG) und wer-
den beibehalten.
703
Artikel 10 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 und 11 der Verordnung (EU) 2017/625.
749 / 931
6. Kapitel: Kontrolle
1. Abschnitt: Probenahmen, Analysen, Tests und Diagnosen
Art. 32
Probenahmen, Analysen, Tests und Diagnosen sind zentrale Elemente der amtlichen
Kontrolle. Die Verordnung (EU) 2017/625, welche Bestandteil von Anhang I des Pro-
tokolls zur Lebensmittelsicherheit ist und künftig in der Schweiz direkt angewendet
werden wird, regelt diese Bereiche ausschliesslich für Lebensmittel und Bedarfsge-
genstände (Abs. 1).
Für die übrigen Gebrauchsgegenstände im VE-LMG eigene Regelungen zu entwi-
ckeln, macht wenig Sinn. Es drängt sich vielmehr auf, an dieser Stelle auf die Best-
immungen des EU-Rechts für Lebensmittel und Bedarfsgegenstände zu verweisen
und diese für die übrigen Gebrauchsgegenstände als sinngemäss anwendbar zu erklä-
ren (Abs. 2). Auch im bisherigen Recht gelten diesbezüglich sowohl für Lebensmittel
wie auch für Gebrauchsgegenstände dieselben Grundsätze.
Absatz 3 entspricht dem bisherigen Artikel 25 Absatz 2 LMG.
2. Abschnitt: Pflichten der Unternehmerinnen und Unternehmer
Art. 33
Selbstkontrollpflicht
Die Verpflichtung zur Selbstkontrolle ist für das Gewährleisten der Beachtung der
lebensmittelrechtlichen Vorgaben von zentraler Bedeutung. Die amtliche Kontrolle
allein vermag dies nicht sicherzustellen. Die Verpflichtung zur Selbstkontrolle besteht
deshalb bereits im geltenden Recht.
Bezüglich der Anforderungen an die Selbstkontrolle verweist Absatz 1 neu auf Arti-
kel 17 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002.
Absatz 1 schliesst auch die Betriebe, die Fulfilment-Dienstleistungen anbieten, mit
ein. Im Lebensmittelrecht der EU (s. Art. 3 Ziff. 2 der Verordnung (EG)
Nr. 178/2002) sind die Begriffe der Lebensmittelunternehmerinnen und -unternehmer
sehr weit gefasst. Wer Lebensmittel herstellt, behandelt, handhabt, lagert, transpor-
tiert, in Verkehr bringt, ein-, durch- oder ausführt oder Fulfilment-Dienstleistungen
erbringt, gilt – unabhängig von seinem Organisationsgrad – lebensmittelrechtlich als
Lebensmittelunternehmerin oder -unternehmer. Sie oder er muss den Pflichten nach
den Artikeln 33–36 VE-LMG nachkommen.
Die Verpflichtung zur Selbstkontrolle ändert nichts an dem im Verwaltungsrecht gel-
tenden Untersuchungsgrundsatz. Danach haben die Verwaltungsbehörden und das
Gericht von Amtes wegen für die richtige und vollständige Abklärung des rechtser-
heblichen Sachverhalts zu sorgen (s. Art. 12 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember
750 / 931
1968
704
über das Verwaltungsverfahren [VwVG]). Insbesondere führt sie nicht zu ei-
ner Beweislastumkehr.
Zur Pflicht, den Sachverhalt zu ermitteln, gehört die Beweisführungslast, also die Ob-
liegenheit, den erforderlichen Beweis zu führen. Diese Last fällt grundsätzlich der
Behörde zu. Die Parteien unterliegen allerdings einer Mitwirkungspflicht (Art. 13 und
52 Abs. 1 VwVG).
Untersuchungsgrundsatz und Mitwirkungspflicht ändern hingegen nichts an den Re-
geln zur Beweislast. Danach trägt grundsätzlich diejenige Partei die Folgen der Be-
weislosigkeit eines Sachumstandes, die daraus Rechte ableitet (Art. 8 des Schweize-
rischen Zivilgesetzbuches vom 10.12.1907
705
). Will eine Vollzugsbehörde ein
Produkt beanstanden, das ihrer Auffassung nach zu Unrecht nicht deklariert wurde,
liegt die Beweislast hierfür letztlich bei ihr.
Im Rahmen der Selbstkontrolle ist auch auf potenzielle Risiken und die Wahrschein-
lichkeit von Verstössen gegen die Lebensmittelgesetzgebung aufgrund betrügerischer
oder irreführender Praktiken zu achten. Im EU-Recht ist dies in Artikel 9 Absatz 2 der
Verordnung (EU) 2017/625 geregelt, der verlangt, dass die zuständigen Behörden re-
gelmässig amtliche Kontrollen durchführen, um durch betrügerische oder irrefüh-
rende Praktiken vorsätzlich begangene Verstösse gegen die Vorschriften aufzude-
cken. Viele Lebensmittelbetriebe sind heute nach privatrechtlichen Standards
zertifiziert und der Verpflichtung, im Rahmen ihrer Selbstkontrolle auf die Wahr-
scheinlichkeit von Verstössen gegen die Lebensmittelgesetzgebung aufgrund betrü-
gerischer oder irreführender Praktiken zu achten, schon bisher nachgekommen. Die
Bewertung des Risikos der Anfälligkeit für Lebensmittelbetrug kann mittels der von
der
Global Food Safety Initiative
(GFSI) entwickelten
Vulnerability Analysis/Critical
Control Points
(VACCP) erfolgen. Die GFSI schlägt dazu die Durchführung einer
Schwachstellenbewertung vor, bei welcher Informationen an den entsprechenden
Stellen der Lieferkette gesammelt und ausgewertet werden. Damit sollen die wich-
tigsten Schwachstellen für Lebensmittelbetrug ermittelt und priorisiert werden, damit
anschliessend geeignete Kontrollmassnahmen zur Verringerung der Risiken ergriffen
werden können. Betriebe, die ihre Verantwortung im Rahmen der Selbstkontrolle
schon bisher nicht ausreichend wahrgenommen haben, müssen spätestens ab Inkraft-
treten der neuen Regelung nachbessern.
Der Geltungsbereich des VE-LMG erstreckt sich neu explizit auch auf Hosting-
Dienste sowie Schweizer Unternehmen, die im Ausland ausländische Lebensmittel in
den Verkehr bringen. Nicht alle diese Unternehmen müssen jedoch dieselben Pflich-
ten erfüllen wie Lebensmittelunternehmerinnen und -unternehmer, die ihre Produkte
in der Schweiz in den Verkehr bringen. Weder von Betreiberinnen von Online-Platt-
formen, die Verbraucherinnen und Verbrauchern den Abschluss von Fernabsatzver-
trägen ermöglichen, noch von reinen Hosting-Diensten kann beispielsweise erwartet
werden, dass sie für die Sicherheit der über ihren Dienst angebotenen Lebensmittel
einstehen und im Hinblick darauf ein eigenes Hygienekonzept erstellen. Ebenso we-
nig kann von Schweizer Unternehmen, die im Ausland eine Website eröffnen und
704
SR
172.021
705
SR
210
751 / 931
ausländische Lebensmittel ausschliesslich im Ausland in den Verkehr bringen, hin-
sichtlich der Selbstkontrollpflicht dasselbe gefordert werden wie von Unternehmen,
die Lebensmittel in der Schweiz in den Verkehr bringen. Denn nach Schweizer Recht
müssen Lebensmittel nicht den Schweizer Vorschriften entsprechen, wenn sie weder
von der Schweiz aus geliefert werden noch je in die Schweiz gelangen. Neu soll im
6. Kapitel «Kontrolle» deshalb zwischen den Pflichten der Lebensmittelunternehme-
rinnen und -unternehmer (2. Abschnitt, Art. 33–36 VE-LMG), denjenigen der Betrei-
berinnen von Hosting-Diensten einschliesslich Betreiberinnen von Online-Plattfor-
men (3. Abschnitt, Art. 37 VE-LMG) sowie denjenigen von Unternehmen, die
Lebensmittel im Ausland in Verkehr bringen (4. Abschnitt, Art. 38 VE-LMG), unter-
schieden werden.
Bei Bedarfsgegenständen richtet sich die Selbstkontrollpflicht nach Absatz 2, bei den
übrigen Gebrauchsgegenständen gelten sinngemäss dieselben Pflichten wie bei den
Lebensmitteln (Abs. 3).
Die Absätze 4–6 entsprechen Artikel 26 Absätze 2–4 LMG.
Art. 34
Unterstützungs-, Informations- und Auskunftspflicht
Schon nach bisherigem Recht muss, wer Lebensmittel oder Gebrauchsgegenstände
herstellt, behandelt, lagert, transportiert, in Verkehr bringt, ein-, durch- oder ausführt,
der zuständigen Vollzugsbehörde bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben unentgeltlich
behilflich sein, auf Verlangen Proben der angebotenen Produkte zur Verfügung stellen
und die erforderlichen Auskünfte erteilen (Art. 29 LMG). Bezüglich der Unterstüt-
zungs-, Informations- und Auskunftspflicht im Zusammenhang mit Lebensmitteln
und Bedarfsgegenständen soll neu Artikel 15 der (EU) Verordnung 2017/625, welche
Bestandteil von Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit ist, direkt ange-
wendet werden. Inhaltlich führt dies zu keinen Änderungen gegenüber heute (Abs. 1).
Für die übrigen Gebrauchsgegenstände soll Absatz 1 sinngemäss gelten (Abs. 2).
Absatz 3 hält spezifische Pflichten für Unternehmerinnen und Unternehmer fest, die
Lebensmittel oder Gebrauchsgegenstände mit Einsatz von Fernkommunikationstech-
niken in den Verkehr bringen. Solche Unternehmen gelten ebenfalls als Lebensmittel-
oder Gebrauchsgegenständebetriebe und unterliegen der Melde- beziehungsweise Be-
willigungspflicht nach Artikel 11 VE-LMG. Um der zuständigen Vollzugsbehörde
die Durchsetzung des Lebensmittelrechts zu ermöglichen, müssen sie wahre und voll-
ständige Angaben über ihre Identität (Name und Vorname bei natürlichen Personen,
Firma gemäss Eintrag im Handelsregister bei juristischen Personen) und ihre Kon-
taktadresse einschliesslich derjenigen der elektronischen Post machen. Dies entspricht
der Impressumspflicht nach Artikel 3 Buchstabe s des Bundesgesetzes vom 19. De-
zember 1986
706
gegen unlauteren Wettbewerb sowie Artikel 30 des nicht in das Pro-
tokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierten DSA.
706
SR
241
752 / 931
Art. 35
Sicherstellung des Gesundheitsschutzes
Im geltenden Recht sind die Sicherstellung des Gesundheitsschutzes sowie die Pflicht
zur Information der zutändigen kantonalen Vollzugsbehörde in den Artikeln 27 LMG
und 84 LGV geregelt. In diesen Bestimmungen wird Artikel 19 der Verordnung (EG)
Nr. 178/2002 umgesetzt. Neu soll das einschlägige EU-Recht, das Bestandteil von
Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit ist, in der Schweiz direkt ange-
wendet werden (Abs. 1).
Artikel 19 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 soll sinngemäss auch auf Gebrauchs-
gegenstände Anwendung finden (Abs. 2). Inhaltlich führt dies gegenüber dem gelten-
den Recht zu keinen Änderungen.
Absatz 3 entspricht Artikel 27 Absatz 4 des geltenden Rechts.
Art. 36
Rückverfolgbarkeit
Die Rückverfolgbarkeit spielt für die Gewährleistung der Sicherheit von Lebensmit-
teln und Gebrauchsgegenständen eine zentrale Rolle. Sie ist in allen Produktions-,
Verarbeitungs- und Vertriebsstufen sicherzustellen. Der geltende Artikel 28 LMG
entspricht Artikel 18 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002. Der direkte Verweis auf das
EU-Recht führt inhaltlich zu keinen Änderungen.
Bei den Bedarfsgegenständen gelangt bezüglich der Rückverfolgbarkeit Artikel 17
der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 zur Anwendung. Diese Bestimmung übernimmt
die Grundprinzipien der Rückverfolgbarkeit für Lebensmittel. Materiell kommt es
auch in diesem Bereich zu keinen inhaltlichen Änderungen gegenüber dem heute gel-
tenden Recht.
Wie das bereits heute geltende Recht unterstellt auch das neue Recht Kosmetika und
Spielzeug sinngemäss den Bestimmungen über die Rückverfolgbarkeit von Lebens-
mitteln (Abs. 2). Inhaltlich ändert sich nichts.
Absatz 3 entspricht Artikel 28 Absatz 3 des geltenden Rechts.
3. Abschnitt: Pflichten der Betreiberinnen von Hosting-Diensten sowie von Online-
Plattformen
Die in diesem Abschnitt aufgeführten Pflichten gelten ausschliesslich für Betreiberin-
nen von Hosting-Diensten und Online-Plattformen (s. die Erläuterungen zu Art. 33
VE-LMG).
Art. 37
Die Kontrolle des Online-Handels durch die zuständige Vollzugsbehörde setzt voraus,
dass diese über die hierfür erforderlichen Informationen verfügen. Absatz 1 legt als
Grundsatz fest, dass die Betreiberinnen von Hosting-Diensten, einschliesslich die On-
line-Plattform, der zuständigen Vollzugsbehörde auf Verlangen die für den Vollzug
der Lebensmittelgesetzgebung erforderlichen Informationen in Zusammenhang mit
Online-Angeboten zu Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen bekannt geben
753 / 931
müssen. Dazu gehören auch Angaben zur Identität und zur Kontaktadresse ein-
schliesslich der elektronischen Post von Anbieterinnen. Diese Bestimmung orientiert
sich an Artikel 30 des nicht in das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierten
DSA.
Um eine gute und direkte Zusammenarbeit zwischen den Behörden und den Betrei-
berinnen der Online-Plattform zu unterstützen, sollen diese auf Verlangen der zustän-
digen Vollzugsbehörde zusätzlich eine verantwortliche Person bekannt geben müssen
(Abs. 2 Bst. a). Diese soll die Ansprechperson der zuständigen Vollzugsbehörde sein.
Wurden Lebensmittel oder Gebrauchsgegenstände über ihre Plattform abgegeben,
müssen die Betreiberinnen von Online-Plattformen der zuständigen Vollzugsbehörde
ebenfalls zusätzlich zu den Pflichten nach Absatz 1 auf Verlangen die für den Vollzug
der Lebensmittelgesetzgebung erforderlichen Informationen zu den getätigten Trans-
aktionen und den Abnehmerinnen und Abnehmer bekannt geben (Abs. 2 Bst. b).
Absatz 3 gibt dem Bundesrat die Kompetenz, zu regeln, in welcher Form die Daten
bekannt zu geben sind (auf elektronischem Weg, in Papierform, usw.).
4. Abschnitt: Pflichten von Unternehmen, die Lebensmittel oder Gebrauchsgegen-
stände im Ausland in Verkehr bringen
Dieser Abschnitt enthält die Pflichten für Unternehmen, die Lebensmittel oder Ge-
brauchsgegenstände von der Schweiz aus im Ausland in Verkehr bringen, ohne dass
sie je in die Schweiz gelangen. Diese weichen von denjenigen der Betriebskategorien
im 2. und im 3. Abschnitt des 6. Kapitels ab (s. Art. 33 ff. VE-LMG).
Art. 38
Der internationale Handel mit Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen nimmt ste-
tig zu. Die Gewährleistung von deren Sicherheit und des Täuschungsschutzes setzt
voraus, dass sich die zuständigen Vollzugsbehörden gegenseitig koordinieren und un-
terstützen. Bringen Schweizer Unternehmen im Ausland nicht sichere oder täuschend
gekennzeichnete oder beworbene Lebensmittel oder Gebrauchsgegenstände in den
Verkehr und gelangen diese nie in die Schweiz, ist es den Schweizer Vollzugsbehör-
den nach geltendem Recht nicht möglich, beim Schweizer Unternehmen die zur Wie-
derherstellung des gesetzlichen Zustandes im betreffenden Land erforderlichen Aus-
künfte einzuholen. Die Kompetenzen der Schweizer Vollzugsbehörden beschränken
sich in erster Linie auf das Inverkehrbringen von Lebensmitteln und Gebrauchsgegen-
ständen in der Schweiz. Die Ausfuhr von Lebensmitteln richtet sich nach Artikel 27
Absatz 1, diejenige von Gebrauchsgegenständen nach Artikel 27 Absätze 2 und 3 VE-
LMG. Auch die Einhaltung dieser Bestimmungen wird durch die Schweizer Vollzugs-
behörden kontrolliert.
Neu soll ein Schweizer Unternehmen, das im Ausland Lebensmittel oder Gebrauchs-
gegenstände in Verkehr bringt, indem es die Produkte aus dem Ausland direkt an die
Verbraucherinnen und Verbraucher im Ausland versendet, gegenüber der zuständigen
Vollzugsbehörde auskunftspflichtig sein. Sowohl im Fall, dass sich die ausländische
Behörde an den Kanton wendet, wie auch im Fall, dass sie ans BLV gelangt, soll sich
754 / 931
die Auskunft auf die durch das Schweizer Lebensmittelrecht verfolgten Schutzziele
nach Artikel 1 LMG beschränken.
Die Selbstkontrollpflichten nach Artikel 33 ff. VE-LMG gelten für solche Unterneh-
men nicht.
5. Abschnitt: Amtliche Kontrolle
Art. 39
Kontrolle von Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen
Artikel 39 VE-LMG verweist für die Durchführung der amtlichen Kontrolle bei Le-
bensmitteln und Bedarfsgegenständen auf die Verordnung (EU) 2017/625. Diese ist
in Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit aufgeführt und wird in der
Schweiz künftig direkt angewendet werden. Die Verordnung gibt vor, wie die Voll-
zugsbehörden bei der Kontrolle von Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen vorzu-
gehen haben und über welche Rechte sie hierzu verfügen.
Zur amtlichen Kontrolle von Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen gehört auch das
Bekämpfen betrügerischer oder irreführender Praktiken in der Lebensmittelkette (s.
die Art. 9 Abs. 2, 65 Abs. 4, 97 Abs. 2, 102 Abs. 4 sowie 139 Abs. 2 der Verordnung
(EU) 2017/625). Das Aufdecken betrügerischer oder irreführender Praktiken gehört
zwar nicht zu den Zielen der Lebensmittelgesetzgebung, sind diese in bestimmten Be-
reichen aber verbreitet, kann sich dies auf die Umsetzung der Ziele nach Artikel 1
auswirken (Lebensmittelsicherheit, Täuschungsschutz). So ist beispielsweise denk-
bar, dass bei Thunfisch zum Ändern der Farbe zwecks Vortäuschung eines frischen
Fisches nicht zugelassene Zusatzstoffe zugesetzt werden, die bei den Verbraucherin-
nen und Verbrauchern zu einer allergischen Reaktion führen können. Zu erwähnen ist
in diesem Zusammenhang ebenfalls der spanische Olivenölskandal, bei dem anfangs
der 1980er Jahre gepanschtes Rapsöl für den Industriegebrauch als Olivenöl verkauft
wurde, was zu zahlreichen Todesfällen geführt hat.
Art. 40
Kontrolle von Gebrauchsgegenständen
Absatz 1 orientiert sich am bisherigen Artikel 30 Absatz 1 LMG.
Absatz 2 entspricht dem bisherigen Artikel 30 Absatz 2 LMG, regelt als neue Auf-
gabe unter Buchstabe b bei den übrigen Gebrauchsgegenständen jedoch, dass die zu-
ständige Vollzugsbehörde bei ihren Kontrollen wie bei den Lebensmitteln und Be-
darfsgegenständen potenzielle Risiken und die Wahrscheinlichkeit von Verstössen
gegen die Lebensmittelgesetzgebung aufgrund betrügerischer oder irreführender
Praktiken einbeziehen müssen (s. dazu die Erläuterungen zu den Art. 33 und 39).
Die Absätze 3 und 4 entsprechen dem bisherigen Artikel 30 Absätze 3 und 4 LMG.
Art. 41
Zuständigkeiten des Bundesrates bei Kontrollen von Lebensmitteln
und Gebrauchsgegenständen
Die Buchstaben a und b entsprechen den bisherigen Buchstaben a und b von Artikel
30 Absatz 5 LMG.
755 / 931
Buchstabe c setzt die Empfehlung der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK) um,
Ziele für die Produktkontrollen festzulegen. Namentlich soll der Bundesrat die von
den Vollzugsbehörden zu kontrollierenden Produkte oder Produktekategorien festle-
gen und Vorgaben zur Anzahl Kontrollen und zum Zeitraum machen können, inner-
halb dessen die Kontrollen stattzufinden haben. Dass der Bundesrat über diese Kom-
petenz verfügt, ist auch deshalb wichtig, weil Artikel 58 VE-LMG bestimmt, dass die
Bundesbehörden mit ausländischen und internationalen Fachstellen und Institutionen
zusammenarbeiten und die Aufgaben wahrnehmen, die sich aus den völkerrechtlichen
Verträgen ergeben. Mit der neuen Kompetenz soll sichergestellt werden, dass sich die
Schweiz an koordinierten Kontrollprogrammen (z. B. nationales Fremdstoffuntersu-
chungsprogramm NFUP) aufgrund internationaler Abkommen beteiligen kann.
Der erfolgreiche Kampf gegen Lebensmittelkriminalität setzt voraus, dass gegen Fälle
mit Verdacht auf systematische Verstösse gegen die Lebensmittelgesetzgebung auf-
grund betrügerischer oder irreführender Praktiken koordiniert und effizient vorgegan-
gen werden kann. Dies bedingt, dass der Bundesrat die kantonalen Vollzugsbehörden
verpflichten kann, dem BLV solche Fälle zu melden (Bst. d). Gestützt auf den neuen
Artikel 55 Absatz 3 Buchstabe c VE-LMG hat das BLV als zuständige Bundesbe-
hörde dann die Möglichkeit, die kantonalen Vollzugsbehörden anzuweisen, konkrete
Vollzugsmassnahmen zu treffen.
Art. 42
Information von Betreiberinnen von Online-Plattformen
Um rechtswidrige Angebote von Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen auf On-
line-Plattformen nach Artikel 8 VE-LMG sperren zu lassen, sollen die zuständigen
Vollzugsbehörden den Betreiberinnen solcher Plattform die erforderlichen Informati-
onen zukommen lassen können, damit diese beispielsweise im Falle einer akuten Ge-
sundheitsgefährdung das entsprechende Angebot entfernen und damit verhindern,
dass das betroffene Produkt zu den Verbraucherinnen und Verbrauchern gelangt. Vor
der Übermittlung der Informationen an die Betreiberinnen der Plattform ist der Per-
son, die das Produkt in Verkehr bringt, nach Möglichkeit das rechtliche Gehör zu ge-
währen.
Art. 43
Schlachttier- und Fleischuntersuchung
Die Schlachttier- und die Fleischuntersuchung wird in den Artikeln 17 und 18 der
Verordnung (EU) 2017/625
einschliesslich der auf der Grundlage dieser Verordnung
erlassenen Rechtsakte, die diese Bestimmungen ausführen und Bestandteil von An-
hang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit sind, ausführlich geregelt (Abs. 1).
Die entsprechenden Bestimmungen des Schweizer Rechts können deshalb aufgeho-
ben werden. Weil das Schweizer Recht in diesem Bereich auf Grund von Anhang 11
des Landwirtschaftsabkommens heute bereits demjenigen der EU entspricht, ergeben
sich durch die künftige direkte Anwendung des EU-Rechts keine inhaltlichen Ände-
rungen.
Beibehalten werden muss dagegen der bisherige Artikel 31 Absatz 3 Buchstabe b
LMG, weil dieser Bereich durch die Verordnung (EU) 2017/625 nicht abgedeckt wird
(Abs. 2).
756 / 931
Art. 44
Kontrollergebnis
Die Aufzeichnung des Kontrollergebnisses der amtlichen Kontrolle von Lebensmit-
teln und Bedarfsgegenständen sowie die Kommunikation des Kontrollergebnisses sol-
len sich künftig nach Artikel 13 der Verordnung (EU) 2017/625 richten (Abs. 1).
Nach Absatz 1 dieser EU-Bestimmung müssen die Aufzeichnungen schriftlich sein,
können aber in Papierform oder auf elektronischem Weg erfolgen.
Nach Absatz 2 gelten die Anforderungen an die Aufzeichnung der Kontrolle sowie
die Mitteilung des Kontrollergebnisses sinngemäss auch für die übrigen Gebrauchs-
gegenstände.
Die Ausnahmeregelung von Absatz 3 bezieht sich auf Absatz 1. Sie entspricht dem
geltenden Recht (s. den zweiten Satz des bisherigen Art. 32 Abs. 1 LMG).
Absatz 4 entspricht dem bisherigen Artikel 32 Absatz 2 LMG.
Art. 45
Beanstandung
Diese Bestimmung entspricht Artikel 33 LMG.
6. Abschnitt: Massnahmen
Art. 46
Beanstandete Produkte
Wie bereits im geltenden Recht wird auch künftig bei den Massnahmen unterschie-
den, ob sie Produkte betreffen oder ob es sich nicht um produktebezogene Massnah-
men wie die Beanstandung von Herstellungsverfahren, Räumen, Produktionsanlagen
usw. handelt. Die produktebezogenen Beanstandungen werden in Artikel 46 geregelt,
die nicht auf Produkte bezogenen in Artikel 47. Massnahmen im Zusammenhang mit
dem Anbieten von Produkten über das Internet unter Missachtung der lebensmittel-
rechtlichen Vorgaben fallen unter Artikel 48.
Die Verordnung (EU) 2017/625 deckt Lebensmittel und Bedarfsgegenstände ab. Ab-
satz 1 verweist für die Durchsetzung der lebensmittelrechtlichen Anforderungen auf
die Artikel 66, 137 und 138 der Verordnung (EU) 2017/625. Von zentraler Bedeutung
ist Artikel 138 Absatz 1 der
Verordnung (EU) 2017/625. Danach ergreifen die zustän-
digen Vollzugsbehörden die erforderlichen Massnahmen, um Ursprung und Umfang
des Verstosses sowie die Verantwortung der betreffenden Unternehmerinnen oder
Unternehmer zu ermitteln sowie geeignete Massnahmen, um zu gewährleisten, dass
diese den Verstoss beenden und dass sie oder er erneute Verstösse dieser Art verhin-
dern.
Beim Anordnen von Massnahmen von zentraler Bedeutung ist das Beachten des Ver-
hältnismässigkeitsgrundsatzes. Artikel 138 Absatz 1 der Verordnung (EU) 2017/625
nennt darüber hinaus auch noch die Art des Verstosses und das bisherige Verhalten
der betreffenden Unternehmerin oder des betreffenden Unternehmers in Bezug auf die
Einhaltung der Vorschriften als relevante Kriterien.
Absatz 1 gilt sinngemäss auch für alle übrigen Gebrauchsgegenstände (Abs. 2).
757 / 931
Die Aufzählung der Massnahmen in Artikel 138 Absatz 2 der Verordnung (EU)
2017/625 zur Durchsetzung der lebensmittelrechtlichen Anforderungen ist nicht ab-
schliessend. Der Katalog der möglichen Massnahmen nach Artikel 34 des geltenden
LMG wird deshalb beibehalten (Abs. 3–6). Dies ermöglicht, abzuschätzen, welche
konkreten Massnahmen mit den oben dargelegten Grundprinzipien vereinbar sind.
Art. 47
Nicht auf Produkte bezogene Beanstandungen
Diese Bestimmung wurde unverändert aus Artikel 35 LMG übernommen. Beim An-
ordnen von Massnahmen gelten dieselben Grundprinzipien, wie sie in Artikel 46 oben
erläutert werden. Auch die in Absatz 1 von Artikel 47 VE-LMG aufgeführte Aufzäh-
lung möglicher Massnahmen ist nicht abschliessend.
Art. 48
Im Internet angebotene Produkte
Artikel 48 VE-LMG regelt neu die Massnahmen, welche die zuständige Vollzugsbe-
hörde ergreifen kann, wenn Lebensmittel oder Gebrauchsgegenstände unter Missach-
tung der lebensmittelrechtlichen Anforderungen im Internet angeboten werden. Nach
Absatz 1 Buchstabe a soll die zuständige Vollzugsbehörde in Anlehnung an die Arti-
kel 23 der Marktüberwachungsverordnung sowie 14 und 16 des DSA anordnen kön-
nen, dass eine Unternehmerin oder ein Unternehmer, eine Betreiberin eines Hosting-
Diensts oder einer Online-Plattform den Zugang zu einem solchen Online-Angebot
sperrt oder den beanstandeten Inhalt entfernt (sog.
notice and take down
-Prinzip ) und
dass die Betreiberin einer Online-Plattform verhindert, dass ein solches Angebot nach
einer Sperrung mit Hilfe ihres Dienstes erneut zugänglich gemacht wird (Bst. b).
Zwecks Gewährleistung des rechtlichen Gehörs muss die zuständige Vollzugsbehörde
versuchen, die Anbieterin oder den Anbieter des Produktes vorgängig zu kontaktieren.
Erst wenn dies nicht den gewünschten Erfolg hat oder die Anbieterin oder der Anbie-
ter des Produktes nicht in der Schweiz niedergelassen ist, kann sie die Sperrung des
Angebots veranlassen. Verstösse gegen diese Anordnungen können nach Artikel 292
des Strafgesetzbuches (StGB)
707
– Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen – sank-
tioniert werden.
Die Vollzugsbehörden sollen weiter die Kompetenz erhalten, den Zugang zu einem
gegen das Lebensmittelrecht verstossenden Online-Angebot zu unterbinden, indem
der dafür verwendete Domain-Name blockiert oder widerrufen wird (Bst. c). Anord-
nungen zur Blockierung oder den Widerruf des Domain-Namens haben sich gegen
die Halterin oder den Halter des Domain-Namens zu richten. Bevor Switch die Blo-
ckierung oder den Widerruf vornehmen kann, ist der Halterin oder dem Halter des
Domain-Namens durch die zuständige Vollzugsbehörde das rechtliche Gehör zu ge-
währen. Dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz entsprechend kann die Vollzugsbe-
hörde die Blockierung oder den Widerruf des Domain-Namens erst anordnen, wenn
die Halterin oder der Halter des Domain-Namens beziehungsweise die Betreiberin
oder der Betreiber eines Webshops der Aufforderung der Vollzugsbehörde zur Wie-
derherstellung des gesetzlichen Zustandes nicht nachgekommen ist.
707
SR
311.0
758 / 931
Die Massnahmen nach Absatz 1 können auch angeordnet werden, wenn die zustän-
dige Vollzugsbehörde des Destinationslandes der Produkte darum ersucht, weil diese
nicht dessen lebensmittelrechtlichen Anforderungen entsprechen (Abs. 2). Dies setzt
jedoch voraus, dass die betreffenden Lebensmittel oder Gebrauchsgegenstände aus
der Schweiz ausgeführt werden (s. Art. 27 VE-LMG). Auf Lebensmittel oder Ge-
brauchsgegenstände, die nie in die Schweiz gelangen, findet diese Bestimmung keine
Anwendung. Für solche Produkte gilt jedoch Artikel 38, wenn ein Schweizer Unter-
nehmen sie im Ausland in den Verkehr bringt.
Art. 49
Vorsorgliche Massnahmen
Vorsorgliche Massnahmen sind ein wichtiges Instrument, um den Schutz der Ver-
braucherinnen und Verbraucher jederzeit zu gewährleisten. Artikel 48 dient einerseits
der Umsetzung von Artikel 138 der Verordnung (EU) 2017/625 und anderseits, be-
treffend das Anordnen von Massnahmen bei begründetem Verdacht, der Konkretisie-
rung von Artikel 137 Absatz 2 dieser Verordnung. Er deckt sowohl Lebensmittel wie
auch Gebrauchsgegenstände ab. Inhaltlich ergeben sich gegenüber dem geltenden
Recht keine Änderungen (s. Art. 36 LMG).
Art. 50
Strafanzeige
Diese Bestimmung entspricht dem geltenden Recht (Art. 37 LMG).
7. Kapitel: Vollzug
1. Abschnitt: Bund
Art. 51
Ein-, Durch- und Ausfuhr
Diese Bestimmung ist identisch mit dem bisherigen Artikel 38 LMG. An der Zustän-
digkeitsordnung und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen ändert sich
nichts.
Art. 52
Einfuhrbeschränkungen
Die Kompetenz der zuständigen Vollzugsbehörde des Bundes zum Erlass von Ein-
fuhrbeschränkungen bleibt bestehen. Werden die betreffenden Produkte vom Gel-
tungsbereich der in Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit aufgeführten
Erlasse erfasst, ist jedoch dafür zu sorgen, dass solche Einfuhrbeschränkungen mit
diesen Erlassen vereinbar sind.
Art. 53
Forschung
Diese Bestimmung ist identisch mit Artikel 40 LMG. In diesem Bereich kommt es
gegenüber heute zu keinen Änderungen.
759 / 931
Art. 54
Vollzug in der Armee
Das LMG bezweckt unter anderem, die Gesundheit der Verbraucherinnen und Ver-
braucher vor Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen zu schützen, die nicht sicher
sind sowie den hygienischen Umgang mit Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen
sicherzustellen (Art. 1 Bst. a und b VE-LMG).
Angesichts der Tatsache, dass die Armee Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände in
beträchtlichen Mengen selbst herstellt, lagert oder verarbeitet und an die Armeeange-
hörigen abgibt, muss sich der Anwendungsbereich des LMG auch auf die Armee er-
strecken. Die Kontrolle der Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände der Armee soll
derjenigen im zivilen Bereich entsprechen
708
. Diese Regelung erfolgt unabhängig
vom Protokoll zur Lebensmittelsicherheit.
Nach Artikel 118 Absatz 2 Buchstabe a der Bundesverfassung (BV)
709
hat der Bund
eine umfassende Gesetzgebungskompetenz im Bereich der Lebensmittel und Ge-
brauchsgegenstände. Die Gesetzgebungskompetenz schliesst auch die Befugnis mit
ein, über die Ordnung des Vollzugs zu entscheiden, sofern sich die BV darüber aus-
schweigt. Der Vollzug der Bundesgesetzgebung obliegt nach der allgemeinen Voll-
zugsregelung von Artikel 46 BV zwar grundsätzlich den Kantonen. Dies verbietet
dem Bund jedoch nicht, für den Armeebereich Ausnahmen vorzusehen. So hat der
Bund gemäss Artikel 60 Absatz 1 BV im Bereich des Militärwesens eine umfassende
und ausschliessliche Gesetzgebungskompetenz, die es dem Gesetzgeber auch erlaubt,
für den Bereich der Armee die von der Verfassung vorgesehene allgemeine Vollzugs-
regelung von Artikel 46 BV anzupassen. Dabei ist der Grundsatz gemäss Artikel 43
a
Absatz 1 BV zu berücksichtigen, wonach der Bund nur diejenigen Aufgaben überneh-
men soll, welche die Kraft der Kantone übersteigen oder einer einheitlichen Regelung
durch den Bund bedürfen.
Bereits heute stellt Artikel 41 LMG eine gesetzliche Durchbrechung der ordentlichen,
das heisst der von der Verfassung vorgesehenen kantonalen Vollzugshoheit nach Ar-
tikel 46 BV dar, soweit der Vollzug des LMG dem Bund zugewiesen wird.
Absatz 1 regelt den Grundsatz, wonach für den Vollzug in der Armee die zuständige
kantonale Vollzugsbehörde herangezogen wird. Der Veterinärdienst der Armee ist für
die Selbstkontrolle in der Armee besorgt. Der Vollzug durch die kantonale Vollzugs-
behörde erfolgt insbesondere auch in Einrichtungen, die sich zwar in Anlagen der Ar-
mee befinden, jedoch von Zivilpersonen betrieben werden.
Absatz 2 definiert sodann die Bereiche, in denen die Armee selbst für den Vollzug
sorgt und dazu die Kontrollen durchführt. Mit dieser neuen Regelung wird das gel-
tende Recht, das immer wieder zu Auslegungsproblemen geführt hat, präzisiert.
Zu den Ausnahmen gemäss Absatz 2 gehört zunächst die Kontrolle der Wasserver-
sorgungsanlagen der Armee. Diese erfolgt in jedem Fall durch die Armee selbst. Die
Armee verfügt über die Fachkenntnisse, um die Kontrolle der Wasserversorgungsan-
lagen regelmässig und risikobasiert fachgerecht durchzuführen. Dadurch ist gewähr-
708
BBl
1989
I 946
709
SR
101
760 / 931
leistet, dass das Wasser und die Wasserversorgungsanlagen den lebensmittelrechtli-
chen Anforderungen entsprechen. Wasserversorgungsanlagen der Armee können sich
in militärischen Anlagen mit beschränktem Zutritt im Sinne der Verordnung vom
2. Mai 1990
710
über den Schutz militärischer Anlagen befinden oder zu solchen füh-
ren. Zu diesen Anlagen haben nur Personen Zutritt, welche die entsprechende Sicher-
heitsprüfung bestanden haben. Da eine solche Sicherheitsprüfung aufwendig ist und
um den Zugang zu diesen Anlagen zu beschränken, ist es gerechtfertigt, dass die Ar-
mee in diesen wie auch in allen anderen Wasserversorgungsanlagen der Armee selber
für die Kontrolle zuständig ist.
Die zweite Ausnahme betrifft alle militärischen Anlagen mit beschränktem Zutritt.
Bereits in der bestehenden Regelung in der Verordnung vom 8. Dezember 1997
711
über die Lebensmittelkontrolle in der Armee (VLKA) war die Armee in diesen Anla-
gen mit beschränktem Zutritt selbst für die Kontrolle zuständig (s. Art. 6 VLKA). Die
meisten Armeeküchen werden in oberirdischen Kasernen und Truppenunterkünften
oder in Anlagen ohne beschränkten Zutritt betrieben, weshalb diese Ausnahme nicht
häufig zur Anwendung kommen dürfte.
Die bisherige Ausnahme hinsichtlich Küchen in nicht ortsfesten Anlagen ist nicht
mehr erforderlich. Bei der Verpflegung im Feld werden heute üblicherweise in orts-
festen Küchen zubereitete Speisen ins Feld ausgeliefert und im Feld erfolgt nur die
Ausgabe der Speisen. Seltener werden die Speisen im Feld zubereitet (z. B. in einem
Mobilen Verpflegungssystem MVS). In beiden Fällen ist die Situation vergleichbar
mit Cateringunternehmen im zivilen Bereich. Auch dort werden Mahlzeiten häufig
vorgekocht und anschliessend ausgeliefert. Kocht ein Cateringunternehmen nicht an
seinem Geschäftsstandort, sondern vor Ort (bspw. an einer Hochzeitsfeier), kann die
Kontrolle auch an jenem temporären Standort erfolgen, sofern der Standort bekannt
ist. Es bedarf daher keiner Ausnahme für diese Konstellation, da sie keine armeespe-
zifische Besonderheit ist, sondern auch im zivilen Leben vorkommt.
Absatz 3 gibt dem Bundesrat die Kompetenz, die Anforderungen an die angemessene
Ausbildung der Kontrollorgane, die Mindestanforderungen an die Kontrollstelle der
Armee sowie das Verfahren zu regeln. Für die Organe, die in der Armee die Lebens-
mittelkontrolle durchführen, sollen künftig dieselben Anforderungen an die Ausbil-
dung gelten wie für die Vollzugsorgane im zivilen Bereich. Es sollen die rechtlichen
Voraussetzungen geschaffen werden, damit Angestellte und Angehörige der Armee,
die amtliche Vollzugsaufgaben wahrnehmen, eine den jeweiligen Aufgaben angemes-
sene Ausbildung absolvieren und ein Fähigkeitszeugnis erlangen können. Die LMVV
soll entsprechend angepasst werden. Ausserdem soll der Bundesrat die Mindestanfor-
derungen an die Kontrollstelle innerhalb der Armee regeln. Die VLKA soll entspre-
chend angepasst werden.
710
SR
510.518.1
711
SR
817.45
761 / 931
Art. 55
Aufsicht und Koordination
Die Absätze 1 und 2 dieser Bestimmung entsprechen dem geltenden Recht (Art. 42
Abs. 1 und 2 LMG).
Bei Absatz 3 ist neu, dass der für die Aufsicht über den kantonalen Vollzug zuständi-
gen Bundesbehörde die in den Buchstaben a–c aufgeführten Instrumente nicht mehr
nur zum Zwecke der Koordination des Vollzugs zur Verfügung stehen, sondern auch
unabhängig davon. Dies ist deshalb wichtig, weil die internationalen Verflechtungen
der Schweiz diesbezüglich mehr Flexibilität erfordern. So beschränken sich beispiels-
weise betrügerische oder irreführende Praktiken heute vielfach nicht nur auf einen
Kanton, sondern erstrecken sich über die ganze Schweiz oder haben gar einen inter-
nationalen Hintergrund. Damit der Bund seinen Auftrag zur Lenkung des Vollzugs
wahrnehmen kann, soll er in solchen Fällen die Kantone anweisen können, bestimmte
Massnahmen zu treffen. Dies ermöglicht ihm unter anderem, Vorermittlungen beim
Verdacht auf betrügerische oder irreführende Praktiken zu koordinieren und gezielt
konkrete Massnahmen anzuordnen. Flexibilität braucht es ebenfalls, wenn der Bund
an internationalen Programmen teilnehmen will und dies voraussetzt, dass gewisse
Produkte gezielt beprobt und untersucht werden.
Die Absätze 4 und 5 entsprechen dem geltenden Recht (Art. 42 Abs. 4 und 5 LMG).
Art. 56
Nationale Referenzlaboratorien
Diese Bestimmung lehnt sich an den bestehenden Artikel 43 LMG an, berücksichtigt
aber neu die direkte Anwendung der Artikel 92 ff. der Verordnung (EU) 2017/625
für
Lebensmittel und Bedarfsgegenstände. Der Bund erhält den Auftrag, nationale Refe-
renzlaboratorien zu betreiben. Ziel dieser Laboratorien soll die Unterstützung der
Vollzugsbehörden zur Verhütung, Aufdeckung und Verfolgung von Verstössen gegen
die Lebensmittelgesetzgebung sein (Abs. 1). Zudem wird dadurch Artikel 100 Ab-
satz 1 der Verordnung (EU) 2017/625 umgesetzt, der verlangt, dass die EU-
Mitgliedstaaten – und mit Inkrafttreten des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit auch
die Schweiz – für jedes gemäss Artikel 93 Absatz 1 dieser Verordnung benannte Re-
ferenzlaboratorium der EU ein oder mehrere nationale Referenzlaboratorien benen-
nen.
Absatz 2 entspricht dem bisherigen Artikel 43 Absatz 2 LMG. Auf den Verweis auf
das öffentliche Beschaffungsrecht wird verzichtet, weil dessen Anwendung einer
Selbstverständlichkeit gleichkommt, die nicht explizit erwähnt werden muss.
Weil sich diese Bestimmung sowohl auf Lebensmittel wie auch auf alle Gebrauchs-
gegenstände bezieht, muss der Bundesrat die Kompetenz haben, die Zuständigkeits-
bereiche dieser Laboratorien zu regeln, die Anforderungen an diese sowie deren Auf-
gaben festzulegen. Bei Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen wird diese
Regelungskompetenz durch die Vorgaben der Artikel 100 und 101 der Verordnung
(EU) 2017/625 eingeschränkt (Abs. 3).
Bei den übrigen Gebrauchsgegenständen werden die grundlegenden Anforderungen
in Absatz 4 unter den Buchstaben a–c aufgelistet. Sie entsprechen denjenigen des bis-
herigen Rechts (s. Art. 43 Abs. 4 LMG).
762 / 931
Art. 57
Ausführungsbestimmungen des Bundesrates
Die Absätze 1 und 2 dieser Bestimmung entsprechen dem bisherigen Recht (s. Art. 44
Abs. 1 und 2 LMG).
Sowohl der Bundesrat wie auch das Parlament haben im Rahmen der im Jahre 2017
in Kraft getretenen Totalrevision des Lebensmittelrechts gefordert, dass das Schwei-
zer Recht an dasjenige der EU angeglichen werden soll. Damit sollte das Ziel verfolgt
werden, in der Schweiz dasselbe Schutzniveau zu etablieren wie unsere Nachbarstaa-
ten. Zudem sollten Handelshemmnisse im Warenverkehr mit der EU verhindert be-
ziehungsweise abgebaut werden. Weil ein grosser Teil der EU-Rechtsakte bereits 20
Tage nach ihrer Verabschiedung in Kraft tritt, ist deren zeitgleiche Anwendung in der
Schweiz im geltenden Recht kaum oder nicht realisierbar, wenn die entsprechenden
Rechtsetzungsvorlagen den ordentlichen Rechtsetzungsprozess durchlaufen müssen.
Wie im Heilmittelrecht (Art. 82 Abs. 3 des Heilmittelgesetzes
712
) soll der Bundesrat
deshalb künftig in den nicht vom Protokoll zur Lebensmittelsicherheit abgedeckten
Bereichen, welche die Schweiz eigenständig regeln kann (z. B. bei Lebensmitteln wie
Trinkwasser, Kaffee oder Schokolade oder bei den kosmetischen Mitteln), die Kom-
petenz erhalten, im Rahmen des autonomen Nachvollzugs das relevante Recht der EU
auch für die Schweiz als anwendbar zu erklären (sog. dynamischer Verweis auf das
EU-Recht). In den vom Protokoll zur Lebensmittelsicherheit abgedeckten Bereichen
gilt die Kompetenz des Bundesrates nicht. Hier besteht kein Bedarf, im Schweizer
Recht zusätzlich dynamische Verweise auf EU-Rechtsakte vorzusehen.
Art. 58
Internationale Zusammenarbeit
Diese Bestimmung entspricht Artikel 45 LMG. Sie wird inhaltlich unverändert über-
nommen.
Art. 59
Grenzüberschreitende Prüfungen
Auch diese Bestimmung wird aus dem bisherigen Recht übernommen (Art. 46 LMG).
Es ergeben sich keine Änderungen.
2. Abschnitt: Kantone
Art. 60
Vollzug und Kontrolle
Der Wortlaut dieser Bestimmung ist identisch mit Artikel 47 des geltenden Rechts. Es
kommt zu keinen Änderungen.
Art. 61
Laboratorien
Der Wortlaut dieser Bestimmung ist identisch mit Artikel 48 des geltenden Rechts. Es
kommt zu keinen Änderungen.
712
SR
812.21
763 / 931
Art. 62
Vollzugsorgane
Diese Bestimmung orientiert sich am geltenden Recht (Art. 49 LMG). Neu ist, dass
in Absatz 1 Buchstabe c Ziffer 4 künftig auch amtliche Fachexpertinnen und -exper-
ten als Vollzugsorgane der Lebensmittelgesetzgebung aufgeführt werden. Ihre Auf-
gaben und Zuständigkeiten werden heute in der Verordnung vom 16. November
2011
713
über die Aus-, Weiter- und Fortbildung der Personen im öffentlichen Veteri-
närwesen geregelt. Im LMG wurden sie bisher nicht explizit aufgeführt, obwohl sie
ebenfalls zur Kontrolle der Lebensmittelkette beitragen. Dies wird nun nachgeholt.
Die bisher in Buchstabe c Ziffer 4 erwähnten amtlichen Fachassistentinnen und Fach-
assistenten werden neu unter Buchstabe c Ziffer 5 aufgeführt.
Neu ist dagegen Absatz 2: Die Technologisierung der Herstellung von Lebensmitteln
und Gebrauchsgegenständen nimmt stetig zu. Sie zu überschauen erfordert ein immer
grösseres Fachwissen. Nicht alle kantonalen Vollzugsbehörden verfügen darüber.
Auch zum Aufdecken betrügerischer oder irreführender Praktiken braucht es Fach-
wissen. So kann es beispielsweise erforderlich sein, dass die Vollzugsorgane der Le-
bensmittelgesetzgebung Fachpersonen beiziehen können, die den Warenfluss und
auch den Geldfluss in einem Betrieb überprüfen können. Das LMG sieht diese Kom-
petenz bisher nicht vor.
Es macht deshalb Sinn, dass sich die Kantone bei ihren Kontrollen gegenseitig unter-
stützen. Es soll möglich werden, dass die Expertinnen und Experten des einen Kan-
tons auch von einem anderen Kanton, der nicht über Personen mit dem betreffenden
Fachwissen verfügt, beigezogen werden können. Diese Expertinnen und Experten sol-
len über dieselben Kompetenzen verfügen, wie die übrigen Lebensmittelvollzugsor-
gane, das heisst insbesondere über die Kompetenzen nach Artikel 40 Absätze 3 und
4.
Beigezogen werden können sollen sämtliche Fachpersonen, die über das entspre-
chende Fachwissen verfügen. Im Vordergrund stehen Fachpersonen von Bund, Kan-
tonen und nationalen Referenzlaboratorien nach Artikel 56, aber auch solche aus der
Privatwirtschaft.
Absatz 2 beinhaltet nicht die Kompetenz der Vollzugsbehörden, Expertinnen oder Ex-
perten zu berufen. Das Mitwirken dieser Personen erfolgt freiwillig und nach Abspra-
che.
Absatz 3 entspricht dem bisherigen Artikel 49 Absatz 2 LMG und bleibt unverändert.
Art. 63
Ausführungsbestimmungen der Kantone
Diese Bestimmung entspricht Artikel 50 des geltenden Rechts und bleibt unverändert.
Art. 64
Koordination, Leitung und Zusammenarbeit mit den
Bundesbehörden
Artikel 64 entspricht inhaltlich Artikel 51 LMG.
713
SR
916.402
764 / 931
3. Abschnitt: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Vollzugsorgane
Art. 65
Anforderungen an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
Vollzugsorgane
Der erste und der zweite Absatz dieser Bestimmung entsprechen den Absätzen 1 und
2 von Artikel 52 LMG. Sie werden unverändert in den VE-LMG übernommen.
Absatz 3 entspricht inhaltlich Artikel 53 Absatz 5 LMG. Dieser Absatz bezieht sich
nicht nur auf die Ausbildung, sondern auch auf die für die Zulassung zur Ausbildung
erforderlichen Ausbildungs- und Prüfungsnachweise.
Der Entscheid darüber, ob die Voraussetzungen für die Zulassung zur formalen Bil-
dung im Einzelfall erfüllt sind, soll wie bisher im Lebensmittelbereich vom BLV ge-
troffen werden. Zu berücksichtigen sind sämtliche Ausbildungen und beruflichen
Qualifikationen, die für den Einstieg in die formale Bildung notwendig sind. Dazu
gehören im betreffenden Bereich erworbene Diplome, offizielle Bescheinigungen so-
wie die Berufserfahrung.
Art. 66
Formale Bildung und Weiterbildung
Absatz 1 dieser Bestimmung orientiert sich an Artikel 53 LMG. Neu wird der Begriff
«formale Bildung» eingeführt. Dadurch erfolgt eine Angleichung der Terminologie
an diejenige, die im Bundesgesetz vom 20. Juni 2014
714
über die Weiterbildung (We-
BiG) verwendet wird. Nach Artikel 3 Buchstabe a WeBiG ist unter «formaler Bil-
dung» eine staatlich geregelte Bildung zu verstehen, die zum Erwerb eines Diploms
führt, das die Voraussetzung für die Ausübung einer staatlich geregelten beruflichen
Tätigkeit bildet. Die formale Bildung der Vollzugsorgane soll auf den «vom Hof auf
den Tisch»-Ansatz des EU-Lebensmittelrechts
715
ausgerichtet werden. Dieser sieht
vor, dass die verschiedenen Verwaltungseinheiten, die an der Kontrolle der Lebens-
mittelkette beteiligt sind, ein gemeinsames Konzept umsetzen und beinhaltet auch
eine Angleichung der Anforderungen an das Kontrollpersonal.
Das LMG, das TSG und das TSchG regeln die Anforderungen an die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern der Vollzugsorgane sowie die Aus- und Weiterbildung heute einzeln
und spezifisch. Die im Laufe der Zeit entstandenen Inkohärenzen werden mit dieser
Revision eliminiert und die Inhalte aktualisiert. Die Revision kann so als Grundlage
für eine künftige gemeinsame «Bildungsverordnung» der Vollzugsorgane im Lebens-
mittel- und im Veterinärbereich dienen.
Absatz 2 gibt dem Bundesrat die Kompetenz, die Einzelheiten der formalen Bildung
zu regeln. Dazu gehört auch die Regelung der Voraussetzungen für die Zulassung zur
formalen Bildung.
Die Vollzugsorgane sollen ihr Wissen in ihrem Zuständigkeitsbereich auf dem aktu-
ellsten Stand halten und vertiefen. Zudem erfordern die raschen Entwicklungen in der
Lebensmitteltechnologie und die Komplexität der zu beurteilenden Prozesse, dass die
714
SR
419.1
715
https://food.ec.europa.eu > horizontal-topics > farm-fork-strategy
765 / 931
Kenntnisse der für den Vollzug der Lebensmittelgesetzgebung zuständigen Personen
periodisch erweitert werden. Der Bund und die Kantone sollen deshalb die Möglich-
keit haben, für das Vollzugspersonal im Rahmen der formalen Bildung Weiterbildun-
gen anzubieten (Abs. 3). Diese «Weiterbildungen» sind nicht gleichzusetzen mit den
«Weiterbildungen» nach Artikel 3 Buchstabe a WeBiG.
Absatz 4 füllt eine Lücke in der bisherigen Gesetzgebung. Er räumt dem Bundesrat
die Kompetenz ein, das Ausbildungsniveau der Vollzugsorgane von Bund und Kan-
tonen durch das Vorschreiben von Weiterbildungen nach Absatz 3 auf dem neuesten
Stand zu halten. Auch Weiterbildungen, die von externen Stellen angeboten werden,
können in Frage kommen.
Art. 67
Durchführung von Prüfungen
Diese Bestimmung erlaubt es dem Bundesrat, die Durchführung von Prüfungen der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Vollzugsorgane zu regeln. Er entspricht Arti-
kel 53 Absatz 3 LMG (Abs. 1).
Der Bundesrat kann zudem Prüfungskommissionen ernennen. Dabei handelt es sich
um beratende ausserparlamentarische Kommissionen nach Artikel 57
a
ff. des Regie-
rungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 1997
716
. Sie haben keine
Entscheidkompetenz. Ihre Aufgaben bestehen darin, Prüfungen abzunehmen und die
zuständige Bundesstelle in Ausbildungsfragen zu beraten (Abs. 2).
4. Abschnitt: Gemeinsame Bestimmungen für den Vollzug durch Bund und Kantone
Art. 68
Öffentliche Warnung
Diese Bestimmung wird unverändert aus dem geltenden Recht übernommen. Sie setzt
Artikel 10 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 um.
Unverändert bleibt auch das Vorgehen bei Erlass einer öffentlichen Warnung. Sind
nicht sichere Lebensmittel oder Gebrauchsgegenstände an eine unbestimmte Anzahl
von Verbraucherinnen und Verbraucher abgegeben worden, wird die zuständige Voll-
zugsbehörde auch unter dem neuen Recht verpflichtet, zu handeln (Abs. 1; bisheriger
Art. 54 Abs. 1 LMG). Die Aufgabe, gesundheitsgefährdende Produkte zurückzuneh-
men oder zurückzurufen, obliegt jedoch in erster Linie den in den Betrieben verant-
wortlichen Personen (Art. 35). Die zuständige Vollzugsbehörde ist aber gehalten, den
Fall zu begleiten und gegebenenfalls die geeigneten und notwendigen Massnahmen
zu ergreifen. Sie hat dabei eine Interessenabwägung zwischen der Gesundheitsgefähr-
dung und der mit der Warnung verbundenen Anprangerung eines Unternehmens vor-
zunehmen. Bei möglichen schwerwiegenden, auch längerfristigen Gesundheitsschä-
den ist immer öffentlich zu warnen. Das ökonomische Interesse des Unternehmens
hat dabei zurückzutreten.
716
SR
172.010
766 / 931
Absatz 2 entspricht dem bisherigen Artikel 54 Absatz 2 LMG und legt fest, dass das
Informieren und Abgeben von Verhaltensmassregeln Sache der zuständigen Voll-
zugsbehörde des Bundes ist, wenn die Bevölkerung mehrerer Kantone gefährdet ist.
Um widersprüchliche Informationen zu verhindern, ist es wichtig, dass der Bund im-
mer dann, wenn die Gefährdung über den lokalen Rahmen hinausgeht, auch die Ko-
ordination der Information übernimmt.
In Fällen von geringer Tragweite kann die Information über die Homepage der zu-
ständigen Vollzugsbehörde ausreichen (Abs. 3).
Nach Absatz 4 muss die zuständige Vollzugsbehörde, bevor sie sich an die Öffent-
lichkeit wendet, die Person, welche die das Produkt hergestellt, eingeführt oder in
Verkehr gebracht hat sowie die Konsumentenorganisationen anhören (entspricht dem
bisherigen Art. 54 Abs. 4 LMG). Solche Anhörungen sind deshalb wichtig, weil der
Gang der Behörden an die Öffentlichkeit für das betroffene Unternehmen mit einem
Imageverlust oder gar einem Absatzzusammenbruch verbunden sein kann. Ist Gefahr
im Verzug und ein unmittelbares Handeln angezeigt, kann in Ausnahmefällen auf eine
Anhörung verzichtet oder, wenn das betroffene Unternehmen erreichbar ist, die An-
hörung auf eine sehr kurze Antwortfrist von beispielsweise einer Stunde beschränkt
werden.
Sehr wichtig ist beim Entscheid, ob eine öffentliche Warnung gemacht wird, der Ver-
hältnismässigkeitsgrundsatz. Der Gang an die Medien ist auf schwerwiegendere Ge-
sundheitsgefährdungen zu beschränken. Sind die möglichen Folgen weniger gravie-
rend, können mildere Massnahmen ergriffen werden, die beispielsweise keinen
Rückschluss auf das verantwortliche Unternehmen erlauben. Lassen es die Rahmen-
bedingungen zu, kann die zuständige Vollzugsbehörde die Inverkehrbringerin oder
den Inverkehrbringer mit der Information der Öffentlichkeit beauftragen (Abs. 5).
Art. 69
Mitarbeit Dritter
Bei Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen richtet sich die Übertragung von Aufga-
ben aus dem Bereich der amtlichen Kontrollen auf Dritte nach den Artikeln 28–33 der
Verordnung (EU) 2017/625 (Abs. 1) einschliesslich der auf der Grundlage dieser Ver-
ordnung erlassenen Rechtsakte, die diese Bestimmungen ausführen und Bestandteil
von Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit sind. Diese Bestimmungen
sind inhaltlich weitgehend deckungsgleich mit dem bisherigen Artikel 55 LMG. Das
EU-Recht enthält jedoch detailliertere Vorgaben als das bisherige schweizerische
Recht.
Bei den übrigen Gebrauchsgegenständen kommt es gegenüber dem geltenden Recht
zu keinen Änderungen. Die Absätze 2–7 entsprechen inhaltlich dem geltenden Recht.
Art. 70
Schweigepflicht
Der Grundsatz, wonach Personen, die mit dem Vollzug dieses Gesetzes beauftragt
sind, der Schweigepflicht unterstehen, ist in Absatz 1 festgelegt. Vom Wortlaut her
ist diese Bestimmung identisch mit Artikel 56 LMG. Anders als im geltenden Recht
767 / 931
wird der Vorbehalt zugunsten von Bestimmungen des VE-LMG, die eine Informati-
onspflicht oder eine Rechtsgrundlage für den Datenaustausch enthalten, jedoch weg-
gelassen. Denn es ist klar, dass alle diesbezüglichen Bestimmungen Artikel 70 als
lex
specialis
vorgehen. Ausserhalb des VE-LMG gilt dies insbesondere auch für das Bun-
desgesetz vom 17. Dezember 2004
717
über das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung
(BGÖ).
Für Lebensmittel und Bedarfsgegenstände verweist Absatz 2 zudem auf Artikel 8 der
Verordnung (EU) 2017/625. Auch diese Bestimmung geht Artikel 70 vor.
8. Kapitel: Finanzierung
Art. 71
Kostenteilung
Die Kostenteilung zwischen Bund und Kantonen bleibt gegenüber dem geltenden
Recht unverändert. Der bisherige Artikel 57 LMG wird unverändert übernommen.
Art. 72
Gebühren
Diese Bestimmung orientiert sich am bisherigen Artikel 58 LMG. Der Grundsatz der
gebührenfreien Lebensmittelkontrolle bleibt bestehen, soweit dieses Gesetz nichts an-
deres bestimmt (Abs. 1).
Die Aufzählung der Kontrollen, welche gebührenpflichtig sind, bleibt gegenüber dem
geltenden Recht (s. Art. 58 Abs. 2 LMG) weitgehend unverändert (Abs. 2). Neu ist
einzig Absatz 2 Buchstabe e. Künftig wird auch Artikel 79 der Verordnung
(EU) 2017/625 direkt angewendet. Konkret bedeutet dies, dass für bestimmte amtli-
che Kontrollen Pflichtgebühren und -abgaben erhoben werden müssen. Diese Gebüh-
ren betreffen Einfuhren von Lebensmitteln tierischer Herkunft aus Drittstaaten in die
EU beziehungsweise künftig in die Schweiz. Sie sollen unter anderem Wettbewerbs-
verzerrungen und Ungleichbehandlungen in den einzelnen Mitgliedstaaten und in der
Schweiz verhindern
718
.
Für die Unternehmerinnen und Unternehmer in der Schweiz wird die künftige direkte
Anwendung von Artikel 79 der Verordnung (EU) 2017/625 gegenüber heute zu kei-
nem Zusatzaufwand führen. Im Rahmen des Landwirtschaftsabkommens hat die
Schweiz ihr Recht bereits mit den entsprechenden Bestimmungen des EU-Rechts har-
monisiert (s. Art. 15 der Gebührenverordnung BLV vom 30. Oktober 1985
719
).
Die Absätze 3–6 entsprechen den Absätzen 3–6 von Artikel 58 LMG.
9. Kapitel: Datenbearbeitung
717
SR
152.3
718
Siehe die Erwägungsgründe 65–67 der Verordnung (EU) 2017/625.
719
SR
916.472
768 / 931
Art. 73
Daten natürlicher und juristischer Personen sowie Geschäfts- und
Fabrikationsgeheimnisse
Nach bisherigem Recht sind die zuständigen Behörden von Bund und Kantonen be-
rechtigt, Personendaten, einschliesslich Daten über administrative und strafrechtliche
Verfolgungen und Sanktionen, zu bearbeiten, soweit dies für den Vollzug ihrer Auf-
gaben nach diesem Gesetz erforderlich ist. Neu wird präzisiert, dass die zuständigen
Behörden diejenigen sind, welche die Lebensmittelgesetzgebung vollziehen, das
heisst die zuständige Vollzugsbehörde, die kantonale Vollzugsbehörde nach Arti-
kel 62 Absatz 3 sowie die mit öffentlichen Aufgaben beauftragten Dritten nach Arti-
kel 69. Als «Vollzug» gelten alle Handlungen zur Umsetzung des LMG, das heisst
nebst dem Durchsetzen des Gesetzes durch das Verfügen von Massnahmen beispiels-
weise auch das Vorbereiten der Rechtsetzung sowie die Rechtsetzung selbst oder das
Erteilen von Bewilligungen.
Ebenfalls neu ist, dass in Absatz 1 zwischen Daten natürlicher und juristischer Perso-
nen unterschieden und das Bearbeiten von Geschäfts- und Fabrikationsgeheimnissen
explizit aufgeführt wird. Alle erwähnten Daten und Informationen dürfen nur von den
mit dem Vollzug der Lebensmittelgesetzgebung beauftragten Behörden und Dritten
nach Artikel 69 bearbeitet werden (s. oben) und nur zur Wahrnehmung ihrer Aufga-
ben nach diesem Gesetz (Bst. a) oder zur Erfüllung von Aufgaben, die ihnen im Rah-
men dieses Gesetzes gestützt auf völkerrechtliche Verträge übertragen worden sind
(Bst. b). Während Buchstabe a schon im bisherigen Recht gegolten hat, ist Buch-
stabe b neu, beziehungsweise eine Konkretisierung und Erweiterung von Artikel 45
Absatz 1 LMG, wonach die Bundesbehörden mit ausländischen und internationalen
Fachstellen und Institutionen zusammenarbeiten und die Aufgaben wahrnehmen, die
sich aus den völkerrechtlichen Verträgen ergeben.
Absatz 2 entspricht Artikel 59 Absatz 2 LMG und wird unverändert übernommen.
Art. 74
Betriebsanalysen bei begründetem Verdacht
Mit den ihnen zur Verfügung stehenden rechtlichen Instrumenten ist es für die Voll-
zugsbehörden heute oft schwierig, bei einem Verdacht, dass ein Lebensmittel- oder
Gebrauchsgegenständebetrieb betrügerische oder irreführende Praktiken anwendet,
die Staatsanwaltschaft zur Aufnahme eigener Untersuchungen zu veranlassen. Um in
solchen Fällen die Beweislage zu verbessern, gibt Absatz 1 den Vollzugsbehörden die
Kompetenz, eine Betriebsanalyse durchzuführen. Diese soll ihnen ermöglichen, ge-
gebenenfalls gezielte Kontrollen durchzuführen und bei Bestätigung des Verdachts
den Fall im Hinblick auf die Eröffnung einer Untersuchung der Staatsanwaltschaft zu
übergeben. Bei Bedarf sollen hierfür auch Expertinnen oder Experten nach Artikel 62
Absatz 2 beigezogen werden können. Den Vollzugsbehörden und -organen nach Ar-
tikel 62 Absatz 3 sowie Dritten nach Artikel 69 steht das Recht, bei begründetem Ver-
dacht eine Betriebsanalyse durchzuführen, nicht zu.
Voraussetzung zur Vornahme einer Betriebsanalyse ist einerseits, dass ein begründe-
ter Verdacht vorliegt und andererseits, dass ein Betrieb systematisch und in erhebli-
chem Ausmass gegen die Lebensmittelgesetzgebung verstösst. Weiter soll sie nur er-
folgen
dürfen,
wenn
sie
zum
Ziel
hat,
Widerhandlungen
gegen
die
769 / 931
Lebensmittelgesetzgebung vorzubeugen (Bst. a), Erkenntnisse über die Wahrschein-
lichkeit der Begehung einer Widerhandlung gegen dieses Gesetz und über deren Aus-
mass zu gewinnen (Bst. b) oder koordinierte Kontrollen und Kampagnen vorzuberei-
ten (Bst. c). Die Durchführung von Betriebsanalysen zu anderen Zwecken ist nicht
zulässig.
Absatz 2 gibt den Vollzugsbehörden die Kompetenz, zur Durchführung einer Be-
triebsanalyse auch Daten zu den Finanz- und den Warenflüssen von Lebensmittel-
und Gebrauchsgegenständebetrieben zu bearbeiten (Bst. a), Personendaten über ver-
waltungs- und strafrechtliche Verfolgungen oder Sanktionen (Bst. b), Daten juristi-
scher Personen über verwaltungs- und strafrechtliche Verfolgungen oder Sanktionen
(Bst. c) sowie Daten zu Geschäfts- und Fabrikationsgeheimnissen (Bst. d).
Daten, die auf einer Betriebsanalyse beruhen, dürfen die Vollzugsbehörden auch für
weitere Betriebsanalysen verwenden (Abs. 3). Dies ist deshalb wichtig, weil betrüge-
rische oder irreführende Praktiken mehrere Betriebe betreffen können, die mit den
betroffenen Lebensmitteln oder Gebrauchsgegenständen Handel treiben oder diese
herstellen. Nur so kann sichergestellt werden, dass wirksam und koordiniert gegen
solche Machenschaften vorgegangen werden kann.
Viele Daten, die im Zusammenhang mit Betriebsanalysen gewonnen werden, fallen
nicht in die Kategorie der besonders schützenswerten Personendaten beziehungsweise
der besonders schützenswerten Daten von juristischen Personen (z. B. Informationen
zu den Produktionsabläufen oder die betriebsinterne Organisation). Absatz 4 gibt dem
Bundesrat deshalb die Kompetenz, die Bearbeitung auch solcher Daten zu regeln.
Art. 75
Amtshilfe
Das Durchsetzen der lebensmittelrechtlichen Vorgaben sowie das Verhindern von Le-
bensmittelbetrug setzt voraus, dass den Lebensmittelvollzugsbehörden die hierfür er-
forderlichen Instrumente zur Verfügung stehen. In Zeiten zunehmender Internationa-
lisierung des Warenverkehrs sowie angesichts der wachsenden Komplexität der
Lieferketten kommt dem Informationsaustausch zwischen den am Vollzug der Le-
bensmittelgesetzgebung beteiligten Stellen eine grosse Bedeutung zu.
Mit drei überwiesenen Motionen hat auch das Parlament den Willen bekundet, einen
angemessenen rechtlichen Rahmen für ein zielgerichtetes Vorgehen gegen Lebens-
mittelbetrug schaffen zu wollen (s. Ziff. 2.12.9.4 oben). Der gegenüber dem bisheri-
gen Artikel 60 LMG erweiterte Artikel 75 zielt darauf ab, diesen Anliegen Rechnung
zu tragen. Der Verhältnismässigkeitsgrundsatz wird dabei berücksichtigt.
Gegenüber dem bisherigen Artikel 60 LMG neu ist die Sachüberschrift, die nicht
mehr wie bisher auf den Austausch von Vollzugsdaten fokussiert, sondern in breiterer
Weise auf die Amtshilfe.
Die Pflicht, Amtshilfe zu leisten beziehungsweise die gewünschten Informationen
und Daten zu übermitteln, betrifft die mit dem Vollzug der Lebensmittelgesetzgebung
beauftragten Behörden, die Vollzugsbehörden und -organe nach Artikel 62 Absatz 3
sowie die mit öffentlichen Aufgaben beauftragten Dritten nach Artikel 69 (Abs. 1).
Darunter sind diejenigen Stellen zu verstehen, die auch bereits in Artikel 60 Absatz 1
LMG adressiert werden.
770 / 931
Absatz 2 listet diejenigen Daten auf, welche die Stellen nach Absatz 1 einander auf
Anfrage bekannt zu geben haben. Deren Herausgabe darf von der einfordernden Stelle
jedoch nur dann verlangt werden, wenn die Daten für die Wahrnehmung ihrer Aufga-
ben nach diesem Gesetz erforderlich sind oder wenn die Erfüllung von Aufgaben, die
ihnen im Rahmen dieses Gesetzes gestützt auf völkerrechtliche Verträge übertragen
worden sind, dies verlangt. Zur «Wahrnehmung ihrer Aufgaben nach diesem Gesetz»
gehören auch Informationen und Daten, die der zuständigen Vollzugsbehörde in ei-
nem konkreten Fall ermöglichen, betrügerische oder irreführende Praktiken aufzude-
cken.
Sind die Voraussetzungen nach Absatz 2 gegeben, haben sich die Stellen nach Ab-
satz 1 Daten zu Geschäfts- und Fabrikationsgeheimnissen zwar bekannt zu geben,
nach aussen hat die empfangende Behörde diese aber zu wahren (Abs. 3).
Die multidisziplinäre Zusammenarbeit ist Voraussetzung für einen effizienten Voll-
zug der Lebensmittelgesetzgebung. Namentlich das Bekämpfen betrügerischer oder
irreführender Praktiken bedingt, dass ein reibungsloser und schneller Austausch von
Daten und Informationen zwischen den Bundesbehörden, den Kantonen und Dritten
gewährleistet ist. Dieser darf sich nicht nur auf die zuständigen Behörden beschrän-
ken, sondern muss breit und auf die Situation angepasst vorgenommen werden kön-
nen. Wird das BLV zum Beispiel informiert, dass in der Schweiz aus dem Ausland
importierter billiger Wein umgefüllt und neu etikettiert wurde und dessen Vertrieb
über den Internet-Handel erfolgt, so muss es die Möglichkeit haben, solche Informa-
tionen mit den zuständigen kantonalen Lebensmittelkontrollbehörden, der Schweizer
Weinhandelskontrolle, dem Bundesamt für Landwirtschaft sowie dem fedpol zu tei-
len, um gegebenenfalls weitere Hintergrundinformationen zu erhalten. Sind diese
Möglichkeiten nicht gegeben, ermittelt jede Behörde – wenn sie vom Sachverhalt
überhaupt Kenntnis hat – in ihrem Zuständigkeitsbereich selbständig, ohne über den
Gesamtüberblick zu verfügen. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls wichtig, dass
der Informationsaustausch zwischen den zuständigen Verwaltungsbehörden und den
Strafbehörden funktioniert.
Absatz 4 legt deshalb fest, dass die darin aufgelisteten Behörden und Dritten berech-
tigt sind, den Stellen nach Absatz 1 auf Anfrage diejenigen Informationen bekanntzu-
geben, welche diese zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben nach der Lebensmittelgesetz-
gebung benötigen. Der Informationsfluss und die Unterstützung sollen ohne
vorgängige Einräumung des rechtlichen Gehörs an die betroffene Person zulässig sein
und unbesehen davon, ob die zu vermittelnde Information ein hängiges oder ein ab-
geschlossenes Verfahren betrifft.
Die in Absatz 4 aufgeführten Stellen sollen sich nicht nur mit den Stellen nach Ab-
satz 1 austauschen können, sondern auch untereinander (Abs. 5). Absatz 5 enthält je-
doch keine Verpflichtung zur Amtshilfe, wie sie in Absatz 1 für die mit dem Vollzug
der Lebensmittelgesetzgebung beauftragten Stellen festgelegt ist.
Absatz 6 entspricht dem bisherigen Artikel 60 Absatz 2 LMG.
771 / 931
Art. 76
Datenaustausch mit dem Ausland und mit internationalen
Organisationen
Diese Bestimmung entspricht dem bisherigen Artikel 61 LMG. Wegen der künftigen
direkten Anwendung der Verordnung (EU) 2017/625 gestützt auf Anhang I des Pro-
tokolls zur Lebensmittelsicherheit richtet sich der Datenaustausch mit der Europäi-
schen Kommission und den EU-Mitgliedstaaten für Lebensmittel und Bedarfsgegen-
stände neu nach dieser Verordnung (s. deren Art. 102 ff). Der Schweiz kommen dabei
dieselben Rechte und Pflichten zu wie den EU-Mitgliedstaaten. Bei den übrigen Ge-
brauchsgegenständen sowie im Verhältnis zu Drittstaaten und internationalen Orga-
nisationen richtet sich der Datenaustausch nach Artikel 76. Gegenüber heute ändert
sich diesbezüglich nichts.
Art. 77
Informationssystem des BLV
Der bisherige Artikel 62 LMG wurde auf drei Artikel aufgeteilt. Neu wird in Arti-
kel 77 das Informationssystem des BLV eingeführt und beschrieben, in Artikel 78
werden die Datenbearbeitung und die Zugriffsrechte geregelt und in Artikel 79 die
Nutzung des Informationssystems durch die Kantone.
Artikel 77 entspricht inhaltlich dem bisherigen Artikel 62 Absätze 1–3 und 6 LMG.
Das BLV betreibt auch weiterhin ein Informationssystem zur Gewährleistung der Si-
cherheit und der Hygiene von Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen sowie des
Täuschungsschutzes im Rahmen seiner Aufgaben nach diesem Gesetz, zur Unterstüt-
zung der Vollzugsaufgaben von Bund und Kantonen sowie zur nationalen und inter-
nationalen Berichterstattung.
Durch das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit wird die Schweiz neu in das Informa-
tionsmanagementsystem der EU für amtliche Kontrollen (IMSOC), das aus den Kom-
ponenten iRASFF, ADIS, EUROPHYT und TRACES besteht und für die Durchfüh-
rung der gemäss der Verordnung (EU) 2017/625 vorgesehenen amtlichen Kontrollen
erforderlich ist, eingebunden sein. Gemäss Artikel 131 dieser Verordnung bezweckt
das System die integrierte Handhabung der Verfahren und Werkzeuge, mit denen die
Daten, Informationen und Unterlagen betreffend die amtlichen Kontrollen und andere
amtliche Tätigkeiten verwaltet, bearbeitet und automatisch ausgetauscht werden. Es
ist für das Funktionieren des gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums
EU/Schweiz von zentraler Bedeutung.
Art. 78
Datenbearbeitung im Informationssystem des BLV und
Zugriffsrechte
Absatz 1 entspricht dem bisherigen Artikel 62 Absatz 4 LMG. Neu werden jedoch die
Datenbearbeitungsrechte der die kantonalen Vollzugsbehörden nach Artikel 62 Ab-
satz 3 separat aufgeführt.
Absatz 2 entspricht dem bisherigen Artikel 62 Absatz 5 LMG. Diejenigen Behörden,
die nach Absatz 1 Buchstaben a–c das Recht zur Bearbeitung von Daten haben, haben
ebenfalls das Recht, die Daten, die sie bearbeiten dürfen, abzurufen. Sie werden in
Absatz 2 Buchstabe a deshalb nicht mehr explizit genannt, haben im Rahmen ihrer
772 / 931
Bearbeitungsrechte jedoch auch das Recht, die entsprechenden Daten abzurufen. Die
Buchstaben b–d entsprechen Artikel 62 Absatz 5 Buchstaben d–g.
Art. 79
Nutzung des Informationssystems des BLV durch die Kantone
Diese Bestimmung entspricht inhaltlich Artikel 62 Absatz 7 LMG.
10. Kapitel: Strafbestimmungen und Rechtsschutz
1. Abschnitt: Strafbestimmungen
Art. 80
Vergehen und Verbrechen
Die Absätze 1 und 4 dieser Bestimmung entsprechen Artikel 63 LMG.
In Absatz 2 wurde die Bereicherungsabsicht nicht aus dem bisherigen Artikel 63 Ab-
satz 2 übernommen, weil lediglich die Gewerbsmässigkeit als qualifizierte Form der
Bereicherung die Einstufung als Verbrechen rechtfertigt. Zudem ist davon auszuge-
hen, dass in vielen Fällen eine Bereicherungsabsicht das Motiv zur Begehung einer
Widerhandlung nach Absatz 1 darstellt.
In Absatz 3 wurden die 180 Tagessätze des bisherigen Artikel 63 Absatz 2 gestrichen,
da die Obergrenze generell 180 Tagessätze beträgt (Art. 34 Abs 1 StGB).
Betreffend Lebensmittel und Bedarfsgegenstände verlangt Artikel 139 der Verord-
nung (EU) 2017/625, dass die Mitgliedstaaten und künftig auch die Schweiz die Sank-
tionen bei Verstössen gegen diese Verordnung regeln und alle erforderlichen Mass-
nahmen ergreifen, um deren Umsetzung sicherzustellen. Diese Sanktionen müssen
wirksam, verhältnismässig und abschreckend sein. Mit der Übernahme des bisherigen
Artikels 63 LMG in den VE-LMG kommt die Schweiz dieser Verpflichtung nach.
Art. 81
Übertretungen
Der bisherige Artikel 64 LMG wird weitgehend unverändert in den VE-LMG über-
nommen.
Zu einer Ergänzung des bisherigen Wortlauts kommt es in Absatz 1 Buchstabe g: Für
Betreiberinnen von Hosting-Diensten und Online-Plattformen sowie Betriebe, die Le-
bensmittel und Gebrauchsgegenstände mit Einsatz von Fernkommunikationstechni-
ken anbieten, gelten künftig neue Informations- und Auskunftspflichten gegenüber
der zuständigen Vollzugsbehörde (s. Art. 37 Abs. 1 und 2 VE-LMG). Wird gegen
diese Pflichten verstossen, soll dies auch strafrechtliche Folgen haben. Dies gilt eben-
falls für Personen, die Lebensmittel oder Gebrauchsgegenstände im Ausland in Ver-
kehr bringen und ihrer Auskunftspflicht nach Artikel 38 nicht nachkommen. Die Ver-
letzung der Unterstützungs-, Informations- und Auskunftspflicht nach Artikel 34
(Art. 29 LMG) fällt auch weiterhin unter Buchstabe g.
773 / 931
Buchstabe h sieht vor, dass
Unternehmerinnen oder Unternehmer, die Lebensmittel
oder Gebrauchsgegenstände mit Einsatz von Fernkommunikationstechnik anbieten,
und unwahre oder unvollständige Angaben über ihre Identität und ihre Kontaktadresse
einschliesslich derjenigen der elektronischen Post machen, ebenfalls nach Artikel 81
bestraft werden.
Mit betrügerischen oder irreführenden Praktiken können hohe, unrechtmässige Ge-
winne erzielt werden. Die Eidgenössische Kommission für Konsumentenfragen
(EKK) hat sich in ihrer Empfehlung vom 29. April 2021 betreffend
Food Fraud
720
mit den Problemen, die im Zusammenhang mit betrügerischen Machenschaften ent-
lang der Lebensmittelkette entstehen können, vertieft auseinandergesetzt. Sie ist dabei
zur Erkenntnis gelangt, dass die geltenden Strafbestimmungen nur wenig abschre-
ckende Wirkung haben. Hauptgrund ist, dass die Strafgerichte oft nur sehr geringe
Bussen verhängen. Bei Verstössen gegen Artikel 81 wird bei gewerbsmässig handeln-
den Tätern die Bussenobergrenze deshalb von 80 000 auf 200 000 Franken angehoben
(Abs. 2). Die Bereicherungsabsicht des bisherigen Artikels 64 Absatz 2 LMG wurde
gestrichen (vgl. Art. 80 Abs. 2).
Abschreckendere Strafen werden auch in den vom Parlament überwiesenen Motionen
21.3691 Munz Stopp dem Lebensmittelbetrug und 21.3936 Michaud Gigon Ver-
stärkte Anstrengungen zur Bekämpfung von Lebensmittelbetrug gefordert. Durch die
Erhöhung des Strafrahmens von Absatz 2 wird diesem Anliegen entsprochen.
Art. 82
Widerhandlungen in Geschäftsbetrieben, Urkundefälschung
Diese Bestimmung entspricht Artikel 65 LMG. Sie wird unverändert übernommen.
Art. 83
Strafverfolgung
Absatz 1 bleibt gegenüber dem geltenden Recht (Art. 66 Abs. 1 LMG) unverändert.
Nicht übernommen aus dem geltenden Recht wird Absatz 2 von Artikel 66, da die
Strafbehörden ohnehin verpflichtet sind, Verfahren einzuleiten, wenn ihnen Ver-
dachtsgründe bekannt werden (Art. 7 Abs. 1 der Strafprozessordnung [StPO]
721
).
Zur Umsetzung der drei vom Parlament überwiesenen Motionen zur Bekämpfung von
Lebensmittelbetrug (s. Ziff. 2.12.9.4) wird im Sinne von Artikel 104 Absatz 2 StPO
vorgeschlagen, die Parteirechte des BLV, das für die Aufsicht des Bundes über den
kantonalen Vollzug zuständig ist, auszubauen. Nach dieser Bestimmung kann der
Bund Behörden, welche öffentliche Interessen zu wahren haben, volle oder be-
schränkte Parteirechte einräumen. Neu soll das BLV die Möglichkeit haben, Rechts-
mittel gegen Nichtanhandnahme- und Einstellungsverfügungen sowie gegen Strafbe-
fehle und im Strafpunkt gegen Urteile zu ergreifen (Abs. 2 Bst. a–c).
720
www. konsum.admin.ch > Eidg. Kommission für Konsumentenfragen (EKK) > Empfeh-
lungen > Legislaturperiode 2020-2023 > Empfehlung der Eidgenössischen Kommission
für Konsumentenfragen (EKK) vom 27. Oktober 2022 betreffend Vertrieb von Lebensmit-
teln im Onlinehandel: Zeitgemässe Instrumente für den Schutz von Konsumentinnen und
Konsumenten.
721
SR
312.0
774 / 931
Der Absatz 3 bleibt gegenüber dem geltenden Recht unverändert (bisheriger Art. 66
Abs. 3 LMG).
Der Artikel 66 Absatz 4 LMG wird nicht übernommen, da im Rahmen der Totalrevi-
sion des Zollgesetzes vorgesehen ist, dass diese Bestimmung aufgehoben wird.
Art. 84
Verjährung bei Übertretungen
Neu wird die Verjährung bei Übertretungen separat in Artikel 84 geregelt. Ebenfalls
neu ist, dass die Verjährungsfrist für Übertretungen von drei auf fünf Jahre erhöht
wird. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass die dreijährige Verjährungsfrist nach
Artikel 109 StGB insbesondere dann nicht ausreicht, wenn komplexe Sachverhalte
abzuklären sind, die zwischen Täuschungsverbot nach Artikel 18 beziehungsweise 64
LMG und Betrug nach Artikel 146 StGB angesiedelt sind. Wird beispielsweise ein
Verfahren wegen Betrugs eingestellt, weil nicht alle Tatbestandselemente erfüllt sind
und müsste danach eines wegen Verstosses gegen das Täuschungsverbot beziehungs-
weise die Erfüllung des Straftatbestands nach Artikel 64 LMG in die Wege geleitet
werden, ist dies wegen der kurzen Verjährungsfrist von drei Jahren oft gar nicht mehr
möglich und die Täterin oder der Täter geht straffrei aus.
Art. 85
Mitteilung von Strafentscheiden
Artikel 85 wird neu eingeführt, da die Parteirechte des BLV neu ausgebaut werden
sollen und das BLV unverzüglich Kenntnis der kantonalen Urteile, Strafbefehle,
Nichtanhandnahme- und Einstellungsverfügungen haben muss (vgl. Art. 83 Abs. 2).
Artikel 3 Ziffer 19 der Verordnung vom 10. November 2004
722
über die Mitteilung
kantonaler Strafentscheide kann somit aufgehoben werden.
2. Abschnitt: Rechtsschutz
Art. 86
Einspracheverfahren
Absatz 1 entspricht Artikel 67 LMG. Weil es wenig Sinn macht, die Einsprachefrist
in einem separaten Artikel zu regeln (bisher Art. 70 Abs. 1 LMG), wird sie neu in die
Bestimmung über das Einspracheverfahren aufgenommen (Abs. 2). Inhaltlich ändert
sich nichts.
Art. 87
Zweites Sachverständigengutachten
Das EU-Recht sieht in Artikel 35 der Verordnung (EU) 2017/625 die Möglichkeit der
Einholung eines zweiten Sachverständigengutachtens vor. Nach dem Erwägungs-
grund 48 dieser Verordnung soll dieses Recht den Unternehmerinnen und Unterneh-
722
SR
312.3
775 / 931
mern ermöglichen, auf ihre Kosten eine Überprüfung der Unterlagen über die ur-
sprüngliche Probenahme oder Analyse, den ursprünglichen Test oder die ursprüngli-
che Diagnose durch eine andere sachverständige Person sowie eine zweite Analyse,
einen zweiten Test oder eine zweite Diagnose der ursprünglich ausgewählten Teile
der Probenahme verlangen zu können. Dieses Recht soll einzig dann nicht bestehen,
wenn sich eine solche zweite Analyse beziehungsweise ein solcher zweiter Test oder
eine solche zweite Diagnose als technisch nicht möglich oder unerheblich erweist.
Wegen der künftigen direkten Anwendung der Verordnung (EU) 2017/625 gilt Arti-
kel 35 bei Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen auch für die Schweiz (Abs. 1).
Wird für Lebensmittel und Bedarfsgegenstände das Recht auf ein zweites Sachver-
ständigengutachten eingeführt, ist es sachdienlich, dies auch für die übrigen Ge-
brauchsgegenstände vorzusehen. Absatz 2 erklärt Absatz 1 deshalb sinngemäss auch
auf die übrigen Gebrauchsgegenstände für anwendbar.
Artikel 35 Absatz 3 der Verordnung (EU) 2017/625 gibt den Mitgliedstaaten und mit
Inkrafttreten des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit auch der Schweiz die Mög-
lichkeit, bei Streitigkeiten mit der zuständigen Vollzugsbehörde aufgrund des zweiten
Sachverständigengutachtens auf eigene Kosten eine Überprüfung der Unterlagen über
die ursprünglichen Analysen, Tests oder Diagnosen und gegebenenfalls weitere Ana-
lysen, Tests oder Diagnosen durch ein anderes amtliches Laboratorium zu beantragen.
Absatz 3 übernimmt dieses Recht in den VE-LMG.
Die Möglichkeit, ein zweites Sachverständigengutachten zu verlangen, soll auch Be-
trieben offenstehen, die ihre Produkte mit Einsatz von Fernkommunikationstechniken
vertreiben. Bei dieser Vertriebsform setzt dies voraus, dass die zuständige Vollzugs-
behörde die Probemenge so bemisst, dass sie nicht nur für die vorgesehene Untersu-
chung, sondern auch für allfällige Nachprüfungen ausreicht (Art. 35 Abs. 2 Bst. a der
Verordnung (EU) 2017/625).
Das Recht auf ein zweites Sachverständigengutachten erstreckt sich auf Probenah-
men, Analysen, Tests und Diagnosen, die im Rahmen amtlicher Kontrollen durchge-
führt werden. Es gilt nicht in Bezug auf andere amtliche Tätigkeiten.
Zudem wirkt sich dieses Recht nicht auf die Verpflichtung der zuständigen Vollzugs-
behörde aus, falls erforderlich, Sofortmassnahmen zu treffen, um die Gesundheit der
Verbraucherinnen und Verbraucher zu schützen oder sie vor Täuschung zu bewahren
(Abs. 4).
Die dem Bundesrat in Absatz 5 Buchstabe a eingeräumte Kompetenz, die Einzelhei-
ten der Durchführung eines zweiten Sachverständigengutachtens zu regeln, ermög-
licht ihm unter anderem, zu präzisieren, in welchen Fällen eine zweite Analyse, ein
zweiter Test oder eine zweite Diagnose der ursprünglich ausgewählten Teile der Pro-
benahme relevant, angemessen und technisch möglich ist (s. Art. 35 Abs. 2 erster Satz
der Verordnung (EU) 2017/625). Zusätzlich soll geregelt werden, in welchen Fällen
der Anspruch besteht, ein solches Gegengutachten durch ein anderes amtliches Labo-
ratorium durchführen zu lassen (Art. 35 Abs. 3 der Verordnung (EU) 2017/625).
Auch die Handhabung bei der Lagerung zusätzlicher Probenmengen, die zum Zweck
einer zusätzlichen Analyse erhoben werden, muss geregelt werden. Insbesondere soll
776 / 931
der Bundesrat die Kompetenz haben, zu regeln, wer diese Warenproben lagert und
wer die Lagerungskosten trägt (Bst. b).
Schliesslich soll der Bundesrat auch die Kompetenz haben, zu regeln, wie lange vom
Recht auf ein Gegengutachten nach dem Erlass einer Verfügung noch Gebrauch ge-
macht werden kann (Bst. c).
Art. 88
Bundesrechtspflege
Diese Bestimmung entspricht Artikel 68 LMG und wird unverändert übernommen.
Art. 89
Kantonales Verfahren
Auch diese Bestimmung wird unverändert aus dem bisherigen Recht übernommen (s.
Art. 69 LMG).
Art. 90
Beschwerdefrist
Wie unter Artikel 86 ausgeführt wird die bisher in Artikel 70 Absatz 1 geregelte Frist
für das Erheben von Einsprachen gegen Verfügungen über Massnahmen sowie Be-
scheinigungen über die Konformität nach diesem Gesetz wegen des engeren Sachzu-
sammenhangs in die Bestimmung über das Einspracheverfahren verschoben. An der
Frist von 30 Tagen für Beschwerden gegen Einspracheentscheide ändert sich nichts.
Art. 91
Aufschiebende Wirkung und vorsorgliche Massnahmen
Bezüglich des Entzugs der aufschiebenden Wirkung sowie des Treffens vorsorglicher
Massnahmen durch die verfügende Vollzugsbehörde oder die Beschwerdeinstanz än-
dert sich ebenfalls nichts. Der bisherige Artikel 71 LMG wird inhaltlich unverändert
übernommen.
11. Kapitel: Schlussbestimmungen
Art. 92
Aufhebungen und Änderungen anderer Erlasse
Da es sich beim vorliegenden VE-LMG um eine Totalrevision des bisherigen LMG
handelt, kann dieses Gesetz mit Inkrafttreten des totalrevidierten Gesetzes aufgehoben
werden.
Art. 93
Referendum und Inkrafttreten
Diese Bestimmung entspricht der üblichen Schlussformel. Für die Anwendung sind
zahlreiche Ausführungsbestimmungen auf Verordnungsstufe notwendig. Der Bun-
desrat wird das Gesetz erst in Kraft setzen können, wenn diese vorliegen.
777 / 931
2.12.9.6
Auswirkungen dieses Umsetzungserlasses
2.12.9.6.1
Auswirkungen auf den Bund
Aufgrund der mit dem Protokoll zur Lebensmittelsicherheit erfolgten Veränderungen
ist es sinnvoll, eine Totalrevision des Lebensmittelrechts vorzunehmen. Während des
Revisionsprozesses resultiert ein personeller Mehraufwand. Anschliessend ergeben
sich aufgrund der direkten Anwendung von neuem EU-Recht im Geltungsbereich des
Protokolls zur Lebensmittelsicherheit gegenüber heute Einsparungen bei der Recht-
setzung.
Weiter ergeben sich Einsparungen dadurch, dass Prozesse wie Zulassungsverfahren
für neuartige Lebensmittel
723
oder gesundheitsbezogene Angaben
724
künftig von der
EFSA und der Europäischen Kommission wahrgenommen werden.
Diesen Einsparungen stehen neue Aufgaben und entsprechend Aufwände gegenüber.
Es kann erst im Rahmen der Umsetzung auf Verordnungsstufe präzise abgeschätzt
werden, welchen Aufwand die neuen Aufgaben ergeben im Vergleich zu den Aufga-
ben, die durch das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit wegfallen.
2023 wurde eine Regulierungsfolgenabschätzung (RFA) durchgeführt, die einzelne
Punkte des vorliegenden VE-LMG betrifft, namentlich die Kontrolle des Online-Han-
dels, die Bekämpfung von Lebensmittelkriminalität sowie die sogenannten «dynami-
schen» Verweise auf EU-Recht im Schweizer Recht (s. Art.
5
7
Abs.
3 VE-LMG).
Daraus ging hervor, dass die Regelung des Online-Handels beim BLV einen geringen
Mehraufwand generiert aufgrund der Weiterleitung von Informationen zu nicht kon-
formen ausländischen Online-Shops. Die Neuregelung zum Lebensmittelbetrug wird
beim BLV einen personellen Mehraufwand ergeben für die Koordination der Kantone
und allfälliger Massnahmen. Der effektive Aufwand ist von der Anzahl der gemelde-
ten Betrugsfälle abhängig
.
Bei den dynamischen Verweisen kommt die RFA zum
Schluss, dass relevante Einsparungen beim administrativen Aufwand des BLV erzielt
werden können.
2.12.9.6.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf
urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete
Materiell führt die vorliegende Änderung der Lebensmittelgesetzgebung zu keinen
grossen Anpassungen, da das schweizerische Lebensmittelrecht schon bisher auf das-
jenige der EU abgestimmt wurde. Auch die Organisation des Vollzugs erfährt keine
Veränderung.
723
Verordnung (EU) 2015/2283 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Novem-
ber 2015 über neuartige Lebensmittel, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011
des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr.
258/97 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Verordnung (EG) Nr.
1852/2001 der Kommission, ABl. L 327 vom 11.12.2015, S. 1, geändert durch Verord-
nung (EU) 2019/1381 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019,
ABl. L 231 vom 6.9.2019, S. 1.
724
Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. De-
zember 2006 über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel, ABl. L
404 vom 30.12.2006, S. 9, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 1169/2011 des Euro-
päischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011, ABl. L 304, 22.11.2011, S. 18.
778 / 931
Die kantonalen Vollzugsbehörden werden angeordnete Massnahmen in den vom Pro-
tokoll zur Lebensmittelsicherheit abgedeckten Bereichen neu direkt auf das im Proto-
koll zur Lebensmittelsicherheit integrierte EU-Recht abstützen. Für diese Umstellung
sind Schulungen erforderlich, die in einer ersten Phase vom BLV durchzuführen sind.
In einer späteren Phase wird der kantonale Vollzug diese Schulungen selbst durchfüh-
ren können.
Die künftige direkte Anwendung des im Protokoll zur Lebensmittelsicherheit inte-
grierten EU-Rechts führt bei den kantonalen Vollzugsstellen zu keinen nennenswer-
ten Veränderungen. Die Vollzugsaufgaben ändern sich weder in der Frequenz noch
der Vorgehensweise.
Die auszubauende Kontrolle des Online-Handels und die verbesserte Bekämpfung
von Lebensmittelbetrug wird einen gewissen Mehraufwand erfordern. Dies sind je-
doch Bereiche, die unabhängig vom Abschluss des Protokolls zur Lebensmittelsicher-
heit an die Hand genommen wurden. Es ist damit zu rechnen, dass der Aufwand beim
Online-Handel zunehmen, aber die Anzahl der traditionellen Verkaufsstellen abneh-
men wird, die entsprechenden Kontrollen damit wegfallen und somit ein Teil des
Mehraufwandes kompensiert wird.
2.12.9.6.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
Die künftige direkte Anwendung von EU-Recht im Geltungsbereich des Protokolls
zur Lebensmittelsicherheit verbessert die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für
Schweizer Unternehmen. Anpassungen der EU-Erlasse sind ohne Verzögerung auch
in der Schweiz anwendbar, was technischen Handelshemmnissen vorbeugt. Eine
transparente Information des BLV über bevorstehende Anpassungen und das Einbrin-
gen von Anliegen der Schweiz im Rahmen des
Decision Shaping
, sind Grundvoraus-
setzungen, damit den Unternehmen kein relevanter Mehraufwand entsteht. Unterneh-
men, die ihre Produkte in der Schweiz und in der EU in Verkehr bringen, profitieren,
weil sie sowohl in der Schweiz als auch in der EU jederzeit denselben Regelungen
unterstellt sind. Anpassungen der Verpackung oder Rezeptur erübrigen sich. Bishe-
rige Erfahrungen einer Rechtsharmonisierung gestützt auf dynamische Verweise im
Schweizer Recht im Bereich der Kosmetika bestätigen diese Einschätzung.
Die geplante Regulierung zum Online-Handel führt zur Klärung der rechtlichen Lage
und der Pflichten der Online-Händlerinnen und -Händler, hat aber keinen relevanten
Mehraufwand zur Folge. Grössere Online-Handelsbetriebe haben Kontrollmechanis-
men im Rahmen ihrer Selbstkontrolle bereits installiert und die Entfernung von nicht
konformen Produkten ist auch etabliert. Somit erwartet diese Akteure keine grösseren
Prozessanpassungen und auch kein relevanter Mehraufwand aus der Neuregelung. In-
formationen darüber, inwieweit kleinere Online-Plattformen und Fulfilment-Dienste
bereits über Kontrollmechanismen verfügen, liegen nicht vor. Auch bei diesen ist da-
von auszugehen, dass sie keine grösseren Schwierigkeiten haben werden.
Die Neuregelung zum Lebensmittelbetrug sollte keinen Mehraufwand für die Unter-
nehmen zur Folge haben, sofern sie ihren bereits geltenden gesetzlichen Verpflich-
tungen nachkommen und den möglichen Lebensmittelbetrug im Rahmen ihrer Selbst-
kontrolle berücksichtigen. Viele Lebensmittelbetriebe sind nach privatrechtlichen
Standards zertifiziert, bei denen Lebensmittelbetrug integriert ist. Betriebe, die ihre
779 / 931
Verantwortung im Rahmen der Selbstkontrolle nicht ausreichend wahrnehmen, müs-
sen zusätzliche Massnahmen ergreifen, was mit Mehraufwand verbunden sein kann.
Dieser Mehraufwand ist aber nicht der Neuregelung anzurechnen, sondern würde bei
einer korrekten Umsetzung der Selbstkontrolle bereits heute anfallen.
Es kann davon ausgegangen werden, dass die vorgeschlagenen Änderungen des LMG
das Wirtschaftswachstum und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen positiv be-
einflussen.
2.12.9.6.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
Durch das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit wird in dessen Geltungsbereich si-
chergestellt, dass der Gesundheitsschutz in der Schweiz stets auf demselben Niveau
sein wird wie in den Nachbarstaaten. Zudem erfolgt aufgrund der Teilnahme an den
entsprechenden Informationssystemen der EU eine raschere Information bezüglich
nicht sicherer und gesundheitsgefährdender Produkte, welche vom Markt genommen
werden müssen.
Aktuell ist der Gesundheitsschutz in der Schweiz nicht immer auf demselben Niveau
wie in der EU, da die in den EU-Erlassen verankerten neuen Höchstwerte oder andere
für den Gesundheitsschutz relevante Vorschriften häufig erst Monate nach deren An-
wendung in der EU ins schweizerische Recht übernommen werden.
Die Anpassung der rechtlichen Rahmenbedingungen im Online-Handel an diejenigen
im physischen Verkauf ist positiv. Dadurch wird sichergestellt, dass die Verbrauche-
rinnen und Verbraucher unabhängig vom Verkaufskanal gleich gut geschützt sind.
Der verbesserte Informationsaustausch zwischen den Behörden ermöglicht gezieltere
Kontrollen und hilft mit, Verstösse gegen die Lebensmittelgesetzgebung besser zu
bekämpfen.
2.12.9.6.5
Auswirkungen auf die Umwelt
Der Umsetzungserlass im Bereich der Lebensmittelgesetzgebung hat keine Auswir-
kungen auf die Umwelt.
2.12.9.6.6
Andere Auswirkungen
Es sind keine anderen Auswirkungen zu erwarten.
2.12.9.7
Rechtliche Aspekte des Umsetzungserlasses
2.12.9.7.1
Verfassungsmässigkeit
Bundeskompetenz im Bereich der Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände
Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit zieht eine Totalrevision der Lebensmittel-
gesetzgebung nach sich (s. Ziff. 2.12.9.4). Nach Artikel 118 Absatz 2 BV erlässt der
Bund Vorschriften über «den Umgang mit Lebensmitteln sowie mit Heilmitteln, Be-
täubungsmitteln, Organismen, Chemikalien und Gegenständen, welche die Gesund-
heit gefährden können.» Der Bund hat in diesem Bereich eine umfassende Gesetzge-
bungskompetenz.
780 / 931
Soweit der VE-LMG den Zweck verfolgt, Verbraucherinnen und Verbraucher im Zu-
sammenhang mit Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen vor Täuschung zu
schützen (s. Art. 1 Bst. c VE-LMG), findet sich die diesbezügliche Verfassungsgrund-
lage in Artikel 97 Absatz 1 BV.
Auch Artikel 105 (Alkohol) gehört zu den kompetenzbegründenden Verfassungsbe-
stimmungen des VE-LMG. Diesbezüglich ist vorliegend (z. B. bei der Kontrolle des
Online-Handels) insbesondere von Bedeutung, dass der Bund den schädlichen Wir-
kungen des Alkoholkonsums Rechnung zu tragen hat.
Vereinbarkeit mit Grundrechten
Der VE-LMG greift in Grundrechte ein, so namentlich die Wirtschaftsfreiheit (Art. 27
BV) und die Eigentumsgarantie (Art. 26 BV). Gemäss Artikel 36 BV bedürfen Ein-
schränkungen von Grundrechten einer gesetzlichen Grundlage. Schwerwiegende Ein-
schränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein. Ausgenommen sind Fälle
ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr. Einschränkungen von
Grundrechten müssen durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von
Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein. Sie müssen zudem verhältnismässig sein und
dürfen den Kerngehalt der betroffenen Grundrechte nicht antasten.
Die im VE-LMG enthaltenen Regelungen zum Schutz der Gesundheit, dem Schutz
vor Täuschung sowie zur Information der Verbraucherinnen und Verbraucher greifen
nur soweit in die Grundrechte ein, als dies zum Erreichen der in Artikel 1 festgelegten
Ziele erforderlich ist. Zudem tragen sie dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz Rech-
nung
.
Der Anspruch auf ein zweites Sachverständigengutachten beim Vollzug (Art. 80)
ergibt sich aus Artikel 29 Absatz 1 BV, wonach jede Person in Verfahren vor Ge-
richts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung hat.
2.12.9.7.2
Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen
der Schweiz
In den Bereichen Lebensmittel und Bedarfsgegenstände sollen die im Anhang I des
Protokolls zur Lebensmittelsicherheit aufgeführten EU-Erlasse künftig direkt Anwen-
dung finden. Schon bisher hat die Schweiz ihr Recht im Rahmen des Landwirtschafts-
abkommens mit dem einschlägigen EU-Recht laufend harmonisiert. Dabei wurde die
Kompatibilität mit dem WTO-Recht bereits geprüft.
Soweit der VE-LMG Bestimmungen enthält, die aus dem geltenden Lebensmittel-
recht übernommen worden sind, kann ebenfalls davon ausgegangen werden, dass sie
WTO-rechtlich nicht zu Problemen führen werden. Weder bei deren Erlass 2014 noch
in den Jahren seither ist es bisher zu einem Streit betreffend ihre WTO-Kompatibilität
gekommen. Inwieweit das darauf abgestützte Verordnungsrecht WTO-kompatibel ist,
wird bei der Verabschiedung der betreffenden Verordnungen zu prüfen sein. Im Rah-
men des Abkommens werden keine Bereiche aus dem Lebensmittelrecht der EU ins
Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integriert, die nicht auch schon im Rahmen des
autonomen Nachvollzugs im Schweizer Lebensmittelrecht geregelt wurden.
781 / 931
Die übrigen Abkommen mit Vertragspartnern ausserhalb der EU und der Europäi-
schen Freihandelsassoziation beinhalten ebenfalls Marktzugangsverpflichtungen. Der
VE-LMG steht zu diesen Abkommen nicht im Widerspruch. Die Errichtung eines ge-
meinsamen Lebensmittelsicherheitsraums mit der EU bedingt, dass in der Schweiz in
den vom Protokoll zur Lebensmittelsicherheit abgedeckten Bereichen grundsätzlich
jederzeit dasselbe Recht gilt wie in der EU. Die Schweiz hat ihr Lebensmittelrecht
gestützt auf das Landwirtschaftsabkommen sowie im Rahmen des autonomen Nach-
vollzugs von EU-Recht schon bisher weitestgehend an dasjenige der EU angepasst.
Bisher haben sich daraus keine Probleme mit den Handelspartnern der Schweiz erge-
ben. Es kann davon ausgegangen werden, dass auch das vorliegende Protokoll zur
Lebensmittelsicherheit nichts daran ändert. Dies insbesondere auch deshalb, weil die-
ses im Bereich der Lebensmittelgesetzgebung ausschliesslich Anforderungen an die
Sicherheit von Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen festlegt. Tarifäre und andere
Aspekte, die gegebenenfalls zu Konflikten mit anderen Handelspartnern der Schweiz
führen könnten, sind nicht Bestandteil des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit.
2.12.9.7.3
Erlassform
Vorliegend wird ein Bundesgesetz totalrevidiert. Die Erlassform ist beizubehalten.
Zur Frage der Bündelung der Umsetzungsgesetzgebung, siehe Ziff. 4.3.
2.12.9.7.4
Vorläufige Anwendung
Es ist keine vorläufige Anwendung des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit vorge-
sehen. Dies gilt ebenfalls mit Bezug auf den VE-LMG.
2.12.9.7.5
Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass
Unterstellung unter die Ausgabenbremse
Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV sieht zum Zweck der Ausgabenbegrenzung vor,
dass Subventionsbestimmungen sowie Verpflichtungskredite und Zahlungsrahmen,
die neue einmalige Ausgaben von mehr als 20 Millionen Franken oder wiederkeh-
rende Ausgaben von mehr als 2 Millionen Franken nach sich ziehen, in jedem der
beiden Räte der Zustimmung der Mehrheit aller Mitglieder bedürfen. Mit der Umset-
zung im Bereich der Lebensmittelgesetzgebung werden weder neue Subventionsbe-
stimmungen (die Ausgaben über einem der Schwellenwerte nach sich ziehen) ge-
schaffen, noch neue Verpflichtungskredite / Zahlungsrahmen (mit Ausgaben über
einem der Schwellenwerte) beschlossen.
Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der fiskalischen Äquivalenz
Die Umsetzung im Bereich der Lebensmittelgesetzgebung tangiert die Aufgabentei-
lung oder die Aufgabenerfüllung durch Bund und Kantone nicht.
Einhaltung der Grundsätze des Subventionsgesetzes
782 / 931
Mit der Umsetzung im Bereich der Lebensmittelgesetzgebung werden keine neuen
Subventionsbestimmungen geschaffen. Artikel 31 Absatz 4 wurde aus dem geltenden
Recht übernommen (Art. 24 Abs. 3 LMG).
Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen
Die Bestimmungen des VE-LMG legen die Grundsätze sowie alle Bereiche fest, die
gemäss Artikel 164 Absatz 1 BV einer Grundlage in einem formellen Gesetz bedür-
fen. Das im Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit gelistete EU-Recht
enthält teilweise sehr detaillierte Vorschriften, die den Rahmen dessen übersteigen,
was nach Artikel 164 Absatz 1 BV auf der Ebene eines formellen Gesetzes geregelt
werden muss. Nach Artikel 164 Absatz 2 BV können Rechtsetzungsbefugnisse durch
Bundesgesetz übertragen werden, soweit dies nicht durch die Bundesverfassung aus-
geschlossen wird.
Im Hinblick auf das Erreichen der Ziele nach Artikel 1 VE-LMG wird dem Bundesrat
in mehreren Delegationsbestimmungen die Kompetenz übertragen, die Einzelheiten
zu den auf Gesetzesstufe verankerten Grundsatzbestimmungen auf Verordnungsstufe
zu regeln. Der Spielraum bei der Wahrnehmung dieser Kompetenz wird künftig klei-
ner, da ins Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integriertes EU-Recht in der Schweiz
direkt angewendet wird.
Der Bereich der Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände ist stetem Wandel unterzo-
gen. Um das Recht stets auf dem neusten Stand von Technik und Wissenschaft halten
zu können, besteht ein ausgesprochenes Bedürfnis nach Flexibilität der Regelungen.
Hinzu kommt, dass sich die wirtschaftlichen und technologischen Entwicklungen
kaum voraussagen lassen. Der Umsetzung der Ziele nach Artikel 1 Buchstaben a und
b (Sicherheit der Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände, hygienischer Umgang mit
Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen) dienen folgende Artikel: 2 Absatz 5,
9 Absatz 2, 10 Absatz 2 Buchstabe c, 14 Absatz 2, 17 Absatz 3 Buchstaben a und b,
17 Absatz 4 Buchstabe a, 18 Absatz 2 Buchstaben a und b, 19 Absatz 3, 20 Absatz 3,
21 Absatz 3, 22 Absatz 2, 23 Absatz 1, 24, 25 Absätze 1 und 2, 26 Absatz 2, 32 Ab-
satz 3, 33 Absätze 5 und 6, 36 Absatz 3, 43 Absatz 2 sowie 44 Absätze 3 und 4.
Artikel 1 Buchstaben c und d nennen als Ziele des Lebensmittelgesetzes den Schutz
vor Täuschungen im Zusammenhang mit Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen
sowie die Bereitstellung der für den Erwerb von Lebensmitteln oder Gebrauchsgegen-
ständen notwendigen Informationen zuhanden der Verbraucherinnen und Verbrau-
cher. Auch in diesen Bereichen ist es wichtig, dass die Behörden Einzelheiten regeln
können, um zeitnah auf Veränderungen zu reagieren. Es handelt sich um folgende
Artikel: 12 Absatz 4 Buchstaben a, c und d, 12 Absatz 5 Buchstaben d und e, 13 Ab-
satz 3, 17 Absatz 3 Buchstaben c und d, 17 Absatz 4 Buchstabe b, 23 Absatz 2 und 34
Absatz 3.
Einzelne EU-Rechtsakte, die in Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit
aufgelistet sind und künftig auch für die Schweiz gelten, überlassen es den Mitglied-
staaten und künftig auch der Schweiz, die Einzelheiten zu regeln und gewisse Aus-
783 / 931
nahmen vorzusehen. Der VE-LMG überträgt dem Bundesrat in diesen Bereichen ent-
sprechende Regelungskompetenzen. Zudem muss dem Bundesrat ermöglicht werden,
gewisse Anpassungen vorzunehmen, sollte sich im betreffenden Bereich anderweitig
kurzfristig technischer Rechtsetzungsbedarf ergeben. Die erwähnten Regelungskom-
petenzen finden sich in: Artikel 10 Absatz 2 Buchstaben a und b, 10 Absatz 3, 11 Ab-
satz 4 Buchstabe a, 12 Absatz 4 Buchstabe b, 12 Absatz 5 Buchstaben a–c, 16 Ab-
satz 3 sowie 57 Absatz 3.
Auch die Organisation und Sicherstellung des Vollzugs erfordert das Regeln techni-
scher Einzelheiten, die einen Detailierungsgrad aufweisen, welcher nicht unter Arti-
kel 164 Absatz 1 BV fällt. Dasselbe gilt bezüglich der Zusammenarbeit mit dem Aus-
land und internationalen Organisationen. Im Einzelnen handelt es sich um folgende
Artikel: 6 Absatz 2, 15 Absatz 4, 27 Absatz 2, 37 Absatz 3, 41, 51 Absatz 2, 54 Ab-
sätze 2 und 3, 55, 56 Absatz 3, 57 Absatz 1, 63 Absatz 1, 65, 66 Absätze 2 und 4, 67
Absatz 1, 69 Absätze 4 und 5, 72 Absätze 3-5, 73 Absatz 2, 74 Absatz 4, 75 Absatz 6,
76 Absatz 1, 77 Absatz 4 sowie 87 Absatz 5.
2.12.9.7.6
Datenschutz
Der Vorentwurf zur Änderung des LMG enthält die Anpassungen im Rahmen der
Umsetzung des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit, insbesondere hinsichtlich des
in Anhang I dieses Protokolls aufgeführten EU-Rechts, und beschreibt die Grundsätze
und Rechtsgrundlagen in Bezug auf die Bearbeitung von Personendaten, wobei der
Bearbeitungszweck unverändert bleibt.
Der bisherige Artikel 60 LMG mit den Rechtsgrundlagen zur Bearbeitung von Perso-
nendaten wird erweitert (Art. 73 VE-LMG). Neu ist, dass auch die nicht mit dem Voll-
zug der Lebensmittelgesetzgebung beauftragten Stellen von Bund und Kantonen be-
rechtigt werden, denjenigen, die mit dem Vollzug der Lebensmittelgesetzgebung
beauftragt sind, die hierfür erforderlichen Informationen zukommen zu lassen. Dies
soll auch für Dritte gelten, die mit Aufgaben nach den Artikeln 14–16, 18, 64 und 180
LwG betraut sind.
Eine Betriebsanalyse bei begründetem Verdacht (VE-BArt. 74) hat die Risikobeurtei-
lung des Betriebs zum Ziel und dient nicht der Erstellung eines Risikoprofils von na-
türlichen Personen.
Ausserdem wurde ein rechtlicher Rahmen für die Bekanntgabe von Informationen
zwischen den Behörden geschaffen (VE-Art. 75). Das Ziel ist, einen schnellen und
effizienten Informationsaustausch innerhalb der von der Lebensmittelgesetzgebung
festgelegten Zwecke zu pflegen. Dazu wurden die Behörden und Vollzugsorgane, die
solche Daten austauschen können, eindeutig festgelegt. Der Austausch besonders
schützenswerter Daten erfolgt ausschliesslich auf Anfrage.
Gemäss Anhang I Abschnitt 2 Überschrift C des Protokolls zur Lebensmittelsicher-
heit gilt jeder Verweis auf die EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) bei eu-
ropäischen Regelungen als Verweis auf das Bundesgesetz vom 25. September 2020
784 / 931
über den Datenschutz (DSG), das gemäss Angemessenheitsfeststellung von Seiten der
EU (erneuert 2024)
725
ein angemessenes Mass an Datenschutz bietet.
Es werden auch Vollzugsbestimmungen erlassen mit dem Ziel, die Pflichten der Stel-
len zu definieren, die für die Bearbeitung von Daten verantwortlich sind, und um die
Rechte von Einzelpersonen insbesondere hinsichtlich der Vertraulichkeit zu sichern.
2.12.10
Umsetzung in der Landwirtschafts- und Waldgesetzgebung
2.12.10.1
Landwirtschafts- und Waldgesetzgebung
Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit regelt auch die Themenbereiche Tierzucht,
Pflanzengesundheit und Produktionsmittel. Diese sind im 6. und 7. Titel des Bundes-
gesetzes vom 29. April 1998
726
über die Landwirtschaft (Landwirtschaftsgesetz,
LwG) und im Bundesgesetz vom 4. Oktober 1991
727
über den Wald (Waldgesetz,
WaG) geregelt. Beide Gesetze und darauf abgestützte Ausführungserlasse müssen da-
her in diesen Bereichen angepasst werden. Die agrarpolitischen Instrumente sind vom
Abkommen nicht betroffen und die Schweiz bleibt in der Ausgestaltung der Agrarpo-
litik eigenständig.
In den Artikeln 141 LwG (Zuchtförderung) und 148 LwG (Ausführungsbestimmun-
gen zu Pflanzenschutz und Produktionsmitteln) soll auf den Anhang 1 des Protokolls
zur Lebensmittelsicherheit verwiesen werden. Damit soll aus dem LwG hervorgehen,
dass Anhang 1 des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit die in der Schweiz direkt
anwendbaren EU-Rechtsakte über die Tierzucht, den Pflanzenschutz und die Produk-
tionsmittel enthält.
Zudem wird darauf hingewiesen, dass der Bund in diesen Bereichen die erforderlichen
Ausführungsbestimmungen zum Protokoll zur Lebensmittelsicherheit erlassen kann.
Die in Artikel 154ff. LwG enthaltenen Regelungen, wer die Schadorganismenbe-
kämpfungen innerhalb der Schweiz durchzuführen hat und wie die Kosten getragen
und Abfindungen geregelt werden, bleiben bestehen. Auch der 8. Titel des LwG
(Rechtsschutz, Verwaltungsmassnahmen und Strafbestimmungen) bleibt unverän-
dert. Bei Widerhandlungen gegen Bestimmungen, auf die neu in den Artikeln 141 und
148 LwG verwiesen wird, können die gleichen Massnahmen ergriffen werden wie bei
den übrigen Widerhandlungen gegen das LwG und dessen Ausführungsbestimmun-
gen.
In den Bereichen der Pflanzengesundheit und der Produktionsmittel (Pflanzenver-
mehrungsmaterial) ist auch das Waldgesetz betroffen. Auch hier sind Anpassungen
nötig. Einerseits, um die künftige direkte Anwendung der in das Protokoll zur Lebens-
mittelsicherheit integrierten EU-Bestimmungen in Bezug auf die Massnahmen zur
Verhütung und Behebung von Schäden zu gewährleisten, die durch besonders gefähr-
liche Schadorganismen verursacht werden und andererseits, um einen reibungslosen
Vollzug sicherstellen zu können.
725
Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die erste Über-
prüfung der Wirkungsweise der Angemessenheitsfeststellungen gemäss Artikel 25 Absatz
6 der Richtlinie 95/46/EG, S. 15; COM(2024) 7 final.
726
SR
910.1
727
SR
921.0
785 / 931
Die künftige direkte Anwendung der ins Protokoll zur Lebensmittelsicherheit inte-
grierten einschlägigen EU-Bestimmungen zieht auch gewisse Anpassungen in den
entsprechenden Verordnungen nach sich: Viele Bestimmungen können aufgehoben,
andere müssen angepasst werden. Nachstehend werden die wichtigsten Anpassungen
im Verordnungsrecht pro Bereich aufgezeigt.
2.12.10.1.1
Pflanzengesundheit
Im Hinblick auf die Aktualisierung von Anhang 4 des Landwirtschaftsabkommens
wird das Schweizer Pflanzengesundheitsrecht regelmässig an das aktuell geltende
Pflanzengesundheitsrecht in der EU, die Verordnung (EU) 2016/2031 des Europäi-
schen
Parlaments
und
des
Rates
vom
26.
Oktober
2016
728
(«EU-
Pflanzengesundheitsverordnung») und die gestützt darauf erlassenen Durchführungs-
erlasse der Europäischen Kommission, angepasst. Die EU-Kontrollverordnung (Ver-
ordnung (EU) 2017/625) hingegen ist nicht Teil des geltenden Landwirtschaftsab-
kommens. Ihre Bestimmungen werden im Bereich der Pflanzengesundheit heute nur
teilweise von der Schweiz autonom nachvollzogen.
Neu werden die Bestimmungen der EU-Pflanzengesundheitsverordnung und der EU-
Kontrollverordnung sowie der gestützt darauf erlassenen Durchführungserlasse der
Europäischen Kommission mit ihrer Integration in den Anhang I des Protokolls zur
Lebensmittelsicherheit in der Schweiz grundsätzlich direkt angewendet. Im Schwei-
zer Recht werden die EU-Bestimmungen lediglich bei Bedarf präzisiert oder mit Best-
immungen ergänzt, welche unter anderem die Zuständigkeiten für den Vollzug und
die Finanzierung der Massnahmen regeln. Dadurch kann auf neue pflanzengesund-
heitliche Risiken bei der Einfuhr oder im Inland zukünftig schneller als heute reagiert
werden.
Wo das EU-Recht Bereiche im Geltungsbereich des Protokolls zur Lebensmittelsi-
cherheit nicht abschliessend regelt, wird die Schweiz – analog zu den Mitgliedsstaaten
der EU – betreffend pflanzengesundheitliche Massnahmen auf dem eigenen Territo-
rium weiterhin einen gewissen Spielraum haben. Sie kann beispielsweise Massnah-
men zur Tilgung eines auftretenden Quarantäneorganismus im Einzelfall weiterhin
selbst anordnen. Ein allfälliger Wechsel von der Tilgungs- zur Eindämmungsstrategie
jedoch kann zu einem höheren phytosanitären Risiko für die Nachbarländer führen.
Deswegen ist es wichtig, dass solche Entscheidungen für den gesamten Lebensmittel-
sicherheitsraum einheitlich gefällt werden. Im Falle, dass ein Quarantäneorganismus
nicht mehr getilgt werden kann, wird nach dem Protokoll zur Lebensmittelsicherheit
daher zukünftig die Europäische Kommission Massnahmen zur Eindämmung des
728
Verordnung (EU) 2016/2031 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober
2016 über Massnahmen zum Schutz vor Pflanzenschädlingen, zur Änderung der Verord-
nungen (EU) Nr. 228/2013, (EU) Nr. 652/2014 und (EU) Nr. 1143/2014 des Europäischen
Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinien 69/464/EWG, 74/647/EWG,
93/85/EWG, 98/57/EG, 2000/29/EG, 2006/91/EG und 2007/33/EG des Rates ABl. L 317
vom 23.11.2016, S. 4, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2024/3115 des Europäi-
schen Parlaments und des Rates vom 27. November 2024, ABl. L, 2024/3115 vom
16.12.2024.
786 / 931
Schadorganismus festlegen, welche auch für die Schweiz verbindlich sind. In die Ent-
scheidungsfindung wird die Schweiz eingebunden sein und ihre Interessen damit aktiv
einbringen können.
Pflanzengesundheitsverordnungen
Im Bereich der Pflanzengesundheit müssen die bestehenden Verordnungen des Bun-
desrates (Verordnung vom 31. Oktober 2018
729
über den Schutz von Pflanzen vor
besonders gefährlichen Schadorgansimen, Pflanzengesundheitsverordnung, PGesV),
der Departemente WBF und UVEK (Verordnung des WFB und des UVEK vom 14.
November 2019
730
zur Pflanzengesundheitsverordnung, PGesV-WBF-UVEK) und
der Bundesämter BAFU und BLW (Verordnung des BAFU vom 29. November
2017
731
über phytosanitäre Massnahmen für den Wald, VpM-BAFU, und Verordnung
des BLW vom 29. November 2019
732
über phytosanitäre Massnahmen für die Land-
wirtschaft und den produzierenden Gartenbau, VpM-BLW) totalrevidiert werden. Ein
grosser Teil der aktuellen Bestimmungen – insbesondere Listen der Schadorganis-
men, geregelten Waren und Anforderungen für die Einfuhr und das Inverkehrbringen
– kann dabei aufgehoben werden. Ein Teil der Verordnungsbestimmungen wird bei-
behalten – vor allem betreffend die Finanzierung und Zuständigkeiten. Teilweise müs-
sen neu die einschlägigen Bestimmungen der EU im Schweizer Recht präzisiert oder
ergänzt werden.
Waldverordnung
Die Ergänzung von Artikel 26 WaG hat auch Auswirkungen auf die Verordnung vom
30. November 1992
733
über den Wald (Waldverordnung, WaV). Heute verweist Ar-
tikel 28 Absatz 2 WaV für die materiellen Regelungen zur Überwachung und Be-
kämpfung von besonders gefährlichen Schadorganismen (bgSO) auf die PGesV. Die-
ser Verweis kann gestrichen werden, weil die Regelungen der EU zur Überwachung
und Bekämpfung von bgSO neu mit ihrer Aufnahme ins Protokoll zur Lebensmittel-
sicherheit auch in der Schweiz grundsätzlich direkt anwendbar sind. Artikel 26 Absatz
1
bis
des Waldgesetzes verweist künftig auf das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit.
GebV-BAFU und FrSV
Die Gebührenverordnung vom 3. Juni 2005
734
über die Gebühren des Bundesamtes
für Umwelt (Gebührenverordnung BAFU, GebV-BAFU) als auch die Verordnung
729
SR
916.20
730
SR
916.201
731
SR
916.202.2
732
SR
916.202.1
733
SR
921.01
734
SR
814.014
787 / 931
vom 10. September 2008
735
über den Umgang mit Organismen in der Umwelt (Frei-
setzungsverordnung, FrSV) verweisen auf einzelne Bestimmungen der PGesV. Diese
Verweise sind anzupassen, um auf das einschlägige EU-Recht zu verwiesen.
GebV-BAFU und FrSV
Die Gebührenverordnung vom 3. Juni 2005
736
über die Gebühren des Bundesamtes
für Umwelt (Gebührenverordnung BAFU, GebV-BAFU) als auch die Verordnung
vom 10. September 2008
737
über den Umgang mit Organismen in der Umwelt (Frei-
setzungsverordnung, FrSV) verweisen auf einzelne Bestimmungen der PGesV. Diese
Verweise sind anzupassen, um auf das einschlägige EU-Recht zu verwiesen.
2.12.10.1.2
Pflanzenvermehrungsmaterial
Die Regulierung des Pflanzenvermehrungsmaterials umfasst Qualitäts- und Identi-
tätsstandards, die sich in der Schweiz wie in zahlreichen anderen Ländern im Verlauf
eines Jahrhunderts entwickelten. Für den EU-Binnenmarkt wird das Pflanzenvermeh-
rungsmaterial sektorspezifisch in insgesamt 12 Richtlinien des Rates und den gestützt
darauf erlassenen Rechtsakten geregelt. Sie wurden gesamthaft in den Anhang I des
Protokolls zur Lebensmittelsicherheit integriert. Sieben Richtlinien sind bereits Be-
standteil des geltenden Landwirtschaftsabkommens. Fünf Richtlinien, die in der Ver-
gangenheit noch nicht Bestandteil des Landwirtschaftsabkommens waren, erfordern
eine Umsetzung:
1.
Richtlinie 98/56/EG des Rates vom 20. Juli 1998 über das Inverkehrbringen
von Vermehrungsmaterial von Zierpflanzen
738
,
2.
Richtlinie 1999/105/EG des Rates vom 22. Dezember 1999 über den Verkehr
mit forstlichem Vermehrungsgut
739
,
3.
Richtlinie 2008/72/EG des Rates vom 15. Juli 2008 über das Inverkehrbringen
von Gemüsepflanzgut und Gemüsevermehrungsmaterial mit Ausnahme von
Saatgut
740
,
4.
Richtlinie 2002/55/EG des Rates vom 13. Juni 2002 über den Verkehr mit
Gemüsesaatgut
741
und
735
SR
814.911
736
SR
814.014
737
SR
814.911
738
Richtline 98/56/EG des Rates vom 20. Juli 1998 über das Inverkehrbringen von Vermeh-
rungsmaterial von Zierpflanzen, ABl. L 226 vom 13.8.1998, S. 16 ; zuletzt geändert durch
Richtlinie 2003/61/EG des Rates vom 18. Juni 2003, ABl. L 165 vom 3.7.2003, S. 23.
739
Richtlinie 1999/105/EG des Rates vom 22. Dezember 1999 über den Verkehr mit forstli-
chem Vermehrungsgut, ABl. L 11 vom 15.1.2000, S. 17.
740
Richtlinie 2008/72/EG des Rates vom 15. Juli 2008 über das Inverkehrbringen von Gemü-
sepflanzgut und Gemüsevermehrungsmaterial mit Ausnahme von Saatgut (kodifizierte
Fassung), ABl. L 205 vom 01/08/2008, S. 28.
741
Richtlinie 2002/55/EG des Rates vom 13. Juni 2002 über den Verkehr mit Gemüsesaatgut
ABl. L 193 vom 20.7.2002, S. 33
,
zuletzt geändert durch Richtlinie 2004/117/EG des Ra-
tes vom 22. Dezember 2004, ABl. L 14 vom 18.1.2005, S. 18.
788 / 931
5.
Richtlinie 2008/90/EG des Rates vom 29. September 2008 über das Inver-
kehrbringen von Vermehrungsmaterial und Pflanzen von Obstarten zur
Fruchterzeugung
742
.
Die Umsetzung bedeutet für Pflanzenvermehrungsmaterial von Gemüse-, Obst- und
Zierpflanzenarten inhaltliche Anpassungen auf Verordnungsstufe im Landwirt-
schaftsrecht. Für das forstliche Vermehrungsgut werden inhaltliche Anpassungen auf
Gesetzes- und Verordnungsstufe im Waldrecht (Waldgesetz, Waldverordnung, Ver-
ordnung über forstliches Vermehrungsgut) erforderlich. Letztere zwei Richtlinien er-
fordern lediglich ergänzende Anpassungen.
Vermehrungsmaterial-Verordnung
In der Verordnung vom 7. Dezember 1998
743
über die Produktion und das Inverkehr-
bringen von pflanzlichem Vermehrungsmaterial (Vermehrungsmaterial-Verord-
nung,) sind die prinzipiellen Grundlagen für landwirtschaftliches Pflanzenvermeh-
rungsmaterial geregelt. Geltungsbereich und Begriffsdefinitionen werden ergänzt und
erstrecken sich auch auf die Vermarktung von Pflanzenvermehrungsmaterial von
Zierpflanzen- und Gemüsearten zur nicht-gewerblichen Nutzung.
Schweizer Saatgutproduzent/-innen sollen Obst- und Gemüsesorten – wie bereits
heute Getreide-, Kartoffel-, und Futterpflanzensorten – aus dem EU-Sortenregister
vermehren können. Hierzu wird ein Bezug zum EU-Sortenregister in den Vorausset-
zungen für die Anerkennung, Vermarktung und Einfuhr von Pflanzenvermehrungs-
material hergestellt.
Die Schweiz wird am EU-Binnenmarkt für Pflanzenvermehrungsmaterial teilnehmen.
Die EU erweitert den Binnenmarkt für Acker- und Futterpflanzensaatgut um Dritt-
staaten, die sie als technisch äquivalent anerkennt. In den Bestimmungen zur Einfuhr
wird ein entsprechender Bezug hergestellt, der die nationalen Bestimmungen zur An-
erkennung der Gleichwertigkeit von Drittstaaten ersetzt.
Zur Nutzung phytogenetischer Ressourcen werden die Bestimmungen für Erhaltungs-
sorten umgesetzt, einschliesslich der Bestimmungen zu Erhaltungsmischungen von
Futterpflanzenarten und Amateursorten von Gemüsearten.
Bei vorübergehenden generellen Versorgungsschwierigkeiten wird anstelle der gel-
tenden Regelung von Aushilfssaatgut die entsprechende Ausnahmeregelung
744
für das
Inverkehrbringen von Saatgut mit niedrigeren Anforderungen im EU-Binnenmarkt
umgesetzt. Diese deckt nationale oder multinationale Versorgungsschwierigkeiten
mit einem Bewilligungsverfahren der Europäischen Kommission ab.
742
Richtlinie 2008/90/EG des Rates vom 29. September 2008 über das Inverkehrbringen von
Vermehrungsmaterial und Pflanzen von Obstarten zur Fruchterzeugung (Neufassung) ABl.
L 267 vom 8.10.2008, S. 8.
743
SR
916.151
744
Siehe Artikel 17 der RL 66/402/EG für Aushilfssaatgut von Getreide.
789 / 931
WBF-Vermehrungsmaterialverordnung Acker- und Futterpflanzen
Die Verordnung des WBF vom 7. Dezember 1998
745
über Vermehrungsmaterial von
Ackerpflanzen-, Futterpflanzen- und Gemüsearten (WBF-Vermehrungsmaterial-
verordnung Acker- und Futterpflanzen) enthält die Durchführungsbestimmungen zur
Sortenregistrierung und Saatgutanerkennung von Acker-, Futterpflanzen- und Gemü-
searten sowie entsprechende Bestimmungen zu Kartoffelpflanzgut. Sie wird entspre-
chend den Anpassungen der Vermehrungsmaterial-Verordnung ergänzt.
Obst- und Beerenobstpflanzgutverordnung des WBF
Die Verordnung des WBF vom 11. Juni 1999
746
über die Produktion und das Inver-
kehrbringen von anerkanntem Vermehrungsmaterial und Pflanzgut von Obst und Bee-
renobst (Obst- und Beerenobstpflanzgutverordnung des WBF) enthält Durchfüh-
rungsbestimmungen zum anerkannten Vermehrungsmaterial und Pflanzgut von
Obstarten. Neu wird sämtliches Vermehrungsmaterial und Pflanzgut von Obstarten
für die Fruchterzeugung geregelt, das heisst auch das nicht-anerkannte. Mit der Ein-
führung der Materialkategorie CAC
747
werden hierfür Mindestqualitätsanforderungen
festgelegt. Die heutige Liste der Obstarten wird um einzelne Obst-, Beerenobst- und
Nussbaumarten erweitert.
Waldverordnung
Da das forstliche Vermehrungsgut zu grossen Teilen aktuell auf Stufe Waldverord-
nung geregelt ist, müssen mit grosser Wahrscheinlichkeit auch mehrere Bestimmun-
gen in der Waldverordnung angepasst werden, damit sie in Einklang mit der Richtlinie
1999/105/EG stehen. Dies betrifft sowohl die Bestimmungen für die Einfuhr von
forstlichem Vermehrungsgut aus der EU und aus Drittländern als auch die Regelungen
zum nationalen Kataster der Samenerntebestände.
Zudem dürfte es notwendig sein, in der Waldverordnung eine Bestimmung aufzuneh-
men, wonach bei einem Lieferengpass auch forstliches Vermehrungsgut verwendet
werden kann, das den Anforderungen der Richtlinie 1999/105/EG nicht entspricht.
Die EU kennt bereits eine solche Ausnahme
748
, die Schweiz bisher hingegen nicht.
Schliesslich werden auch Ergänzungen zu den regelmässigen amtlichen Kontrollen
der registrierten Lieferanten von forstlichem Vermehrungsgut notwendig sein.
Verordnung über forstliches Vermehrungsgut
745
SR
916.151.1
746
SR
916.151.2
747
Conformitas Agragria Communitatis.
748
Siehe Art. 18 der Richtlinie 1999/105/EG.
790 / 931
Die Verordnung vom 29. November 1994
749
über forstliches Vermehrungsgut (Ver-
ordnung über forstliches Vermehrungsgut) ist in weiten Teilen aufgrund der künftigen
direkten Anwendung des einschlägigen EU-Rechts anzupassen. Beispielsweise wer-
den in der Schweiz und in der EU teilweise unterschiedliche Begriffe und Definitio-
nen verwendet. Des Weiteren sind Anpassungen dort angezeigt, wo es um die Einfuhr
von forstlichem Vermehrungsgut aus EU-Ländern geht und auch bei der Einfuhr von
Vermehrungsgut aus Drittländern. Die Anwendung der im EU-Recht enthaltenen
Bestimmungen zur Warenbuchhaltung, zur Betriebsführung und zur Kennzeichnung
muss ebenfalls sichergestellt werden. Ausserdem müssen die Anhänge angepasst wer-
den, da sie inhaltlich teilweise abweichen (z. B. unterschiedliche Arten auf den Baum-
artenlisten).
2.12.10.1.3
Pflanzenschutzmittel
Im Bereich Pflanzenschutzmittel führt die Umsetzung des Protokolls zur Lebensmit-
telsicherheit zu keinen grösseren materiellen Änderungen. So wurde die Verordnung
vom 12. Mai 2010
750
über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln (Pflan-
zenschutzmittelverordnung; PSMV) in den letzten Jahren bereits mehrfach revidiert,
um autonome Anpassungen an das EU-Recht vorzunehmen.
Mit dem Protokoll zur Lebensmittelsicherheit wird erreicht, dass die Schweiz in das
gemeinschaftliche System für das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln inte-
griert wird. Eine vollständige Übernahme der Bestimmungen der Verordnung (EG)
Nr. 1107/2009
751
des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009
über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln war bis anhin nicht möglich.
Zahlreiche Bestimmungen dieser Verordnung und der entsprechenden Durchfüh-
rungsverordnungen betreffen nämlich die Gemeinschaftsverfahren, an denen die
Schweiz ohne spezifisches Kooperationsabkommen nicht teilnehmen konnte. Um
denselben Status wie ein Mitgliedstaat zu erlangen, müssen auch die Bestimmungen
der Richtlinie 2009/128/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Ok-
tober 2009
752
über einen Aktionsrahmen der Gemeinschaft für die nachhaltige Ver-
wendung von Pestiziden übernommen werden.
Erlangt die Schweiz in diesem Bereich den gleichen Status wie ein Mitgliedstaat, wird
sie Zugang zu zahlreichen Daten- und Informationsquellen der Europäischen Behörde
für Lebensmittelsicherheit (EFSA), der Europäischen Kommission oder Mitgliedstaa-
ten haben. Zudem wird sie sich aktiv an der Bewertung und Genehmigung von Wirk-
749
SR
921.552.1
750
SR
916.161
751
Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Ok-
tober 2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln und zur Aufhebung der
Richtlinien 79/117/EWG und 91/414/EWG des Rates, ABl. L 309 vom 24.11.2009, S. 1;
zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2019/1381 des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 20. Juni 2019, ABl. L 231 vom 6.9.2019, S. 1.
752
Richtlinie 2009/128/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober
2009 über einen Aktionsrahmen der Gemeinschaft für die nachhaltige Verwendung von
Pestiziden, ABl. L 309 vom 24.11.2009, S. 71; geändert durch Verordnung (EU)
2019/1243 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019, ABl. L 198
vom 25.7.2019, S. 241.
791 / 931
stoffen beteiligen können. Dies ist nicht nur im Interesse der Industrie und der An-
wenderinnen und Anwender von Pflanzenschutzmitteln, sondern wird auch den
Schutz für Mensch, Tier und Umwelt stärken.
Mit der direkten Anwendung des in das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit inte-
grierten EU-Rechts beim Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln muss die
Mehrheit der Verfahrens- sowie der materiellen Bestimmungen in Zukunft nicht mehr
auf Ebene des nationalen Rechts festgelegt werden.
Zukünftig wird das Bewertungs- und Genehmigungsverfahren für in Pflanzenschutz-
mitteln verwendete Wirkstoffe nach dem bereits jetzt innerhalb der EU geltenden Mo-
dell erfolgen. Die Bewertung und Zulassung der Pflanzenschutzmittel wird hingegen
auf nationaler Ebene in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten durchgeführt.
Wirkstoffe, die in Pflanzenschutzmitteln eingesetzt werden sollen, durchlaufen inner-
halb der EU ein sehr strenges Zulassungsverfahren. Für jeden Antrag führt die EFSA
eine Analyse sowie eine vertiefte wissenschaftliche Bewertung anhand von auf euro-
päischer Ebene harmonisierten Kriterien durch. Damit ein Wirkstoff genehmigt wird,
muss die Bewertung zeigen, dass er keinerlei unannehmbares Risiko für die Gesund-
heit von Mensch oder Tier aufweist und auch keine unzulässige Umweltbelastung
darstellt. Nach Abschluss dieser Etappe prüft die Europäische Kommission als für das
Risikomanagement zuständige Behörde das Dossier im Rahmen des Ausschussver-
fahrens, bei dem die Mitgliedstaaten und zukünftig auch die Schweiz konsultiert wer-
den. Das Ausschussverfahren umfasst eine Reihe von Verfahrensschritten, die den
EU-Mitgliedstaaten ein Mitspracherecht bei von der Europäischen Kommission ver-
abschiedeten Durchführungsrechtsakten geben.
Die Zulassung der Pflanzenschutzmittel an sich erfolgt hingegen weiterhin auf natio-
naler Ebene. Für die Verwaltung der Zulassungen ist die EU in drei geografische Zo-
nen unterteilt: Norden, Mitte und Süden. Die Zulassungsanträge werden von einem
als Berichterstatter bezeichneten Mitgliedstaat bewertet; für jede Zone und jedes Dos-
sier wird ein solcher Berichterstatter benannt. Bei der Bewertung haben alle Mitglied-
staaten aus derselben Zone die Möglichkeit, ihre Beobachtungen einzubringen. Durch
die Ratifizierung des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit wird die Schweiz Teil der
Zone Mitte.
Dieses Zulassungskonzept ermöglicht die Berücksichtigung rechtlicher Besonderhei-
ten der Mitgliedstaaten derselben Zone, insbesondere in Bezug auf den Grundwasser-
schutz. Nach erfolgter Bewertung gewähren oder verweigern die betreffenden Mit-
gliedstaaten und die Schweiz die Zulassung. Doch auch im Falle einer Zulassung kann
jeder Mitgliedstaat sowie die Schweiz noch besondere Bedingungen festlegen, wie
etwa Einschränkungen für die Anwendung oder zusätzliche Anforderungen, vor allem
zum Schutz von besonders schützenswerten Gebieten oder zur Umsetzung lokaler
umweltpolitischer Vorgaben.
Dieser Ansatz gewährleistet ein hohes Schutzniveau für die öffentliche Gesundheit
und die Umwelt, während gleichzeitig auch das harmonisierte Inverkehrbringen von
Pflanzenschutzmitteln auf dem Gebiet der EU und der Schweiz sichergestellt ist.
Diese direkte Anwendung des EU-Rechts wirkt sich auf die Gesetzgebung so aus,
dass alle materiellen Bestimmungen in der PSMV aufgehoben werden. Wie bereits
792 / 931
erwähnt sind diese Bestimmungen schon heute sehr ähnlich wie diejenigen im EU-
Recht. Somit verbleiben in der PSMV nur noch die Bestimmungen zur Organisation
der Zulassungsverfahren für Pflanzenschutzmittel sowie die Bestimmungen zu auf
europäischer Ebene nicht geregelten Bereichen (z. B. Inverkehrbringen von Makroor-
ganismen).
Ausserdem müssen die in der Verordnung über die Gebühren des Bundesamtes für
Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen vom 30. Oktober 1985
753
(Gebührenver-
ordnung BLV) festgelegten Gebühren erhöht werden. In der EU wird für jeden Zulas-
sungsantrag für ein Pflanzenschutzmittel ein Mitgliedstaat als für die Bewertung die-
ses Mittels verantwortlich bezeichnet. Dieser Mitgliedstaat bewertet das
Pflanzenschutzmittel unter Berücksichtigung der spezifischen nationalen Anforderun-
gen der verschiedenen Länder, die zu derselben Zone gehören. So wird die Arbeit
unter allen Mitgliedstaaten aufgeteilt. Mit der Integration der Schweiz in das Zonen-
System der EU müssen die Gebühren für die Zulassungsverfahren gleich hoch ange-
setzt werden wie in den anderen Ländern der Zone Mitte. Andernfalls besteht das
Risiko, dass die Unternehmen die Schweiz als Eingangstor für das Inverkehrbringen
ihrer Produkte nutzen, was aufgrund mangelnder Personalressourcen für die Bearbei-
tung der Anträge zu grösseren organisatorischen Problemen bei den Schweizer Be-
hörden führen könnte.
2.12.10.1.4
Futtermittel
Gemäss dem aktuellen Abkommen ist die zurzeit geltende Schweizer Gesetzgebung
in diesem Bereich aus technischer Sicht vollständig angeglichen an die Richtli-
nie 2002/32/EG
754
, die Verordnung (EG) Nr. 1831/2003
755
, die Verordnung (EG)
Nr. 183/2005
756
, die Verordnung (EG) Nr. 767/2009
757
sowie die Verordnung (EU)
753
SR
916.472
754
Richtlinie 2002/32/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. Mai 2002 über
unerwünschte Stoffe in der Tierernährung, ABl. L 140 vom 30.5.2002, S. 10; zuletzt geän-
dert durch Verordnung (EU) 2019/1243 des Europäischen Parlaments und des Rates vom
20. Juni 2019, ABl. L 198 vom 25.7.2019, S. 241.
755
Verordnung (EG) Nr. 1831/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom
22. September 2003 über Zusatzstoffe zur Verwendung in der Tierernährung, ABl. L 268
vom 18.10.2003, S. 29; zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2019/1381 des Europäi-
schen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019, ABl. L 231 vom 6.9.2019, S. 1.
756
Verordnung (EG) Nr. 183/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Ja-
nuar 2005 mit Vorschriften für die Futtermittelhygiene, ABl. L 35 vom 8.2.2005, S. 1; zu-
letzt geändert durch Verordnung (EU) 2019/1243 des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 20. Juni 2019, ABl. L 198 vom 25.7.2019, S. 241.
757
Verordnung (EG) Nr. 767/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom
13. Juli 2009 über das Inverkehrbringen und die Verwendung von Futtermitteln, zur Ände-
rung der Verordnung (EG) Nr. 1831/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates und
zur Aufhebung der Richtlinien 79/373/EWG des Rates, 80/511/EWG der Kommission,
82/471/EWG des Rates, 83/228/EWG des Rates, 93/74/EWG des Rates, 93/113/EG des
Rates und 96/25/EG des Rates und der Entscheidung 2004/217/EG der Kommission,
ABl. L 229 vom 1.9.2009, S. 1.
793 / 931
2017/625
758
. Durch die zukünftige direkte Anwendung des in das Protokoll zur Le-
bensmittelsicherheit integrierten EU-Rechts wird sich auf technischer Ebene für die
Schweiz nichts ändern. Der
Acquis
im Bereich GVO
759
sowie Fütterungsarzneimittel
bleibt bestehen.
Durch ihren Einbezug bei der Ausarbeitung von EU-Rechtsakten (
Decision Shaping
,
s. Ziff. 2.12.6 zu Art. 12 des Abkommens) wird es für die Schweiz möglich sein, sich
beim Zulassungsverfahren für Futtermittelzusatzstoffe oder andere Futtermittel stär-
ker einzubringen und das betreffende Verfahren auf nationaler Ebene zu vereinfachen
und zu beschleunigen.
Futtermittel-Verordnungen
Eine Totalrevision der Verordnung vom 26. Oktober 2011
760
über die Produktion und
das Inverkehrbringen von Futtermitteln (Futtermittel-Verordnung, FMV) ist notwen-
dig. Dies vor allem, um die Artikel aufzuheben, die aufgrund der direkten Anwendung
des in das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierten EU-Rechts überflüssig
werden. Die Vollzugsbestimmungen werden angepasst und diejenigen zu den GVO
beibehalten. Die Verordnung des WBF vom 26. Oktober 2011
761
über die Produktion
und das Inverkehrbringen von Futtermitteln, Zusatzstoffen für die Tierernährung und
Diätfuttermitteln (Futtermittelbuch-Verordnung, FMBV), die fast ausschliesslich aus
dem EU-Recht übernommene Bestimmungen enthält, sollte aufgehoben werden kön-
nen.
2.12.10.1.5
Tierzucht
Die Verordnung vom 31. Oktober 2012
762
über die Tierzucht (Tierzuchtverordnung,
TZV) ist bereits weitgehend kompatibel mit dem EU-Tierzuchtrecht. Mit der laufen-
den Totalrevision werden auch die Bestimmungen der Tierzuchtverordnung zum In-
verkehrbringen von Zuchttieren von und nach der EU entsprechend dem einschlägi-
gen EU-Recht ausgestaltet. Die Tierzuchtverordnung regelt schwergewichtig die
Finanzhilfen des Bundes. Diese werden bestehen bleiben. Es ist also nur mit gering-
fügigen Änderungen der Tierzuchtverordnung zu rechnen (v.a. um Doppelspurigkei-
ten zu vermeiden). Am heutigen System wird sich nichts ändern.
758
Verordnung (EU) 2017/625 des Europäischen Parlaments und des Rates vom
15. März 2017 über amtliche Kontrollen und andere amtliche Tätigkeiten zur Gewährleis-
tung der Anwendung des Lebens- und Futtermittelrechts und der Vorschriften über Tier-
gesundheit und Tierschutz, Pflanzengesundheit und Pflanzenschutzmittel, ABl. L 95 vom
7.4.2017, S. 1; zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2024/3115 des Europäischen Par-
laments und des Rates vom 27. November 2024, ABl. L 2024/3115 vom 16.12.2024.
759
Vgl. Art. 7 Bst. a des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit.
760
SR
916.307
761
SR
916.307.1
762
SR
916.310
794 / 931
2.12.10.1.6
Hygiene in der Primärproduktion (Futter- und
Lebensmittel)
Die Verordnung vom 23. November 2005
763
über die Primärproduktion (VPrP), die
die Sicherheit von Futtermitteln und Lebensmitteln auf der Stufe der Primärproduk-
tion gewährleisten soll, sowie die Milchprüfungsverordnung vom 20. Okto-
ber 2010
764
(MiPV) stützen sich sowohl auf das LwG als auch auf das LMG. Die Aus-
wirkungen des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit auf diese beiden Verordnungen
sind in Ziffer 2.12.9 «Umsetzung in der Lebensmittelgesetzgebung» beschrieben.
2.12.10.2
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
Die Verabschiedung einer Botschaft zu einem Lebensmittelsicherheitsabkommen mit
der EU in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode ist in der vom Bundesrat verab-
schiedeten Botschaft vom 24. Januar 2024 zur Legislaturplanung 2023–2027 ange-
kündigt. Der Abschluss des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit bildet somit Be-
standteil der Strategie des Bundesrates für die Jahre 2023–2027 und hat unter anderem
die Änderung des LwG sowie des WaG zur Folge. Der Bundesrat wird seine finanz-
politischen Entscheidungen im Rahmen der Erstellung des jährlichen Voranschlags
treffen.
2.12.10.3
Umsetzungsfragen
In den Bereichen Landwirtschaft und Wald stellen sich keine gesonderten Umset-
zungsfragen.
2.12.10.4
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der Umsetzungserlasse
2.12.10.4.1
Landwirtschaftsgesetz (LwG)
Art. 141
In Art. 141 LwG zur Zuchtförderung wird ein dritter Absatz hinzugefügt, der besagt,
dass der Bund die Ausführungsbestimmungen, die zur Umsetzung des Protokolls zur
Lebensmittelsicherheit erforderlich sind, erlassen kann.
Art. 148
In Art. 148 LwG betreffend die Ausführungsbestimmungen zu Pflanzenschutz und
Produktionsmitteln wird ein dritter Absatz hinzugefügt, der besagt, dass der Bund die
Ausführungsbestimmungen, die zur Umsetzung des Protokolls zur Lebensmittelsi-
cherheit erforderlich sind, erlassen kann.
763
SR
916.020
764
SR
916.351.0
795 / 931
2.12.10.4.2
Waldgesetz (WaG)
Art. 24 Abs. 2
Mit der Ergänzung von Artikel 24 Absatz 2 WaG kann sichergestellt werden, dass
vom Bundesrat erlassene Regelungen zur Ein- und Ausfuhr von forstlichem Vermeh-
rungsgut in die Schweiz und aus der Schweiz heraus ebenfalls auf einer gesetzlichen
Grundlage basieren und dass die Vorschriften der Richtlinie 1999/105/EG vollständig
umgesetzt werden können. Insbesondere im Verhältnis mit Drittstaaten sollen beim
Import und Export von forstlichem Vermehrungsgut andere Regeln gelten als bei der
Ein- und Ausfuhr aus EU-Mitgliedstaaten.
Art. 26
Artikel 26 WaG überträgt dem Bundesrat die Kompetenz, Vorschriften über Mass-
nahmen zur Verhütung und Behebung von Schäden zu erlassen, die durch Naturer-
eignisse oder Schadorganismen verursacht werden und die den Wald in seinen Funk-
tionen erheblich gefährden können. Diese Kompetenz bleibt weiterhin bestehen,
jedoch wird Artikel 26 WaG mit einem neuen Absatz 1
bis
ergänzt werden, wonach
sich die Massnahmen zur Verhütung und Behebung von Schäden, die durch besonders
gefährliche Schadorganismen verursacht werden, direkt nach dem im Protokoll zur
Lebensmittelsicherheit integrierten EU-Recht richten. Die besonders gefährlichen
Schadorganismen nach Absatz 1
bis
bilden dabei eine Teilmenge der Schadorganismen
gemäss Absatz 1.
Art. 50b
Mit Art. 50
b
soll neu eine Auskunftspflicht für jede Person vorgesehen werden. Damit
soll ein reibungsloser Vollzug der Waldgesetzgebung sichergestellt werden können.
Insbesondere im Bereich des forstlichen Vermehrungsguts haben die Behörden auf-
grund der Richtlinie 1999/105/EG künftig Pflichten, die sie teilweise nur dann ord-
nungsgemäss wahrnehmen können, wenn Dritte eine Mitwirkungspflicht haben. Die
Auskunftspflicht von jeder Person bildet somit das Gegenstück zu den Verpflichtun-
gen der Behörden. Künftig werden die Behörden in regelmässigen Abständen die na-
türlichen und juristischen Personen, die forstliches Vermehrungsgut gewerbsmässig
in Verkehr bringen oder in die Schweiz einführen, kontrollieren müssen. Dabei sind
die Behörden auf Daten, Dokumente und sonstige Unterlagen dieser Personen ange-
wiesen. Ohne eine gesetzlich verankerte Auskunftspflicht lässt sich eine ordnungsge-
mässe Kontrolle aber unter Umständen nicht durchführen. Die Auskunftspflicht reicht
im Einzelnen aber nur so weit, als es der Vollzug der Waldgesetzgebung tatsächlich
erfordert. Verfügt der Auskunftspflichtige nicht über die Unterlagen, so muss er al-
lenfalls bei den erforderlichen Abklärungen mitwirken oder diese durch die Behörde
erdulden (Absatz 1). Heikle Angaben der privaten oder juristischen Personen, die ins-
besondere das Geschäfts- oder Fabrikationsgeheimnisse betreffen, sind von den Be-
hörden vertraulich zu behandeln (Absatz 2).
796 / 931
2.12.10.5
Auswirkungen dieser Umsetzungserlasse
2.12.10.5.1
Auswirkungen auf den Bund
Pflanzengesundheit
Im Bereich der Pflanzengesundheit (Quarantäne) hat das Protokoll zur Lebensmittel-
sicherheit insbesondere folgende Auswirkungen auf den Bund:
Die Bestimmungen der EU-Kontrollverordnung sollen auch für pflanzengesundheit-
liche Massnahmen in der Schweiz angewendet werden. Damit müssen die Betriebe in
Bezug auf den Pflanzenpass und den ISPM 15-Standard
765
(Verpackungsmaterial aus
Holz) gegenüber heute verstärkt kontrolliert werden. Betriebe, die für das Ausstellen
von Pflanzenpässen zugelassen sind, werden in jedem Fall mindestens einmal jährlich
amtlich kontrolliert, eine risikobasierte Reduktion der Kontrollfrequenz ist nur noch
in begründeten Ausnahmefällen möglich. Tritt in einer Region ein prioritärer Quaran-
täneorganismus wie der Japankäfer oder der Asiatische Laubholzbockkäfer auf, müs-
sen zwei amtliche Kontrollen pro Jahr durchgeführt werden. Für den Bund, der diese
Kontrollen durchführt, bedeutet dies einen finanziellen und personellen Mehrauf-
wand.
Alle Quarantäneorganismen, die sich in der Schweiz ansiedeln könnten, müssen im
Landesinneren dem Risiko entsprechend und mindestens alle 10 Jahre amtlich über-
wacht werden. In der Folge haben die Kantone ihr Hoheitsgebiet neu auf mehr Qua-
rantäneorganismen zu überwachen. Der Bund wird hier einen finanziellen Mehrauf-
wand haben, da er sich an den Aufwänden der Kantone für die Gebietsüberwachung
beteiligt. Zusätzlich übernimmt der Bund die Planung, Koordination und Analytik der
Proben, was mit personellem und finanziellem Mehraufwand verbunden ist.
Vollzug der EU-Bestimmungen und Überwachung des Vollzugs im Bereich der
Pflanzengesundheit haben für den Bund einen geschätzten finanziellen Mehraufwand
von rund 5 Millionen Franken pro Jahr zur Folge, mit einer möglichen Reduktion auf
4,1 Millionen Franken pro Jahr ab 2033. Dies beinhaltet 1,5 Millionen Franken pro
Jahr für rund 9 zusätzliche Vollzeitstellen auf vier Bundesstellen verteilt für die ersten
Jahre, die auf 5 zusätzliche Vollzeitstellen für die Jahre ab 2033 reduziert werden
können (0,8 Mio. Franken pro Jahr). Die zusätzlichen Stellen werden bei Agroscope,
bei der WSL, im BLW und im BAFU insbesondere für die Wahrnehmung der folgen-
den Aufgaben benötigt:
–
Diagnostik von Proben (Labore);
–
Intensivierung der Gebietsüberwachung (mehr Überwachungsaufträge er-
arbeiten und umsetzen);
–
Akkreditierung Labore und mandatierte Kontrollorganisationen;
765
Internationaler Standard für Phytosanitäre Massnahmen Nr. 15 des Internationalen Pflan-
zenschutzübereinkommens. Der Standard schreibt vor, dass Paletten und andere Verpa-
ckungen aus Massivholz behandelt werden, damit keine Schadorganismen in den Verpa-
ckungen verschleppt werden.
797 / 931
–
in der Übergangszeit: Kommunikation und Koordination der Änderungen
im Recht und im Vollzug gegenüber heute.
Neu erhält die Schweiz die Gelegenheit, bei der Ausarbeitung von Änderungen der
betreffenden EU-Rechtsakte oder bei der Schaffung neuen EU-Rechts im Bereich der
Pflanzengesundheit mitzuwirken (sog.
Decision Shaping
). Dies bedeutet zwar eben-
falls einen personellen Mehrbedarf. Die Interessen der Schweiz können damit aber
aktiv eingebracht werden.
Die Zuständigkeiten und Kompetenzen auf Stufe Bund und zwischen Bund und Kan-
tonen bleiben gleich.
Pflanzenvermehrungsmaterial
Die Umsetzung der EU-Bestimmungen im Bereich des Pflanzenvermehrungsmateri-
als kann in den bestehenden Vollzug der Pflanzengesundheit integriert werden. Pro-
duzentenzulassungen, Registrierungen, Kontrollstrukturen und Bescheinigungen be-
ziehen sich auf dieselben Entitäten. Die jährlichen Aufwände zur Erweiterung der
Kontrollen für landwirtschaftliches und gartenbauliches Pflanzenvermehrungsmate-
rial umfassen in den ersten beiden Jahren schätzungsweise 100 000 Franken für man-
datierte Kontrollorganisationen und 0,7 FTE interne personelle Ressourcen, danach
40 000 Franken beziehungsweise 0,3 FTE.
Erleichterungen sind im Aussenhandel mit Pflanzenvermehrungsmaterial zu erwar-
ten. Einerseits durch die Gültigkeit der EU-Sortenregister für Obst- und Gemüsearten.
Andererseits durch den Wegfall der technischen Handelsbarriere zur EU bei Obst-
und Gemüsepflanzgut. Beides erleichtert die Kommunikation im Vollzugsbereich.
Der Aufbau der Kontrolle der Importeurinnen und Importeure von forstlichem Ver-
mehrungsgut wird vor allem in der Aufbauphase personelle Ressourcen beanspruchen
(ca. 0.2 FTE pro Jahr). Bei einer Auslagerung der Kontrollen sind zusätzliche finan-
zielle Mittel erforderlich. Die Umsetzung der Kontrolle würde für die ersten 2 Jahre
ca. 100 000 Franken pro Jahr kosten (Aufbau) und danach 50 000 Franken pro Jahr
(Betrieb).
Pflanzenschutzmittel
Die Integration der Schweiz in das Zonen-System der EU wird sich auf die Organisa-
tion der Zulassungsverfahren für Pflanzenschutzmittel auswirken. Heute muss ein Un-
ternehmen, das ein neues Pflanzenschutzmittel in Verkehr bringen will, bei der Zu-
lassungsstelle des BLV ein Gesuch inklusive der erforderlichen Unterlagen und
Studien einreichen.
Nach einer groben Vollständigkeitsprüfung durch die Zulassungsstelle wird das ein-
gereichte Dossier an die Beurteilungsstellen weitergeleitet. Diese sind für die wissen-
schaftliche Beurteilung der Unterlagen zuständig und bei verschiedenen Bundesäm-
tern
angesiedelt:
Bundesamt
für
Umwelt
(BAFU),
Bundesamt
für
Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV), Bundesamt für Landwirtschaft
798 / 931
(BLW) mit Agroscope sowie Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO). Nach dem Er-
halt des Dossiers führen die Beurteilungsstellen in ihrem jeweiligen Fachbereich eine
detaillierte Vollständigkeitsprüfung durch. In Zukunft wird sich die Frage stellen, ob
dieses dezentral organisierte System auch für die neuen Pflichten noch angemessen
ist, die die Integration der Schweiz ins Zonen-System der EU mit sich bringt.
Die zusätzlich benötigten Personalressourcen lassen sich momentan nicht genau be-
ziffern. Neue Aufgaben (Beteiligung an Bewertungen der EFSA, Teilnahme an Fach-
ausschüssen usw.) könnten zwar zu einem zusätzlichen Personalbedarf führen, dies
dürfte jedoch dadurch kompensiert werden, dass die Zuständigkeit für die Zulassungs-
verfahren für Pflanzenschutzmittel in Zukunft unter den Mitgliedstaaten und der
Schweiz aufgeteilt wird.
Sollte die Integration der Schweiz ins europäische System dennoch einen grösseren
personellen oder finanziellen Bedarf nach sich ziehen, wäre dieser zumindest teil-
weise durch die zusätzlichen Einnahmen aufgrund der Gebührenerhöhung gedeckt.
Futtermittel
Die im Bereich Futtermittel aktuell geltende Schweizer Gesetzgebung wurde zur Um-
setzung des Landwirtschaftsabkommens bereits an das entsprechende EU-Recht an-
geglichen. Die zukünftige direkte Anwendung des in das Protokoll zur Lebensmittel-
sicherheit integrierten EU-Rechts sollte keine finanziellen Auswirkungen auf den
Bund haben. Die in die Zuständigkeit des Bundes fallenden Vollzugsaufgaben ändern
sich in Bezug auf die Häufigkeit gar nicht und hinsichtlich der Vorgehensweise nur
geringfügig. Die heute für die Revision der Verordnungen und das Zulassungsverfah-
ren zuständigen Ressourcen werden zukünftig aktiv an der Ausarbeitung von EU-
Entscheiden mitwirken.
Tierzucht
Die schweizerische Tierzuchtgesetzgebung ist bereits heute kompatibel mit der ent-
sprechenden EU-Gesetzgebung. Neu wird sich die Schweiz aktiv an der Erarbeitung
des EU-Tierzuchtrechts beteiligen können, was im Interesse der Schweiz ist. Der dies-
bezügliche Mehraufwand wird BLW-intern kompensiert.
2.12.10.5.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf
urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete
Pflanzengesundheit
Alle Quarantäneorganismen, die sich in der Schweiz ansiedeln könnten, müssen ge-
mäss EU-Recht im Landesinneren dem Risiko entsprechend und mindestens alle
10 Jahre amtlich überwacht werden. In der Folge haben die Kantone ihr Hoheitsgebiet
neu auf mehr Quarantäneorganismen zu überwachen.
Der Vollzug und die Überwachung der EU-Bestimmungen im Bereich der Pflanzen-
gesundheit haben für die Kantone einen Mehraufwand von schätzungsweise 1 Million
799 / 931
Franken pro Jahr gegenüber heute zur Folge (insgesamt für alle Kantone, inklusive
Personal).
Ein allfälliger Wechsel von der Tilgungs- zur Eindämmungsstrategie kann zu einem
höheren phytosanitären Risiko für die Nachbarländer führen. Deswegen ist es wichtig,
dass solche Entscheidungen für den gesamten Lebensmittelsicherheitsraum einheit-
lich gefällt werden.
Im Falle, dass ein Quarantäneorganismus nicht mehr getilgt wer-
den kann, wird nach dem Protokoll zur Lebensmittelsicherheit daher zukünftig die
Europäische Kommission Massnahmen zur Eindämmung des Schadorganismus fest-
legen, welche auch für die Schweiz verbindlich sind. In die Entscheidungsfindung
wird die Schweiz eingebunden sein und ihre Interessen damit aktiv einbringen kön-
nen.
Die Zuständigkeiten und Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen bleiben gleich.
Pflanzenvermehrungsmaterial
Wenn der Bund keine Einfuhrkontrollen für forstliches Vermehrungsgut mehr durch-
führt, werden die Kantone in diesem Bereich mehr Verantwortung tragen müssen, da
sie gemäss Artikel 21 WaV die Versorgung mit geeignetem forstlichem Vermeh-
rungsgut sicherstellen.
Pflanzenschutzmittel
Die Aufgaben der Kantone als Vollzugsbehörden werden sich inhaltlich nicht ändern.
Mit dem Inkrafttreten des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit wird die Schweiz je-
doch die in der Verordnung (EU) 2017/625 festgehaltenen Kontrollbestimmungen di-
rekt anwenden müssen. Auch wenn die hiesigen Kontrollen bereits den in den EU-
Mitgliedstaaten durchgeführten Kontrollen entsprechen, könnte unter bestimmten
Umständen eine Verstärkung der Kontrollen notwendig werden. Dies gilt insbeson-
dere für den Fall, dass die Europäische Kommission eine einheitliche Mindesthäufig-
keit der amtlichen Kontrollen festlegt, wenn beispielsweise ein Mindestmass an amt-
licher Kontrolle erforderlich ist, um den anerkannten einheitlichen Gefahren und
Risiken zu begegnen.
Futtermittel
Die auf der Stufe der Primärproduktion in die Zuständigkeit der Kantone fallenden
Vollzugsaufgaben ändern sich weder in Bezug auf die Häufigkeit noch hinsichtlich
der Vorgehensweise.
Tierzucht
800 / 931
Die Vorlage hat keine Auswirkungen auf die Kantone.
2.12.10.5.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
Pflanzengesundheit
Gemäss den Vorgaben der EU-Kontrollverordnung werden die Kontrollen in Betrie-
ben in Bezug auf den Pflanzenpass und den ISPM 15-Standard (Verpackungsmaterial
aus Holz) verstärkt und mindestens einmal jährlich durchgeführt werden. Da ein Teil
der Kosten für die Betriebskontrollen von den kontrollierten Betrieben getragen wird,
steigt der Aufwand für die Betriebe. Beim Auftreten eines prioritären Quarantäneor-
ganismus müssen die Kontrollen in für das Ausstellen von Pflanzenpässen zugelasse-
nen Betrieben auf zwei pro Jahr erhöht werden. Auch hier wird ein Teil der Kontroll-
kosten auf die Betriebe überwälzt.
Dies trägt jedoch zur Minderung der Verbreitung
von Schadorganismen und der damit zusammenhängenden volkswirtschaftlichen
Kosten bei.
Allgemein wird den pflanzenproduzierenden Betrieben einen erleichterten
Handel ermöglich.
Pflanzenvermehrungsmaterial
Für den Saatgutsektor und das Baumschulwesen wird eine vollständige Integration in
den EU-Binnenmarkt und Rechtssicherheit erreicht. Das ist wichtig, denn Pflanzen-
züchtung, Saat- und Pflanzgutproduktion sind sehr spezialisierte, kapital- und zeitin-
tensive landwirtschaftliche Zweige, die nicht isoliert vom europäischen Binnenmarkt
geführt werden können. Für Pflanzenvermehrungsmaterial von Obst-, Gemüse- und
Zierpflanzenarten wird ein Anschluss an den EU-Binnenmarkt erreicht. Einschlägige
Produzentinnen und Produzenten sind bereits im Rahmen der Pflanzengesundheit zur
Ausstellung des Pflanzenpasses registriert. Kontrollen können gleichzeitig mit dem
Pflanzenpass durchgeführt werden. Bei Forstbaumschulen werden Kontrollen durch
den Bund eingeführt, die jährlich zu einem finanziellen Mehraufwand von 5 000 bis
7 000 Franken pro Jahr führen.
Pflanzenschutzmittel
Die Integration der Schweiz in das nach Zonen unterteilte Zulassungssystem der EU
wird die Arbeit der Unternehmen erleichtern, die ihre Pflanzenschutzmittel in der
Schweiz in Verkehr bringen wollen. Nach dem neuen Verfahren kann ein Unterneh-
men sein Dossier gleichzeitig in mehreren Ländern einer Zone einreichen. Die Be-
wertung wird sodann zugunsten aller Länder durch ein einziges als Berichterstatter
bezeichnetes Land vorgenommen. Das Zulassungsverfahren ist zwar bereits heute
stark harmonisiert, aber nur unilateral, was bedeutet, dass erleichterte Verfahren nur
für in der EU bereits zugelassene Pflanzenschutzmittel vorgesehen sind. Somit müs-
sen die Unternehmen dennoch ein Dossier in der Schweiz einreichen und die hiesigen
Behörden ihrerseits eine Bewertung vornehmen. Für die betroffenen Unternehmen
801 / 931
bringt die neue Regelung somit sowohl einen Zeitgewinn als auch Kosteneinsparun-
gen mit sich (weniger Gebühren für Zulassungsverfahren). Darüber hinaus werden die
Anwenderinnen und Anwender von Pflanzenschutzmitteln in der Schweiz in Zukunft
Zugang zu denselben Pflanzenschutzmitteln haben wie ihre europäischen Pendants
und somit besser gerüstet sein zur Bekämpfung von Schadorganismen. Wie bereits
erwähnt wird es aufgrund der Integration der Schweiz ins Zonen-System der EU je-
doch notwendig sein, die Gebühren für die Zulassungsverfahren auf das in den Län-
dern der Zone Mitte geltende Niveau zu erhöhen.
Futtermittel
Mit der direkten Anwendung des in das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit inte-
grierten EU-Rechts fällt der Grundsatz der Zulassung der Produkte auf nationaler
Ebene weg. Somit werden die Futtermittelindustrie und die Primärproduktion von ei-
nem rascheren und einfacheren Zugang zu den in der EU zugelassenen Produkten
profitieren.
Tierzucht
Die Vorlage hat keine Auswirkungen auf die Volkswirtschaft.
2.12.10.5.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
Pflanzengesundheit
Die Vorlage hat eine positive Auswirkung auf die Gesellschaft. Mit den zusätzlichen
pflanzengesundheitlichen Kontrollen können auch soziale Schäden verringert werden.
Pflanzenvermehrungsmaterial
Die Vorlage hat eine positive Auswirkung auf die Gesellschaft, da damit sichergestellt
wird, dass in der Schweiz und in der EU jederzeit dasselbe hohe Sicherheitsniveau
gilt.
Pflanzenschutzmittel
Die Teilnahme der Schweiz am EU-System wird das Schutzniveau für die menschli-
che Gesundheit erhöhen. Der Zugang zu den von den EU-Behörden und den Mitglied-
staaten gemeinsam genutzten Informationen sowie eine verstärkte Zusammenarbeit
mit den Sachverständigen der EU werden dazu beitragen, dass die in Verkehr gebrach-
ten Pflanzenschutzmittel garantiert den höchsten Sicherheitsstandards entsprechen.
802 / 931
Futtermittel
Die Vorlage hat keine Auswirkungen auf die Gesellschaft.
Tierzucht
Die Vorlage hat keine Auswirkungen auf die Gesellschaft.
2.12.10.5.5
Auswirkungen auf die Umwelt
Pflanzengesundheit
Durch die intensivierte Überwachung von geregelten Schadorganismen ist davon aus-
zugehen, dass Befälle viel früher entdeckt werden und somit weniger gravierende
Schäden ausrichten können. Dies hat eine positive Wirkung auf die Umwelt, insbe-
sondere auf den Wald.
Pflanzenvermehrungsmaterial
Die Vorlage hat keine Auswirkungen auf die Umwelt.
Pflanzenschutzmittel
Wie bereits erwähnt erfordert die Integration der Schweiz ins EU-System keine we-
sentlichen Änderungen der materiellrechtlichen Anforderungen im Hinblick auf das
Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln. Ziel der letzten Revisionen der PSMV
war nämlich bereits eine möglichst starke Harmonisierung des Schweizer Rechts mit
dem entsprechenden EU-Recht. Hingegen stellt die Teilnahme von Sachverständigen
der Schweiz am EU-Zulassungssystem einen grossen Fortschritt dar, da dies zu einem
verbesserten Schutz der Umwelt und der menschlichen Gesundheit beiträgt, insbeson-
dere auch dank dem Zugang zu und dem Austausch von Informationen der EU-
Behörden oder der EU-Mitgliedstaaten.
Futtermittel
Die Vorlage hat keine Auswirkungen auf die Umwelt.
Tierzucht
Die Vorlage hat keine Auswirkungen auf die Umwelt.
803 / 931
2.12.10.5.6
Andere Auswirkungen
Es sind keine anderen Auswirkungen zu erwarten.
2.12.10.6
Rechtliche Aspekte der Umsetzungserlasse
2.12.10.6.1
Verfassungsmässigkeit
Nach Artikel 104 Absatz 3 BV richtet der Bund die Massnahmen so aus, dass die
Landwirtschaft ihre multifunktionalen Aufgaben erfüllt. In diesem Zusammenhang
verfügt der Bund über eine umfassende Gesetzgebungskompetenz, zum Beispiel im
Bereich der Tierzucht, des Pflanzenschutzes und der Produktionsmittel (Artikel 104
Absatz 3 Buchstaben b, c und d BV). Für den Bereich Wald bildet Artikel 77 BV die
Verfassungsgrundlage, wonach der Bund dafür sorgt, dass der Wald seine Schutz-,
Nutz- und Wohlfahrtsfunktionen erfüllen kann (Abs. 1) und ihn zu diesen Zwecken
ermächtigt, Grundsätze über den Schutz des Waldes festzulegen (Abs. 2).
2.12.10.6.2
Vereinbarkeit mit anderen internationalen
Verpflichtungen der Schweiz
Die vorgeschlagenen Änderungen sind vereinbar mit den internationalen Verpflich-
tungen der Schweiz. Im Übrigen wird auf die Erläuterungen in Ziffer 2.12.13.3 ver-
wiesen.
2.12.10.6.3
Erlassform
Vorliegend werden bestehende Bundesgesetze revidiert. Die Erlassform ist beizube-
halten. Zur Frage der Bündelung der Umsetzungsgesetzgebung, siehe Ziff. 4.3.
2.12.10.6.4
Vorläufige Anwendung
Es ist keine vorläufige Anwendung vorgesehen.
2.12.10.6.5
Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass
Unterstellung unter die Ausgabenbremse
Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV sieht zum Zweck der Ausgabenbegrenzung vor,
dass Subventionsbestimmungen sowie Verpflichtungskredite und Zahlungsrahmen,
die neue einmalige Ausgaben von mehr als 20 Millionen Franken oder wiederkeh-
rende Ausgaben von mehr als 2 Millionen Franken nach sich ziehen, in jedem der
beiden Räte der Zustimmung der Mehrheit aller Mitglieder bedürfen. Mit der Vorlage
werden weder neue Subventionsbestimmungen (die Ausgaben über einem der
Schwellenwerte nach sich ziehen) geschaffen, noch neue Verpflichtungskredite / Zah-
lungsrahmen (mit Ausgaben über einem der Schwellenwerte) beschlossen.
Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der fiskalischen Äquivalenz
Die Vorlage tangiert die Aufgabenteilung oder die Aufgabenerfüllung durch Bund
und Kantone nicht.
804 / 931
Einhaltung der Grundsätze des Subventionsgesetzes
Mit der Vorlage werden keine neuen Subventionsbestimmungen geschaffen.
Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen
Die Bestimmungen dieses Erlasses legen die Grundsätze sowie alle Bereiche fest, die
gemäss Artikel 164 Absatz 1 BV einer Grundlage in einem formellen Gesetz bedür-
fen. Das ins Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierte EU-Recht enthält teil-
weise sehr detaillierte Vorschriften, die den Rahmen dessen übersteigen, was nach
Artikel 164 Absatz 1 BV auf der Ebene eines formellen Gesetzes geregelt werden
muss. Daher wird dem Bundesrat in Artikel 141 beziehungsweise Artikel 148 LwG
neu die Kompetenz übertragen, diese Einzelheiten in Ausführungsbestimmungen zu
regeln.
2.12.10.6.6
Datenschutz
Die Vorlage tangiert den Datenschutz nicht.
2.12.11
Umsetzung in der Tierseuchengesetzgebung
2.12.11.1
Tierseuchengesetz
Ein gemeinsamer Lebensmittelsicherheitsraum Schweiz-EU ist nur dann möglich,
wenn in diesem Raum für alle beteiligten Staaten grundsätzlich zu jedem Zeitpunkt
dasselbe Recht gilt. Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit trägt diesem Erfordernis
Rechnung. Es sind Verfahren vorgesehen, damit das im Anhang I des Protokolls zur
Lebensmittelsicherheit aufgelistete EU-Recht sowie das gestützt darauf erlassene so-
genannte Tertiärrecht (Durchführungsrechtsakte und delegierte Rechtsakte der Euro-
päischen Kommission) in der EU und in der Schweiz gleichzeitig angewendet wird
(vgl. Art. 13 und Art. 15 des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit). Neues EU-Recht
im Geltungsbereich des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit wird mit einem Be-
schluss des Gemischten Ausschusses in den Anhang I des Protokolls zur Lebensmit-
telsicherheit integriert (siehe Ziff. 2.1.6.2.2) Die Schweiz hat dann grundsätzlich die
Möglichkeit, das in den Anhang I integrierte EU-Recht direkt anzuwenden, das heisst
ohne die Schaffung entsprechenden Schweizer Rechts. Im Gegenzug erhält die
Schweiz Gelegenheit, bei der Ausarbeitung von Änderungen der betreffenden EU-
Rechtsakte im Geltungsbereich des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit oder bei der
Schaffung neuen EU-Rechts im Geltungsbereich des Protokolls zur Lebensmittelsi-
cherheit mitzuwirken (sog.
Decision Shaping
).
Aufgrund der künftigen grundsätzlich direkten Anwendung des einschlägigen, in An-
hang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit gelisteten EU-Rechts regelt die
schweizerische Sachgesetzgebung lediglich noch diejenigen Belange, in denen das
EU-Recht im Schweizer Recht präzisiert werden muss sowie spezifisch für die
Schweiz geltende Sachverhalte in Bereichen, die nicht vom einschlägigen EU-Recht
805 / 931
geregelt sind. Dies führt beim Tierseuchengesetz (TSG) dazu, dass zahlreiche Best-
immungen – beispielsweise zur Kennzeichnung und Registrierung von Tieren, zum
Tierverkehr und zu den Massnahmen im Verdachts- und Seuchenfall – aufgehoben
werden können, da sich die anwendbaren Regelungen künftig direkt aus dem im Pro-
tokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierten EU-Recht ergeben und Doppelspurig-
keiten vermieden werden sollen. Bei dieser Gelegenheit werden die Bestimmungen
zur Ausbildung im Bereich des Vollzugs des TSchG, des TSG und des LMG harmo-
nisiert. Dies erfolgt in Anlehnung an den «vom Hof auf den Tisch»-Ansatz des EU-
Lebensmittelrechts.
766
2.12.11.2
Verordnungsrecht
Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit hat neben einer Änderung des TSG auch
eine Revision von verschiedenen Verordnungen zur Folge.
Die Tierseuchenverordnung vom 27. Juni 1995
767
(TSV) bezeichnet die einzelnen
Seuchen und teilt sie in die derzeit geltenden verschiedenen Kategorien (hochanste-
ckend, auszurottend, zu bekämpfend, zu überwachend, s. die Art. 2–5) ein. Zudem
legt sie unter anderem für die einzelnen Seuchen die Bekämpfungsmassnahmen fest
sowie die Entschädigung der Tierhaltenden.
Künftig gilt für die Einteilung der Tierseuchen Artikel 1 der Verordnung
(EU) 2018/1882
768
in Verbindung mit Artikel 9 der Verordnung (EU) 2016/429
769
. Es
gibt die Kategorien A bis E. Die Kategorie A bezeichnet im Anhang der Verordnung
2018/1882 aufgeführte Tierseuchen, die normalerweise nicht in der EU auftreten und
für die unmittelbare Tilgungsmassnahmen ergriffen werden müssen, sobald sie nach-
gewiesen wird. Seuchen der Kategorie B sind im Anhang der Verordnung 2018/1882
aufgeführte Tierseuchen, die in allen EU-Mitgliedstaaten bekämpft werden müssen,
mit dem Ziel, sie in der gesamten EU zu tilgen. Die Kategorie C bezeichnet im An-
hang der Verordnung 2018/1882 aufgeführte Tierseuchen, die für einige EU-
Mitgliedstaaten relevant ist und für die Massnahmen getroffen werden müssen, damit
sie sich nicht in anderen Teilen der EU ausbreiten, die amtlich seuchenfrei sind oder
in denen es Tilgungsprogramme für eine solche Seuche gibt. Seuchen der Kategorie
D sind im Anhang der Verordnung 2018/1882 aufgeführte Tierseuchen, gegen die
Massnahmen getroffen werden müssen, um ihre Ausbreitung im Zusammenhang mit
dem Eingang in die EU oder durch Verbringungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten
zu verhindern. Seuchen der Kategorie E sind schliesslich im Anhang der Verordnung
2018/1882 aufgeführte Tierseuchen, die innerhalb der EU überwacht werden müssen.
766
https://food.ec.europa.eu > horizontal-topics > farm-fork-strategy
767
SR
916.401
768
Durchführungsverordnung (EU) 2018/1882 vom 3. Dezember 2018 über die Anwendung
bestimmter Bestimmungen zur Seuchenprävention und -bekämpfung auf Kategorien gelis-
teter Seuchen und zur Erstellung einer Liste von Arten und Artengruppen, die ein erhebli-
ches Risiko für die Ausbreitung dieser gelisteten Seuchen darstellen; ABl. L, 2018/1882,
4.12.2018.
769
Verordnung (EU) 2016/429 vom 9. März 2016 zu Tierseuchen und zur Änderung und Auf-
hebung einiger Rechtsakte im Bereich der Tiergesundheit («Tiergesundheitsrecht»); ABl
L, 2016/429, 31.3.2016, S. 1, geändert durch die Verordnung (EU) 2017/625 des Europäi-
schen Parlaments und des Rates vom 15. März 2017, ABl. L 95, vom 7.4.2017, S. 1.
806 / 931
Seuchen der Kategorie A entsprechen den hochansteckenden Tierseuchen nach Arti-
kel 2 TSV, Seuchen der Kategorie B ungefähr den auszurottenden Tierseuchen nach
Artikel 3 TSV, Seuchen der Kategorien C ungefähr den zu bekämpfenden Tierseu-
chen nach Artikel 4 TSV und Seuchen der Kategorie E den zu überwachenden Seu-
chen nach Artikel 5 TSV. Seuchen der Kategorien D sind Seuchen der Kategorien A–
C im Zusammenhang mit der Einfuhr von Tieren und Tierprodukten in die EU und
deren Verbringung zwischen den Mitgliedstaaten. – Es wird folglich eine Anpassung
der TSV hinsichtlich der Kategorisierung der Tierseuchen erforderlich sein.
Die Regelungen der TSV zur Registrierung von Tieren und zum Tierverkehr werden
aufgrund der direkten Anwendung der in das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit in-
tegrierten Regelungen des EU-Rechts grösstenteils wegfallen. Nicht mehr benötigt
werden sodann die Regelungen zu den Bekämpfungsmassnahmen, da sich diese eben-
falls künftig aus dem EU-Recht ergeben werden. Nach wie vor erforderlich sein wer-
den die Bestimmungen zur Sömmerung und zu Wanderherden, zu Viehmärkten und
zum Viehhandel, zum nationalen Überwachungsprogramm, zur Entschädigung und
zum Vollzug sowie gewisse Bestimmungen zu den tierischen Stoffen und zum Zucht-
material. Schliesslich räumt die Verordnung (EU) 2016/429 den EU-Mitgliedstaaten
in Bezug auf verschiedene Vorgaben Möglichkeiten für den Erlass von Ausnahmen
ein. So können unter gewissen Voraussetzungen Ausnahmen von der Zulassungs-
pflicht für Aquakulturbetriebe sowie für die Registrierung von Schafen und Ziegen
vorgesehen werden. Für die Verbringung von Schweinen und von Wassertieren dür-
fen die Mitgliedstaaten in Bezug auf die sie begleitenden Dokumente ebenfalls Er-
leichterungen vorsehen. Für die entsprechenden Ausnahmen beziehungsweise Er-
leichterungen bedarf es Regelungen in der TSV.
Die Verordnung vom 25. Mai 2011
770
über tierische Nebenprodukte (VTNP) enthält
die für den Handel mit tierischen Nebenprodukten und deren Entsorgung massgeben-
den Regelungen, welche bereits heute dem einschlägigen EU-Recht entsprechen.
Massgebend sind hier insbesondere die Verordnung (EG) Nr. 1069/2009
771
(Verord-
nung über tierische Nebenprodukte) und die Verordnung (EU) Nr. 142/2011
772
zur
Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 1069/2009. So wurde beispielsweise die Ein-
teilung der tierischen Nebenprodukte in die Kategorien 1–3 aus dem EU-Recht über-
nommen (s. die Art. 4ff. VTNP bzw. Art. 7ff. der Verordnung (EG) Nr. 1069/2009),
ebenso die Registrierungs- und Bewilligungspflichten (s. die Art. 10ff. VTNP bzw.
Art. 23ff. und 44ff. der Verordnung (EG) Nr. 1069/2009) sowie die Vorgaben für die
Verwendung von tierischen Nebenprodukten zur Fütterung sowie zur Herstellung von
Dünger (s. die Art. 27ff. VTNP bzw. Art. 11ff. und 32ff. der Verordnung (EG)
770
SR
916.441.22
771
Verordnung (EG) Nr. 1069/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Ok-
tober 2009 mit Hygienevorschriften für nicht für den menschlichen Verzehr bestimmte tie-
rische Nebenprodukte und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1774/2002 (Verord-
nung über tierische Nebenprodukte), ABl. L 300 vom 14.11.2009, S. 1, zuletzt geändert
durch Verordnung (EU) 2019/1009 vom 5. Juni 2019, ABl. L 170 vom 25.6.2019, S. 1.
772
Verordnung (EU) Nr. 142/2011 der Kommission vom 25. Februar 2011 zur Durchführung
der Verordnung (EG) Nr. 1069/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates mit Hy-
gienevorschriften für nicht für den menschlichen Verzehr bestimmte tierische Nebenpro-
dukte sowie zur Durchführung der Richtlinie 97/78/EG des Rates hinsichtlich bestimmter
gemäss der genannten Richtlinie von Veterinärkontrollen an der Grenze befreiter Proben
und Waren, ABl. L 54 vom 26.2.2011, S. 1.
807 / 931
Nr. 1069/2009). Auch die übrigen Regelungen der VTNP wurden dem EU-Recht
nachgebildet und fortlaufend an dieses angepasst. Vorgaben, welche einzig die
Schweiz betreffen, enthält die VTNP nicht. Sie wird daher bei Inkrafttreten des Pro-
tokolls zur Lebensmittelsicherheit nicht mehr benötigt und kann aufgehoben werden.
Für die Ein- und Durchfuhr von Tieren und Tierprodukten aus Drittstaaten gelten be-
reits heute die harmonisierten Regelungen des EU-Rechts (Art. 5 Abs. 1 bzw. 38 Abs.
1 der Verordnung vom 18. November 2015
773
über die Ein-, Durch- und Ausfuhr von
Tieren und Tierprodukten im Verkehr mit Drittstaaten [EDAV-DS]). Dasselbe gilt für
die Ein-, Durch- und Ausfuhr von Tieren und Tierprodukten im Verkehr mit den EU-
Mitgliedstaaten, Island und Norwegen sowie Nordirland (Art. 5 Abs. 1, 24 Abs. 2 und
25 Abs. 1 der Verordnung vom 18. November 2015
774
über die Ein-, Durch- und Aus-
fuhr von Tieren und Tierprodukten im Verkehr mit den EU-Mitgliedstaaten, Island
und Norwegen sowie Nordirland [EDAV-EU]). Die entsprechenden Regelungen wer-
den künftig direkt gestützt auf das Protokoll angewendet werden; die diesbezüglichen
Bestimmungen in der EDAV-DS und der EDAV-EU werden daher nicht mehr benö-
tigt und können aufgehoben werden. Dasselbe gilt für die Bestimmungen zu den Kon-
trollen und Massnahmen, welche sich aus der EU-Kontrollverordnung ergeben. Wei-
terhin benötigt werden in beiden Verordnungen die Regelungen zu den
Informationssystemen, zu den Gebühren und Kosten sowie die Verfahrensbestim-
mungen. In der EDAV-DS verbleiben zusätzlich die Regelungen, für welche im Pro-
tokoll zur Lebensmittelsicherheit Ausnahmen vorgesehen sind (Einfuhr von Pelzen
und Pelzprodukten sowie Einfuhr von Rindfleisch aus Staaten ohne Verbot von hor-
monellen Stoffen als Leistungsförderer), sowie die Bestimmungen zur Ausfuhr und
zur Organisation der Vollzugstätigkeit.
In der Verordnung vom 28. November 2014
775
über die Ein-, Durch- und Ausfuhr von
Heimtieren (EDAV-Ht) werden lediglich noch die Bestimmungen zur Strafverfol-
gung, zu den Gebühren und Kosten sowie zum Schweizerischen Heimtierpass benö-
tigt. Die restlichen Bestimmungen werden durch die direkte Anwendung der in das
Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierten Verordnung (EU) 2016/429 abge-
löst.
2.12.11.3
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
Die Verabschiedung einer Botschaft zu einem Lebensmittelsicherheitsabkommen mit
der EU in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode ist in der vom Bundesrat verab-
schiedeten Botschaft vom 24. Januar 2024 zur Legislaturplanung 2023–2027 ange-
kündigt. Der Abschluss des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit bildet somit Be-
standteil der Strategie des Bundesrates für die Jahre 2023–2027 und hat unter anderem
die Änderung des TSG zur Folge. Der Bundesrat wird seine finanzpolitischen Ent-
scheidungen im Rahmen der Erstellung des jährlichen Voranschlags treffen.
773
SR
916.443.10
774
SR
916.443.11
775
SR
916.443.14
808 / 931
2.12.11.4
Umsetzungsfragen
Für den Vollzug des TSG sind bis auf wenige Ausnahmen die Kantone zuständig (s.
Art. 53). Die direkte Anwendung des einschlägigen EU-Rechts wird unter anderem
zu einer Umstellung bei der Verfügungspraxis der kantonalen Vollzugsorgane führen,
da Verfügungen künftig direkt gestützt auf das im Protokoll zur Lebensmittelsicher-
heit integrierte EU-Recht erlassen werden. Ebenso müssen die kantonalen Vollzugs-
organe zusätzliche Registrierungs- und Bewilligungspflichten von Tierhaltenden um-
setzen sowie neue Konzepte anwenden (geschlossene Betriebe/Kompartimente).
Damit die Vollzugsorgane ausreichend Zeit haben, ihre Praxis anzupassen, wird in
Artikel 31 des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit eine Übergangsfrist von maximal
zwei Jahren nach Inkrafttreten vorgesehen (s. Ziff. 2.12.7).
2.12.11.5
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des
Umsetzungserlasses
Ingress
Im Ingress werden die bereits im geltenden TSG aufgeführten Bestimmungen der BV
genannt, welche den Bund zur Gesetzgebung im Bereich der Bekämpfung übertrag-
barer, stark verbreiteter oder bösartiger Krankheiten von Tieren sowie zum Erlass von
Vorschriften über die Ausübung der privatwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit ermäch-
tigen. Neu wird ebenfalls das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit erwähnt, da das
Gesetz unter anderem dessen Umsetzung dient.
Art. 1
Geltungsbereich
Wie unter Ziffer 2.12.3.2 erwähnt, wird das im Bereich Tiergesundheit geltende EU-
Recht, welches Bestandteil des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit ist, künftig
grundsätzlich direkt angewendet. Die im Einzelnen geltenden EU-Erlasse werden in
Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit aufgeführt (s. Ziff. 2.12.4). Mas-
sgebend für den Tierseuchenbereich sind insbesondere die in Anhang I Abschnitt 2
Buchstaben A (amtliche Kontrollen und Einfuhr), G (Tierseuchen, Tiergesundheit)
und Q (tierische Nebenprodukte) aufgeführten EU-Verordnungen. Zentrale Erlasse
sind die Verordnungen (EU) 2016/429 (Tiergesundheitsrecht der EU) und die EU-
Kontrollverordnung (Verordnung [EU] 2017/625).
Die Regelungen im TSG werden sich daher künftig auf diejenigen Belange
beschrän-
ken, in denen das EU-Recht im Schweizer Recht präzisiert werden muss sowie spezi-
fisch für die Schweiz geltende Vorschriften. Bei einer allfälligen Kollision geht das
im Protokoll zur Lebensmittel-sicherheit aufgeführte EU-Recht dem TSG vor.
Der Inhalt des bestehenden Artikels 1 wird in den Artikel 1
a
verschoben. In Artikel 1
wird neu das Verhältnis des TSG zu anderen Erlassen geklärt. Grundsätzlich gilt das
TSG nur, soweit nicht die Bestimmungen der EU-Rechtsakte, die in Anhang I des
Protokolls zur Lebensmittelsicherheit aufgelistet sind, zur Anwendung kommen. Alle
809 / 931
in Anhang I Abschnitt 2 des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit genannten EU-
Rechtsakte sind anwendbar und die Bestimmung nennt die relevantesten.
Art. 1a
Der bestehende Artikel 1
a
kann aufgehoben werden, da sich die Definition der Tier-
seuchen aus Artikel 5 der Verordnung (EU) 2016/429 richtet. Der Inhalt des beste-
henden Artikels 1 wird in Artikel 1
a
verschoben.
Art. 3 Ziff. 1 und Art. 3a–3d
Das LMG, das TSG und das TSchG regeln die Anforderungen an die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter der Vollzugsorgane sowie die Aus- und Weiterbildung heute einzeln
und spezifisch. Aktuell regelt die Verordnung vom 16. November 2011 über die Aus-
, Weiter- und Fortbildung der Personen im öffentlichen Veterinärwesen
776
die Tätig-
keit der amtlichen Fachexpertinnen und -experten sowie der amtlichen Fachassisten-
tinnen und -assistenten (letztere sind im Bereich der Schlachttier- und Fleischunter-
suchung tätig) sowie die Voraussetzungen dafür. Die im Laufe der Zeit entstandenen
Inkohärenzen werden mit der vorliegenden Änderung eliminiert und die Inhalte aktu-
alisiert. Die Änderung kann so als Grundlage für eine künftige gemeinsame «Bil-
dungsverordnung» der Vollzugsorgane im Lebensmittel- und im Veterinärbereich
dienen.
In Artikel 3
b
wird neu der Begriff «formale Bildung» eingeführt. Dadurch erfolgt eine
Angleichung der Terminologie an diejenige, die im Bundesgesetz vom 20. Juni
2014
777
über die Weiterbildung (WeBiG) verwendet wird. Nach Artikel 3 Buchstabe
a WeBiG ist unter «formaler Bildung» eine staatlich geregelte Bildung zu verstehen,
die zum Erwerb eines Diploms führt, das die Voraussetzung für die Ausübung einer
staatlich geregelten beruflichen Tätigkeit bildet. Die formale Bildung der Vollzugsor-
gane soll auf den «vom Hof auf den Tisch»-Ansatz des EU-Lebensmittelrechts
778
aus-
gerichtet werden. Diese sieht vor, dass die verschiedenen Verwaltungseinheiten, die
an der Kontrolle der Lebensmittelkette beteiligt sind, ein gemeinsames Konzept um-
setzen. Das Konzept beinhaltet auch eine Angleichung der Anforderungen an das
Kontrollpersonal. Absatz 2 von Artikel 3
b
gibt dem Bundesrat die Kompetenz, die
Einzelheiten der formalen Bildung zu regeln. Dazu gehört auch die Regelung der Vo-
raussetzungen für die Zulassung zur formalen Bildung. Die raschen Entwicklungen in
der Lebensmitteltechnologie und die Komplexität der zu beurteilenden Prozesse er-
fordern, dass die Kenntnisse der für den Vollzug im Lebensmittel- und Veterinärbe-
reich zuständigen Personen periodisch erweitert werden. Der Bund und die Kantone
sollen deshalb die Möglichkeit haben, für das Vollzugspersonal im Rahmen der for-
malen Bildung Weiterbildungen anzubieten (Abs. 3 von Art. 3
b
). Diese «Weiterbil-
dungen» sind nicht gleichzusetzen mit den «Weiterbildungen» nach Artikel 3 Buch-
stabe a WeBiG. Absatz 4 von Artikel 3
b
füllt eine Lücke in der bisherigen
Gesetzgebung. Er räumt dem Bundesrat die Kompetenz ein, das Ausbildungsniveau
776
SR
916.402
777
SR
419.1
778
https://food.ec.europa.eu > horizontal-topics > farm-fork-strategy
810 / 931
der Vollzugsorgane von Bund und Kantonen durch das Vorschreiben von Weiterbil-
dungen nach Absatz 3 auf dem neuesten Stand zu halten. Auch Weiterbildungen, die
von externen Stellen angeboten werden, können in Frage kommen.
Artikel 3
c
erlaubt dem Bundesrat, Prüfungskommissionen zu ernennen. Dabei handelt
es sich um beratende ausserparlamentarische Kommissionen nach Artikel 57
a
ff. des
Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 1997
779
. Sie haben
keine Entscheidkompetenz. Ihre Aufgaben bestehen darin, Prüfungen abzunehmen
und die zuständige Bundesstelle in Ausbildungsfragen zu beraten.
Da im Zusammenhang mit der Ausbildung der mit der amtlichen Kontrolle betrauten
Personen auch Personendaten bearbeitet werden können, wird mit Artikel 3
d
eine Re-
gelung hinsichtlich der Datenbearbeitung eingefügt.
Art. 8
Kontrolle
Zwar wird der Inhalt des geltenden Artikels 8 durch Artikel 15 der Verordnung (EU)
2017/625 abgedeckt. Dennoch wird Artikel 8 beibehalten und es wird auf die Bestim-
mung im EU-Recht verwiesen, damit das Gesetz aus sich heraus verständlich bleibt.
Art. 9a
Die Seucheneinteilung richtet sich künftig nach dem EU-Recht. Das EU-Recht kennt
den Begriff der «Hochansteckenden Seuchen» nicht. Folglich werden keine entspre-
chenden Regelungen dazu benötigt und der Artikel 9
a
kann aufgehoben werden.
Art. 10
Massnahmen im Tierseuchenfall
Im Tierseuchenfall, d. h. wenn eine Tierseuche ausbricht oder ein Ausbruch unmittel-
bar droht, ergänzt diese Bestimmung zu Verwaltungsmassnahmen die Regelungen der
Verordnung (EU) 2016/429 für diejenigen Konstellationen, die vom EU-Recht nicht
abgedeckt werden. Verwaltungsmassnahmen nach Kontrollen werden von Artikel 138
der Verordnung EU 2017/625 erfasst. Die Massnahmen im Verdachtsfall werden voll-
umfänglich von der Verordnung (EU) 2016/429 geregelt.
Art. 11 Abs. 1 und 2 erster Satz
Der Inhalt von Artikel 11 Absatz 1 wird durch Artikel 10 der Verordnung (EU)
2016/429 abgedeckt. Daher wird Absatz 1 aufgehoben. Aus diesem Grund muss der
erste Satz von Absatz 2 angepasst werden, damit die Bestimmung auch ohne Absatz 1
verständlich bleibt.
779
SR
172.010
811 / 931
Art. 12
Verbotener Verkehr mit Tieren, Ausnahmen
Die Bestimmungen zum Verdachts- und Seuchenfall in der Verordnung (EU)
2016/429 decken den Inhalt des Artikels 12 ab. Dennoch wird Artikel 12 beibehalten
und es wird auf das EU-Recht verwiesen, damit das Gesetz aus sich heraus verständ-
lich bleibt.
Art. 13 Abs. 2
Artikel 13 Absatz 2 wird durch Artikel 15 der Verordnung (EU) 2017/625 abgedeckt.
Daher kann diese Bestimmung aufgehoben werden.
Art. 14–15a
Die Inhalte der Artikel 14–15
a
werden durch die Artikel 112–115 der Verordnung
(EU) 2016/429 abgedeckt. Dennoch werden diese Artikel beibehalten und es wird auf
die Bestimmungen im EU-Recht verwiesen, damit das Gesetz aus sich heraus ver-
ständlich bleibt. Die Sachüberschriften bleiben gleich.
Art. 16
Der Inhalt des Artikels 16 wird durch die Artikel 112–115 der Verordnung (EU)
2016/429 abgedeckt. Daher kann diese Bestimmung aufgehoben werden. Das Gesetz
bleibt auch durch die Aufhebung dieser Bestimmung verständlich.
Art. 17 und 23
Artikel 242 der Verordnung (EU) 2016/429 deckt den Inhalt des Artikels 17 ab und
Artikel 23 wird durch die Artikel 125 und 192 der Verordnung (EU) 2016/429 abge-
deckt. Daher können diese Bestimmungen aufgehoben werden.
Art. 24
Ein-, Durch- und Ausfuhr von Tieren und Tierprodukten und
grenzüberschreitender Personenverkehr
Absatz 1 und 2 des geltenden Artikels 24 sind künftig überflüssig, da sich die Rege-
lungen zur Ein-, Durch- und Ausfuhr aus Teil V der Verordnung (EU) 2016/429 er-
geben. Auch Absatz 4 ist überflüssig, da er durch Artikel 59 der Verordnung (EU)
2017/625 abgedeckt wird. Die Verweise auf die Vorschriften der EU in Buchstabe a
von Absatz 3 im geltenden Artikel gelten durch das Protokoll ohnehin und sind daher
überflüssig. Da sich damit fast der gesamte Artikel ändert und nur noch der leicht
angepasste Absatz 3 bestehen bleibt, wird der Artikel neu geschrieben und neu geglie-
dert.
Art. 25 Abs. 2 und 3
Die beiden Absätze dieser Bestimmung werden durch die Artikel 66 und 67 der Ver-
ordnung (EU) 2017/625 abgedeckt, weshalb sie aufgehoben werden können.
812 / 931
Art. 47 Abs. 1
Wer gegen die Bestimmungen hinsichtlich Tierverkehr und die Ein-, Durch- und Aus-
fuhr in der Verordnung (EU) 2016/429 verstösst, macht sich strafbar. Absatz 1 wird
entsprechend ergänzt und neu gegliedert.
Art. 48 Abs. 1
Wer gegen die Pflicht der Unternehmer zur Identifizierung und Registrierung von
Rindern, Schafen, Ziegen, Equiden und Schweinen sowie die Seuchenpräventions-
massnahmen bei der Beförderung von Land- und Wassertieren verstösst, macht sich
strafbar. Absatz 1 wird entsprechend ergänzt und neu gegliedert. Der neue Buchstabe
a entspricht dem Absatz 1 im geltenden Recht. Die Verweise auf die Artikel 13–16
und 23 werden gestrichen, da sie nicht mehr erforderlich sind. Buchstabe b ersetzt
Artikel 13 Absatz 2 und Buchstabe c ersetzt die Artikel 14–16 und 23.
Art. 53 Abs. 1
bis
Dieser Absatz wird in die neuen Ausbildungsbestimmungen (Art. 3
a
–3
c
) verschoben.
2.12.11.6
Auswirkungen dieses Umsetzungserlasses
2.12.11.6.1
Auswirkungen auf den Bund
Bei der Planung der jährlichen nationalen Überwachungs- und Tilgungsprogramme
für Tierseuchen werden künftig die Kriterien des einschlägigen EU-Rechts massge-
bend sein. Alle Anforderungen, die in Bezug auf eine bestimmte Tierseuche festgelegt
sind, müssen erfüllt werden. Zudem werden die Kriterien des einschlägigen EU-
Rechts 1:1 für die Erlangung des Status der Freiheit in Bezug auf eine bestimmte Seu-
che gelten.
Für alle nach einschlägigem EU-Recht geregelten Tierseuchen muss ein nationales
Referenzlabor benannt werden, das für die Überwachung der Diagnostik zuständig ist
(s. Art. 100 der EU-Kontrollverordnung).
Dadurch, dass das im Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierte EU-Recht in
der Schweiz grundsätzlich direkt angewendet wird, hat die Schweiz neu wie ein EU-
Mitgliedstaat Zugang zu den Banken der EU für Antigene, Impfstoffe und diagnosti-
sche Reagenzien (s. Art. 48ff. der Verordnung 2016/429). Im Gegenzug wird die
MKS-Antigenbank des Instituts für Virologie und Immunologie (IVI) in das EU-
Netzwerk eingebettet.
Schliesslich entsteht für die Schweiz eine Verpflichtung, Krisenübungen und Simula-
tionen durchzuführen und Notfallpläne zu verwalten (s. Art. 43ff. der Verordnung
2016/429). Es wird beispielsweise ein nationaler Aktionsplan zur Prävention der Af-
rikanischen Schweinepest für die Wildschweinpopulation auf Schweizer Gebiet vor-
geschrieben (s. Art. 56 der Verordnung (EU) 2023/594
780
), der zusammen mit den
780
Durchführungsverordnung (EU) 2023/594 vom 16. März 2023 mit besonderen Seuchenbe-
kämpfungsmaßnahmen in Bezug auf die Afrikanische Schweinepest und zur Aufhebung
der Durchführungsverordnung (EU) 2021/605, ABl. L, 2023/594, 17.3.2023.
813 / 931
Umsetzungsergebnissen jährlich der Europäischen Kommission und den Mitglied-
staaten vorgelegt wird.
Aufgrund dessen, dass das in das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierte EU-
Recht im Tierseuchenbereich grundsätzlich direkt anwendbar sein wird, ergeben sich
Einsparungen bei den personellen Ressourcen. Hingegen ergeben sich aus den zusätz-
lichen Verpflichtungen wie Überwachungs- und Tilgungsprogrammen oder Krisen-
vorbereitungen Mehraufwände, die sich zum jetzigen Zeitpunkt jedoch nicht genau
beziffern lassen.
2.12.11.6.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf
urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete
Materiell führt die vorliegende Änderung der Tierseuchengesetzgebung zu keinen
grossen Anpassungen, da das Schweizerische Tierseuchenrecht schon heute dem ein-
schlägigen EU-Recht entspricht. Auch die Organisation des Vollzugs erfährt keine
Veränderung
Die kantonalen Vollzugsorgane werden die Tierseuchengesetzgebung künftig haupt-
sächlich gestützt auf das in das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierte EU-
Recht vollziehen; konkret werden sie Bekämpfungsmassnahmen sowie anderweitige
Anordnungen überwiegend direkt gestützt auf dieses Recht verfügen. Aufgrund der
grundsätzlich direkten Anwendung des in das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit
integrierten EU-Rechts sowie der Änderung der bundesrechtlichen Tierseuchenge-
setzgebung wird auch die kantonale Tierseuchengesetzgebung angepasst werden müs-
sen. Aufgrund des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit werden sodann neue Kon-
zepte anwendbar, wie beispielsweise Kompartimente (s- Art. 37 der Verordnung
2016/429) und geschlossene Betriebe (s. Art. 96 der Verordnung 2016/429). Die not-
wendigen Änderungen bei der Gesetzgebung, die Umstellung der Verfügungspraxis
sowie die Anwendung der neuen Konzepte werden bei den Vollzugsorganen zu einem
Mehraufwand führen. Weiter führen die zusätzlichen Registrierungs- und Zulassungs-
pflichten (s. Ziff. 2.12.11.6.3) ebenfalls zu einem steigenden Aufwand im Vollzug.
Insgesamt ist in den Kantonen mit einem Mehraufwand zu rechnen, der sich zum jet-
zigen Zeitpunkt jedoch nicht genau beziffern lässt.
2.12.11.6.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
Das ins Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierte EU-Recht sieht für gewisse
Betriebe Registrierungs- und Bewilligungspflichten vor, die im Schweizer Recht nicht
vorgesehen sind. Künftig werden diese Bestimmungen des EU-Rechts gestützt auf das
Protokoll zur Lebensmittelsicherheit in der Schweiz grundsätzlich direkt angewendet
werden. Beispielsweise werden neu Transportunternehmen die Huftiere transportie-
ren, registrierungspflichtig sein (s. Art. 87 der Verordnung 2016/429). Diese Regist-
rierungspflicht gilt auch für Unternehmen, die unabhängig von einem Betrieb Auf-
triebe durchführen (s. Art. 90 der Verordnung 2016/429). Neue Bewilligungspflichten
ergeben sich zudem in den Bereichen Aquakultur und Geflügelhaltung
Weiter schreibt das einschlägige EU-Recht den Tierhaltenden vor, sogenannte «Tier-
gesundheitsbesuche» durch eine Tierärztin oder einen Tierarzt vornehmen zu lassen
(s. Art. 25 der Verordnung 2016/429), die der Seuchenprävention dienen und deren
814 / 931
Häufigkeit im Verhältnis zu den vom betreffenden Betrieb ausgehenden Risiken ste-
hen muss.
Laboratorien für die amtliche Tierseuchendiagnostik müssen künftig positive Ergeb-
nisse von Proben aus einem EU-Mitgliedstaat – oder künftig aus der Schweiz – der
Behörde des betreffenden Mitgliedstaates – oder künftig der Schweiz – melden.
Für die Tierhaltenden beziehungsweise Unternehmen bedeutet die grundsätzlich di-
rekte Anwendung des ins Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierten EU-Rechts
eine grössere Rechtssicherheit im Handel mit der EU. Der Abbau von Handelshemm-
nissen stärkt den Wettbewerb und sichert die Standortattraktivität der Schweiz. Aus-
serdem wird eine gesicherte Beteiligung am EU-Binnenmarkt ermöglicht. Schliess-
lich liegt die umfassende Bekämpfung von Tierseuchen im gesamtschweizerischen
Interesse. Tierleid wird verhindert und allfällige wirtschaftliche Schäden und Aus-
fälle, die Tierhaltende im Seuchenfall zu gewärtigen hätten, werden abgewendet. Dies
wirkt sich positiv auf die Volkswirtschaft aus.
2.12.11.6.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
Die Umsetzung im Bereich der Tierseuchengesetzgebung hat keine Auswirkungen auf
die Gesellschaft.
2.12.11.6.5
Auswirkungen auf die Umwelt
Die Umsetzung im Bereich der Tierseuchengesetzgebung hat keine Auswirkungen auf
die Umwelt.
2.12.11.6.6
Andere Auswirkungen
Es sind keine anderen Auswirkungen zu erwarten.
2.12.11.7
Rechtliche Aspekte dieses Umsetzungserlasses
2.12.11.7.1
Verfassungsmässigkeit
Nach Artikel 118 Absatz 2 Buchstabe b BV erlässt der Bund Vorschriften über «die
Bekämpfung übertragbarer, stark verbreiteter oder bösartiger Krankheiten von Men-
schen und Tieren». Der Bund hat in diesem Bereich eine umfassende Gesetzgebungs-
kompetenz. Sodann kann er Vorschriften erlassen über die Ausübung der privatwirt-
schaftlichen Erwerbstätigkeit (Art. 95 Abs. 1 BV), wovon im TSG ebenfalls Gebrauch
gemacht wird.
2.12.11.7.2
Vereinbarkeit mit anderen internationalen
Verpflichtungen der Schweiz
Aufgrund des bestehenden Landwirtschaftsabkommens mit der EU ist das Schweizer
Recht schon heute grundsätzlich mit der Verordnung (EU) Nr. 2016/429 (bzw. deren
Vorgänger-Rechtsakten) harmonisiert und die Schweiz ist schon heute verpflichtet,
verschiedene Vorschriften der EU auf den Handel zwischen der Schweiz und der Eu-
ropäischen Union und auf die Einfuhr aus Drittländern anzuwenden. Entsprechend
ergeben sich aufgrund der vorgeschlagenen Änderungen keine Widersprüche zu Ab-
kommen mit Vertragspartnern ausserhalb der EU.
815 / 931
2.12.11.7.3
Erlassform
Vorliegend wird ein bestehendes Bundesgesetz teilrevidiert. Die Erlassform ist beizu-
behalten. Zur Frage der Bündelung der Umsetzungsgesetzgebung, siehe Ziff. 4.3.
2.12.11.7.4
Vorläufige Anwendung
Es ist keine vorläufige Anwendung des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit vorge-
sehen. Dies gilt ebenfalls mit Bezug auf den VE-TSG.
2.12.11.7.5
Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass
Unterstellung unter die Ausgabenbremse
Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV sieht zum Zweck der Ausgabenbegrenzung vor,
dass Subventionsbestimmungen sowie Verpflichtungskredite und Zahlungsrahmen,
die neue einmalige Ausgaben von mehr als 20 Millionen Franken oder wiederkeh-
rende Ausgaben von mehr als 2 Millionen Franken nach sich ziehen, in jedem der
beiden Räte der Zustimmung der Mehrheit aller Mitglieder bedürfen. Mit der Umset-
zung im Bereich der Tierseuchengesetzgebung werden weder neue Subventionsbe-
stimmungen (die Ausgaben über einem der Schwellenwerte nach sich ziehen) ge-
schaffen, noch neue Verpflichtungskredite / Zahlungsrahmen (mit Ausgaben über
einem der Schwellenwerte) beschlossen.
Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der fiskalischen Äquivalenz
Die Umsetzung im Bereich der Tierseuchengesetzgebung tangiert die Aufgabentei-
lung oder die Aufgabenerfüllung durch Bund und Kantone nicht.
Einhaltung der Grundsätze des Subventionsgesetzes
Mit der Umsetzung im Bereich der Tierseuchengesetzgebung werden keine neuen
Subventionsbestimmungen geschaffen. Artikel 10 wurde aus dem geltenden Recht
übernommen (Art. 11
a
TSG).
Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen
Das TSG regelt künftig nur noch diejenigen Belange, in denen das EU-Recht im
Schweizer Recht präzisiert werden muss sowie spezifisch für die Schweiz geltende
Sachverhalte in Bereichen, die nicht vom einschlägigen EU-Recht geregelt sind. Da-
bei bedürfen die Grundsätze sowie alle Bereiche nach Artikel 164 Absatz 1 BV (u.a.
Rechte und Pflichten von Privatpersonen) einer Grundlage im formellen Gesetz. Die
Ausführungsbestimmungen werden vom Bundesrat erlassen. Konkret wird er neu in
Bezug auf die Anforderungen an die Mitarbeitenden der Fachstellen, deren Bildung
816 / 931
und der diesbezüglichen Prüfungskommission die entsprechenden Ausführungsbe-
stimmungen erlassen. Die übrigen Ermächtigungen zum Erlass von Ausführungsbe-
stimmungen durch den Bundesrat, beispielsweise im Zusammenhang mit der Kenn-
zeichnung von Hunden sowie den Kosten für die Tierseuchenbekämpfung und der
Entschädigung von Tierverlusten, werden aus dem geltenden Recht übernommen.
2.12.11.7.6
Datenschutz
Neu enthält das TSG zusätzlich zu den Bestimmungen zur Bearbeitung der Daten in
den Informationssystemen auch Bestimmungen zur Datenbearbeitung im Zusammen-
hang mit der Ausbildung der mit der amtlichen Kontrolle betrauten Personen. Bei die-
sen gelten bei der Bearbeitung durch Bundesorgane ebenfalls die Grundsätze des
DSG.
2.12.12
Auswirkungen des Paketelements
Zusammenfassende Darstellung der wichtigsten Auswirkungen auf die davon
betroffenen Gesetzgebungen:
Umset-
zungserlass
Bund
Kanton
Volkswirtschaft
Gesellschaft
Umwelt
LWG
&
WaG
Pflanzen-
gesundheit
Der Mehraufwand
für Vollzug und
Überwachung der
Umsetzung
der
Bestimmungen im
Bereich der Pflan-
zengesundheit be-
trägt für den Bund
schätzungsweise
rund 5 Mio. CHF
pro Jahr, mit einer
möglichen Reduk-
tion auf 4,1 Mio.
CHF pro Jahr ab
2033. Dies bein-
haltet
1,5 Mio.
CHF pro Jahr für
rund 9 zusätzliche
Vollzeitstellen auf
vier Bundesstellen
verteilt für die ers-
ten
vier
Jahre.
Diese können auf
5
Vollzeitstellen
für die darauffol-
genden Jahre redu-
ziert
werden
(0,8 Mio. CHF pro
Jahr).
Der Mehraufwand
für Vollzug und
die Überwachung
der Umsetzung der
Bestimmungen im
Bereich der Pflan-
zengesundheit be-
trägt für die Kan-
tone
schätzungsweise
1 Mio. CHF pro
Jahr
(insgesamt
über alle Kantone,
inklusive
Perso-
nal).
Das Protokoll er-
möglicht
pflan-
zenproduzieren-
den
Betrieben
einen erleichterten
Handel. Die Be-
triebe
werden
mehr Kontrollge-
bühren entrichten
müssen,
da
die
Frequenz der Kon-
trollen erhöht wer-
den muss. Dies
trägt jedoch zur
Minderung
der
Verbreitung
von
Schadorganismen
und der damit zu-
sammenhängen-
den
volkswirt-
schaftlichen
Kosten bei.
Die Vorlage hat
eine positive Aus-
wirkung auf die
Gesellschaft. Mit
den
zusätzlichen
pflanzengesund-
heitlichen
Kon-
trollen
können
auch soziale Schä-
den
verringert
werden.
Durch intensivierte
Überwachung von
Schadorganismen
sind positive Ef-
fekte auf die Um-
welt zu erwarten.
Pflanzen-
vermeh-
rungsma-
terial
Der
jährliche
Mehraufwand im
Bereich Pflanzen-
Es sind geringe
Auswirkungen auf
die Kantone zu er-
warten.
Für den Saatgut-
sektor
und
das
Baumschulwesen
Die Vorlage hat
eine positive Aus-
wirkung auf die
Gesellschaft,
da
Es sind keine Aus-
wirkungen auf die
Umwelt zu erwar-
ten.
817 / 931
vermehrungsma-
terial liegt insge-
samt bei 362 000
CHF in den ersten
beiden Jahren (für
Vollzug
resp.
Kontrolle). Lang-
fristig sinkt dieser
auf 180 000 CHF.
Davon
entfallen
auf das forstliche
Vermehrungsgut
150 000 CHF bzw.
langfristig 86 000
CHF.
wird das Abkom-
men eine vollstän-
dige Integration in
den
EU-
Binnenmarkt und
Rechtssicherheit
schaffen.
Neue
Kontrollanforde-
rungen werden ge-
meinsam mit dem
Bereich Pflanzen-
gesundheit umge-
setzt.
damit
sicherge-
stellt wird, dass in
der Schweiz und
in der EU jederzeit
dasselbe hohe Si-
cherheitsniveau
gilt.
Pflanzen-
schutzmit-
tel
Der zusätzliche
Personalbedarf
kann heute noch
nicht genau bezif-
fert werden. Sollte
die Integration der
Schweiz in das
System der EU ei-
nen erhöhten Res-
sourcenbedarf be-
wirken, so wäre
dieser teilweise
durch Zusatzein-
nahmen aus er-
höhten Gebühren
gedeckt.
Es werden keine
Auswirkungen auf
die Kantone er-
wartet.
Die Integration der
Schweiz ins Zo-
nensystem der EU
für die Zulassung
wird die Arbeit
von Unternehmen
vereinfachen, die
ihre Produkte in
den Schweiz auf
den Markt bringen
wollen.
Ausser-
dem bekäme die
Schweizer Land-
wirtschaft densel-
ben Zugang zu den
Produkten, die in
der EU zugelassen
sind, was sich po-
sitiv
auf
die
Schädlingsbe-
kämpfung auswir-
ken würde. Eine
solche Integration
erfordert
aller-
dings eine Anglei-
chung der Zulas-
sungsgebühren an
diejenigen der an-
deren Länder der
zentralen
Zone.
Stärkung
des
Schutzes im Be-
reich menschliche
Gesundheit
Verbesserter Um-
weltschutz
Tierzucht
Allenfalls wird es
einen
geringen
Mehrbedarf
an
personellen
Res-
sourcen geben auf-
grund des Mitwir-
kungsrechts
der
Schweiz bei der
Erarbeitung
von
EU-Recht.
Keine
Keine
Keine
Keine
818 / 931
Futtermit-
tel
Finanzielle
Aus-
wirkungen
sind
nicht zu erwarten.
Die direkte An-
wendung des EU-
Rechts hat keine
wesentlichen Än-
derungen für die
Vollzugsbehörde
des Bundes zur
Folge. Die Voll-
zugsaufgaben än-
dern sich nicht in
ihrer
Häufigkeit
und nur geringfü-
gig in ihrer Vorge-
hensweise.
Es sind keine Aus-
wirkungen auf die
Kantone zu erwar-
ten. Die Vollzugs-
aufgaben auf Stufe
der Primärproduk-
tion ändern sich
weder in der Häu-
figkeit noch in der
Vorgehensweise.
Dank dem Wegfall
des Erfordernisses
einer
nationalen
Zulassung
erhält
die
Futtermittelin-
dustrie
einen
schnelleren
und
direkteren Zugang
zu den Produkten,
die in der EU zu-
gelassen sind.
Die Vorlage hat
eine positive Aus-
wirkung auf die
Gesellschaft,
da
damit
sicherge-
stellt wird, dass in
der Schweiz und
in der EU jederzeit
dasselbe hohe Si-
cherheitsniveau
gilt.
Es sind keine Aus-
wirkungen auf die
Umwelt zu erwar-
ten
LMG
Zum jetzigen Zeit-
punkt kann nicht
abgeschätzt wer-
den,
inwieweit
sich die Verände-
rungen der Aufga-
ben auf den Perso-
nal-Etat auswirkt.
Die direkte An-
wendung des in
das Protokoll zur
Lebensmittelsi-
cherheit integrier-
ten
EU-Rechts
führt bei den kan-
tonalen Vollzugs-
stellen zu keinen
nennenswerten
Veränderungen.
Die Vollzugsauf-
gaben ändern sich
weder in der Fre-
quenz noch der
Vorgehensweise.
Auf
städtische
Zentren,
Agglo-
merationen
und
Berggebiete
hat
die Vorlage keine
konkreten Auswir-
kungen.
Die vorgeschlage-
nen
Änderungen
des LMG sichern
die
Harmonisie-
rung mit dem EU-
Recht und damit
den vereinfachten
gegenseitigen
Marktzugang
im
Lebensmittelbe-
reich. Dies verhin-
dert
technische
Handelshemm-
nisse und wirkt
sich damit positiv
auf
das
Wirt-
schaftswachstum
und die wirtschaft-
lichen Rahmenbe-
dingungen.
Aus dem Blick-
winkel des Ge-
sundheitsschutzes
ist die direkte An-
wendung von EU-
Recht
in
der
Schweiz positiv zu
beurteilen.
Es sind keine Aus-
wirkungen auf die
Umwelt zu erwar-
ten.
TSG
Im Bereich der
Planung von Mo-
nitoring Aktivitä-
ten ergibt sich ein
Mehraufwand
während bei der
Anpassung
der
rechtlichen Vorga-
ben ein Minder-
aufwand resultiert.
Zum jetzigen Zeit-
punkt kann nicht
abgeschätzt wer-
den,
inwieweit
sich die Verände-
Die Anpassungen
in der Gesetzge-
bung, der Verfü-
gungspraxis,
der
Anwendung neuer
Konzepte,
sowie
der
zusätzlichen
Registrierungs-
und
Zulassungs-
pflichten
führen
bei den Vollzugs-
organen zu einem
Mehraufwand.
Zum jetzigen Zeit-
punkt kann aber
nicht abgeschätzt
Die Tierhaltenden
bzw.
Unterneh-
men haben eine
grössere Rechtssi-
cherheit im Han-
del mit der EU und
einen gesicherten
Zugang zum EU-
Binnenmarkt. Der
Abbau von Han-
delshemmnissen
stärkt den Wettbe-
werb und sichert
die Standortattrak-
tivität
der
Schweiz.
Es sind keine Aus-
wirkungen auf die
Gesellschaft zu er-
warten.
Es sind keine Aus-
wirkungen auf die
Umwelt zu erwar-
ten.
819 / 931
rungen der Aufga-
ben auf den Perso-
nal-Etat auswirkt.
werden, in wel-
chem Rahmen sich
dieser bewegt. Auf
städtische Zentren,
Agglomerationen
und
Berggebiete
hat die Vorlage
keine
konkreten
Auswirkungen.
Die
umfassende
Bekämpfung von
Tierseuchen ist im
schweizerischen
Interesse und ver-
hindert
Tierleid
sowie
allfällige
wirtschaftliche
Schäden,
Dies
wirkt sich positiv
auf die Volkswirt-
schaft aus.
TSchG
Der aufgrund der
Änderung
des
TSchG anfallende
Mehraufwand
wird voraussicht-
lich mit den beste-
henden
Ressour-
cen
kompensiert
werden können.
Die Änderung des
TSchG führt bei
den Kantonen zu
personellen Aus-
wirkungen,
die
sich zum jetzigen
Zeitpunkt jedoch
nicht genau bezif-
fern lassen. Auf
städtische Zentren,
Agglomerationen
und
Berggebiete
hat die Vorlage
keine
konkreten
Auswirkungen.
Die
Bestimmun-
gen zu internatio-
nalen
Tiertrans-
porten und Tötung
von Tieren sind
bereits weitgehend
äquivalent, womit
die Auswirkungen
stark
begrenzt
sind.
Vereinzelt
dürften
zusätzli-
che Unternehmen
dem Geltungsbe-
reich
unterstellt
werden.
Es sind keine Aus-
wirkungen auf die
Gesellschaft zu er-
warten.
Es sind keine Aus-
wirkungen auf die
Umwelt zu erwar-
ten.
2.12.12.1
Auswirkungen auf den Bund
Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit betrifft die Landwirtschafts-, Lebensmittel-
, Tierseuchen-, Tierschutz- und Waldgesetzgebung. Die betreffenden Gesetze und de-
ren Ausführungserlasse haben bereits im Rahmen des bestehenden Landwirtschafts-
abkommen (Bilaterale I) in vielen Bereichen eine Angleichung an das EU-Recht er-
fahren. Unter dem aktuell geltenden System der Äquivalenz der Rechtsvorschriften
hat die Schweiz zu den einschlägigen Bestimmungen des EU-Rechts gleichwertiges
Schweizer Recht erlassen, welches zu den gleichen Ergebnissen führt und die gleiche
Wirkung erzielt.
Mit dem Protokoll zur Lebensmittelsicherheit werden sich die Aufgaben der Mitar-
beitenden in der Bundesverwaltung verändern. Aufgrund der künftig vorgesehenen
direkten Anwendung des in das Abkommen aufgenommenen massgebenden EU-
Rechts muss die schweizerische Gesetzgebung entlang der Lebensmittelkette über-
prüft und bereinigt werden.
Die Überprüfung und Bereinigung des Schweizer Rechts bringt einen anfänglichen
Mehraufwand mit sich. Diese Vorbereitungsarbeiten erfordern den Einsatz von erheb-
lichen personellen Ressourcen. Das BLV plant, diese Aufgaben mit den bestehenden
Ressourcen zu bewältigen und dafür seine für 2025–2028 vorgesehenen Tätigkeiten
neu zu organisieren. Das BLW und das BAFU schätzen, dass die Vorbereitungsarbei-
820 / 931
ten im Fachbereich Pflanzengesundheit 2 zusätzliche Vollzeitäquivalente bis 2027 er-
fordern. Für die Umsetzung des neuen Abkommens ab dem Zeitpunkt der Annahme
schätzen das BLW und das BAFU den zusätzlichen Bedarf an personellen Ressourcen
auf ungefähr 9 Vollzeitäquivalente bis 2032 und 5 Vollzeitäquivalente ab 2033 für die
Bearbeitung von Dossiers im Bereich Pflanzengesundheit und Pflanzenvermehrungs-
material durch das BLW, Agroscope, die WSL und das BAFU. Aufgrund der grossen
Anzahl betroffener Verordnungen und der Tatsache, dass in der Schweiz das Umset-
zungsverfahren und die Inhalte noch in Bearbeitung sind, kann der zusätzliche Bedarf
an personellen Ressourcen für die Umsetzung der Gesetze und Verordnungen bezüg-
lich Lebensmitteln und Pflanzenschutzmitteln nach heutigem Stand nicht genau be-
messen werden. Dies wird erst möglich sein, nachdem alle betroffenen Verordnungen
vollständig überarbeitet wurden. Dasselbe gilt für die Umsetzung der Gesetze und
Verordnungen im Tierseuchenbereich. Der effektive Ressourcenbedarf kann erst be-
ziffert werden, nachdem die betreffenden Verordnungen einer Totalrevision unterzo-
gen wurden. Da schon heute ein gemeinsamer europäischer Veterinärraum besteht,
dürfte der allfällige zusätzliche Bedarf aber geringer ausfallen.
Mit dem Protokoll zur Lebensmittelsicherheit wird neu die Möglichkeit geschaffen,
dass die Schweiz bei der Ausarbeitung von neuem EU-Recht mitwirken kann (
Deci-
sion Shaping
; s. Ziff. 2.1.6.2.1). Das bedeutet, dass Schweizer Fachleute am Prozess
der Ausarbeitung von EU-Rechtsakten innerhalb der Europäischen Kommission mit-
wirken und regelmässig an Sitzungen vor Ort teilnehmen können. Dies verursacht so-
wohl einen personellen wie auch einen finanziellen Mehraufwand. Zudem werden
Schweizer Expertinnen und Experten direkt und aktiv an den Arbeiten der EFSA mit-
wirken. Die Mitarbeit der Schweiz in der EFSA sowie die Möglichkeit der Mitwir-
kung der Schweiz bei der Ausarbeitung neuen EU-Rechts ermöglichen es, die Anlie-
gen der Schweiz aktiv einzubringen und allfällige Bedenken frühzeitig zu platzieren.
Die rechtzeitige Einbindung der Kantone in diese Prozesse ist wichtig, muss entwi-
ckelt werden und benötigt sowohl auf Stufe Bund als auch Kanton Ressourcen.
Der Bundesrat wird den ausgewiesenen Ressourcenbedarf zu gegebener Zeit überprü-
fen und darauf achten, dass ein allfälliger Mehrbedarf an Personalaufwand innerhalb
des Eigenbereichs des Bundes kompensiert wird.
Die Teilnahme der Schweiz am Informationsmanagementsystem für amtliche Kon-
trollen (IMSOC), das aus den Komponenten iRASFF, ADIS, EUROPHYT und
TRACES besteht und für die Durchführung der gemäss der EU-Kontrollverordnung
vorgesehenen amtlichen Kontrollen erforderlich ist, sollte mit den bestehenden Res-
sourcen sichergestellt werden können. Schon heute müssen die Kantone dem Bund
die entsprechenden Vollzugsdaten liefern. Sie werden vom BAFU, BLV und BLW
ins System eingegeben. Das wird auch künftig so sein. Die nachfolgende Tabelle gibt
eine indikative Übersicht über die jährliche Kostenbeteiligung der Schweiz für die
Teilnahmen an den Informationssystemen der EU basierend auf deren Budgets für
2024.
821 / 931
Kostenbeteiligung an der EFSA und an EU-Informationssystemen:
IT-System
Bereich
EU-Budget (2024, falls nicht
anders angegeben)
CH Beitrag basierend auf IMI
Vorausschau 2024 GDP CH /
GDP EU plus 4% Teilnahme-
gebühr
Europhyt
LM-Sicherheit
1’000’000
50’500
GIS
LM Sicherheit
500’000
25’500
iRASFF
LM Sicherheit
4'500’000
227’250
TRACES
LM Sicherheit
7'200’000
363’600
TRACES-ADIS
LM Sicherheit
1'300’000
65’650
European Food Safety
Authority (EFSA)
LM-Sicherheit
155’207’166
7’837’962
Total
169’707’166
8’570’462
2.12.12.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf
urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete
Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit hat auch Auswirkungen auf die Aufgaben
der Mitarbeitenden bei den kantonalen Vollzugsbehörden. Aufgrund der direkten An-
wendung des im Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierten EU-Rechts werden
kantonale Entscheide künftig direkt gestützt auf den massgeblichen EU-Rechtsakt er-
lassen, was eine vorgängige Anpassung der Vollzugsprozesse und -unterlagen erfor-
dert. In den Bereichen, in denen neue Aufgaben oder eine deutliche Intensivierung
und Anpassung der bisherigen Aufgaben auf die kantonalen Vollzugsbehörden zu-
kommen (Pflanzengesundheit, forstliches Pflanzenvermehrungsmaterial und Tierseu-
chenprävention), ist bei den Kantonen mit einem Mehraufwand im Vollzug zu rech-
nen, was im Ergebnis zu einer besseren Prävention zur Verhinderung der Ausbreitung
von Tierseuchen, Pflanzenschädlingen oder -krankheiten beiträgt. Andererseits wird
der Anschluss und die Mitarbeit in den Informationssystemen den schweizerischen
Vollzugsbehörden den effizienten Vollzug erleichtern und die Lebensmittelsicherheit
weiter stärken. Wie bereits im vorangehenden Kapitel dargelegt, wird auch die Ein-
bindung der Kantone bei der Mitwirkung der Schweiz bei der Ausarbeitung neuen
EU-Rechts sowohl auf Stufe Bund als auch Kanton Ressourcen benötigen.
2.12.12.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
Für die Konsumentinnen und Konsumenten bringt die direkte Anwendung der in das
Abkommen aufgenommenen EU-Rechtsakte die Gewähr, dass in der Schweiz und in
der EU jederzeit dasselbe hohe Sicherheitsniveau gilt. Insgesamt wird der Verbrau-
cherschutz damit gestärkt. Durch die Mitarbeit der schweizerischen Expertinnen und
Experten in den entsprechenden EU-Gremien kann die Schweiz ihr Wissen einbringen
und aus erster Hand von den neusten Kenntnissen profitieren.
2.12.12.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
Für die Konsumentinnen und Konsumenten bringt die direkte Anwendung der in das
Abkommen aufgenommenen EU-Rechtsakte die Gewähr, dass in der Schweiz und in
822 / 931
der EU jederzeit dasselbe hohe Sicherheitsniveau gilt. Insgesamt wird der Verbrau-
cherschutz damit gestärkt. Durch die Mitarbeit der schweizerischen Expertinnen und
Experten in den entsprechenden EU-Gremien kann die Schweiz ihr Wissen einbringen
und aus erster Hand von den neusten Kenntnissen profitieren.
2.12.12.5
Auswirkungen auf die Umwelt
Die Vorlage hat keine Auswirkungen auf die Umwelt.
2.12.12.6
Andere Auswirkungen
Es sind keine anderen Auswirkungen zu erwarten.
2.12.13
Rechtliche Aspekte des Paketelements
2.12.13.1
Verfassungsmässigkeit des Protokolls
Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 der Bun-
desverfassung (BV), wonach der Bund für die auswärtigen Angelegenheiten zustän-
dig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV ermächtigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge
zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Die Bundesversammlung ist nach Artikel 166
Absatz 2 BV für die Genehmigung völkerrechtlicher Verträge zuständig sofern für
deren Abschluss nicht aufgrund von Gesetz oder völkerrechtlichem Vertrag der Bun-
desrat zuständig ist (Art. 24 Abs. 2 ParlG; Art. 7a Abs. 1 RVOG). Beim Protokoll zur
Lebensmittelsicherheit handelt es sich nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag, für
dessen selbstständigen Abschluss der Bundesrat aufgrund eines Gesetzes oder eines
von der Bundesversammlung genehmigten völkerrechtlichen Vertrags ermächtigt ist.
Insbesondere geht die direkte Anwendung des in das Protokoll zur Lebensmittelsi-
cherheit vorgesehenen direkten Anwendung des mit dem Protokoll übernommenen
EU-Rechts über die in Artikel 177a Absatz 1 LWG, Artikel 53b TSG, Artikel 32a
TSchG und Artikel 45 LMG vorgesehenen Anwendungsbereiche hinaus. Es handelt
sich auch nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag von beschränkter Tragweite nach
Artikel 7a Absatz 2 RVOG. Zudem erfordert die Umsetzung des Protokolls zur Le-
bensmittelsicherheit die Revision von Bundesgesetzen. Das Protokoll zur Lebensmit-
telsicherheit ist folglich der Bundesversammlung zur Genehmigung zu unterbreiten.
2.12.13.2
Verfassungsmässigkeit der Umsetzungsgesetzgebung und
Begleitmassnahmen
Siehe Ziffern 2.12.8.6.1, 2.12.9.7.1, 2.12.10.7.1 und 2.12.11.7.1.
2.12.13.3
Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen
der Schweiz
Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit ist vereinbar mit den internationalen Ver-
pflichtungen der Schweiz. Vorgesehen ist, dass auch das Zusatzabkommen vom 27.
September 2007 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, dem Fürstentum
Liechtenstein und der Europäischen Gemeinschaft über die Einbeziehung des Fürs-
tentums Liechtenstein in das Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenos-
senschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Handel mit landwirtschaftli-
chen Erzeugnissen entsprechend geändert wird.
823 / 931
Der Abschluss von Abkommen mit Drittstaaten ist – unter Berücksichtigung der nach-
stehend dargelegten Einschränkungen – weiterhin möglich. Mit Integration der EU-
Rechtsakte in Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit werden diese Teil
der Schweizer Rechtordnung. Will die Schweiz bestimmte neue Regeln von künftig
zu integrierenden Rechtsakten in Bezug auf den auf den Schweizer Markt beschränk-
ten Import bestimmter Produkte aus Drittstaaten nicht oder anders anwenden, müsste
dies mit einer Ausnahmebestimmung im Protokoll zur Lebensmittelsicherheit ausge-
handelt werden. So ist beispielsweise die Einfuhr von Rindfleisch, das von möglich-
erweise mit Wachstumshormonen behandelten Rindern stammt, auch weiterhin zu-
lässig, sofern es ausschliesslich für den Verbrauch auf dem Inlandmarkt vorgesehen
ist (s. Ziff. 2.12.6).
Allenfalls erforderliche Anpassungen der Anhänge des Übereinkommens zur Errich-
tung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) werden geprüft und zu einem
späteren Zeitpunkt vorgenommen. Im Übrigen wird auf die Erläuterungen in Ziffer
3.1.3 verwiesen.
2.12.13.4
Erlassform
Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 der Bundesverfassung (BV) unterlie-
gen völkerrechtliche Verträge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige recht-
setzende Bestimmungen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesge-
setzen erfordert. Nach Artikel 22 Absatz 4 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember
2002 sind unter rechtsetzenden Normen jene Bestimmungen zu verstehen, die in un-
mittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten auferlegen, Rechte
verleihen oder Zuständigkeiten festlegen. Als wichtig gelten Bestimmungen, die auf
der Grundlage von Artikel 164 Absatz 1 BV in der Form eines Bundesgesetzes erlas-
sen werden müssten.
Die Umsetzung des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit erfordert die Totalrevision
des LMG, sowie die Teilrevision des TSG, TSchG, LwG und WaG. Gestützt auf Ar-
tikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV ist der Bundesbeschluss über die Geneh-
migung des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit deshalb dem fakultativen Referen-
dum zu unterstellen (siehe aber die Varianten in Ziff. 4.1). Zur Frage der Bündelung
der Umsetzungsgesetzgebung, siehe Ziff. 4.3.
2.12.13.5
Vorläufige Anwendung
Eine vorläufige Anwendung des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit ist nicht vor-
gesehen.
2.12.13.6
Besondere rechtliche Aspekte zur Umsetzungsgesetzgebung
Siehe Ziffern 2.12.8.6.5, 2.12.9.7.5, 2.12.10.7.5 und 2.12.11.7.5
2.12.13.7
Datenschutz
Siehe Ziffern 2.1.9.7, 2.12.8.6.6, 2.12.9.7.6, 2.12.10.6.6 und 2.12.11.7.6.
824 / 931
2.13
Gesundheit
2.13.1
Zusammenfassung
Gesundheitskrisen machen nicht vor Grenzen Halt. Eine diesbezügliche Zusammen-
arbeit ist daher zentral – auf globaler, aber auch auf regionaler Ebene. Seit 2008 strebt
die Schweiz zum besseren Schutz der Schweizer Bevölkerung eine engere Zusam-
menarbeit mit der EU im Gesundheitsbereich an. Dazu möchte sie sich an den euro-
päischen Mechanismen zur Bewältigung schwerwiegender grenzüberschreitender Ge-
sundheitsbedrohungen, am Europäischen Zentrum für die Prävention und die
Kontrolle von Krankheiten (ECDC) und am Mehrjahresprogramm der EU im Gesund-
heitsbereich beteiligen können.
2018 stand die Schweiz kurz vor dem Abschluss eines Abkommens, das die Beteili-
gung an den oben genannten Instrumenten vorsah. Es scheiterte letztlich jedoch an
der fehlenden Einigung zwischen der Schweiz und der EU über die institutionellen
Fragen.
Eine Zusammenarbeit war deshalb nicht möglich, so dass die Schweiz im zentralen
Bereich der epidemiologischen Überwachung keinen Zugang zu den Informationen
und Mechanismen in der EU erhielt. Während der Covid-19-Pandemie musste die
Schweiz die EU um einen ad-hoc-Zugang ersuchen, um sich an bestimmten Gesund-
heitssicherheitsmechanismen der EU beteiligen zu können. Dieser inhaltlich und zeit-
lich beschränkte Zugang, den die EU der Schweiz in diesem besonderen Kontext ge-
währte, erwies sich als klarer Vorteil, da er in einer sehr schwierigen
epidemiologischen Lage eine wirksamere Reaktion ermöglichte. Seit August 2023
verfügt die Schweiz jedoch über keinen Zugang mehr.
Vor dem Hintergrund des nachgewiesenen Nutzens einer engeren Zusammenarbeit
haben die Schweiz und die EU vereinbart, ein Gesundheitsabkommen in den Paket-
ansatz aufzunehmen. Ziel ist es, die Zusammenarbeit mit der EU im prioritären Be-
reich der Gesundheitssicherheit zu formalisieren, um den Schutz der Schweizer Be-
völkerung vor epidemiologischen Risiken in einer schweren Gesundheitskrise zu
erhöhen und die Entstehung solcher Krisen verhindern zu können.
Entsprechend dem Schweizer Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 beschränkt
sich das Gesundheitsabkommen auf den Bereich der Gesundheitssicherheit und er-
möglicht der Schweiz den umfassenden Zugang:
–
zu den Gesundheitssicherheitsmechanismen der EU;
–
und zum ECDC.
Das Gesundheitsabkommen gewährleistet der Schweiz einen direkten und ständigen
Zugang zu den Frühwarnsystemen der EU und ermöglicht ihr so, rasch alle erforder-
lichen Informationen zu epidemiologischen Entwicklungen zu erhalten, beispiels-
weise im Fall einer Epidemie oder bei Ausbreitung einer neuen Virusvariante in einem
europäischen Land. Es erleichtert den Austausch mit den EU-Mitgliedstaaten und ver-
bessert die Fachkompetenzen und Instrumente der Schweiz, so dass sie durch erhöhte
825 / 931
Frühwarn- und Reaktionsfähigkeit im Bereich der epidemiologischen Überwachung
geeignete Massnahmen zum besseren Schutz ihrer Bevölkerung treffen kann. Das Ge-
sundheitsabkommen gewährleistet auch Zugang zu den Netzwerken und Informatio-
nen des ECDC im Bereich übertragbarer Krankheiten, einschliesslich Antibiotikare-
sistenzen. Zudem sieht das Abkommen vor, dass die Schweiz auf Wunsch fallweise
an gemeinsamen Beschaffungsverfahren für medizinische Gegenmassnahmen teil-
nehmen kann, was im Zusammenhang mit der Versorgungssicherheit interessant sein
könnte.
Mit diesem Abkommen hat die Schweiz im Bereich der Gesundheitssicherheit, der
durch das Abkommen abgedeckt wird, grundsätzlich die gleichen Rechte und Pflich-
ten wie die EU-Mitgliedstaaten. Die Schweiz ist insbesondere verpflichtet, relevante
Informationen zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsbedrohungen
bereitzustellen und sich finanziell an den entsprechenden Mechanismen beteiligen. Im
Gegenzug erhält die Schweiz umfassenden Zugang zu den epidemiologischen Daten
der EU-Mitgliedstaaten und kann am Austausch von Fachinformationen im Rahmen
der verschiedenen Gesundheitssicherheitsmechanismen teilnehmen. Dies soll dazu
beitragen, die Expertise in der Schweiz zu stärken. Die Schweiz wird weiterhin eigen-
ständig über allfällige Massnahmen zur Verhütung und Bewältigung von Epidemien
entscheiden.
Das Abkommen konzentriert sich auf den für die Schweiz prioritären Bereich der Ge-
sundheitssicherheit, damit sie ihre Bevölkerung besser vor schwerwiegenden Gesund-
heitsbedrohungen schützen kann. Andere Bereiche der Gesundheitspolitik wie Tabak
oder die Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung fallen
nicht in den Geltungsbereich des Gesundheitsabkommens. Das Abkommen sieht je-
doch die Möglichkeit einer künftigen Ausweitung auf andere Gesundheitsbereiche
vor, sofern dies im Interesse beider Parteien liegt. Eine solche Ausweitung des Gel-
tungsbereichs kann nur erfolgen, wenn sie von der Schweiz und der EU gemäss ihren
internen Verfahren zur Revision völkerrechtlicher Verträge genehmigt wird. Wie im
Schweizer Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 vorgesehen, werden die instituti-
onellen Elemente analog - soweit für das ordnungsgemässe Funktionieren des Ab-
kommens erforderlich - in das Gesundheitsabkommen übernommen.
Die Beteiligung der Schweiz am Mehrjahresprogramm der EU im Gesundheitsbereich
(derzeit «EU4Health») wird in einem separaten Abkommen geregelt. Hintergrund ist
der Entscheid, die Beteiligung der Schweiz an EU-Programmen in Protokollen zum
EU-Programmabkommen (EUPA) zu regeln, um Kohärenz zu gewährleisten. In bei-
den Abkommen sind Bestimmungen vorgesehen, um ihr ordnungsgemässes Funktio-
nieren zu gewährleisten und ihre Beziehungen zueinander zu regeln. So ist beispiels-
weise der Geltungsbereich des Gesundheitsabkommens massgebend für den Umfang
der Beteiligung der Schweiz am Mehrjahresprogramm der EU im Gesundheitsbe-
reich. Das Protokoll III zum EUPA über die Beteiligung der Schweiz am Programm
«EU4Health» (Protokoll EU4Health) sieht vor, dass die Schweiz ab dem 1. Januar des
auf das Inkrafttreten des Gesundheitsabkommens folgenden Jahres am Programm teil-
nehmen kann. Falls das Abkommen jedoch nicht bis zum 31. Dezember 2026 in Kraft
tritt, wird die Schweiz nicht am Programm «EU4Health» für den Zeitraum 2021–2027
teilnehmen. Wenn sich die Schweiz am nachfolgenden Gesundheitsprogramm (2028–
826 / 931
2034) beteiligen möchte, ist gemäss den üblichen Verfahren für völkerrechtliche Ver-
träge ein neues Protokoll zum EUPA auszuhandeln.
Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt. Er beantragt
im Rahmen des Weiterentwicklungsteils des Pakets Schweiz–EU die Genehmigung
des Gesundheitsabkommens.
2.13.2
Ausgangslage
Gesundheitskrisen machen nicht vor Grenzen Halt, wie es die Covid-19-Pandemie
verdeutlicht hat. Zur Bewältigung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesund-
heitsbedrohungen in Europa ist deshalb eine enge Zusammenarbeit über die Grenzen
hinweg sinnvoll. Zwischen der Schweiz und der EU gibt es bislang aber kein spezifi-
sches bilaterales Abkommen im Bereich Gesundheit. So fehlt insbesondere eine ver-
tragliche Grundlage für eine Zusammenarbeit im Bereich Gesundheitssicherheit. Die
Zusammenarbeit erfolgte bisher ad-hoc und beschränkt auf grössere Krisensituatio-
nen.
Die Schweiz und die EU verfolgen seit vielen Jahren das Ziel, die Zusammenarbeit
im Bereich Gesundheit durch ein bilaterales Abkommen zu stärken und zu formali-
sieren. Bereits 2008 verabschiedete der Bundesrat das Verhandlungsmandat für ein
Abkommen im Bereich öffentliche Gesundheit. In den darauffolgenden Jahren fanden
verschiedene Gespräche und Verhandlungen statt, wobei insbesondere 2018 wichtige
Fortschritte erzielt werden konnten. Der damals erarbeitete Entwurf eines Abkom-
mens sah die Beteiligung der Schweiz an den EU-Mechanismen im Bereich Gesund-
heitssicherheit, am ECDC sowie am damaligen EU-Gesundheitsprogramm (2014–
2020) vor. Aufgrund der auf übergeordneter Ebene ungeklärten institutionellen Fra-
gen war die EU jedoch nicht bereit, die Verhandlungen abzuschliessen.
Im Rahmen des Paketansatzes wurden die exploratorischen Gespräche für ein Ge-
sundheitsabkommen wieder aufgenommen (Juni–Oktober 2023). Gegenstand der ex-
ploratorischen Gespräche war in erster Linie der Geltungsbereich des Abkommens,
wobei die EU den Wunsch äusserte, die Zusammenarbeit auf Themenbereiche über
die Gesundheitssicherheit hinaus auszuweiten.
Als Ergebnis der exploratorischen Gespräche und gemäss dem Wunsch der Schweiz
wurde im
Common Understanding
jedoch festgehalten, dass der Geltungsbereich des
Abkommens auf die Gesundheitssicherheit und auf die in diesem Zusammenhang re-
levanten EU-Rechtsakte beschränkt bleiben sollte
781
. Die Schweiz sollte Zugang zu
den relevanten EU-Netzwerken und Mechanismen, zum ECDC sowie zum mehrjäh-
rigen EU-Gesundheitsprogramm «EU4Health» (2021–2027) erhalten. Es wurde ver-
einbart, dass die institutionellen Elemente im Gesundheitsabkommen analog Anwen-
dung finden sollen (s. Ziff. 2.13.6.1.2), um das reibungslose Funktionieren des
Abkommens zu gewährleisten. Schliesslich wurde festgehalten, dass eine künftige
Ausweitung der Zusammenarbeit auf andere Themenbereiche der Gesundheitspolitik
möglich sein soll, falls dies im Interesse beider Seiten wäre.
781
S.
Common Understanding
, Ziff. 4.
827 / 931
Ohne ein bilaterales Gesundheitsabkommen fehlt die notwendige Grundlage für eine
bessere, formalisierte Zusammenarbeit mit der EU im Bereich der Gesundheitssicher-
heit. Eine solche Zusammenarbeit stärkt den Schutz der Gesundheit der Schweizer
Bevölkerung. Dies hat die Covid-19-Krise konkret gezeigt. Während der Covid-19-
Pandemie gewährte die Europäische Kommission der Schweiz auf deren offizielle
Anfrage hin ad-hoc Zugang zu einem Teil der relevanten Gremien und Netzwerke.
Die Schweiz profitierte massgeblich von europäischen Mechanismen sowie Informa-
tions- und Austauschplattformen. Verschiedene Berichte, darunter jener der BK, zeig-
ten dies im Nachgang der Krise auf
782
. Dieser Zugang war aber inhaltlich und zeitlich
beschränkt und wurde im Sommer 2023 wieder eingestellt. Die Erfahrungen haben
gezeigt, wie wertvoll eine engere Zusammenarbeit für die Schweiz ist.
Mangels Abkommen hat die Schweiz derzeit keinen Zugang zu den relevanten EU-
Mechanismen und Gremien für die Prävention und Bewältigung von Krisen und zeit-
nahen Informationen über relevante epidemiologische Entwicklungen in der EU. Zu
diesen Mechanismen und Gremien gehören u. a. der Gesundheitssicherheitsausschuss
(HSC) sowie das Frühwarn- und Reaktionssystem (EWRS) der EU, über das die teil-
nehmenden Staaten ständigen Zugang zu epidemiologischen Daten haben, die rund
um die Uhr eingegeben und abgerufen werden können. Die Schweiz hat ein grosses
Interesse daran, die Zusammenarbeit mit der EU vertraglich abzusichern, um ihre
Frühwarn- und Reaktionsfähigkeit bei schwerwiegenden grenzüberschreitenden Ge-
sundheitsbedrohungen zu stärken. Es dient der Schweiz, zum Beispiel rasch alle nöti-
gen Informationen zur Ausbreitung neuer Virus-Varianten oder zu den Erfahrungen
und Erkenntnissen mit unterschiedlichen Teststrategien zu erhalten. Eine solche Zu-
sammenarbeit ist nicht nur in Krisensituationen wichtig, sondern bereits zur Vorbeu-
gung künftiger Krisen. Zudem stärkt sie die vorhandene Expertise in der Schweiz und
bietet u. a. die Möglichkeit, an europaweiten Studien teilzunehmen sowie Daten und
Erkenntnisse auf europäischer Ebene auszutauschen und zu vergleichen, etwa im Be-
reich der Antibiotikaresistenz.
Über Massnahmen, die in der Schweiz für die Verhütung oder Bewältigung von Ge-
sundheitsbedrohungen allenfalls zu treffen sind, entscheidet die Schweiz auch in Zu-
kunft eigenständig.
2.13.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
Mit dem Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 setzte sich die Schweiz das Ziel, die
Zusammenarbeit mit der EU im für sie prioritären Bereich der Gesundheitssicherheit
zu verstetigen und vertraglich zu regeln. Der Geltungsbereich des Abkommens sollte
wie von der Schweiz gewünscht auf den Bereich der Gesundheitssicherheit be-
schränkt sein. Andere Bereiche der Gesundheitspolitik, wie beispielsweise Tabak oder
die Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung, gehören
nicht zum Geltungsbereich des Abkommens.
782
S. hierzu: Bericht zur Auswertung des Krisenmanagements der Bundesverwaltung in der
Covid-19-Pandemie (2. Phase / August 2020 bis Oktober 2021), 22.Juni 2022, abrufbar
unter: www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/72153.pdf.
828 / 931
Der Bereich der Gesundheitssicherheit umfasst den Zugang zu den relevanten Netz-
werken und Mechanismen der EU zur Krisenbewältigung sowie zur Prävention von
grenzüberschreitenden Gesundheitsbedrohungen wie auch die Teilnahme am ECDC
und am aktuellen mehrjährigen EU-Gesundheitsprogramm «EU4Health» (2021–
2027).
Gemäss Schweizer Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 sollte sich die Teilnahme
an den Rechten und Pflichten in den massgeblichen Rechtsakten der EU ausrichten.
Dazu gehört auch eine finanzielle Beteiligung. Dafür wurde ein jährliches Kostendach
von 50 Millionen Franken festgelegt. Wie bereits im
Common Understanding
festge-
halten, sollten die institutionellen Elemente im Gesundheitsabkommen analog An-
wendung finden (s. Ziff. 2.13.6.1.2). Dies ermöglicht das reibungslose Funktionieren
des Abkommens und eine Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU im Be-
reich Gesundheitssicherheit gemäss den Rechten und Pflichten, die in den entspre-
chenden Rechtsgrundlagen vorgesehen sind. Dazu gehört beispielsweise der Einsitz
in den relevanten Gesundheitssicherheitsgremien der EU. Auch erlaubt die Anwen-
dung der institutionellen Elemente eine regelmässige Aktualisierung des Gesundheits-
abkommens, wodurch die verfügbaren Instrumente im Bereich der Gesundheitssicher-
heit den Entwicklungen im Bereich der grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren
angepasst bleiben. Die Anwendung der institutionellen Elemente im Gesundheitsab-
kommen, einem Kooperationsabkommen, erfolgt zudem vor dem Hintergrund des auf
die Gesundheitssicherheit und damit eng beschränkten Geltungsbereichs und nur so
weit für dessen Funktionieren notwendig. Die institutionellen Bestimmungen wurden
von der Verhandlungsgruppe «Institutionelle Bestimmungen und andere Fragen» in
Zusammenarbeit mit der Verhandlungsgruppe «Gesundheit» gemäss den im Schwei-
zer Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 definierten Grundsätzen und Zielen aus-
gehandelt (s. Ziff. 2.1.3.3).
Im Rahmen des Pakets Schweiz-EU wurden die Verhandlungen mit der EU im Be-
reich Gesundheit Mitte März 2024 aufgenommen. Es fanden insgesamt zehn Ver-
handlungsrunden statt, und die Verhandlungen für das Gesundheitsabkommen sowie
für das Protokoll EU4Health konnten am 20. Dezember 2024 materiell abgeschlossen
werden. Das Verhandlungsmandat wurde vollständig erfüllt.
2.13.4
Vorverfahren
Wie in der Ausgangslage erläutert, möchten die Schweiz und die EU bereits seit 2008
die Zusammenarbeit im Bereich Gesundheit stärken und formalisieren. Priorität hatte
für die Schweiz dabei immer die Zusammenarbeit im Bereich Gesundheitssicherheit
– ein Bereich, dessen Bedeutung durch die Erfahrungen aus der Covid-19-Pandemie
weiter zugenommen hat. Die EU hat den entsprechenden Rechtsrahmen und ihre
Strukturen zur Gesundheitssicherheit im Nachgang der Krise gestärkt, was eine zu-
künftige Schweizer Beteiligung noch relevanter macht.
Bereits Anfang 2023 und damit zu Beginn der exploratorischen Gespräche wurde ein
kontinuierlicher informeller Dialog mit interessierten nationalen Partnern im Gesund-
heitsbereich (darunter Vertreterinnen und Vertreter von Krankenversicherern, Ärzte-
verbänden, Spitälern, der Pharma- und Industriebranche, von Gewerkschaften und Pa-
tientenorganisationen) sowie der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen
829 / 931
und -direktoren GDK aufgenommen. In diesem Rahmen wurde regelmässig über die
Entwicklungen im Zusammenhang mit dem Gesundheitsabkommen berichtet. Diese
Gespräche haben gezeigt, dass ein Abkommen im Bereich Gesundheitssicherheit, wie
es im
Common Understanding
und im Schweizer Verhandlungsmandat vom 8. März
2024 definiert wurde, Unterstützung findet.
Im Zuge der Abklärungen zum Gesundheitsabkommen wurden die wichtigsten As-
pekte der Regulierungsfolgenabschätzung durch eine vorgängige Analyse geprüft.
Die Analyse ergab, dass davon auszugehen ist, dass das Gesundheitsabkommen einen
wesentlichen Beitrag zur Vorbeugung und Bewältigung gesundheitlicher Krisen leis-
ten wird. Durch die Zusammenarbeit mit der EU sowie die Einbindung in die relevan-
ten Mechanismen und das ECDC wird die Fähigkeit der Schweiz gestärkt, sich auf
Krisen vorzubereiten und diese wirksam zu bewältigen. Das Gesundheitsabkommen
trägt damit zu einem verbesserten Schutz der Gesundheit bei, verringert wirtschaftli-
che Folgekosten von Gesundheitsbedrohungen und hat dementsprechend relevante
positive Auswirkungen auf die Schweizer Bevölkerung. Da diese Auswirkungen nur
schwer quantifizierbar sind, wurde auf eine umfassende externe Analyse verzichtet (s.
Ziff. 2.13.8.3).
2.13.5
Grundzüge des Abkommens
Das im Schweizer Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 definierte Ziel, die Zu-
sammenarbeit mit der EU im Bereich Gesundheitssicherheit zu formalisieren, konnte
vollständig erreicht werden, wobei die finanziellen Folgen des Abkommens unterhalb
des im Verhandlungsmandat definierten Kostendachs liegen. Im Folgenden werden
die Grundzüge der Zusammenarbeit im Bereich Gesundheitssicherheit dargestellt.
Diese Zusammenarbeit ist in zwei separaten Abkommen geregelt.
2.13.5.1
Gesundheitsabkommen
Der Geltungsbereich des Gesundheitsabkommens beschränkt sich auf die zwei rele-
vanten EU-Rechtsakte im Bereich Gesundheitssicherheit: die Verordnung
(EU) 2022/2371 zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren
783
und die Verordnung (EG) Nr. 851/2004 zur Errichtung eines Europäischen Zentrums
für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten
784
. Die Integration dieser beiden
Verordnungen in das Gesundheitsabkommen sichert der Schweiz den ständigen Zu-
gang zu den Gesundheitssicherheitsmechanismen der EU sowie zum ECDC und sei-
nen verschiedenen Netzwerken und Plattformen, die ein breites Themenspektrum im
Bereich der übertragbaren Krankheiten abdecken, einschliesslich antimikrobieller Re-
sistenzen. Die Schweiz hat dabei, mit Ausnahme des Stimmrechts sowie einiger wei-
terer technischer Anpassungen (s. Ziff. 2.13.6), dieselben Rechte und Pflichten wie
783
Verordnung (EU) 2022/2371 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Novem-
ber 2022 zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren und zur Aufhe-
bung des Beschlusses Nr. 1082/2013/EU, ABl. L 314 vom 6.12.2022, S. 26.
784
Verordnung (EG) Nr. 851/2004 zur Errichtung eines Europäischen Zentrums für die Prä-
vention und die Kontrolle von Krankheiten, geändert durch Verordnung (EU) 2022/2370
des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. November 2022, ABl. L 314 vom
6.12.2022, S. 1.
830 / 931
die EU-Mitgliedstaaten und nimmt ebenfalls Einsitz in den entsprechenden Gouver-
nanzgremien. Wie im
Common Understanding
und im Schweizer Verhandlungsman-
dat vom 8. März 2024 vorgesehen, enthält das Gesundheitsabkommen eine analoge
Anwendung der für die Binnenmarktabkommen vorgesehenen institutionellen Ele-
mente (s. Ziff. 2.13.6.1.2).
2.13.5.2
Protokoll EU4Health
Die Teilnahme der Schweiz am aktuellen mehrjährigen EU-Gesundheitsprogramm
«EU4Health» (2021–2027)
785
wird im Protokoll III zum EUPA geregelt. Dieses Ab-
kommen definiert den rechtlichen Rahmen und die Bedingungen für die Teilnahme
der Schweiz an EU-Programmen, einschliesslich des EU-Gesundheitsprogramms (s.
Ziff. 2.8.5 und 2.8.6).
Durch verschiedene Bestimmungen soll den engen inhaltlichen Verbindungen zwi-
schen dem Gesundheitsabkommen und der Teilnahme am EU-Gesundheitsprogramm
Rechnung getragen, sowie eine kohärente Umsetzung des Gesundheitsabkommens
und des Protokolls EU4Health gewährleistet werden. Beispielsweise wurde eine enge
Abstimmung zwischen dem Gemischten Ausschuss des Gesundheitsabkommens und
dem Gemischten Ausschuss des EUPA vorgesehen. Zudem sind der Geltungsbereich
des Gesundheitsabkommens und der Umfang der Teilnahme der Schweiz am Gesund-
heitsprogramm aufeinander abgestimmt: So konzentriert sich die Teilnahme der
Schweiz am Programm auf den Bereich «Krisenvorsorge», andere Bereiche sind nicht
abgedeckt. Diese partielle Teilnahme ist im Vergleich mit einer Vollteilnahme mit
entsprechend geringeren Kosten für die Schweiz verbunden. Voraussetzung für die
Teilnahme der Schweiz am aktuellen EU-Gesundheitsprogramm «EU4Health»
(2021–2027) ist das Inkrafttreten des Gesundheitsabkommens.
2.13.6
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Abkommens
2.13.6.1
Gesundheitsabkommen
Das Gesundheitsabkommen umfasst neben der Präambel 27 Artikel, zwei Anhänge,
eine Anlage und ein Protokoll. Diese Elemente sind integrierender Bestandteil des
Gesundheitsabkommens und werden durch eine einseitige Erklärung der Schweiz er-
gänzt (s. Ziff. 2.13.6.1.2).
In der Präambel wird vor allem die Bedeutung der Zusammenarbeit bei schwerwie-
genden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren zum Schutz der Bevölkerung der
Vertragsparteien hervorgehoben.
2.13.6.1.1
Allgemeine Bestimmungen
Artikel 1 legt die Ziele des Abkommens dar: Die Verstärkung der Zusammenarbeit
im Bereich der Gesundheitssicherheit, um die Gesundheit der Bevölkerung in der
Schweiz sowie in den EU-Mitgliedstaaten zu schützen und zu verbessern.
785
Verordnung (EU) 2021/522 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. März
2021 zur Einrichtung eines Aktionsprogramms der Union im Bereich der Gesundheit
(„EU4Health-Programm“) für den Zeitraum 2021–2027 und zur Aufhebung der Verord-
nung (EU) Nr. 282/2014, ABl. L 107 vom 26.3.2021, S. 1.
831 / 931
Artikel 2 definiert den Geltungsbereich des Abkommens. Darin ist explizit festgehal-
ten, dass sich die im Rahmen dieses Abkommens vorgesehene Zusammenarbeit zwi-
schen der Schweiz und der EU auf die Gesundheitssicherheitsmechanismen in Bezug
auf schwerwiegende grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren und das ECDC be-
schränkt.
Artikel 3 weist auf die Bedeutung einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen den
Vertragsparteien im Bereich der Gesundheitssicherheit hin.
2.13.6.1.2
Institutionelle Bestimmungen
Die Präambel enthält mehrere für die Schweiz wichtige Aspekte im Zusammenhang
mit den institutionellen Bestimmungen
(
s. Ziff. 2.1.5.1.1). Sie präzisiert insbesondere,
dass das Gesundheitsabkommen zwar kein Binnenmarktabkommen ist, es jedoch an-
gebracht ist, die institutionellen Bestimmungen, die in allen Binnenmarktabkommen
zwischen der Schweiz und der EU enthalten sind, analog auf dieses Abkommen an-
zuwenden.
Um die Besonderheit des Gesundheitsabkommens hervorzuheben, gibt die Schweiz
eine einseitige Erklärung ab. Darin wird präzisiert, dass die Anwendung der instituti-
onellen Bestimmungen in diesem Kooperationsabkommen keinen Präzedenzfall für
künftige Abkommen darstellt, die keine Binnenmarktabkommen sind. Obwohl das
Gesundheitsabkommen kein Binnenmarktabkommen ist, wurden die institutionellen
Elemente analog aufgenommen, soweit sie für das ordnungsgemässe Funktionieren
des Abkommens erforderlich sind. Gewisse Elemente der institutionellen Bestimmun-
gen, die nur für Binnenmarktabkommen relevant sind, wurden nicht übernommen
oder an das Gesundheitsabkommen, das ein Kooperationsabkommen ist, angepasst.
Ziffer 2.1.5 beschreibt die institutionellen Bestimmungen ausführlich. Die unter die-
ser Ziffer angeführten Elemente zu den institutionellen Bestimmungen für Binnen-
marktabkommen gelten, sofern nichts anderes bestimmt ist, für die Artikel 4 bis 18
des Gesundheitsabkommens und das Protokoll zum Schiedsgericht. In diesem Ab-
schnitt werden daher nur die Elemente der institutionellen Bestimmungen dargelegt,
die spezifisch für das Gesundheitsabkommen gelten.
Artikel 4 des Gesundheitsabkommens legt den Zweck der institutionellen Bestim-
mungen fest, welche Rechtssicherheit für die Kooperation im Gesundheitsbereich ge-
mäss dem Geltungsbereich des Gesundheitsabkommens sicherstellen sollen. Ähnlich
wie in Artikel 1 Institutionelles Protokoll LuftVA (IP-LuftVA) wird insbesondere
festgehalten, dass die institutionellen Bestimmungen den Geltungsbereich des Ab-
kommens nicht abändern. Anders als beim IP-LuftVA wird dabei jedoch nicht auf die
Ziele des Abkommens Bezug genommen, da das Gesundheitsabkommens keine Ziel-
bestimmung enthält.
Da es sich beim Gesundheitsabkommen um ein Kooperationsabkommen und nicht
um ein Binnenmarktabkommen handelt, erübrigt sich eine Bestimmung, welche fest-
hält, dass es sich bei den Binnenmarktabkommen zwischen der Schweiz und der EU,
um ein kohärentes Ganzes handelt (Art. 3 IP-LuftVA).
832 / 931
Die Auslegung des Abkommens erfolgt sodann einheitlich innerhalb des Gesundheits-
abkommens und der darin integrierten EU-Rechtsakte (Art. 12 Gesundheitsabkom-
men) – und nicht wie für die Binnenmarktabkommen vorgesehen einheitlich zwischen
dem Gesundheitsabkommen und diesen Abkommen (Art. 7 IP-LuftVA).
Für die dynamische Rechtsübernahme und die Streitbeilegung gelten grundsätzlich
die gleichen Regeln wie für die Binnenmarktabkommen (s. Ziff. 2.1.5.2 und 2.1.5.4).
Ausgleichsmassnahmen dürfen jedoch als Konsequenz eines allfälligen Streitbeile-
gungsverfahrens gemäss Artikel 16 Absatz 1 Gesundheitsabkommen nur innerhalb
des Gesundheitsabkommens oder in Bezug auf das dem EUPA angehängten Protokoll
zur Beteiligung der Schweiz am mehrjährigen Gesundheitsprogramm der EU (Sus-
pendierung oder Terminierung, siehe auch Art. 19 Abs. 1 Bst. c und 20 Abs. 4 EUPA)
getroffen werden. Damit können Streitbeilegungsverfahren im Geltungsbereich des
Gesundheitsabkommens keine Auswirkungen auf die Binnenmarktabkommen haben.
Umgekehrt haben Streitbeilegungsverfahren in den Binnenmarktabkommen keine
Auswirkungen auf das Gesundheitsabkommen. Diese Besonderheit ist auch im Pro-
tokoll zum Schiedsgericht berücksichtigt (Art. III.6 Abs. 3).
Nach Artikel 19 wird ein Gemischter Ausschuss eingesetzt mit dem Auftrag, das ord-
nungsgemässe Funktionieren und die Anwendung des Abkommens sicherzustellen
sowie alle im Gesundheitsabkommen vorgesehenen Aufgaben wahrzunehmen. Dieser
Artikel wurde für die Abkommen des Pakets Schweiz-EU vereinheitlicht (s. Ziff.
2.1.5.7). Da die Gesundheitsaspekte in zwei separate Abkommen aufgeteilt sind – das
Gesundheitsabkommen einerseits und ein Protokoll zum EUPA andererseits – wurde
in Artikel 19 eine Bestimmung aufgenommen, um die Zusammenarbeit zwischen den
beiden zuständigen Gemischten Ausschüssen (Gemischter Ausschuss des Gesund-
heitsabkommens und Gemischter Ausschuss des EUPA) im Rahmen ihrer jeweiligen
Zuständigkeitsbereiche zu regeln und die Informationspflichten des einen Ausschus-
ses gegenüber dem anderen festzulegen (s. Ziff. 2.8.6).
2.13.6.1.3
Schlussbestimmungen
Artikel 20 präzisiert den räumlichen Geltungsbereich des Abkommens. Dieser Artikel
wurde für die verschiedenen Instrumente des Pakets Schweiz-EU vereinheitlicht (s.
Ziff. 1 und Ziff. 2.1.5.7).
Artikel 21 sieht vor, dass die Vertragsparteien regelmässig das Funktionieren des Ab-
kommens überprüfen. Sie können auch in Betracht ziehen, es zu revidieren, nament-
lich um ihre Zusammenarbeit zu verbessern oder sie auf weitere Aspekte des Gesund-
heitsbereichs auszuweiten, wenn das im Interesse beider Parteien liegt. Wird ein
solches Interesse festgestellt, können zu diesem Zweck Verhandlungen aufgenommen
werden, dies unter Einhaltung der internen Verfahren zur Revision völkerrechtlicher
Verträge.
Artikel 22 nennt die in Bezug auf das Berufsgeheimnis anwendbaren Regeln.
Nach Artikel 23 erfolgt der Austausch allfälliger als Verschlusssache eingestufter In-
formationen zwischen den Vertragsparteien gemäss dem Verfahren nach Artikel 5
833 / 931
Absatz 2 des Abkommens vom 28. April 2008
786
zwischen der Schweizerischen Eid-
genossenschaft und der Europäischen Union über die Sicherheitsverfahren für den
Austausch von Verschlusssachen. Wenn die Schweiz dies wünscht, können diese In-
formationen auch an das ECDC übermittelt werden. In Artikel 23 wird der Gemischte
Ausschuss zudem beauftragt, Handlungsanweisungen zum angemessenen Schutz der
ausgetauschten sensiblen Daten durch spezifischen Beschluss festzulegen.
Artikel 24 hält fest, dass die Anhänge, die Anlagen und das Protokoll über das
Schiedsgericht integrierender Bestandteil dieses Abkommens sind.
Artikel 25 und Anhang II über die Anwendung von Artikel 25 regeln die finanzielle
Beteiligung der Schweiz an den vom Abkommen abgedeckten Agenturen und Infor-
mationssystemen sowie die entsprechenden Zahlungsmodalitäten. Diese Bestimmun-
gen entsprechen im Wesentlichen den Bestimmungen über die finanzielle Beteiligung
in den Binnenmarktabkommen (s. Ziff. 2.1.5.5.1). Insbesondere ist vorgesehen, dass
die finanzielle Beteiligung der Schweiz aus einem operativen Beitrag und einer Teil-
nahmegebühr besteht. Die entsprechenden Beträge werden jährlich anhand eines Ver-
teilschlüssels berechnet, der auf den Bruttoinlandprodukten der Schweiz und der EU
beruht. Für das Gesundheitsabkommen gilt dies für den Beitrag der Schweiz zur Teil-
nahme am ECDC, einschliesslich des EWRS.
Artikel 26 legt das Verfahren für das Inkrafttreten fest. Da das Gesundheitsabkommen
zum Weiterentwicklungsteil gehört, kann es unabhängig von den anderen in Kraft
treten, vorausgesetzt die Instrumente des Stabilisierungsteils können ebenfalls in
Kraft treten (s. Ziff. 1 und Ziff. 2.1.5.6).
Artikel 27 legt fest, dass jede Vertragspartei das Gesundheitsabkommen jederzeit
kündigen kann, und welche Auswirkungen diese Kündigung auf die Rechte von Pri-
vatpersonen und Wirtschaftsakteuren hat.
2.13.6.1.4
Anhang I
In Anhang I sind die für die Schweiz geltenden EU-Rechtsakte aufgeführt: Verord-
nung (EU) 2022/2371
787
zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsge-
fahren, dazugehörige delegierte Rechtsakte und Durchführungsverordnungen sowie
Verordnung (EG) Nr. 851/2004
788
zur Errichtung eines Europäischen Zentrums für
die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten.
Wie im Änderungsprotokoll zum LuftVA (s. Ziff. 2.1.5.7) vorgesehen, sieht Anhang I
vor, dass die Schweiz die gleichen Rechte und Pflichten wie die EU-Mitgliedstaaten
gemäss den in Anhang I aufgeführten EU-Rechtsakten hat, sofern in den in diesem
786
SR
0.514.126.81
787
Verordnung (EU) 2022/2371 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Novem-
ber 2022 zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren und zur Aufhe-
bung des Beschlusses Nr. 1082/2013/EU, ABl. L 314 vom 6.12.2022, S. 26.
788
Verordnung (EG) Nr. 851/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April
2004 zur Errichtung eines Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle
von Krankheiten, geändert durch die Verordnung (EU) 2022/2370 des Europäischen Par-
laments und des Rates vom 23. November, ABl. L 314 vom 6.12.2022, S. 1.
834 / 931
Anhang festgelegten technischen Anpassungen keine abweichenden Regelungen ge-
troffen werden, wie etwa, dass die Schweiz ohne Stimmrecht am
HSC
teilnimmt. Die-
ser Grundsatz gilt unter vollständiger Einhaltung der institutionellen Bestimmungen
des Abkommens. Zudem sind technische Anpassungen der oben genannten Rechts-
akte vorgesehen, um der besonderen Situation der Schweiz als Nichtmitgliedstaat der
EU Rechnung zu tragen. Diese betreffen insbesondere die Frist für die Einreichung
des ersten Berichts, den die Schweiz vorzulegen hat, den Umstand, dass die Schweiz
ihre nationale Datenschutzgesetzgebung anwendet, oder auch, dass die Schweiz für
die Erklärung eines öffentlichen Gesundheitsnotstands auf ihrem Hoheitsgebiet zu-
ständig bleibt.
Die materiellen Verpflichtungen der Schweiz aufgrund der Verordnung (EU)
2022/3271 umfassen insbesondere: die Zusammenarbeit in den Gesundheitssicher-
heitsmechanismen, wie die Übermittlung epidemiologischer Daten; die Erstellung ei-
nes Berichts über die Planung und Umsetzung von Präventions-, Vorsorge- und Re-
aktionsmassnahmen auf nationaler Ebene; die Umsetzung von relevanten
Präventions-, Vorsorge- und Reaktionsmassnahmen; sowie die Übermittlung von
Warnmeldungen an das EWRS bei schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesund-
heitsgefahren. Dies betrifft in erster Linie schwerwiegende grenzüberschreitende Ge-
sundheitsgefahren biologischen Ursprungs (wie übertragbare Krankheiten), aber das
EWRS findet auch Anwendung bei schwerwiegenden Gesundheitsgefahren chemi-
schen, umweltbedingten oder unbekannten Ursprungs, die ein erhebliches Risiko der
Ausbreitung über die Staatsgrenzen hinaus bergen und eine Koordinierung auf euro-
päischer Ebene zum Schutz der Bevölkerung erfordern können. Schwerwiegende
grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren, die eine Warnmeldung an das EWRS
rechtfertigen, müssen bestimmte Kriterien erfüllen. So müssen sie zum Beispiel eine
erhebliche Morbidität oder Mortalität beim Menschen verursachen oder die nationa-
len Reaktionskapazitäten übersteigen. Die Kriterien sind in Artikel 19 Absatz 1 der
Verordnung (EU) 2022/2371 festgelegt.
Im Rahmen dieser Verordnung kann sich die Schweiz, wenn sie es wünscht, fallweise
am gemeinsamen Beschaffungsverfahren nach Artikel 12 dieser Verordnung beteili-
gen. Ein solches Instrument kann für die Sicherheit der Versorgung mit medizinischen
Gegenmassnahmen in der Schweiz nützlich sein. Die Schweiz behält jedoch die volle
Verantwortung für die Entscheidung über Gesundheitsmassnahmen, die auf ihrem
Hoheitsgebiet zur Bekämpfung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesund-
heitsgefahren zu treffen sind.
In Bezug auf die Verordnung (EG) Nr. 851/2004, geändert durch die Verordnung
(EU) 2022/2370, sehen die technischen Anpassungen in Anhang I vor, dass sich die
Schweiz in vollem Umfang am ECDC beteiligt. Dazu gehört auch die Einsitznahme
im Verwaltungsrat und im Beirat sowie die Beteiligung an den vom Zentrum betrie-
benen Netzen. Wie in allen EU-Agenturen, an denen die Schweiz auf Grundlage eines
Abkommens teilnimmt, hat sie jedoch kein Stimmrecht in den Gremien des Zentrums.
Anhang I und die dazugehörige Anlage führen die Vorrechte und Befreiungen auf,
welche die Schweiz dem ECDC und seinen Mitarbeitenden gewährt. Diese Regeln
entsprechen denen, die für andere EU-Agenturen gelten, an denen sich die Schweiz
beteiligt (s. Ziff. 2.1.5.7). Schliesslich wird in Anhang I festgelegt, dass Schweizer
835 / 931
Staatsangehörige beim ECDC beschäftigt werden können und dass die Entsendung
von Schweizer Sachverständigen ans Zentrum ebenfalls möglich ist.
2.13.6.2
Protokoll EU4Health
Das Protokoll III zum EUPA regelt die Teilnahme der Schweiz am Programm
«EU4Health» (2021–2027). Es umfasst fünf Artikel. Es präzisiert und ergänzt die für
die Teilnahme der Schweiz am EU4Health-Programm spezifischen und nicht im
EUPA geregelten Aspekte (s. Ziff. 2.8.6.1).
Artikel 1 definiert den Geltungsbereich des Protokolls EU4Health und präzisiert, dass
die Schweiz nur Zugang zu dem Teil des Programms hat, der derzeit in den Geltungs-
bereich des Gesundheitsabkommens fällt, nämlich die «Krisenvorsorge». Sollte der
Geltungsbereich des Gesundheitsabkommens in Zukunft ausgeweitet werden, hätte
die Schweiz entsprechend Zugang zum Gesundheitsprogramm.
Artikel 2 regelt hauptsächlich die Dauer der Teilnahme der Schweiz am EU4Health-
Programm und sieht vor, dass die Schweiz ab dem 1. Januar des auf das Inkrafttreten
des Gesundheitsabkommens folgenden Jahres teilnehmen wird. Das bedeutet, dass
das Protokoll EU4Health keine Wirkung entfaltet, wenn das Gesundheitsabkommen
nach dem 31. Dezember 2026 in Kraft tritt. In diesem Fall würde die Schweiz nicht
an diesem Programm teilnehmen und auch keinen finanziellen Beitrag leisten. Die
Teilnahme an der nächsten Generation des EU-Gesundheitsprogramms muss in einem
weiteren Protokoll gemäss den üblichen Entscheidungsprozessen ausgehandelt wer-
den.
Artikel 3 präzisiert bestimmte Modalitäten und Bedingungen für die Teilnahme am
EU4Health-Programm. So gilt, dass in der Schweiz niedergelassene Rechtsträger zu
den gleichen Bedingungen an Massnahmen im Rahmen des Programms teilnehmen
können wie Rechtsträger in der EU.
Artikel 4 besagt, dass Artikel 8 EUPA (Programme und Tätigkeiten, für die ein An-
passungsmechanismus für den operativen Beitrag gilt) nicht auf dieses Protokoll an-
wendbar ist, da das EU4Health-Programm über keinen Anpassungsmechanismus ver-
fügt.
Artikel 5 ist in allen Protokollen zum EUPA enthalten. Unter dem Titel «Schlussbe-
stimmungen» ist darin festgehalten, dass die Protokolle so lange in Kraft bleiben, wie
es für den Abschluss aller laufenden Projekte, aber auch sämtlicher für den Schutz der
finanziellen Interessen der EU erforderlichen Massnahmen und sämtlicher finanziel-
ler Verpflichtungen aus der Umsetzung dieses Protokolls erforderlich ist.
2.13.7
Grundzüge der Umsetzung
2.13.7.1
Umsetzungsgesetzgebung
2.13.7.1.1
Gesundheitsabkommen
Das Gesundheitsabkommen bietet der Schweiz hauptsächlich die Möglichkeit, sich
an den Gesundheitssicherheitsmechanismen und am ECDC zu beteiligen. Es steht im
836 / 931
Einklang mit dem einschlägigen nationalen Recht, und es sind keine Anpassungen auf
Gesetzesstufe vorgesehen. Es fällt in erster Linie in den Geltungsbereich des Epide-
miengesetzes vom 28. September 2012
789
(EpG), das die Früherkennung, Überwa-
chung, Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten in der Schweiz zum Schutz der
Gesundheit der Bevölkerung regelt. Mit dem aktuell geltenden EpG und der laufenden
Teilrevision sind die epidemiologischen Überwachungssysteme der Schweiz mit dem
einschlägigen EU-Recht kompatibel.
Neben übertragbaren Krankheiten ist das Gesundheitsabkommen auch auf andere
schwerwiegende grenzüberschreitende Gesundheitsbedrohungen anwendbar. Die
Durchführungsbefugnisse bei anderen schwerwiegenden grenzüberschreitenden Ge-
sundheitsbedrohungen sind in spezifischen Gesetzen geregelt: Bedrohungen durch
übertragbare Tierseuchen sind im Tierseuchengesetz vom 1. Juli 1966
790
(TSG) und
solche durch ionisierende Strahlung im Strahlenschutzgesetz vom 22. März 1991
791
(StSG, v. a. Art. 17 ff.) geregelt, während die Umweltschutzgesetzgebung und insbe-
sondere die Verordnung vom 27. Februar 1991
792
über den Schutz vor Störfällen
(Störfallverordnung, StFV, s. namentlich Art. 12 Abs. 2) bei toxischen Ereignissen
oder anderen chemischen Vorfällen zur Anwendung kommen.
Die Umsetzung des Abkommens erfordert jedoch Anpassungen auf Verordnungs-
ebene:
a) Gemäss Artikel 18 Absatz 3 der Verordnung (EU) 2022/2371 müssen die Mitglied-
staaten zum Zwecke der Frühwarnung und Reaktion die Behörden benennen, die auf
nationaler Ebene für die Übermittlung von Warnmeldungen an das EWRS zuständig
sind. Um eine einheitliche Übermittlung der Warnmeldungen und deren Weiterver-
folgung zu gewährleisten, soll diese Funktion vom BAG übernommen werden. Dies
wird nach Abschluss der innerstaatlichen Genehmigung in der Epidemienverordnung
vom 29. April 2015
793
(EpV) zu regeln sein. Das BAG ist auch die für die Umsetzung
des Gesundheitsabkommens zuständige Behörde. Ausserdem ist das BAG die für
übertragbare Krankheiten zuständige Behörde, bei der Gefahren für die öffentliche
Gesundheit gemeldet werden müssen (s
.
Art. 12 EpG). Dasselbe gilt für den Strahlen-
schutz, der ebenfalls in der Zuständigkeit des BAG liegt (s
.
Art. 137 Strahlenschutz-
verordnung vom 26 April 2017
794
). Weitere Bundesstellen sind für bestimmte andere
Bedrohungen zuständig. Das BLV ist die für Tierseuchen zuständige Behörde (Art. 57
TSG). Bei toxischen Ereignissen oder anderen chemischen Vorfällen bezeichnen die
Kantone eine zentrale Stelle, welche die Meldung von Störfällen unverzüglich an die
Alarmstelle NAZ (ASNAZ) bei der Nationalen Alarmzentrale (NAZ) weiterleitet (s
.
Art. 12 Abs. 2, StFV). Die NAZ ist die Einsatzorganisation des Bundes bei Industrie-
unfällen. Wenn sich Industrieunfälle oder Störfälle mit erheblichen Auswirkungen
über die Landesgrenzen hinaus ereignen, meldet die NAZ diese über das System zur
Meldung
von
Industrieunfällen
gemäss
dem
entsprechenden
UN/ECE-
789
SR
818.101
790
SR
916.40
791
SR
814.50
792
SR
814.012
793
SR
818.101.1
794
SR
814.501
837 / 931
Übereinkommen
an die Nachbarländer
795
. Im Bereich des Bevölkerungsschutzes hat
die NAZ Informations- und Warnaufgaben bei Gefährdung durch erhöhte Radioakti-
vität (Art. 7 Verordnung vom 11. November 2020
796
über den Bevölkerungsschutz,
BevSV), durch chemische Stoffe (Art. 8 BevSV), aus dem Weltraum (Art. 9 BevSV)
und weiteren Gefährdungen (Art. 10 BevSV), insbesondere durch ein bevölkerungs-
schutzrelevantes Ereignis von nationaler Tragweite. Die Koordination zwischen den
zuständigen Bundesstellen wird gewährleistet, um sicherzustellen, dass das BAG die
relevanten Warnmeldungen an das EWRS weiterleiten kann. Diese Koordination wird
im Rahmen des Ausführungsrechts der jeweiligen Bundesgesetze geregelt. Ergänzend
sollen Vereinbarungen zwischen dem BAG und den zuständigen Behörden, die Ge-
sundheitsgefährdungen überwachen und melden müssen, die Grundsätze der Zusam-
menarbeit präzisieren.
Für umweltbedingte schwerwiegende grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren,
welche die Kriterien der Verordnung (EU) 2022/2371 erfüllen und nicht in den Gel-
tungsbereich der bei toxischen Ereignissen oder anderen chemischen Vorfällen an-
wendbaren StFV fallen, besteht keine Pflicht zur Meldung an eine Bundesbehörde.
Die Kantone haben jedoch bereits die Möglichkeit, die NAZ über eine Warnmeldung
bei einem weitreichenden Schadensereignis (Störfall), einer Katastrophe oder einer
Notlage zu informieren. Um jedoch eine Pflicht der Kantone zur Meldung an die NAZ
vorzusehen, könnte im Rahmen einer ordentlichen Revision des Bevölkerungs- und
Zivilschutzgesetzes vom 20. Dezember 2019
797
(BZG) eine entsprechende Änderung
aufgenommen werden. Damit könnten schwerwiegende grenzüberschreitende Ge-
sundheitsbedrohungen umweltbedingten oder unbekannten Ursprungs erfasst werden,
die nicht von einer der oben genannten Bestimmungen abgedeckt sind. Dies stellt si-
cher, dass insbesondere in Zukunft keine Lücken bei den Meldepflichten der Kantone
bestehen. Derzeit sind keine plausiblen Situationen erkennbar, die nicht durch die be-
stehenden Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts abgedeckt wären. Eine Zusam-
menarbeit zwischen den zuständigen Bundesbehörden und den Kantonen wäre wün-
schenswert,
um
den
Informationsfluss
zu
solchen
schwerwiegenden
grenzüberschreitenden Gesundheitsbedrohungen zu erleichtern und damit dem BAG
die relevanten Informationen zur Weiterleitung an das EWRS zur Verfügung zu stel-
len.
b) Weitere Anpassungen betreffen die Verordnung des EDI vom 1. Dezember 2015
798
über die Meldung von Beobachtungen übertragbarer Krankheiten des Menschen
(VMüK). Diese Verordnung legt auf nationaler Ebene fest, welche Krankheiten und
Erreger von Gesundheitsfachpersonen und Laboratorien den Behörden gemeldet wer-
den müssen, um eine einheitliche und systematische Überwachung sicherzustellen. Es
handelt sich bei den Anpassungen nicht um grundlegende Änderungen, sondern um
präzisierende Anpassungen. Voraussichtlich müssen zusätzliche übertragbare Krank-
heiten des Menschen, die heute in der Schweiz – im Gegensatz zur EU – noch nicht
meldepflichtig sind, der Meldepflicht unterstellt werden. Damit soll sichergestellt
795
SR
0.814.04
796
SR
520.12
797
SR
520.1
798
SR
818.101.126
838 / 931
werden, dass die meldepflichtigen Krankheitserreger mit den Vorgaben auf EU-Ebene
und insbesondere mit den Empfehlungen des ECDC übereinstimmen. Zudem müssen
teilweise die Meldekriterien (klinische und epidemiologische Definitionen) angepasst
werden. Diese Meldekriterien sind in einem Leitfaden des BAG aufgeführt und haben
keinen rechtsetzenden Charakter. Die Schweiz orientiert sich bereits heute an interna-
tionalen Standards (Weltgesundheitsorganisation WHO, ECDC sowie anderen inter-
national anerkannten Instituten wie dem deutschen Robert Koch Institut), um die Ver-
gleichbarkeit und Effizienz ihrer epidemiologischen Überwachung sicherzustellen.
2.13.7.1.2
Protokoll EU4Health
Das Protokoll EU4Health regelt die Beteiligung der Schweiz am Mehrjahrespro-
gramm der EU im Gesundheitsbereich « EU4Health » (2021–2027). Es sind keine
Anpassungen auf Gesetzesstufe vorgesehen.
2.13.7.2
Umsetzungsfragen
Zur Umsetzung des Gesundheitsabkommens und der Anpassungen auf Verordnungs-
stufe bedarf es im Vollzug keiner grundlegenden Änderungen. Die Zuständigkeiten
im Vollzug bleiben dieselben wie auch im Rahmen des Vollzugs des Epidemienge-
setzes oder anderer betroffener Bundesgesetze, insbesondere des Strahlenschutzgeset-
zes, des Umweltschutzgesetzes, des Tierseuchengesetzes oder des Bevölkerungs und
Zivilschutzgesetzes.
Die Übermittlung von Warnmeldungen an das EWRS erfolgt durch das BAG. Durch
eine Abstimmung zwischen den Bundesbehörden wird sichergestellt, dass das BAG
über relevante Warnmeldungen informiert wird (s. Ziff. 2.13.7.1.1).
Durch allfällige Anpassungen der VMüK wird es gezielte Anpassungen inhaltlicher
und operativer Art geben, wie beispielsweise die Anpassung des Leitfadens des BAG
zur Meldepflicht übertragbarer Krankheiten und Erreger. Dieser Leitfaden dient als
praxisnahe Orientierungshilfe für Fachpersonen im Gesundheitswesen, indem wich-
tige Informationen zu Meldekriterien, -fristen und -wegen sowie die Falldefinitionen
bereitgestellt werden. Es handelt sich hierbei um gezielte, präzisierende Anpassungen,
die sich in das bestehende System einfügen und zur weiteren Harmonisierung mit in-
ternationalen Standards beitragen. Solche Anpassungen folgen etablierten Abläufen
und werden regelmässig vorgenommen, beispielsweise bei der Aufnahme neuer
Krankheitserreger. Weitere Anpassungen operativer Art ergeben sich in der Folge
auch bei den Meldeformularen und Meldesystemen, mit denen Ärztinnen und Ärzte,
Spitäler und Laboratorien ihre Befunde übermitteln, sowie in den Datenbanken, wel-
che die gemeldeten Informationen erfassen. Des Weiteren werden die Analysetools
angepasst werden, mit denen die Daten ausgewertet werden. Ebenfalls werden abhän-
gig von den Anpassungen, die gemacht werden, Verträge mit Referenzzentren (spe-
zialisierte Labore für Infektionskrankheiten) auf ihren Inhalt geprüft und ggf. überar-
beitet werden.
Neben dem in der VMüK geregelten obligatorischen Meldesystem existieren in der
Schweiz weitere Systeme zur Überwachung von Antibiotikaresistenzen und therapie-
839 / 931
assoziierten Infektionen. Diese Systeme orientieren sich bereits an den auf europäi-
scher Ebene festgelegten Spezifikationen. Es wird jedoch voraussichtlich erforderlich
sein, die Überwachungssysteme punktuell anzupassen, was im Rahmen der üblichen
Weiterentwicklung dieser Systeme gewährleistet werden kann.
2.13.7.3
Abstimmung von Aufgaben und Finanzen
Wie in den vorangehenden Ziffern erläutert, stärkt eine engere, dauerhafte Zusam-
menarbeit mit der EU im Bereich Gesundheitssicherheit den Schutz der Schweizer
Bevölkerung. Durch den Einsitz in den relevanten EU-Gremien sowie im ECDC wird
die frühzeitige Erkennung und Bekämpfung grenzüberschreitender Gesundheitsbe-
drohungen in der Schweiz optimiert. Bei einem Krankheitsausbruch in einem oder
mehreren Mitgliedstaaten der EU oder des EWR werden die zuständigen Dienste in
der Schweiz rascher informiert sein, sie werden über mehr Informationen zu den epi-
demiologischen Entwicklungen verfügen, und sie werden auf eine breitere Expertise
zurückgreifen können, um geeignete Schritte einzuleiten. Das Abkommen erhöht so
die Sicherheit, Effizienz und Geschwindigkeit bei der Früherkennung, Überwachung,
Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten.
Bei den rechtlichen und vollzugstechnischen Anpassungen handelt es sich hauptsäch-
lich um präzisierende Massnahmen, ohne dass grundlegende strukturelle Änderungen
im bestehenden nationalen System erforderlich sind. Eine Harmonisierung der Über-
wachungssysteme und Falldefinitionen mit EU-Standards ist notwendig. Zudem ist
das Abkommen mit laufenden Gesetzgebungsprozessen und Projekten auf nationaler
Ebene im Einklang, darunter mit der Teilrevision des EpG sowie mit relevanten Pro-
jekten von «DigiSanté», wie etwa der Stärkung der digitalen Prozesse bei der Mel-
dung übertragbarer Krankheiten. Der finanzielle Beitrag für die Teilnahme am ECDC
und am EWRS sowie die erforderlichen personellen Ressourcen für die Umsetzung
und Betreuung des Abkommens müssen berücksichtigt werden (s. Ziff. 2.13.8.1).
Im Vergleich zum erwarteten Nutzen – wie den optimierten Datenflüssen und einer
stärkeren Krisenbewältigungskapazität – ist der Anpassungsbedarf für die Umsetzung
in einem vertretbaren Verhältnis. Die Investition in die Stärkung der Strukturen für
die Krisenvorbeugung und eine effiziente Krisenbewältigung trägt massgeblich dazu
bei, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen von Gesundheitskrisen
zu minimieren. Ohne formalisierte Zusammenarbeit mit der EU im Bereich Gesund-
heitssicherheit hat die Schweiz weiterhin keinen gesicherten Zugang zu den relevan-
ten EU-Mechanismen für die Krisenvorbeugung und -bewältigung und zu zeitnahen
Informationen über epidemiologische Entwicklungen in Europa. Die Zusammenarbeit
mit der EU kann ohne Abkommen nur ad-hoc und auf grosse Krisensituationen be-
schränkt erfolgen – und bleibt damit abhängig vom Wohlwollen der EU, wie es wäh-
rend der Covid-19-Pandemie der Fall war. Zudem wäre eine Zusammenarbeit zur
Vorbereitung auf Gesundheitskrisen sowie deren Früherkennung nicht möglich. Ohne
ein bilaterales Abkommen kann die Schweiz bei schwerwiegenden grenzüberschrei-
tenden Gesundheitsbedrohungen nicht auf einen direkten, standardisierten Zugang zu
raschen und ausführlichen Informationen in ihrem direkten geographischen Umfeld
zählen.
840 / 931
2.13.8
Auswirkungen des Paketelements
2.13.8.1
Auswirkungen auf den Bund
2.13.8.1.1
Finanzielle Auswirkungen
Die Umsetzung des Gesundheitsabkommens bedeutet für den Bund zusätzliche Aus-
gaben von rund 5 Millionen Franken pro Jahr (ohne Eigenaufwand). Diese Kosten
stehen in Zusammenhang mit der Beteiligung der Schweiz am ECDC
.
Gemäss Artikel
25 des Gesundheitsabkommens ist ein jährlicher finanzieller Beitrag zu leisten, der
auch die Nutzung von Plattformen wie dem EWRS abdeckt.
Die ersten Zahlungen erfolgen ab dem Inkrafttreten des Gesundheitsabkommens. Die
Beträge liegen unter dem Gesamtkostendach von 50 Millionen Franken pro Jahr, das
im Schweizer Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 festgelegt wurde.
Die finanziellen Auswirkungen werden auf Grundlage des aktuellen Budgets des
ECDC geschätzt, also im Kontext einer normalen Situation und nicht einer schwer-
wiegenden Gesundheitslage wie einer Pandemie. In einem solchen Fall kann nicht
ausgeschlossen werden, dass das Budget des ECDC erhöht wird, was aufgrund des im
Abkommen vorgesehenen Berechnungsschlüssels für den finanziellen Beitrag der
Schweiz zu einer proportional vergleichbaren Erhöhung des Beitrags der Schweiz
führen würde. Die hier aufgeführten Kosten beinhalten auch keine allfälligen Kosten
für die Beteiligung der Schweiz an einem gemeinsamen Beschaffungsverfahren für
medizinische Gegenmassnahmen, über die der Bundesrat von Fall zu Fall entscheiden
müsste.
Wie in den Erläuterungen zum Protokoll EU4Health unter Ziffer 2.13.6.2 festgehal-
ten, wird dieses Protokoll zunächst keine finanziellen Auswirkungen auf den Bund
haben, da das aktuelle EU4Health-Programm im Jahr 2027 ausläuft und es unwahr-
scheinlich ist, dass das Gesundheitsabkommen bis zum 31. Dezember 2026 in Kraft
tritt. Über eine Beteiligung der Schweiz am nächsten EU-Gesundheitsprogramm
(2028–2034), die ab 2028 zusätzliche Kosten von schätzungsweise rund 20 Millionen
Franken pro Jahr verursachen würde, wird zu einem späteren Zeitpunkt entschieden.
Die nachfolgend genannten Zahlen beziehen sich daher ausschliesslich auf das Ge-
sundheitsabkommen.
Diesen Kosten steht neben dem praktischen Nutzen auch ein finanzieller Nutzen ge-
genüber, den das Gesundheitsabkommen mit sich bringt. Ohne das Abkommen dürfte
die Pandemiebewältigung im Falle einer zukünftigen Pandemie voraussichtlich hö-
here Kosten verursachen, unter anderem, weil die Schweiz weniger schnell an die
notwendigen Informationen zur Ausbreitung von Erregern gelangen würde.
2.13.8.1.2
Auswirkungen auf den Eigenaufwand und das Personal
Die Umsetzung des Gesundheitsabkommens führt beim BAG zu einem erheblichen
Mehraufwand. Es handelt sich um das erste Abkommen zwischen der Schweiz und
der EU, das in die Zuständigkeit des BAG fällt, weshalb eine geeignete Organisati-
onsstruktur geschaffen werden muss. Eine solche Struktur ist notwendig, um die Mög-
lichkeiten des Abkommens zur Stärkung des Schutzes der Schweizer Bevölkerung
841 / 931
und zur Wahrung der Interessen der Schweiz voll ausschöpfen zu können. Das Ab-
kommen beinhaltet zudem eine verstärkte Überwachung schwerwiegender grenzüber-
schreitender Gesundheitsbedrohungen zum Schutz der Schweizer Bevölkerung sowie
Massnahmen zur Verhinderung schwerwiegender Gesundheitskrisen Der zusätzliche
Eigenaufwand des BAG wird nach der Anfangsphase zur Anpassung der digitalen
Überwachungssysteme (voraussichtlich ab dem dritten Jahr nach Inkrafttreten des Ab-
kommens) insgesamt auf 3 Millionen Franken pro Jahr geschätzt. Der Personalbedarf
wird auf 11,8 Vollzeitäquivalente (VZÄ) pro Jahr (2,12 Millionen Franken) geschätzt.
Hinzu kommen Sach- und Betriebsausgaben von 400 000 Franken pro Jahr sowie Be-
triebs- und Wartungskosten von schätzungsweise 500 000 Franken pro Jahr für die
nationalen digitalen Melde- und Überwachungsplattformen. Für die Phase vor Inkraft-
treten des Gesundheitsabkommens benötigt das BAG 2 VZÄ (360 000 Franken), um
die erforderliche Organisationsstruktur amtsintern aufzubauen und vorbereitende
Massnahmen zur Umsetzung des Abkommens treffen zu können, insbesondere im
Zusammenhang mit der Meldung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesund-
heitsgefahren an die EU-Mechanismen und im Rahmen der institutionellen Bestim-
mungen.
In der Anfangsphase, also in den ersten zwei Jahren nach Inkrafttreten des Abkom-
mens, kommen zum zusätzlichen Eigenaufwand des BAG von schätzungsweise
3 Millionen Franken für die Umsetzung des Gesundheitsabkommens zusätzliche An-
fangskosten von 860 000 Franken für die Anpassung der digitalen Systeme (500 000
Franken für die Entwicklung der Plattformen und 360 000 Franken für 2 VZÄ) hinzu.
Synergien mit dem Programm «DigiSanté», insbesondere mit dem Projekt
«NASURE» («National Surveillance and Response»: eine neue, vom BAG betriebene
nationale Plattform zur Überwachung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten),
können genutzt werden, um den Mehraufwand so gering wie möglich zu halten. Diese
zusätzlichen Anfangskosten sind darauf zurückzuführen, dass die nationalen Überwa-
chungssysteme angepasst werden müssen, um die epidemiologische Überwachung
zusätzlicher Krankheitserreger sicherzustellen, wie sie durch die EU-Gesetzgebung
im Geltungsbereich des Gesundheitsabkommens vorgesehen ist. Der zusätzliche Ei-
genaufwand des BAG in der Anfangsphase wird daher für die ersten beiden Jahre
nach Inkrafttreten des Abkommens auf insgesamt 3,9 Millionen Franken geschätzt.
Der Personalbedarf (11,8 VZÄ) betrifft folgende Bereiche:
–
Umsetzung und allgemeine Überwachung des Abkommens:
2 VZÄ
(360 000 Franken). Dies umfasst insbesondere die Umsetzung von Arti-
kel 18, Vorbereitungsarbeiten und Teilnahme am Gemischten Ausschuss
des Gesundheitsabkommens (Art. 19) und am Gemischten Ausschuss des
EUPA (Art. 16 EUPA), Interessenvertretung in den relevanten Ausschüssen
und Gremien, Zusammenarbeit mit den betroffenen nationalen Stakehol-
dern und Verfolgung der für das Abkommen relevanten Entwicklungen der
EU-Gesetzgebung im Bereich Gesundheit (Art. 21) sowie Sicherstellung
der Kohärenz und Synergien mit dem EUPA in gesundheitsrelevanten Be-
langen.
842 / 931
–
EU-Recht und Landesrecht:
2,3 VZÄ (414 000 Franken). Das Abkommen
umfasst die Mitwirkung bei der Weiterentwicklung des einschlägigen EU-
Rechts in den dafür vorgesehenen Ausschüssen und Gremien (Art. 5 Mit-
spracherecht), die Sicherstellung des Prozesses zur dynamischen Über-
nahme von EU-Recht (Art. 6 Integration von Rechtsakten) und die Verfol-
gung
der
für
das
Abkommen
relevanten
Entwicklungen
des
Gesundheitsrechts in der EU (Art. 21). Ausserdem muss die Angleichung
des Landesrechts sichergestellt und die ordnungsgemässe Anwendung des
Abkommens überwacht werden, um Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden, und
bei Bedarf müssen allenfalls Stellungnahmen in Vorabentscheidungsver-
fahren und gegebenenfalls in Streitbeilegungsverfahren vorbereitet werden.
–
Gesundheitssicherheitsmechanismen – Teilnahme an verschiedenen Gre-
mien, Sitzungen und Aktivitäten im Bereich der Gesundheitssicherheit
:
3 VZÄ (540 000 Franken). Das Abkommen umfasst die Teilnahme an Gre-
mien, Sitzungen oder anderen Aktivitäten, die im Geltungsbereich des Ab-
kommens liegen, wie beispielsweise Lenkungsgremien des HSC, Arbeits-
gruppen und Fachstellen zu spezifischen Themen sowie Kontakte zur
weiteren Gesundheitssicherheitsarchitektur der EU. Dies beinhaltet auch
verschiedene Arbeiten zur Verstärkung des nationalen Präventions- und
Vorsorgeplans sowie die Koordination mit den Akteuren auf Bundes- und
Kantonsebene. Da die Schweiz bei der Festlegung von Massnahmen auf ih-
rem Hoheitsgebiet weiterhin eigenständig bleibt, sind damit zusätzliche
Aufgaben verbunden.
–
Beteiligung der Schweiz am ECDC
: 4,5 VZÄ (810 000 Franken). Das Ab-
kommen beinhaltet die Mitwirkung in den Gouvernanzgremien des ECDC
(Budget, Monitoring, Genehmigung der Arbeitsprogramme) sowie in den
technischen Arbeitsgruppen für die Ausarbeitung von Leitlinien, die Risi-
koanalyse und Forschungsprojekte, die Vertretung im Beratenden Forum
des ECDC und die Beteiligung an den Frühwarnnetzen/-plattformen der EU
(EWRS, EpiPulse). Die Überwachungs- und Frühwarnmechanismen um-
fassen insbesondere die Erhebung, Verarbeitung, Bewertung und Übermitt-
lung von Warnmeldungen und epidemiologischen Daten an die EU in Zu-
sammenarbeit mit den zuständigen nationalen und kantonalen Behörden.
Die Umsetzung des Abkommens bedeutet für das BAG einen zusätzlichen
Überwachungsaufwand, insbesondere aufgrund der grösseren Anzahl mel-
depflichtiger Krankheitserreger sowie der Pflicht zur Meldung an die euro-
päischen Mechanismen zur Überwachung von Spitalinfektionen und Anti-
biotikaresistenzen (EARS-Net). Darüber hinaus muss die Schweiz
weiterhin Massnahmen im Zusammenhang mit Weiterentwicklungen des
von ihr übernommenen EU-Rechts treffen. Neben der Stärkung der Fach-
kompetenz und der Verbesserung der Informationslage durch die Zusam-
menarbeit mit der EU wird die Schweiz die Überwachung und Bekämpfung
schwerwiegender grenzüberschreitender Gesundheitsbedrohungen auf ih-
rem Hoheitsgebiet weiterhin eigenständig gewährleisten. Die Umsetzung
des Abkommens bringt daher zusätzliche Aufgaben mit sich.
843 / 931
Eine interne Kompensation ist für das BAG ohne Verzicht auf andere Aufgaben nicht
möglich. Da es sich um das erste Abkommen mit der EU im Gesundheitsbereich han-
delt, existieren derzeit keine entsprechenden internen Strukturen, was die Nutzung
möglicher Synergien erschwert. Ausserdem musste das BAG bereits in den letzten
zehn Jahren in verschiedenen Bereichen neue Aufgaben im Umfang von insgesamt
16,5 Millionen Franken übernehmen und intern kompensieren. Daher kann das BAG
die Verpflichtungen aus dem Gesundheitsabkommen nicht erfüllen, ohne auf andere
Bereiche seines Mandats zu verzichten, die wesentlich zur Stärkung der öffentlichen
Gesundheit in der Schweiz beitragen. Dazu gehören auch Aufhebungen oder Ände-
rungen von Gesetzen.
Im Zusammenhang mit den oben genannten Aufgaben werden auch zusätzliche Sach-
und Betriebsausgaben anfallen. Diese werden auf insgesamt 400 000 Franken pro Jahr
geschätzt. Dazu gehören insbesondere Kosten für die Teilnahme an den im Abkom-
men vorgesehenen Gremien und Aktivitäten, wie beispielsweise der Besuch des
ECDC zur Unterstützung der nationalen Behörden bei der Vorbereitung der Präven-
tions-, Vorsorge- und Reaktionsplanung (50 000 Franken), Kosten für die Entsendung
von Personal (270 000 Franken) sowie Ausgaben für allfällige externe Mandate für
Regulierungsfolgenabschätzungen im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung des
Abkommens und der dynamischen Übernahme von EU-Recht (80 000 Franken). Dar-
über hinaus werden die jährlichen Kosten für den Betrieb der IT-Systeme zur Über-
wachung der neuen Krankheitserreger auf 500 000 Franken geschätzt (bei Gesamt-
kosten von rund 13 Millionen Franken für den aktuellen Betrieb dieser Systeme).
Der Bundesrat wird den ausgewiesenen Ressourcenbedarf zu gegebener Zeit überprü-
fen und darauf achten, dass ein allfälliger Mehrbedarf an Personalaufwand innerhalb
des Eigenbereichs des Bundes kompensiert wird.
2.13.8.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf
urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete
Die Umsetzung des Gesundheitsabkommens erfordert eine Ausweitung des nationa-
len Systems zur Überwachung übertragbarer Krankheiten auf weitere Krankheitserre-
ger, um den Anforderungen des Gesundheitsabkommens gerecht zu werden. Dies
dürfte auch einen gewissen Mehraufwand für die Kantone bedeuten. Konkret geht es
um die Folgen der Anpassung der VMüK betreffend die Aufnahme von zusätzlichen
Krankheitserregern sowie der Anpassung der Meldekriterien. Es braucht einen an-
fänglichen Arbeitsaufwand, um die bestehenden Verfahren an die neuen Pflichten an-
zupassen, aber auch einen zusätzlichen operativen Aufwand im Rahmen der Vollzugs-
aufgaben für diese zusätzlichen Krankheitserreger. Die Umsetzung des Programms
«DigiSanté» und insbesondere des Projekts «NASURE» (National Surveillance and
Response), dürfte die Bemühungen in diesem Bereich jedoch unterstützen, da das Pro-
gramm bereits der Digitalisierung und der Anwendung internationaler Standards für
den Datenaustausch Rechnung trägt, um den Mehraufwand für den automatisierten
Datenaustausch möglichst gering zu halten.
Die neuen Aufgaben tragen zu einem verstärkten Schutz der Bevölkerung in der
Schweiz bei.
844 / 931
2.13.8.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
Das Gesundheitsabkommen hat keine direkten oder quantifizierbaren volkswirt-
schaftlichen Auswirkungen auf die Schweiz. Durch einen besseren Schutz der
Schweizer Bevölkerung vor schweren Gesundheitskrisen und eine verstärkte Präven-
tion solcher Krisen wird die Beteiligung der Schweiz an den Gesundheitssicherheits-
mechanismen und am ECDC jedoch dazu beitragen, die sehr hohen Kosten solcher
Krisen für die Gesellschaft und die Wirtschaft insgesamt zu senken.
2.13.8.3.1
Auswirkungen auf Leistungserbringer
Die Umsetzung des Gesundheitsabkommens erfordert insbesondere eine Ausweitung
des nationalen Systems zur Überwachung übertragbarer Krankheiten auf weitere
Krankheitserreger, um den Anforderungen des Gesundheitsabkommens gerecht zu
werden. Dies dürfte auch einen gewissen Mehraufwand für bestimmte Leistungser-
bringer wie Laboratorien, Spitäler und Arztpraxen bedeuten, vor allem in der An-
fangsphase der Umsetzung der neuen Regelung, in der die aktuellen Prozesse und
Systeme angepasst werden müssen. Die Überwachung zusätzlicher Krankheitserreger
bedeutet auch zusätzliche Aufgaben für die Diagnostik und die Meldung der Labor-
befunde und klinischen Befunde zu diesen zusätzlichen Krankheitserregern an die Ge-
sundheitsbehörden. Die operative Mehrbelastung sollte jedoch durch die laufenden
Digitalisierungsarbeiten, insbesondere durch das Projekt «NASURE», beschränkt
sein (s. Ziff. 2.13.8.2).
2.13.8.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
Das Gesundheitsabkommen hat positive Auswirkungen auf die Gesellschaft insge-
samt. Die Beteiligung an den Gesundheitssicherheitsmechanismen und am ECDC er-
möglicht einen besseren Schutz der Schweizer Bevölkerung dank höherer Kapazitäten
zur Vorbereitung und Reaktion auf schwerwiegende Gesundheitskrisen sowie zur Prä-
vention solcher Krisen.
2.13.8.5
Auswirkungen auf die Umwelt
Das Gesundheitsabkommen hat keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Umwelt.
2.13.9
Rechtliche Aspekte des Paketelements
Dieses Kapitel konzentriert sich auf das Gesundheitsabkommen. Da das Protokoll
EU4Health zum EUPA gehört, wird es in dessen Rahmen behandelt (s. Ziff. 2.8.10).
2.13.9.1
Verfassungsmässigkeit des Abkommens
Das Gesundheitsabkommen stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 BV, wonach auswär-
tige Angelegenheiten Sache des Bundes sind. Artikel 184 Absatz 2 BV erteilt dem
Bundesrat die Kompetenz zur Unterzeichnung und Ratifizierung völkerrechtlicher
Verträge. Nach Artikel 166 Absatz 2 BV obliegt die Genehmigung dieser Verträge
der Bundesversammlung, soweit sie nicht der Bundesrat aufgrund von Gesetz oder
845 / 931
völkerrechtlichem Vertrag selbstständig abschliessen kann (Art. 24 Abs. 2 Parla-
mentsgesetz vom 13. Dezember 2002
799
[ParlG] und Art. 7
a
Abs. 1 Regierungs- und
Verwaltungsorganisationsgesetz vom 21. März 1997
800
, [RVOG]). Das Gesundheits-
abkommen ist kein völkerrechtlicher Vertrag, zu dessen selbstständigem Abschluss
der Bundesrat durch ein Gesetz oder einen von der Bundesversammlung genehmigten
völkerrechtlichen Vertrag ermächtigt ist. Es handelt sich auch nicht um einen Vertrag
von beschränkter Tragweite im Sinne von Artikel 7
a
Absatz 2 RVOG. Das Gesund-
heitsabkommen muss daher der Bundesversammlung zur Genehmigung vorgelegt
werden.
2.13.9.2
Verfassungsmässigkeit der Umsetzungsgesetzgebung
Es sind weder eine Umsetzungsgesetzgebung noch Begleitmassnahmen vorgesehen.
2.13.9.3
Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen
der Schweiz
Das Gesundheitsabkommen ist mit den anderen internationalen Verpflichtungen der
Schweiz vereinbar, insbesondere mit denjenigen aus den Internationalen Gesundheits-
vorschriften vom 23. Mai 2005
801
, dem Internationalen Abkommen vom 10. Februar
1937
802
über Leichenbeförderung, dem europäischen Übereinkommen vom 26. Okto-
ber 1973
803
über die Leichenbeförderung und dem Abkommen mit Frankreich vom
28. Juni 2010 über den Informationsaustausch im Bereich Grippepandemie und Ge-
sundheitsrisiken (nicht publiziert).
2.13.9.4
Erlassform
Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 der BV unterliegen völkerrechtliche
Verträge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige rechtsetzende Bestimmun-
gen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Nach
Artikel 22 Absatz 4 ParlG sind unter rechtsetzenden Normen jene Bestimmungen zu
verstehen, die in unmittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten
auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen. Als wichtig gelten Best-
immungen, die nach Artikel 164 Absatz 1 BV in der Form eines Bundesgesetzes er-
lassen werden müssen. Das Gesundheitsabkommen enthält wichtige rechtsetzende
Bestimmungen. Insbesondere die institutionellen Bestimmungen, einschliesslich der
dynamischen Übernahme von EU-Recht, sind als wichtige rechtsetzende Bestimmun-
gen zu bezeichnen.
Der Bundesbeschluss über die Genehmigung des Gesundheitsabkommens untersteht
deshalb dem fakultativen Referendum nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3
BV.
799
SR
171.10
800
SR
172.010
801
SR
0.818.103
802
SR
0.818.61
803
SR
0.818.62
846 / 931
2.13.9.5
Vorläufige Anwendung
Eine vorläufige Anwendung des Gesundheitsabkommens ist nicht vorgesehen.
2.13.9.6
Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass
Es sind keine besonderen rechtlichen Aspekte zu erwähnen.
2.13.9.7
Datenschutz
In Anhang I sehen die technischen Anpassungen der in das Gesundheitsabkommen
aufgenommenen EU-Rechtsakte vor, dass die Schweiz ihre nationale Datenschutzge-
setzgebung anwendet, die ein angemessenes Schutzniveau im Sinne der geltenden
EU-Gesetzgebung zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personen-
bezogener Daten und zum freien Datenverkehr gewährleistet. Da die EU der Auffas-
sung ist, dass die einschlägigen Gesetzgebungen der Schweiz und der EU einen
gleichwertigen Schutz bieten, sind keine Umsetzungsmassnahmen erforderlich
804
.
Die datenschutzrechtlichen Aspekte der institutionellen Bestimmungen im Gesund-
heitsabkommen entsprechen denjenigen in den Binnenmarktabkommen (s.
Ziff. 2.1.8.6.).
804 Entscheidung der Kommission vom 26. Juli 2000 gemäss der Richtlinie 95/46/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates über die Angemessenheit des Schutzes
personenbezogener Daten in der Schweiz ABl. L 215 vom 25.8.2000, S. 1) und Bericht
der Kommission vom 15. Januar 2024 über die erste Überprüfung der Wirkungsweise der
Angemessenheitsfeststellungen gemäss Artikel 25 Absatz 6 der Richtlinie 95/46/EG,
15.1.2024, COM(2024) 7 final, S. 14–15.
847 / 931
2.14
Hochrangiger Dialog
2.14.1
Zusammenfassung
Die Schweiz unterhält mit der EU bisher keinen regelmässigen hochrangigen Aus-
tausch auf politischer Stufe, der es erlauben würde, eine Übersicht über die Gesamt-
beziehungen zu gewinnen. Über solche regelmässigen hochrangigen Kontakte auf
Präsidial- oder Ministerstufe verfügt die Schweiz mit zahlreichen anderen Partnern.
Auf Fachebene pflegt die Schweiz mit der EU bereits heute einen regelmässigen Aus-
tausch zu den verschiedenen Bereichen der bilateralen Beziehungen. Dieser Aus-
tausch findet betreffend bestehende bilaterale Abkommen im Rahmen der durch diese
Abkommen eingesetzten Gemischten Ausschüsse statt. Daneben gibt es zahlreiche
weitere Austauschformate auf Fachebene wie den Dialog über Finanzmarktregulie-
rung oder geographische und thematische Konsultationen im Bereich der Aussen- und
Sicherheitspolitik. Um die bestehenden Gespräche in spezifischen Bereichen mit einer
gesamtheitlichen, strategischen beziehungsweise politischen Perspektive zu ergänzen,
soll ein hochrangiger Dialog eingerichtet werden.
Der hochrangige Dialog soll es ermöglichen, die Zusammenarbeit im Rahmen des
Pakets Schweiz–EU, die Entwicklung der bilateralen Abkommen sowie die damit zu-
sammenhängenden Opportunitäten und gemeinsamen Herausforderungen regelmäs-
sig auf politischer Stufe zu thematisieren. Die bestehenden fachspezifischen Dialoge
und Konsultationen sowie auch die sektoriellen Gemischten Ausschüsse werden dabei
nicht ersetzt.
In den Verhandlungen haben sich die Schweiz und die EU geeinigt, die Einrichtung
des hochrangigen Dialogs in einer rechtlich unverbindlichen Erklärung festzuhalten.
Deren Abschluss liegt gemäss Artikel 184 Absatz 1 BV in der Kompetenz des Bun-
desrates (s. Ziff. 2.14.8). Der Dialog soll auf Ministerstufe stattfinden und gemeinsam
vom Vorsteher des EDA sowie dem für die Beziehungen zur Schweiz zuständigen
Kommissar der Europäischen Kommission geleitet werden. Die weitere Zusammen-
setzung der Delegation wird offengelassen, was seitens der Schweiz auch eine Teil-
nahme von weiteren Mitgliedern des Bundesrates, Expertinnen und Experten der Bun-
desverwaltung oder einer Vertretung der Kantone ermöglicht. Der Dialog soll jährlich
stattfinden und abwechselnd in der Schweiz und in Brüssel abgehalten werden, zum
ersten Mal innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten des Pakets Schweiz–EU.
Die Zusammenarbeit der Schweiz mit der EU im Bereich der Aussen- und Sicher-
heitspolitik ist nicht Gegenstand des hochrangigen Dialogs, da hierfür auf Seiten der
EU nicht die Kommission, sondern der Hohe Vertreter der Union für die Aussen- und
Sicherheitspolitik sowie der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) zuständig sind. In
der Gemeinsamen Erklärung wurde festgehalten, dass die Frage nach einem politi-
schen Dialog zwischen dem Hohen Vertreter und dem Vorsteher des EDA separat
behandelt werden soll.
Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt.
2.14.2
Ausgangslage
Die Schweiz pflegt mit der EU bereits heute einen regelmässigen Austausch zu den
verschiedenen Bereichen der bilateralen Beziehungen. Dieser findet vorwiegend im
848 / 931
Rahmen der Gemischten Ausschüsse statt, sofern es bestehende bilaterale Abkommen
betrifft. Die Gemischten Ausschüsse treten in der Regel mindestens einmal pro Jahr
zusammen und werden von Fachpersonen der Bundesverwaltung geführt.
Im Finanzbereich besteht mit dem Regulierungsdialog ein strukturierter Austausch
zwischen der Schweiz und der EU. Der Dialog konnte 2024 wiederaufgenommen
werden, nachdem er seit 2017 unterbrochen gewesen war. Obwohl der Dialog nicht
Gegenstand der Verhandlungen zum Paket war, hatte der Bundesrat eine rasche Wie-
deraufnahme im Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 als Ziel definiert.
Im Bereich der Aussen- und Sicherheitspolitik finden ebenfalls regelmässige Austau-
sche auf Fachebene statt. So führen etwa die einzelnen Abteilungen des EDA in un-
terschiedlicher Regelmässigkeit verschiedene geografische und thematische Konsul-
tationen mit dem EAD. Gemeinsam mit dem VBS führt das EDA auch einen
jährlichen Dialog über Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit dem EAD. Diesen
Formaten übergeordnet sind die aussen- und sicherheitspolitischen Konsultationen
auf Stufe Staatssekretär EDA – Generalsekretär EAD, welche grundsätzlich im Halb-
jahresrhythmus stattfinden.
Hingegen unterhält die Schweiz mit der EU bislang keinen übergeordneten regelmäs-
sigen hochrangigen Austausch auf politischer Stufe, der eine Gesamtschau und stra-
tegische Diskussion über die Gesamtbeziehungen erlauben würde. Mit zahlreichen
Ländern, zu denen die Schweiz enge Beziehungen pflegt, existieren solche hochran-
gigen Austauschformate. Mit allen europäischen Staaten und insbesondere den Nach-
barstaaten finden regelmässige Treffen auf allen politischen Ebenen statt. Für Öster-
reich ist zusätzlich der traditionelle Antrittsbesuch der Bundespräsidentin oder des
Bundespräsidenten der Schweiz zu nennen. Während für die Treffen mit Deutschland,
Frankreich und Liechtenstein keine formalisierte Vereinbarung besteht, hat die
Schweiz mit Italien eine rechtlich unverbindliche gemeinsame Erklärung sowie mit
Österreich ein rechtlich unverbindliches
Memorandum of Understanding
unterzeich-
net.
Die EU unterhält ihrerseits diverse regelmässige hochrangige Kontaktformate mit
Partnerländern. Je nach Ausgestaltung der Beziehungen sind diese unterschiedlich
stark institutionalisiert. Im Rahmen des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) ist
das Gremium des EWR-Rates zu nennen, dessen Funktionsweise in Artikel 89 ff. des
Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum geregelt ist.
805
Vertreten sind
in der Regel die Aussen- beziehungsweise die Europaministerinnen oder -minister der
drei dem EWR angehörenden EFTA-Staaten und des EU-Landes, welches gegenwär-
tig die EU-Ratspräsidentschaft innehat, sowie die Europäische Kommission und der
EAD. Am Rande der Treffen des EWR-Rates findet zudem jeweils ein informeller
politischer Dialog über aktuelle aussenpolitische Themen statt, an dem der EAD teil-
nimmt.
Mit dem Vereinigten Königreich finden auf der Grundlage von Artikel 7 des Abkom-
mens über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der
805
Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum, Fassung gemäss ABl. L 1 vom
3.1.1994, S. 3
849 / 931
Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Gross-
britannien und Nordirland andererseits jährliche Treffen innerhalb des sogenannten
Partnerschaftsrates statt.
806
Dieser wird von einem Mitglied der Europäischen Kom-
mission gemeinsam mit einer Vertreterin oder einem Vertreter des Vereinigten Kö-
nigreichs auf Ministerebene geführt. Der ehemalige Hohe Vertreter der Union für die
Aussen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, und der Aussenminister des Vereinig-
ten Königreichs, David Lammy, sind im Oktober 2024 ausserdem übereingekommen,
ab 2025 einen halbjährlichen aussenpolitischen Dialog auf Ministerstufe abzuhalten.
2.14.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
Um die bestehenden Gespräche auf Fachebene mit einer gesamtheitlichen politischen
Perspektive zu ergänzen und einen regelmässigen Gesprächsrahmen für die Gesamt-
beziehungen Schweiz–EU zu schaffen, soll ein hochrangiger Dialog eingerichtet wer-
den. Dieser soll es ermöglichen, die Entwicklung der bilateralen Beziehungen sowie
gemeinsame Herausforderungen auf politischer Stufe zu thematisieren. Die bestehen-
den fachspezifischen Dialoge und Konsultationen sowie auch die sektoriellen Ge-
mischten Ausschüsse werden dadurch nicht ersetzt.
Im Rahmen der exploratorischen Gespräche wurde der hochrangige Dialog als strate-
gisches Steuerungsinstrument besprochen, der zwischen der Schweiz und der Euro-
päischen Kommission auf Ministerstufe stattfinden soll. Er soll eine Gesamtübersicht
über die bilateralen Beziehungen ermöglichen, wie sie im
Common Understanding
807
vom 27. Oktober 2023 dargelegt worden sind. Dafür soll regelmässig ein koordinierter
Überblick über die Arbeit der sektoriellen Gemischten Ausschüsse vorgenommen
werden.
Bereits während der exploratorischen Gespräche wurde vereinbart, den Dialog betref-
fend die Aussen- und Sicherheitspolitik separat zu behandeln, da die Gemeinsame
Aussen- und Sicherheitspolitik (GASP) nicht im Zuständigkeitsbereich der Kommis-
sion, sondern des Hohen Vertreters sowie des EAD liegt.
Im Schweizer Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 wurde unter Punkt 5 erwähnt,
dass ein hochrangiger Dialog auf Ministerstufe eingerichtet werden sollte.
808
Das
Vorhaben war im Rahmen der Konsultation zum Entwurf des Schweizer Verhand-
lungsmandats vom 15. Dezember 2023 ausschliesslich positiv bewertet worden
(vgl.
Bericht über die Ergebnisse der Konsultation zum Entwurf eines Verhandlungsman-
dats zwischen der Schweiz und der Europäischen Union über die Stabilisierung und
Weiterentwicklung ihrer Beziehungen
809
). Der Wirtschaftsdachverband economiesu-
isse hat die Einrichtung eines regelmässigen hochrangigen Dialogs als langjährige
Forderung der Wirtschaft bezeichnet. Dieser sollte vor allem «politisch motivierte»
806
Abkommen über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der
Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Grossbritan-
nien und Nordirland andererseits, Fassung gemäss ABl. L 149 vom 30.4.2021, S. 10
807
Abrufbar unter: www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Stabilisierung und Weiter-
entwicklung des bilateralen Wegs> Paketansatz Schweiz–EU.
808
Abrufbar unter: www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Stabilisierung und Weiter-
entwicklung des bilateralen Wegs> Paketansatz Schweiz–EU.
809
Abrufbar unter: www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Stabilisierung und Weiter-
entwicklung des bilateralen Wegs> Paketansatz Schweiz–EU.
850 / 931
Probleme angehen. Auch der Schweizerische Gewerbeverband sowie der Arbeitneh-
merdachverband Travail.Suisse haben das Vorhaben explizit befürwortet. Die Konfe-
renz der Kantonsregierungen gab ihrer Hoffnung Ausdruck, dass ein solcher regel-
mässiger Dialog die Bedeutung der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU
widerspiegeln und zum gegenseitigen Verständnis beitragen würde. Die Kantonsre-
gierungen forderten mit Verweis auf die Mitwirkungsrechte der Kantone in der Aus-
senpolitik die Möglichkeit einer Teilnahme am Dialog.
Im Rahmen der Verhandlungen, die in der Verhandlungsgruppe «Institutionelle Best-
immungen und andere Fragen» stattgefunden haben, waren sich die Delegationen der
Schweiz und der EU einig, dass die Einrichtung des hochrangigen Dialogs in einer
rechtlich unverbindlichen Erklärung festgehalten werden soll. Der Inhalt der Erklä-
rung war für beide Seiten grundsätzlich unbestritten. Die Diskussionen darüber ge-
stalteten sich entsprechend kurz, und die Verhandlungsziele der Schweiz wurden voll-
umfänglich erreicht.
2.14.4
Vorverfahren
Es gab kein spezifisches Vorverfahren für die Verhandlungen zum hochrangigen Di-
alog. Das Parlament, die Konferenz der Kantonsregierungen, die Sozialpartner sowie
Verbände und Organisationen hatten die Gelegenheit, im Rahmen der Konsultation
zum Entwurf des Schweizer Verhandlungsmandats vom 15. Dezember 2023 Stellung
zum Vorhaben zu nehmen.
2.14.5
Grundzüge des hochrangigen Dialogs
Die Einrichtung eines hochrangigen Dialogs wurde in einer Gemeinsamen Erklärung
zwischen der Schweiz und der EU festgehalten.
810
Hierbei handelt es sich um ein
rechtlich unverbindliches Instrument, dessen Gehalt ausschliesslich politischer Natur
ist. Es ist in den Aussenbeziehungen üblich, für die Vereinbarung von politischen
Konsultationen und Treffen auf solche rechtlich unverbindlichen Instrumente zurück-
zugreifen. Inhaltlich hält die Gemeinsame Erklärung die wesentlichen Elemente des
hochrangigen Dialogs fest. Dazu gehören insbesondere der Vorsitz des hochrangigen
Dialogs, dessen Zielsetzungen und Inhalte, die Häufigkeit der Treffen und die Durch-
führungsmodalitäten. Ausserdem wird eine Abgrenzung zu einem möglichen politi-
schen Dialog über die Aussen- und Sicherheitspolitik zwischen der Schweiz und der
EU vorgenommen.
2.14.6
Erläuterungen zu einzelnen Paragraphen der Gemeinsamen
Erklärung
Der Titel der Gemeinsamen Erklärung hält fest, dass der hochrangige Dialog auf das
Paket Schweiz–EU sowie auf mögliche Weiterentwicklungen der bilateralen Bezie-
hungen zwischen der Schweiz und der EU fokussiert. Nicht Gegenstand des Dialogs
sollen demnach davon abzugrenzende Politikbereiche wie etwa die Zusammenarbeit
in der Aussen- und Sicherheitspolitik sein.
810
Gemeinsame Erklärung der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen
Kommission über die Einrichtung eines hochrangigen Dialogs über das umfassende bilate-
rale Paket und die mögliche Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen zwischen der
Europäischen Union und der Schweiz
851 / 931
Der hochrangige Dialog soll vom Vorsteher des EDA sowie dem für die Beziehungen
zur Schweiz zuständigen Mitglied der Europäischen Kommission geleitet werden.
Abgesehen davon macht die Erklärung keine weiteren Vorgaben über die Zusammen-
setzung der Delegationen auf Seiten der Schweiz und der EU. Beide Parteien haben
hier einen entsprechenden Spielraum. Der Schweiz steht es somit frei, neben dem
Vorsteher des EDA auch die Teilnahme von weiteren Bundesratsmitgliedern, Vertre-
terinnen und Vertretern der Kantone sowie Expertinnen und Experten der betroffenen
Fachämter der Bundesverwaltung vorzusehen.
Die Erklärung hält fest, dass der hochrangige Dialog Themen von beiderseitigem In-
teresse diskutieren soll, insbesondere die sektorielle Teilnahme der Schweiz am Bin-
nenmarkt der EU sowie Möglichkeiten zur Stärkung der Partnerschaft der Schweiz
mit der EU. Weiter soll der hochrangige Dialog dazu dienen, regelmässig die Umset-
zung des Pakets Schweiz–EU, die Arbeit der Gemischten Ausschüsse sowie die mög-
liche Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen zu evaluieren.
Der hochrangige Dialog soll jährlich durchgeführt werden. Die Durchführung soll ab-
wechselnd in der Schweiz und in Brüssel erfolgen. Zum ersten Mal soll der Dialog
innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten des Pakets Schweiz–EU stattfinden.
Bei dieser Gelegenheit sollen auch gemeinsam die weiteren Modalitäten zur Durch-
führung des Dialogs definiert werden.
Abschliessend ist in der Erklärung festgehalten, dass diese die Einrichtung eines po-
litischen Dialogs über Fragen der Aussen- und Sicherheitspolitik zwischen dem Ho-
hen Vertreter sowie dem Vorsteher des EDA nicht berührt. Die Frage eines solchen
politischen Dialogs über die Aussen- und Sicherheitspolitik soll separat behandelt
werden.
2.14.7
Auswirkungen des Paketelements
Für den Bund fallen durch die Einrichtung respektive die Durchführung des hochran-
gigen Dialogs mit der EU keine Mehrkosten an. Die Arbeiten zur Umsetzung des Di-
alogs können im Rahmen der bestehenden finanziellen wie auch personellen Ressour-
cen bewältigt werden. Es ist offensichtlich, dass keine weiteren Auswirkungen auf
den Bund zu erwarten sind. Die entsprechenden Fragen wurden daher nicht geprüft.
Für die Kantone besteht die Möglichkeit, mittels einer Vertretung am hochrangigen
Dialog teilzunehmen (s. Ziff. 2.14.6). Es ist offensichtlich, dass keine weiteren Aus-
wirkungen auf die Kantone und Gemeinden sowie auf urbane Zentren, Agglomerati-
onen und Berggebiete zu erwarten sind. Die entsprechenden Fragen wurden daher
nicht geprüft.
Für die Bereiche Volkswirtschaft, Gesellschaft und Umwelt ist offensichtlich, dass
keine Auswirkungen zu erwarten sind. Die entsprechenden Fragen wurden daher nicht
geprüft.
Der hochrangige Dialog mit der EU ist im aussenpolitischen Interesse der Schweiz.
Ein regelmässiger Austausch auf Ministerebene zwischen der Schweiz und der EU
stärkt die bilateralen Beziehungen und entspricht somit dem in der Aussenpolitischen
Strategie 2024–2027 des Bundesrates definierten Ziel der Stabilisierung und Weiter-
entwicklung des bilateralen Wegs mit der EU. Andere Bereiche der Aussenpolitik
852 / 931
werden durch die Einrichtung des hochrangigen Dialogs mit der EU nicht direkt tan-
giert.
2.14.8
Rechtliche Aspekte des Paketelements
Bei der Gemeinsamen Erklärung zur Einrichtung des hochrangigen Dialogs handelt
es sich nicht um ein rechtlich verbindliches Instrument, sondern um eine Absichtser-
klärung politischer Natur. Deren Abschluss liegt in der Kompetenz des Bundesrates.
Dies ergibt sich aus Artikel 184 Absatz 1 BV, wonach die auswärtigen Angelegenhei-
ten Sache des Bundesrates sind und er diese unter Wahrung der Mitwirkungsrechte
der Bundesversammlung besorgt. Auf dieser Grundlage ist die operative Führung der
Aussenpolitik Sache des Bundesrates. Diese umfasst unter anderem die Zustimmung
zu rechtlich nicht verbindlichen aussenpolitischen Instrumenten.
853 / 931
2.15
Zusammenarbeit der Parlamente
2.15.1
Zusammenfassung
Bei den Konsultationen zum Entwurf des Verhandlungsmandats für das Paket
Schweiz–EU Anfang 2024 ersuchte die Aussenpolitische Kommission des Ständera-
tes (APK-S) den Bundesrat, eine Regelung zur parlamentarischen Zusammenarbeit
mit der EU anzustreben. Die Kommission war der Auffassung, dass ein solcher Aus-
tausch zwischen der Bundesversammlung und dem Europäischen Parlament, der in
dieser institutionalisierten Form noch nicht besteht, dazu beitragen könne, die demo-
kratische Verankerung der Abkommen Schweiz–EU zu stärken. Der Bundesrat nahm
diese Forderung in sein Verhandlungsmandat auf.
Auf dieser Grundlage hat der Bundesrat ein Protokoll über die parlamentarische Zu-
sammenarbeit zwischen der Schweiz und der Europäischen Union ausgehandelt. Mit
diesem Protokoll soll zwischen der Schweiz und der EU ein Gemischter Parlamenta-
rischer Ausschuss eingesetzt werden.
Der Gemischte Parlamentarische Ausschuss soll durch Dialog und Diskussion zu ei-
nem besseren Verständnis zwischen den Vertragsparteien über das umfassende bila-
terale Paket und eine mögliche Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen bei-
tragen. Im Rahmen seiner Befugnisse kann der Ausschuss insbesondere die
Vertragsparteien um sachdienliche Informationen über die Durchführung der Abkom-
men, die Teil des Pakets Schweiz–EU sind, ersuchen. Er kann auch Empfehlungen an
die Vertragsparteien, inklusive an den im Rahmen des Pakets eingerichteten hochran-
gigen Dialog Schweiz–EU, richten (s. Ziff. 2.14). Es sei darauf hingewiesen, dass sich
die Diskussionen beziehungsweise die allfälligen Empfehlungen des Ausschusses auf
dessen Verlangen auch auf Rechtsakte beziehen können, die im Rahmen des EU-
Rechtssetzungsprozesses erarbeitet werden und für das Paket Schweiz–EU relevant
sind. Dies würde die Mitwirkung der Bundesversammlung in europäischen Angele-
genheiten stärken (s. Ziff. 2.1.7.7).
Vor dem Abschluss der Verhandlungen mit der EU wurden die APK im November
beziehungsweise Dezember 2024 gemäss Artikel 152 Absatz 3 ParlG
811
zum Entwurf
des Protokolls konsultiert. In ihren Stellungnahmen an den Bundesrat unterstützten
beide den vorgelegten Entwurf.
Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt. Er beantragt,
das Protokoll über die parlamentarische Zusammenarbeit im Rahmen eines besonde-
ren Bundesbeschlusses, der nicht dem Referendum unterliegt, zu genehmigen. Das
Protokoll über die parlamentarische Zusammenarbeit schafft einen allgemeinen Rah-
men für eine verstärkte parlamentarische Zusammenarbeit zwischen der Bundesver-
sammlung und dem Europäischen Parlament. Der Ausschuss wird die konkreten Mo-
dalitäten in Bezug auf seine Funktionsweise selbst festlegen, insbesondere durch die
Verabschiedung einer Geschäftsordnung.
811
SR
171.10
854 / 931
2.15.2
Ausgangslage
Die Bundesversammlung pflegt bereits heute Beziehungen mit dem Europäischen
Parlament. Die diesbezüglichen Modalitäten sind in Artikel 3 VPiB festgelegt
812
. Für
die Pflege der Beziehungen mit dem Europäischen Parlament ist die Delegation im
parlamentarischen Ausschuss der EFTA (EFTA/EU-Delegation) zuständig. Die Prä-
sidentinnen oder Präsidenten der APK und der EFTA/EU-Delegation haben das
Recht, mit dem Europäischen Parlament Beziehungen zu pflegen.
Die Mitglieder der EFTA/EU-Delegation treffen die für die Beziehungen zur Schweiz
zuständigen Mitglieder der Delegation des Europäischen Parlaments (DEEA) jährlich
zu einem «interparlamentarischen Treffen». Diese Treffen dienen hauptsächlich dem
Meinungsaustausch. Sie können zur Verabschiedung gemeinsamer Erklärungen der
Vorsitzenden führen, wie zum Beispiel beim 41. Treffen am 7. Oktober 2022 in Rap-
perswil-Jona. Darüber hinaus sind die Mitglieder der EFTA/EU-Delegation eingela-
den, an den Veranstaltungen der Konferenz der Ausschüsse für Unionsangelegenhei-
ten der Parlamente der Europäischen Union (COSAC) teilzunehmen, in der die
Europa-Ausschüsse der nationalen Parlamente der EU sowie eine Delegation des Eu-
ropäischen Parlaments vertreten sind.
Diese Formen des interparlamentarischen Austausches stellen kein geeignetes Format
dar, um Mitglieder der eidgenössischen Räte und des Europäischen Parlaments auf
institutionalisierte Weise zusammenzubringen, wie es beispielsweise der Europäische
Wirtschaftsraum (EWR) mit dem Gemeinsamen Parlamentarischen Ausschuss
(Art. 95 des EWR-Abkommens
813
) oder das Vereinigte Königreich mit der Parlamen-
tarischen Partnerschaftsversammlung (Art. 11 des Abkommens über Handel und Zu-
sammenarbeit mit der EU
814
) kennen.
Bei den Konsultationen zum Entwurf des Verhandlungsmandats für das Paket
Schweiz–EU Anfang 2024 ersuchte die APK-S den Bundesrat, eine Regelung zur par-
lamentarischen Zusammenarbeit mit der EU anzustreben. In ihrer Stellungnahme ar-
gumentierte die Kommission, dass für die Verankerung und Akzeptanz der bilateralen
Verträge in der Schweiz deren demokratische Absicherung zentral sei und dass ein
institutionalisierter Austausch zwischen der Bundesversammlung und dem Europäi-
schen Parlament einen wichtigen Beitrag dazu leisten könne.
Der Bundesrat berücksichtigte diese Forderung bei der Verabschiedung seines end-
gültigen Verhandlungsmandats am 8. März 2024.
2.15.3
Zielsetzung und Verhandlungsverlauf
Das Verhandlungsmandat für das Paket Schweiz–EU sah in Ziffer 6.8 Folgendes vor:
«Die Schweiz strebt die Etablierung einer parlamentarischen Zusammenarbeit zwi-
schen der Bundesversammlung und dem Europäischen Parlament an.» In diesem
812
SR
171.117
813
Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum, ABl. L 1 vom 3.1.1994, S. 3.
814
Abkommen über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der
Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Grossbritan-
nien und Nordirland andererseits, ABl. L 149 vom 30.4.2021, S. 10.
855 / 931
Sinne bemühte sich der Bundesrat um ein Abkommen, das den Rahmen für eine in-
stitutionalisierte Zusammenarbeit zwischen dem Schweizer und dem Europäischen
Parlament schafft.
Die Verhandlungsdelegation des Bundesrates in der Verhandlungsgruppe «Institutio-
nelle Bestimmungen und andere Fragen» arbeitete deshalb einen Entwurf für ein Pro-
tokoll über die parlamentarische Zusammenarbeit Schweiz–EU aus. Diesen Entwurf
unterbreitete sie der EU-Delegation.
Gemäss Artikel 152 Absatz 3 ParlG konsultierte der Bundesrat die beiden APK zum
Entwurf des Protokolls. In Anwesenheit einer Delegation des EDA befasste sich die
APK-S an ihrer ordentlichen Sitzung vom 21. November 2024 mit dem Text. Die
Aussenpolitische Kommission des Nationalrates (APK-N) traf sich am 3. Dezember
2024 zu einer ausserordentlichen Sitzung. Aus den schriftlichen Stellungnahmen an
den Bundesrat ging hervor, dass beide Kommissionen das Protokoll über die parla-
mentarische Zusammenarbeit unterstützen. Die APK-S forderte eine Ergänzung be-
züglich der Regelmässigkeit der Treffen des Gemischten Parlamentarischen Aus-
schusses («mindestens einmal pro Jahr»).
Diesem Anliegen konnte bei den Verhandlungen über den endgültigen Text mit der
EU im Dezember 2024 entsprochen werden (s. Ziff. 2.15.6).
Da eine verstärkte parlamentarische Zusammenarbeit von Anfang an im gemeinsamen
Interesse beider Seiten stand, waren hierfür nur wenige Verhandlungsrunden notwen-
dig. Das von der Schweiz gemäss Verhandlungsmandat verfolgte Ziel wurde dabei
vollständig erreicht.
2.15.4
Vorverfahren
Neben der in Ziffer 2.15.2 erwähnten Konsultation zum Entwurf des Verhandlungs-
mandats für das Paket Schweiz–EU gibt es zum Vorverfahren keine nennenswerten
Elemente. Die zuständigen parlamentarischen Kommissionen (APK) wurden wie in
Ziffer 2.15.3 beschrieben konsultiert.
2.15.5
Grundzüge des Abkommens
Die Stärkung der parlamentarischen Zusammenarbeit Schweiz–EU wurde in einem
Protokoll zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen
Union festgelegt. Das Protokoll sieht die Einsetzung eines Gemischten Parlamentari-
schen Ausschusses vor und legt dessen Rahmenbedingungen fest (Zweck, Zusam-
mensetzung, Sitzungsrhythmus, Zuständigkeiten). Die konkreten Modalitäten in Be-
zug auf die Funktionsweise sind hingegen vom Ausschuss selbst festzulegen,
insbesondere durch die Verabschiedung einer Geschäftsordnung.
2.15.6
Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Abkommens
Vertragsparteien sind die Schweiz und die EU. Die Präambel nennt den Kontext für
das übergeordnete Ziel des Abkommens, nämlich die Stärkung der Zusammenarbeit
zwischen der Bundesversammlung und dem Europäischen Parlament. Das Abkom-
men wird im Rahmen des Pakets zur Stabilisierung und Weiterentwicklung der Be-
ziehungen zwischen der Schweiz und der EU abgeschlossen.
856 / 931
Der gemäss Artikel 1 eingesetzte Gemischte Parlamentarische Ausschuss soll durch
Dialog und Diskussion zu einem besseren Verständnis zwischen den Vertragsparteien
über das umfassende Paket Schweiz–EU und eine mögliche Weiterentwicklung der
bilateralen Beziehungen beitragen. Der auf die Themen des Pakets Schweiz–EU aus-
gerichtete Diskussionsbereich steht im Einklang mit den Zuständigkeiten des hoch-
rangigen Dialogs Schweiz–EU, der ebenfalls im Rahmen des Pakets Schweiz–EU ein-
gerichtet wird (s. Ziff. 2.14). Der Ausschuss kann ausserdem Empfehlungen an dieses
Gremium richten (siehe unten).
Der Gemischte Parlamentarische Ausschuss wird sich aus einer gleichen Anzahl von
Mitgliedern der Bundesversammlung und des Europäischen Parlaments zusammen-
setzen (Art. 1). Er wird sich mindestens einmal pro Jahr (wie von der APK-S im Rah-
men der Konsultation gewünscht, s. Ziff. 2.15.2) abwechselnd in der Schweiz und in
der EU treffen (Art. 3). Er wird seine Geschäftsordnung mit einer Zweidrittelmehrheit
seiner Mitglieder verabschieden (Art. 5).
Artikel 4 beschreibt die Zuständigkeiten des Gemischten Parlamentarischen Aus-
schusses. Im Rahmen seiner Befugnisse kann der Ausschuss die Vertragsparteien um
sachdienliche Informationen über die Umsetzung der im Paket Schweiz–EU enthalte-
nen Abkommen ersuchen. Ausserdem wird der Ausschuss regelmässig über die Be-
schlüsse und Empfehlungen der gemischten Ausschüsse der Abkommen, die Teil des
Pakets Schweiz–EU sind, informiert. Der genaue Informationsablauf ist mit den De-
partementen, die für die gemischten Ausschüsse der genannten Abkommen zuständig
sind, festzulegen. Schliesslich kann der Ausschuss Empfehlungen an die Vertragspar-
teien richten. «Vertragsparteien» ist so zu verstehen, dass der Ausschuss insbesondere
Empfehlungen an die Vertreterinnen und Vertreter der Vertragsparteien des hochran-
gigen Dialogs richten kann, der im Rahmen des Pakets Schweiz–EU eingerichtet wird
(s. Ziff. 2.14).
Die Artikel 6 und 7 (Ratifikation, Inkrafttreten, Änderung, Kündigung) enthalten die
für ein solches Instrument üblichen Bestimmungen.
2.15.7
Auswirkungen des Paketelements
Das Abkommen hat keine finanziellen und personellen Auswirkungen auf den Bund.
Der Arbeitsaufwand kann mit dem vorhandenen Personalbestand abgedeckt werden.
Die Parlamentsdienste gehen davon aus, dass sie für die verstärkte parlamentarische
Zusammenarbeit eine Vollzeitstelle benötigen. Ausserdem hat das Abkommen offen-
kundig keine Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf urbane Zentren,
Agglomerationen und Berggebiete. Es hat auch keine direkten Auswirkungen auf die
Volkswirtschaft, die Umwelt oder die Gesellschaft. Diese Fragen wurden somit nicht
weiter vertieft. Zu den wirtschaftlichen Auswirkungen des Pakets Schweiz–EU im
Allgemeinen siehe Ziffer 3.3.
Eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen der Bundesversammlung und dem Euro-
päischen Parlament ist aus aussenpolitischer Sicht wichtig. Das Abkommen steht im
Einklang mit dem Ziel, den bilateralen Weg mit der EU zu stabilisieren und weiterzu-
entwickeln, da es den direkten Austausch zwischen Volksvertreterinnen und -vertre-
tern der Schweiz und Parlamentarierinnen und Parlamentariern aus den EU-
857 / 931
Mitgliedstaaten fördert. Dieser Austausch konzentriert sich auf die Bereiche des Pa-
kets Schweiz–EU und allfällige zukünftige Entwicklungen der bilateralen Beziehun-
gen.
2.15.8
Rechtliche Aspekte des Paketelements
Das Protokoll über die parlamentarische Zusammenarbeit ist ein rechtsverbindlicher
Vertrag. Das Abkommen stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 BV, wonach der Bund
für die auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV ermäch-
tigt den Bundesrat, einen solchen völkerrechtlichen Vertrag zu unterzeichnen und zu
ratifizieren. Gemäss Artikel 166 Absatz 2 BV obliegt es der Bundesversammlung,
diese zu genehmigen, ausgenommen sind die Verträge, für deren Abschluss aufgrund
von Gesetz oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (s. auch Art.
24 Abs. 2 ParlG und Art. 7a Abs. 1 RVOG). Das Protokoll über die parlamentarische
Zusammenarbeit ist kein völkerrechtlicher Vertrag, zu dessen selbständigem Ab-
schluss der Bundesrat durch Bundesgesetz oder von der Bundesversammlung geneh-
migten völkerrechtlichen Vertrag ermächtigt ist. Es handelt sich auch nicht um einen
völkerrechtlichen Vertrag von beschränkter Tragweite im Sinne von Artikel 7a Absatz
2 RVOG. Das Protokoll über die parlamentarische Zusammenarbeit muss daher der
Bundesversammlung zur Genehmigung vorgelegt werden. Der Bundesrat beantragt,
es im Rahmen eines besonderen Bundesbeschlusses, der nicht dem Referendum un-
terliegt, zu genehmigen.
Der Vollzug des Abkommens obliegt der Bundesversammlung. Sie legt die Modali-
täten der konkreten Umsetzung fest. Die Umsetzung könnte eine Anpassung der Ver-
ordnung der Bundesversammlung über die Pflege der internationalen Beziehungen
des Parlamentes (VPiB)
815
erfordern.
Der Vertrag steht im Einklang mit den anderen internationalen Verpflichtungen der
Schweiz.
815
SR
171.117
858 / 931
3
Auswirkungen des Pakets Schweiz–EU
3.1
Auswirkungen auf den Bund
3.1.1
Finanzielle Auswirkungen
Das Paket Schweiz–EU bringt zusätzliche Ausgaben für den Bundeshaushalt im Um-
fang von rund 1,4 Milliarden Franken pro Jahr mit sich. Dabei handelt es sich um die
direkten Auswirkungen. Nicht berücksichtigt sind allfällige indirekte Kosten des Pa-
kets – und insbesondere nicht dessen indirekter Nutzen für den Bundeshaushalt. Die
Mehrbelastungen sind im Kontext der volkswirtschaftlichen Auswirkungen zu sehen
(s. Ziff. 3.3). Das zusätzlich generierte Wirtschaftswachstum (im Vergleich zu einem
Alternativszenario ohne Paket) dürfte langfristig eine stärkere Wirkung auf die Bun-
desfinanzen haben als die hier ausgewiesenen zusätzlichen Ausgaben. Obwohl es sich
selbstverständlich auch bei den angegebenen Mehrbelastungen um Schätzungen han-
delt, ist der Effekt des Pakets auf das Bruttoinlandprodukt (BIP) noch schwieriger zu
prognostizieren, und erst recht die sich daraus ergebende Steigerung namentlich der
Steuereinnahmen. Eine explizite Gesamtprojektierung der langfristigen Auswirkun-
gen auf den Bundeshaushalt lässt sich somit kaum verlässlich anstellen. Daher muss
vorliegend zwangsläufig die einseitige Beschränkung auf die Ausgabenseite erfolgen.
Zu beachten ist im Übrigen, dass mit dem Paket auch Mehrbelastungen für den Bund
vermieden werden. Dies gilt speziell mit Blick auf nationale Ersatzmassnahmen und
-infrastrukturen, die ohne das Paket in einigen Bereichen wohl anstehen würden, ins-
besondere bei den Bildungs- und Forschungsprogrammen.
Die beiden mit Abstand bedeutendsten Posten sind die Programme und der Schweizer
Beitrag; sie machen zusammen über neun Zehntel der Mehrausgaben aus (s. pro Jahr
ausgewiesen in Tabelle 3.1.1 (1) und die Darstellungen der Auswirkungen in den ein-
zelnen Abkommen unter Ziff. 2). Aufgrund der Auszahlungsplanung beim Schweizer
Beitrag dürfte die Grössenordnung der Gesamtausgaben von 1,4 Milliarden Franken
pro Jahr nicht unmittelbar, sondern erst im Jahr 2035 erreicht werden. Angesichts des
nach wie vor erheblichen Bereinigungsbedarfs im Bundeshaushalt in den kommenden
Jahren muss besonders den gleich nach Inkrafttreten des Pakets anstehenden Mehrbe-
lastungen Beachtung geschenkt werden. Die Beteiligung an Nachfolgeprogrammen
für das Horizon-Paket sowie an Erasmus+ für die neue Programmperiode (2028–
2034) wird dem Parlament in einer eigenen Botschaft zur Genehmigung unterbreitet.
Die Entscheidung über die Teilnahme am nächsten mehrjährigen Programm der EU
im Bereich Gesundheit (2028–2034) wird zu einem späteren Zeitpunkt getroffen.
859 / 931
Tabelle 3.1.1 (1): Finanzielle Auswirkungen nach Abkommen (Mio. Fr.)
2027
2028
2029
2030
2031
2032
Institutionelle
Elemente
–
–
–
–
–
–
Staatliche
Beihilfen
–
–
–
–
0,25
0,25
PFZ*
16,79
51,09
51,09
51,09
51,09
16,89
MRA
–
0,26
0,06
0,06
0,06
0,06
Landverkehr
–
–
–
–
–
–
Luftverkehr
–
–
–
–
–
–
Landwirt-
schaft
–
–
–
–
–
–
Programme*
842,30
934,40
943,70
953,20
962,70
972,30
Weltraum
3,80
3,80
3,80
3,80
3,80
3,80
Schweizer
Beitrag
–
–
9,95
58,23
119,13
154,13
Strom
0,90
1,65
1,65
1,65
1,65
1,65
Lebensmittel-
sicherheit
–
10,50
11,90
12,30
12,30
12,20
Gesundheit
–
26,40
26,40
25,90
25,90
25,90
Hochrangiger
Dialog
–
–
–
–
–
–
Zus’arbeit der
Parlamente
–
–
–
–
–
–
Total
863,79
1028,10
1048,55
1106,23
1176,88
1187,18
860 / 931
*Ein Teil der finanziellen Auswirkungen kann über bereits eingestellte Mittel im Fi-
nanzplan abgedeckt werden (s. entsprechende Erläuterungen unter Ziff. 2).
3.1.2
Personelle Auswirkungen
Das Paket generiert einen Stellenbedarf von rund 100 Vollzeitäquivalenten (davon
rund 25 bis 30 Vollzeitäquivalente für den Schweizer Beitrag, die mit der im Beitrags-
abkommen Schweiz–EU vereinbarten Eigenaufwandpauschale von fünf Prozent fi-
nanziert werden und daher nicht zusätzlich anfallen, s. Ziff. 2.10.9.1). Der Bundesrat
wird den ausgewiesenen Ressourcenbedarf zu gegebener Zeit überprüfen und darauf
achten, dass ein allfälliger Mehrbedarf an Personalaufwand innerhalb des Eigenbe-
reichs des Bundes kompensiert wird.
861 / 931
Tabelle 3.1.2 (1): Stellenbedarf (Vollzeitäquivalente)
2027
2028
2029
2030
2031
2032
Institutionelle
Elemente
–
5,5–7,5
5,5–7,5
5,5–7,5
5,5–7,5
5,5–7,5
Staatliche
Beihilfen
2,0
2,0
2,0
2,0
3,5
3,5
PFZ
3,0
7,7–9,7
7,7–9,7
6,7–8,7
6,7–8,7
6,7–8,7
MRA
–
2,0
2,0
2,0
2,0
2,0
Landverkehr
–
–
–
–
–
–
Luftverkehr
–
–
–
–
–
–
Landwirt-
schaft
–
–
–
–
–
–
Programme
7,0
9,0
9,0
7,0
6,0
8,0
Weltraum
–
–
–
–
–
–
Strom
15,0
18,0
18,0
18,0
18,0
18,0
Lebensmittel-
sicherheit
2,0
8,5
12,0
17,0
24,0
24,0
Gesundheit
2,0
13,8
13,8
11,8
11,8
11,8
Hochrangiger
Dialog
–
–
–
–
–
–
Zus’arbeit der
Parlamente
–
1,0
1,0
1,0
1,0
1,0
Total
31,0 67,5–71,5 71,0–75,0 71,0–75,0 78,5–82,5 80,5–84,5
Ohne Schweizer Beitrag (ca. 25–30 Vollzeitäquivalente, für die 5 % der Mittel des
Beitrags reserviert sind).
862 / 931
Institutionelle Elemente: 1,5 der 5,5–7,5 Vollzeitäquivalente fallen bei der Bundes-
versammlung (Parlamentsdienste) an.
3.1.3
Auswirkungen auf die Aussenpolitik
Das Paket Schweiz–EU widerspiegelt eine aussenpolitische Kontinuität in den Bezie-
hungen zwischen der Schweiz und der EU. Es ist entscheidend für die Stabilisierung
und Weiterentwicklung des bewährten bilateralen Wegs mit der EU und entspricht
damit dem ersten in der Aussenpolitischen Strategie des Bundesrates 2024–2027
816
definierten Ziel. Das Paket Schweiz–EU wird sich positiv auf die Beziehungen der
Schweiz zur EU und den EU-Mitgliedstaaten auswirken und die Zusammenarbeit er-
leichtern. Dies reflektiert auch die Gemeinsame Erklärung zum Umfang der Partner-
schaft und der Zusammenarbeit im Zeitraum von Ende 2024 bis zum Inkrafttreten des
Pakets Schweiz–EU, in welcher die beiden Parteien insbesondere festgehalten haben,
dass mit dem Abschluss der Verhandlungen die Zusammenarbeit im Rahmen der bi-
lateralen Beziehungen ausgebaut werden sollte (s. Ziff. 1.3.4).
Die Schweiz und die EU haben über die Jahrzehnte ein Netz von über hundert Ab-
kommen
817
geknüpft. Darunter fallen auch Bereiche der Zusammenarbeit, die nicht
direkt vom Paket Schweiz–EU betroffen sind. Beispiele dafür sind die Schengen/Dub-
lin-Assoziierung
818
,
819
betreffend Grenze, Justiz, Polizei, Visa und Asyl, der zollfreie
Handel mit Industrieprodukten basierend auf dem Freihandelsabkommen
820
, die Zu-
sammenarbeit im Steuerbereich
821
oder die Verknüpfung der Emissionshandelssys-
teme
822
. Auch wenn gewisse Elemente der bilateralen Zusammenarbeit nicht direkt
vom Paket Schweiz–EU betroffen sind, können diese tendenziell von einer Stabilisie-
rung und Weiterentwicklung des bilateralen Wegs profitieren. Beispielsweise wurde
bereits im Juli 2024 der Regulierungsdialog im Finanzmarktbereich mit der EU fort-
gesetzt, nachdem dieser während mehreren Jahren unterbrochen gewesen war. Der
Dialog war nicht Gegenstand der Verhandlungen zum Paket Schweiz–EU. Der Bun-
desrat hatte jedoch eine rasche Wiederaufnahme in seinem Verhandlungsmandat als
Ziel definiert.
816
Abrufbar unter: www.eda.admin.ch> Aussenpolitik > Strategien und Grundlagen > Aus-
senpolitische Strategie.
817
Abrufbar unter: www.eda.admin.ch> Bilateraler Weg > Überblick.
818
Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, der
Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft über die Assoziierung dieses
Staates bei der Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen-Besitzstands,
SR
0.362.31
.
819
Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und
der Europäischen Gemeinschaft über die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zu-
ständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz gestell-
ten Asylantrags, SR
0.142.392.68
.
820
Abkommen von 22. Juli 1972 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, SR
0.632.401
.
821
Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und
der Europäischen Union über den automatischen Informationsaustausch über Finanzkonten
zur Förderung der Steuerehrlichkeit bei internationalen Sachverhalten, SR
0.641.926.81
.
822
Abkommen vom 23. November 2017 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft
und der Europäischen Union zur Verknüpfung ihrer jeweiligen Systeme für den Handel
mit Treibhausgasemissionen, SR
0.814.011.268
.
863 / 931
Das Paket Schweiz–EU eröffnet der schweizerischen Aussenpolitik zusätzliche In-
strumente, um die Beziehungen zur EU zu gestalten. Beispielsweise den neu geschaf-
fenen hochrangigen Dialog zwischen der Schweiz und der EU (s. Ziff. 2.14) oder die
verstärkte Zusammenarbeit der Parlamente (s. Ziff. 2.15). Über den Schweizer Bei-
trag (s. Ziff. 2.10) können die Beziehungen der Schweiz zu den Partnerstaaten in po-
litischer, wirtschaftlicher und institutioneller Hinsicht gestärkt werden. Es handelt
sich dabei um ein bewährtes Element der schweizerischen Europapolitik, das im Rah-
men des Pakets Schweiz–EU verstetigt wird. Auch weitere Elemente des Pakets, wie
beispielsweise die Teilnahme der Schweiz an EU-Programmen in den Bereichen For-
schung und Bildung (s. Ziff. 2.8), schaffen Opportunitäten für vertiefte aussenpoliti-
sche Zusammenarbeit. Die institutionellen Elemente (s. Ziff. 2.1) sehen Instrumente
wie das
Decision Shaping
und die Möglichkeit von Stellungnahmen vor dem Ge-
richtshof der Europäischen Union (EuGH) bei Vorabentscheidungsverfahren von EU-
Mitgliedstaaten vor. Diese Instrumente ermöglichen es der Schweiz, ihre Interessen
im Rahmen der Rechtsetzungs- und Rechtsprechungsprozesses der EU verstärkt zu
vertreten. Zudem erlaubt es der neue Streitbeilegungsmechanismus der Schweiz, ihre
Rechte wirksam geltend zu machen, und schützt sie vor willkürlichen und unverhält-
nismässigen Retorsionsmassnahmen und vor «Nadelstichen».
Das Paket Schweiz–EU hat voraussichtlich auch Auswirkungen auf die Zusammen-
arbeit der Schweiz mit den übrigen EFTA-Staaten (Norwegen, Island und Liechten-
stein). Das revidierte EFTA-Übereinkommen vom 21. Juni 2001
823
hatte zum Ziel,
unter den heutigen EFTA-Staaten Liechtenstein, Norwegen, Island und der Schweiz
ein wirtschaftliches Integrationsniveau zu erreichen, das im Wesentlichen dem Inhalt
der Bilateralen I zwischen der Schweiz und der EU entsprach. Das EFTA-
Übereinkommen wird daher regelmässig angepasst, um die Entwicklungen der bila-
teralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU sowie innerhalb des Europä-
ischen Wirtschaftsraums (EWR) zu berücksichtigen. Entsprechend wird aufgrund des
Pakets Schweiz–EU auch eine Anpassung des EFTA-Übereinkommens zu prüfen
sein, um weiterhin möglichst einheitliche Regeln zwischen den EU- und EFTA-
Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Dies wird jedoch separat geschehen und nicht im
Rahmen des Pakets Schweiz–EU.
Abgesehen von den Beziehungen der Schweiz zur EU, respektive deren Mitgliedstaa-
ten, ist die schweizerische Aussenpolitik durch das Paket Schweiz–EU nicht tangiert.
Die schweizerische Aussenpolitik wird nicht eingeschränkt. Die Schweiz kann wei-
terhin selbstbestimmt die Beziehungen zu anderen Staaten und Weltregionen gestal-
ten, beispielsweise durch den Abschluss von Freihandelsabkommen oder anderen in-
ternationalen Verträgen. Sie bleibt in der Gestaltung ihrer Aussen- und
Sicherheitspolitik autonom. Die Neutralität der Schweiz bleibt gewahrt.
823
Abkommen vom 21. Juni 2001 zur Änderung des Übereinkommens vom 4. Januar 1960
zur Errichtung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA), SR
0.632.31
.
864 / 931
3.2
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf
urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete
3.2.1
Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden
Das Paket Schweiz–EU hat keinen Einfluss auf die grundlegende Kompetenzvertei-
lung zwischen Bund und Kantonen.
Das Paket hat direkte und indirekte Auswirkungen auf die Kantone und die Arbeit
ihrer Verwaltungen. Deswegen war es dem Bundesrat ein Anliegen, die Kantone über
die Länge des gesamten Prozesses zum Paket hin so stark wie möglich einzubinden
und permanent zu informieren. Der Einbezug der Kantone in die exploratorischen Ge-
spräche und die Verhandlungen wird detailliert in Ziffer 1.3.3 beschrieben.
Während die meisten Auswirkungen kantonsübergreifender Natur sind, kann es auf-
grund regionaler Besonderheiten (etwa die wirtschaftliche oder demografische Struk-
tur) sein, dass gewisse Kantone oder Gebiete stärker oder schwächer betroffen sind.
So weisen beispielweise die Berggebiete im gesamtschweizerischen Vergleich am
meisten strukturelle Besonderheiten auf, insbesondere in den wirtschaftlichen, geo-
grafischen und demografischen Dimensionen. Entsprechend werden die Auswirkun-
gen des Paketes auf die Berggebiete gegen Ende der Ziffer kurz gesondert beschrie-
ben.
Das Paket stellt die Stabilisierung und Weiterentwicklung des bewährten bilateralen
Weges sicher, von dem auch die Kantone profitieren. Der Ausbau der Wirtschaftsbe-
ziehungen, die wissenschaftliche Zusammenarbeit und die gemeinsame Bewältigung
aktueller grenzüberschreitender Herausforderungen sind unerlässlich, um die Sicher-
heit und den Wohlstand der Schweiz und damit auch der Kantone zu gewährleisten.
3.2.1.1
Auswirkungen im Bereich institutionelle Elemente
Die institutionellen Elemente sehen Instrumente vor, die es der Schweiz ermöglichen,
ihre Interessen im Rahmen des Rechtsetzungs- und Rechtsprechungsprozesses der EU
verstärkt zu vertreten, namentlich das
Decision Shaping
und Einreichung von Stel-
lungnahmen im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren (s. Ziff. 2.1). Darüber hin-
aus sehen sie auch einen Streitbeilegungsmechanismus vor, der es den Parteien er-
möglicht, ein Schiedsgericht anzurufen, falls im Gemischten Ausschuss keine
politische Lösung für einen Streit gefunden wird. In diesem Zusammenhang werden
die Kantone regelmässig informiert und eng eingebunden, wenn ihre Zuständigkeits-
bereiche betroffen sind. Die Modalitäten der Information und Beteiligung der Kantone
an der Mitwirkung der Schweiz am Rechtssetzungs- und Rechtsprechungsprozess der
EU sowie am Streitbeilegungsmechanismus werden bis zum Inkrafttreten des Pakets
festgelegt, beispielsweise im Rahmen einer neuen Vereinbarung zwischen Bund und
Kantonen analog zur Vereinbarung im Bereich Schengen/Dublin (s. Ziff. 2.1.9.2).
824
Die technischen Gespräche mit der Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) zu ei-
ner solchen Vereinbarung wurden bereits gestartet. Im Rahmen des durch das Paket
824
Convention entre la Confédération et les cantons relative à la mise en œuvre, à l’applica-
tion et au développement de l’acquis de Schengen et de Dublin du 20 mars 2009.RS
362.1
.
865 / 931
vorgesehenen hochrangigen Dialogs (s. Ziff.2.14) ist bei sie betreffenden Themen zu-
dem die Möglichkeit einer Teilnahme der Kantone vorgesehen. Somit wird durch das
Paket auch die kantonale Mitwirkung an der Aussenpolitik gestärkt.
3.2.1.2
Weitere Auswirkungen
Ähnlich wie für die Bundesverwaltung (s. Ziff. 3.1) hat das Paket auch direkte Aus-
wirkungen auf die kantonalen Verwaltungen. Die meisten Auswirkungen des Pakets,
die spezifisch die Kantone betreffen, sind finanzieller Natur: Dazu gehören Mehrkos-
ten, Mindereinnahmen oder erhöhte Personalkosten. Diese können beispielsweise aus
der Schaffung neuer Stellen, neuer Prozesse oder aus einem erhöhten Verwaltungs-
aufwand resultieren. Die kantonalen Verwaltungen werden in gewissen Bereichen
(etwa in den Bereichen der Personenfreizügigkeit (s. Ziff. 2.3), Lebensmittelsicherheit
(s. Ziff. 2.12) oder Gesundheit (s. Ziff. 2.13)) teilweise zusätzliche Aufgaben über-
nehmen müssen, was auch mit einem personellen Mehraufwand verbunden sein kann.
Selten ist der Aufwand mit der Etablierung neuer Prozesse verbunden. Rechtliche
Neuerungen wird es für die Kantone vor allem in zwei Bereichen geben, namentlich
aufgrund des Beitritts zum EU-Strombinnenmarkt und der Anpassung bestehender
Beihilferegelungen an die mit der EU vereinbarten Regeln über staatliche Beihilfen.
Die negativen Auswirkungen auf die Kantone werden – soweit möglich – durch Kom-
pensationsmassnahmen des Bundes abgefedert (vgl. Ziff. 3.2.1.3). Zudem ist davon
auszugehen, dass sich viele Investitionen langfristig positiv auswirken werden. Durch
die Digitalisierung und Optimierung von Prozessen (siehe dazu bspw. Abschnitte zum
Gesundheitsbereich (Ziff. 2.13) oder zum Lohnschutz (Ziff. 2.3)) dürften die Kosten
für die kantonalen Verwaltungen langfristig niedriger ausfallen. Detaillierte Erläute-
rungen zu den finanziellen, personellen und gesetzlichen Auswirkungen pro Abkom-
men finden sich in den entsprechenden Abschnitten in Kapitel 2 (insb. Ziff. 2.1 –
2.13).
Staatliche Beihilfen
Die Einführung der Beihilfenüberwachung beziehungsweise des neuen Beihilfen-
überwachungsgesetzes (BHÜG) wird für die Kantone unterschiedliche Folgen haben.
Generell wird sich der gestärkte Wettbewerbsschutz positiv auf die Volkswirtschaft
und damit auch auf den Wohlstand in den Kantonen auswirken (s. Ziff. 3.3). Für die
Kantone werden durch diese Bestimmungen aber auch neue Verpflichtungen bei der
Umsetzung des Bundesrechts eingeführt (Anmeldung von geplanten Beihilfen und
Mitteilung von beihilfegewährenden Entscheiden und Erlassen an die Beihilfeüber-
wachungsbehörde, Transparenz bezüglich den von ihnen gewährten Beihilfen, Kosten
bei kantonalen Gerichten, wenn Beschwerden gegen kantonale Beihilfen eingereicht
werden). Diese Verpflichtungen werden detailliert in Ziffer 2.2.9.2. beschrieben. Hin-
sichtlich des Überwachungsverfahrens stellt die mit der EU ausgehandelte Lösung
sicher, dass die verfassungsmässige Kompetenzordnung zwischen Bund und Kanto-
nen sowie die Gewaltenteilung im Schweizer Verfahren gewahrt bleiben. Die Über-
wachung in der Schweiz wird – gemäss dem vereinbarten «Zwei-Pfeiler-Ansatz» –
einer Schweizer Behörde obliegen und nicht der EU.
Personenfreizügigkeit
866 / 931
Im Zuwanderungsbereich gibt es keine grundlegenden Änderungen der Aufgaben der
zuständigen kantonalen Vollzugsbehörden durch das Änderungsprotokoll zum Frei-
zügigkeitsabkommen (FZA). Der Vollzug bleibt im Ausländerrecht nach wie vor Sa-
che der Kantone. Bei einer Zunahme zu prüfender Fälle im Ausländerrecht wird aber
ein Mehraufwand für die Kantone entstehen
825
. Der dadurch entstehende Mehrauf-
wand kann langfristig durch eine Vereinfachung der Bewilligungsverfahren (weniger
Wechsel zwischen der Aufenthaltsbewilligung und der Niederlassungsbewilligung)
kompensiert werden. Auch bei der Anerkennung von beruflichen Qualifikationen
kann es zu einem Mehraufwand kommen Unter anderem ist eine koordinierende Stelle
pro Kanton für die Teilnahme am Binnenmarkt-Informationssystem (IMI), aber auch
für die Übernahme zusätzlicher Aufgaben erforderlich. Ein weiteres Beispiel für einen
erwarteten Mehraufwand im Bereich des FZA stellt die Prüfung des Aufenthaltsrechts
dar, der durch den erhöhten Koordinationsaufwand zwischen den Migrationsbehörden
und der öffentlichen Arbeitsvermittlung entsteht.
Bei der Anwendung der Schutzklausel können bei den Kantonen und Gemeinden per-
sonelle Zusatzaufwände entstehen, um allfällige Schutz- oder Ausgleichsmassnahmen
umzusetzen. Der konkrete Aufwand wird aber variieren, je nach Art der Massnahmen.
Die kantonalen Vollzugsstellen im Migrationsbereich haben bereits Erfahrungen bei
der Anwendung der Zulassungsvoraussetzungen aus dem AIG (z.B. Prüfung des In-
ländervorrangs), falls in diesem Bereich Schutz- oder Ausgleichsmassnahmen ergrif-
fen würden. Gleichzeitig wird je nach ergriffenen Massnahmen eine finanzielle Ent-
lastung erwartet, insbesondere bei den Sozialversicherungen oder der Sozialhilfe, da
weniger Personen anspruchsberechtigt wären.
Eine detaillierte Übersicht über die Auswirkungen des Änderungsprotokolls zum FZA
auf die Kantone findet sich in Ziffer 2.3.9.2.
Im Hochschulbereich führt das Paket durch die neue Gleichbehandlung von EU-
Studierenden betreffend Studiengebühren zu Mindereinnahmen gewisser Hochschu-
len. Der Bund wird sich aber mit einer finanziellen Kompensationsmassnahme am
Ausgleich dieser Mindereinnahmen beteiligen (s. Ziff.2.3.7.3).
Im Bereich der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung bis maximal 90 Ar-
beitstage pro Kalenderjahr wird die Voranmeldefrist für Unternehmen aus den EU-
Mitgliedstaaten die in der Schweiz Dienstleistungen erbringen wollen, von acht Ka-
lendertagen auf vier Arbeitstage verkürzt. Dies wird zu einem höheren Verwaltungs-
aufwand führen, wobei die Betroffenheit der Kantone von deren wirtschaftlichen und
geografischen Charakteristiken abhängig ist. Die Schweiz nimmt
im Bereich der
grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung nach einer Übergangsfrist von drei
Jahren nach Inkrafttreten des Pakets Schweiz-EU am IMI teil. In den kantonalen Voll-
zugsbehörden muss hierfür eine koordinierende Stelle geschaffen werden. Diese ver-
schafft den kantonalen Behörden einen direkten Informationsaustausch mit den zu-
ständigen
Stellen
der
EU-Mitgliedsstaaten.
Bei
den
Anpassungen
des
825
www.sem.admin.ch > Publikation & Service > Service > Forschung und Evaluation > Stu-
die von Ecoplan vom 09.05.2025: «RFA zur Teilübernahme der Unionsbürgerrichtlinie
UBRL. Auswirkungen auf die staatlichen Institutionen».
867 / 931
Entsendegesetzes im Rahmen der inländischen Massnahmen zur Sicherung der Lohn-
schutzes dürfte die Optimierung und Weiterentwicklung des Meldeverfahrens den
Kantonen die Möglichkeit verschaffen, ihre Kontrollen unter Berücksichtigung der
verkürzten Meldefrist vorzeitig zu planen. Die vorgesehenen Massnahmen zur Stei-
gerung der Effizienz im Meldeverfahren dürften den zusätzlichen Ressourcenbedarf
in den Kantonen begrenzen.
Strom
Das neue Stromabkommen mit der EU dürfte sich insgesamt positiv auf die Kantone
auswirken. Es leistet einen wichtigen Beitrag zur Gewährleistung der Versorgungssi-
cherheit sowie des sicheren Netzbetriebs und ermöglicht Handelsopportunitäten für
die flexible Schweizer Wasserkraft, die hauptsächlich im Besitz der Kantone und Ge-
meinden ist. Die Marktöffnung für Endverbraucherinnen und Endverbraucher dürfte
die heute regional sehr unterschiedlich hohen Stromtarife tendenziell ausgleichen.
Dieser Wettbewerbsdruck kann auch finanzielle Rückwirkungen für die Stromunter-
nehmen im Eigentum von Kantonen, Städten und Gemeinden haben. Auf der anderen
Seite führen zusätzliche Handelsgewinne insbesondere bei Betreibern von Speicher-
und Pumpspeicherkraftwerken (siehe «Auswirkungen auf die Volkswirtschaft» unter
Ziff. 2.11.9.3) tendenziell zu höheren Steuer- und Dividendeneinnahmen bei Kanto-
nen und Gemeinden.
Die Teilnahme am EU-Strombinnenmarkt führt aber auch dazu, dass sich Kantone
und Gemeinden künftig in denjenigen Bereichen an EU-Recht halten müssen, die sich
innerhalb des Anwendungsbereichs des Stromabkommens befinden. Beispielsweise
haben Kantone und Gemeinden, welche die Installation von Anlagen zur Erzeugung
von Elektrizität aus erneuerbaren Quellen finanziell fördern, bei der Ausgestaltung
ihrer Förderprogramme die EU-Förderregeln zu beachten. Dies betrifft etwa kanto-
nale Förderprogramme oder eigene Aktivitäten der Kantone bei der Nutzung erneuer-
barer Energien. Die meisten kantonalen Förderprogramme dürften jedoch unter die
mit der EU vereinbarten Mindestschwellen fallen. Das Stromabkommen ist nicht auf
Verbrauch von Strom und Energie (bspw. Heizen oder Effizienzmassnahmen bei Ge-
bäuden) anwendbar, womit nicht in diese kantonalen Kompetenzen eingegriffen wird.
Für die Berggebiete steht, aufgrund ihrer Energieinfrastruktur, insbesondere die Was-
serkraft im Fokus. Im Stromabkommen ist, wie im Verhandlungsmandat des Bundes-
rates vorgesehen, festgehalten, dass das Abkommen keine Vorgaben betreffend
Vergabe von Konzessionen oder zum Wasserzins macht. Dies wird am Ende dieser
Ziffer sowie eingehend in Ziffer 2.11. beschrieben. Spezifische Ausführungen zu den
Auswirkungen auf die Kantone im Bereich Strom finden sich in Ziffer 2.11.9.2.
Landwirtschaft
Aufgrund der substanziellen Ausdehnung des Landwirtschaftsabkommens im Le-
bensmittelsicherheitsbereich (s. Ziff. 2.7) dürfte für die Kantone ein gewisser Mehr-
aufwand im Vollzug in Folge einer Ausweitung von Überwachungsaufgaben entste-
hen. Dies würde insbesondere die Pflanzengesundheit (Kantone müssen ihr
Hoheitsgebiet neu auf mehr Quarantäneorganismen überwachen), die Vorbeugung
von Tierseuchen (bspw. zusätzliche Registrierungs- und Zulassungspflichten) und den
Tierschutz (Anpassungen bei Kontrollen) betreffen. Eine detaillierte Übersicht über
868 / 931
die Auswirkungen des Zusatzprotokolls zum Landwirtschaftsabkommen auf die Kan-
tone findet sich in Ziffer 2.7.9.2.
Gesundheit
Die Umsetzung des neuen Gesundheitsabkommens (s. Ziff. 2.13) führt zu einer Er-
weiterung des nationalen Überwachungssystems für übertragbare Krankheiten und
weitere Krankheitserreger, was auch eine gewisse Ausweitung der Überwachungsauf-
gaben der Kantone mit sich bringt. Konkret betrifft dies zusätzlich zu überprüfende
und zu meldende Krankheitserreger und eine Anpassung der Meldekriterien. Die da-
mit deutlich bessere Informationslage dürfte die Kantone massgeblich dabei unter-
stützen, die Ausbreitung von Krankheiten vorzubeugen. Eine detaillierte Übersicht
über die Auswirkungen des Gesundheitsabkommens auf die Kantone findet sich in
Ziffer 2.13.9.2.
3.2.1.3
Massnahmen des Bundes und Chancen für die Kantone in
zusätzlichen Bereichen
In vielen Bereichen, in denen für die Kantone Mehraufwand aus dem Paket resultiert,
dürfte dieser durch Massnahmen des Bundes aber wieder verringert werden. So dürfte
sich der zusätzliche Aufwand der Kantone beim Lohnschutz, der durch die Verkür-
zung der Voranmeldefrist von Unternehmen aus dem EU-Raum entsteht, unter ande-
rem durch die Optimierung des Online-Meldeverfahrens zugleich verkleinern. Auch
beim Gesundheitsabkommen, das für die Kantone einen gewissen Mehraufwand bei
der Kontrolle von übertragbaren Krankheiten verursachen dürfte, schafft der Bund
mittels der Umsetzung des Programms zur Förderung der digitalen Transformation
im Gesundheitswesen (DigiSanté) insbesondere des Projekts
National Surveillance
and Response
(NASURE) einen Weg, die zusätzliche Belastung durch den digitali-
sierten Datenaustausch so gering wie möglich zu halten. Bei der Einführung der Bei-
hilfenüberwachung (s. Ziff. 2.2) wird der Bund eine zentrale Datenbank einrichten,
die von den Kantonen ebenfalls genutzt werden kann, womit dieser Kostenpunkt für
sie entfällt. Die Optimierung dieser Prozesse und der Zugang zu mehr Daten dürfte
sich langfristig positiv auf die Effizienz der kantonalen Verwaltungen auswirken.
In den bisher nicht beschriebenen Bereichen wurde ebenfalls geprüft, ob das Paket
spezifische Auswirkungen auf die Kantone hat und ob sich zusätzliche Chancen für
die Kantone ergeben. Im Bereich Landverkehr dürften die Auswirkungen äusserst ge-
ring sein - eigenständige örtliche und regionale Netze wie Schmalspurnetze oder
Tramnetze und die ausschliesslich darauf verkehrenden Unternehmen werden vom
Landverkehrsabkommen beispielsweise gar nicht erfasst (s. Ziff.2.5.9.2). Vom inter-
nationalen Schienenpersonenverkehr tangierte Gebiete (insbesondere Städte und
Berggebiete, siehe weiter unten in dieser Ziffer) dürften vom ergänzenden Angebot
auf diesen Strecken profitieren, da dies die Erreichbarkeit und damit die Attraktivität
für den Tourismus fördert. Die Schweiz wird von der in der EU geltenden Ausschrei-
bungspflicht ausgenommen. Sie kann Bestellungen im grenzüberschreitenden Regio-
nalverkehr weiterhin direkt vergeben. Das Abkommen zum Abbau der technischen
Handelshemmnisse (MRA) birgt keine direkten Auswirkungen für die Kantone selbst,
dürfte ihnen aber durch den positiven Effekt auf exportorientierte Wirtschaftssektoren
indirekt zugutekommen. Bei einem Wegfall von MRA-Kapiteln müssten Kantone mit
869 / 931
negativen Folgen für ihre exportorientierten Wirtschaftssektoren rechnen (s. Ziff.
2.4.9.2) Auch bei den Anpassungen im Luftverkehrsabkommen, beim Weltraum oder
bei den Programmen dürften die Kantone indirekt, oder im Falle des Horizon-Pakets
auch direkt, profitieren. Beispielsweise wird die Teilnahme an der Agentur der Euro-
päischen Union für das Weltraumprogramm (EUSPA) die Aufnahme von Verhand-
lungen über eine Teilnahme an
Public Regulated Service (PRS)
, einem Navigations-
service, erlauben. Dieser würde den Kantonen im Falle von Ausfällen ihrer
Navigationssysteme bei Krisen oder Katastrophen für den Schutz ihrer Bevölkerung
zur Verfügung stehen. Im Rahmen des Horizon-Pakets können Forschende von kan-
tonalen Universitäten und Fachhochschulen, sowie Kantone und Gemeinden künftig
direkt an Forschungs- und Innovationsprojekten teilnehmen und entsprechende Mittel
akquirieren. Dies kann sich auch positiv auf die Innovationsfähigkeit, Standortattrak-
tivität und somit auf die lokale Wirtschaft von Gemeinden, Städten oder Kantonen
auswirken (s. auch Ziff. 3.3). Die geförderten Aktivitäten und die zur Verfügung ste-
henden Fördermittel von Erasmus+ kommen beispielsweise. auch insbesondere kan-
tonalen Bildungsinstitutionen in der Schul-, Berufs- und Hochschulbildung zugute.
Beim Schweizer Beitrag und der Zusammenarbeit zwischen den Parlamenten gibt es
keine absehbaren direkten Auswirkungen auf die Kantone.
Ähnlich wie für den Bund (s. Ziff. 3.1) oder die Volkswirtschaft (s. Ziff. 3.3) hat das
Paket also auch direkte Auswirkungen auf die Kantone und die tägliche Arbeit ihrer
Verwaltungen. Durch das Paket steigt der Verwaltungsaufwand für die Kantone, lang-
fristig dürfte die Effizienz der kantonalen Verwaltungen durch die bessere Informati-
onslage und die Optimierung von Prozessen beim Datenaustausch (sei es mit dem
Bund oder mit Behörden der EU-Mitgliedsstaaten) aber steigen. Der Bund versucht
durch die oben beschriebenen Gegenmassnahmen (bspw. Übernahme von Teilkosten,
Optimierung von Verfahren oder das zur Verfügung stellen von Informationsplattfor-
men) dem Mehraufwand in einigen dieser Bereiche möglichst effektiv entgegenzu-
wirken.
3.2.2
Auswirkungen auf urbane Zentren
Auswirkungen des Paketes, die speziell städtische Zentren betreffen, beschränken sich
grösstenteils auf die Bereiche Landverkehr und Programme. Städtische Zentren dürf-
ten sektoriell vom Paket profitieren, beispielsweise durch das neu ergänzende Ange-
bot im internationalen Schienenpersonenverkehr oder durch die indirekte Standortför-
derung von Universitätsstädten via Teilnahme an den EU-Programmen (wie Horizon
Europe). Im Rahmen vom Horizon-Paket könnten neben den Kantonen auch städti-
sche Gemeinden direkt an Forschungs- und Innovationsprojekten teilnehmen und ent-
sprechende Mittel akquirieren. Dies dürfte insbesondere Hochschulstandorten zugute-
kommen.
3.2.3
Auswirkungen auf Agglomerationen
Die Frage, ob die Vorlage darüber hinaus zusätzliche spezifische Auswirkungen auch
auf die Agglomerationen in der Schweiz hat, wurde geprüft. Sie kann verneint werden.
870 / 931
3.2.4
Auswirkungen auf Bergebiete
Wie eingangs dieses Kapitels erwähnt, weisen die Berggebiete im gesamtschweizeri-
schen Vergleich am meisten strukturelle Besonderheiten auf, insbesondere in den
wirtschaftlichen, geografischen und demografischen Bereichen.
Beim Stromabkommen gibt es für die Berggebiete aufgrund ihrer Energieinfrastruk-
tur, insbesondere aufgrund des Fokus auf Wasserkraft ein besonderes Interesse an der
Vergabe der Wasserkraftkonzessionen und am Wasserzins. Im Stromabkommen ist,
wie im Verhandlungsmandat des Bundesrates vorgesehen, festgehalten, dass das Ab-
kommen keine Vorgaben betreffend Vergabe von Konzessionen oder zum Wasserzins
macht. Die Schweiz kann über die Bedingungen der Nutzung der Wasserkraft selber
entscheiden. Das Stromabkommen enthält keine Vorgaben zum Wasserzins oder zur
Vergabe von Konzessionen für Wasserkraftwerke. Das EU-Recht kennt keine Vorga-
ben zu Besitzverhältnissen. Die Kantone können die Konzessionen weiterhin gemäss
dem geltenden Schweizer Wasserrechtsgesetz vergeben (s. Ziff. 2.11.9.2).
3.3
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
Für die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft wie der Schweiz, die über keine be-
deutenden natürlichen Ressourcen und einen nur begrenzten Binnenmarkt verfügt, ist
der Zugang zu ausländischen Märkten unabdingbar. Die Integration der Schweizer
Volkswirtschaft in globale Wertschöpfungsketten ermöglicht die Aufteilung von Pro-
duktionsprozessen und damit die Spezialisierung der Schweizer Unternehmen auf
jene Bereiche, wo sie eine hohe Wertschöpfung schaffen und damit attraktive Arbeits-
plätze anbieten können.
Der internationale Handel mit Waren und Dienstleistungen hat für die Schweiz über
die letzten Jahrzehnte weiter an Bedeutung gewonnen. Der Anteil der Exporte und
Importe von Waren und Dienstleistungen am Schweizer Bruttoinlandprodukt (BIP)
hat seit 1995 von 34 % auf über 56 % im Jahr 2023 zugenommen.
826
Im Vergleich zu
ähnlich grossen Volkswirtschaften weist die Schweiz eine relativ hohe Diversifikation
ihrer Handelspartner auf. Die EU ist jedoch mit einem Anteil von rund 59 % am Wa-
renhandel die mit Abstand wichtigste Handelspartnerin der Schweiz. Das Warenhan-
delsvolumen der Schweiz mit der EU ist rund fünfmal so gross wie dasjenige mit dem
zweitwichtigsten Handelspartner, den USA, und neunmal grösser als dasjenige mit
dem drittwichtigsten Handelspartner, China.
827
Umgekehrt ist die Schweiz für die EU
nach den USA, China und dem Vereinigten Königreich die viertwichtigste Handels-
partnerin.
Für die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Unternehmen und die Funktionsfähig-
keit der Volkswirtschaft ist auch der Zugang zu ausländischen Arbeitskräften in jenen
826
BFS: Aussenhandelsverflechtung. Abrufbar unter: www.bfs.admin.ch > Statistiken >
Querschnittsthemen > Monitoring der Legislaturplanung > Aussenhandelsverflechtung
(Stand: 10.02.2025).
827
Abrufbar unter www.eda.admin.ch/europa > Publikationen > Schweiz-EU in Zahlen (ba-
sierend auf Total 1, ohne Gold, 2023).
871 / 931
Bereichen, wo auf dem hiesigen Arbeitsmarkt nicht genügend Beschäftigte verfügbar
sind, von hoher Bedeutung. Täglich arbeiten rund 400 000 Grenzgängerinnen und
Grenzgänger aus den Nachbarstaaten in der Schweiz. Insgesamt 27 % der Erwerbstä-
tigen in der Schweiz besitzen die Staatsangehörigkeit eines EU- oder EWR-
Mitgliedstaats.
828
Eine enge Verflechtung zur EU besteht auch über den Kapitalmarkt.
Investoren aus den EU-Mitgliedstaaten halten mit 65 % den grössten Anteil am Be-
stand ausländischer Direktinvestitionen in der Schweiz.
829
Umgekehrt liegen rund
46 % des Bestands an Schweizer Direktinvestitionen im Ausland in den EU-
Mitgliedstaaten.
830
Vor dem Hintergrund dieser engen wirtschaftlichen Verknüpfung hat die Teilnahme
am EU-Binnenmarkt in der Schweizer Wirtschafts- und Aussenwirtschaftspolitik eine
zentrale Bedeutung. In einer zunehmend fragmentierten Welt mit geopolitischen
Spannungen und aufgrund der sich abzeichnenden Schwächung des regelbasierten
Handelssystems ist der EU-Binnenmarkt ein Stabilitätsanker. Diese Stabilität ist mit
der Tatsache verbunden, dass dessen Grundfreiheiten in den EU-Verträgen verankert
sind und nur durch Einstimmigkeit verändert werden können. Die Schweiz als offene
Volkswirtschaft hat daher ein hohes Interesse ihren Marktzugang zum wichtigsten
Handelspartner vertraglich abzusichern und auszubauen. Damit schafft sie Planungs-
sicherheit für die Wirtschaft. Auch für die Erhöhung der Versorgungssicherheit der
Schweizer Wirtschaft - beispielsweise mit mineralischen Rohstoffen und mit Halb-
fabrikaten und Komponenten, die solche enthalten
831
- sind geregelte Beziehungen
zur EU zentral.
Das Paket Schweiz–EU stabilisiert diese Beteiligung am Binnenmarkt und entwickelt
sie weiter (s. Ziff. 1.1 und 1.6). Es umfasst dazu einerseits den Stabilisierungsteil,
welcher die Binnenmarktbeteiligung gemäss den Bilateralen I sowie die Teilnahme
an den EU-Programmen langfristig sichert. Anderseits umfasst das Paket Schweiz–
EU den Weiterentwicklungsteil mit den zusätzlichen Abkommen im Bereich Strom,
Lebensmittelsicherheit und Gesundheit.
Die volkswirtschaftlichen Auswirkungen des Pakets Schweiz–EU lassen sich damit
in drei Bereiche gliedern:
828
BFS: Erwerbstätige (Inlandkonzept) nach Geschlecht, Nationalität und Aufenthaltsstatus.
Durchschnittliche Quartals- und Jahreswerte. Abrufbar unter: www.bfs.admin.ch > Statis-
tiken > Arbeit und Erwerb > Erwerbstätigkeit und Arbeitszeit > Erwerbsbevölkerung, Er-
werbsbeteiligung > Ausländische Arbeitskräfte (Stand: 21.02.2025).
829
SNB: Ausländische Direktinvestitionen in der Schweiz – Stufe Investor, Länder und Län-
dergruppen, Kapitalbestand nach unmittelbarem Investor. Abrufbar unter:
https://data.snb.ch/de > Themen > Aussenwirtschaft > Direktinvestitionen (Stand:
10.02.2025).
830
SNB: Schweizerische Direktinvestitionen im Ausland – Länder und Ländergruppen. Ab-
rufbar unter: https://data.snb.ch/de > Themen > Aussenwirtschaft > Direktinvestitionen
(Stand: 10.02.2025).
831
Siehe Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulates 20.3950 Schneider-Schneiter
vom 8. September 2020, Versorgung der Schweizer Industrie mit mineralischen Rohstof-
fen für die Energiewende. Abrufbar unter: www.parlament.ch > 20.3950 > Bericht in Er-
füllung des parlamentarischen Vorstosses.
872 / 931
1.
die ökonomische Bedeutung der langfristigen Sicherung der sektoriellen
Binnenmarktteilnahme dank des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–
EU (s. Ziff. 3.3.1);
2.
die direkten Auswirkungen der einzelnen Elemente des Stabilisierungsteils
des Pakets Schweiz–EU (s. Ziff. 3.3.2);
3.
die Auswirkung der drei neuen Abkommen (s. Ziff. 3.3.3).
Nicht Gegenstand dieses Kapitels sind die Auswirkungen des Pakets Schweiz–EU
und dessen Elemente auf die Finanzen von Bund, Kantonen und Gemeinden. Diese
werden in den Ziffern 3.1 und 3.2 im Detail behandelt.
3.3.1
Ökonomische Bedeutung der langfristigen Sicherung der
sektoriellen Binnenmarktteilnahme
Der Stabilisierungsteil des Pakets Schweiz–EU sichert die sektorielle Teilnahme am
Binnenmarkt der EU. Diese erfolgt im Wesentlichen über die Binnenmarktabkommen
der Bilateralen I. Diese Abkommen erleichtern den gegenseitigen Marktzugang für
Waren und Dienstleistungen dank einer gegenseitigen Öffnung zuvor weitgehend ge-
schlossener Märkte (insb. Freizügigkeitsabkommen (FZA), Luft- und Landverkehr)
und dank des Abbaus technischer und tarifärer Handelshemmnisse (bei Industriepro-
dukten mit dem MRA, bei landwirtschaftlichen Gütern und Lebensmitteln tierischer
Herkunft mit dem Landwirtschaftsabkommen).
Eine verbesserte Teilnahme am EU-Binnenmarkt stärkt die Wettbewerbsfähigkeit der
Schweizer Unternehmen und hat positive Auswirkungen auf die Beschäftigung und
das Einkommen der Schweizer Bevölkerung. Der Abbau technischer und tarifärer
Handelshemmnisse führt zu tieferen Preisen und einer grösseren Produktvielfalt für
die Konsumentinnen und Konsumenten. Die Bilateralen I ermöglichen dank vertrag-
lich abgesicherter Zusammenarbeit der Marktüberwachungsbehörden den Abbau von
Handelshemmnissen, welche mit unilateralen Massnahmen unter Beibehaltung des
hohen Produktesicherheitsniveau der Schweiz nicht möglich wäre. Sie schaffen in
verschiedenen Bereichen binnenmarktähnliche Verhältnisse, welche über die Mög-
lichkeiten eines Freihandelsabkommens hinausgehen. Die damit gewährleistete Bin-
nenmarktbeteiligung und die Zusammenarbeit der Vollzugsbehörden tragen zur Ver-
sorgungssicherheit und Resilienz der Schweizer Wirtschaft bei.
Mit dem FZA hat die hiesige Wirtschaft die Sicherheit, bei Bedarf, ohne administrativ
aufwändige Verfahren Arbeitskräfte aus der EU rekrutieren zu können. Schliesslich
stärkt die Teilnahme an den EU-Programmen für Bildung, Forschung und Innovation
die Attraktivität des Schweizer Bildungs- und Forschungsplatzes sowie insgesamt die
Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz.
Bisherige Studien zum Wert der Bilateralen I
873 / 931
Die wirtschaftliche Bedeutung der Bilateralen I für die Schweiz ist Gegenstand ver-
schiedener Studien, die insgesamt eine klar positive Bilanz ziehen.
832
Sie zeigen, dass
die Bilateralen I zur positiven wirtschaftlichen Entwicklung der Schweiz nach der
Jahrtausendwende beigetragen haben.
833
Im Fokus einer Vielzahl der Studien stehen
die Auswirkungen des FZA. Sie zeigen, dass die Zuwanderung im Rahmen der Per-
sonenfreizügigkeit der letzten zwei Jahrzehnte von der Entwicklung der Arbeitskräf-
tenachfrage der Unternehmen in der Schweiz bestimmt war.
834
Die Zuwanderung er-
folgte einerseits in Berufen mit sehr hohen Qualifikationsanforderungen, was die
Spezialisierung auf eine wissensintensive Wertschöpfungserbringung begünstigte.
Daneben konnten Schweizer Unternehmen bei Bedarf auch für Tätigkeiten etwa in
Gastgewerbe, Bau und Industrie Arbeitskräfte aus dem EU-Raum rekrutieren, da sich
diese Stellen im Inland unter anderem aufgrund der Höherqualifizierung der inländi-
schen Bevölkerung nicht mehr vollständig besetzen liessen. Die zugewanderten Ar-
beitskräfte aus dem EU/EFTA-Raum bildeten eine Ergänzung zu den einheimischen
Arbeitskräften, weshalb unerwünschte Effekte der Zuwanderung auf Arbeitslosigkeit
und Beschäftigung der Einheimischen gering blieben. Die mit dem FZA einhergehen-
den Rekrutierungsmöglichkeiten im EU-Raum spielten – ergänzend zum nur noch
schwach wachsenden und bereits gut genutzten inländischen Arbeitskräftepotenzial –
eine wichtige Rolle zur Deckung der starken Arbeitskräftenachfrage und ermöglichten
ein Beschäftigungswachstum, welches angesichts der demografischen Alterung in der
Schweiz das Potenzial an inländischen Arbeitskräften deutlich überstieg. Das ist ein
entscheidender Standortfaktor – entsprechend hoch bewerten die Unternehmen die
Relevanz des FZA.
835
Die mit der Personenfreizügigkeit einhergehende Zuwanderung
hat auch Auswirkungen auf weitere Bereiche. Sie verstärkt die Nachfrage nach Wohn-
raum und Infrastrukturleistungen und sorgt für zusätzliche Steuereinnahmen. Die
Auswirkungen der Zuwanderung auf sämtliche relevante Politikbereiche wird der
Bundesrat eingehend im Rahmen des überwiesenen Postulats Gössi vom 28. Septem-
ber 2023
836
analysieren.
832
Eine Übersicht zu allen Studien zu den Bilateralen I ist abrufbar unter: www.seco.ad-
min.ch > Aussenwirtschaft & Wirtschaftliche Zusammenarbeit > Wirtschaftsbeziehungen
> Europäische Union (EU) > Wirtschaftliche Bedeutung der Bilateralen I.
833
Siehe bspw. KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (2015): Der bilaterale Weg
- eine ökonomische Bestandsaufnahme. KOF Studien Nr. 58. Abrufbar unter: www.rese-
arch-collection.ethz.ch/bitstream/handle/20.500.11850/112229/eth-49559-01.pdf.
834
Berichte zu den Auswirkungen der Personenfreizügigkeit auf den Arbeitsmarkt und die
Sozialversicherungen sind abrufbar unter: www.seco.admin.ch > Arbeit > Personenfreizü-
gigkeit und Arbeitsbeziehungen > Das Observatorium zum Freizügigkeitsabkommen
Schweiz – EU. Im 19. Bericht des Observatoriums wurde ein Rückblick auf 20 Jahre Per-
sonenfreizügigkeit gemacht.
835
BAK Economics (2013): Bedeutung der Personenfreizügigkeit aus Branchensicht - Ergeb-
nisse einer Unternehmensbefragung. BAK Economics im Auftrag der Wirtschafts- und
Brachenverbände Swissmem, HotellerieSuisse, TVS Textilverband Schweiz, ASA/SVV
Schweizerischer Versicherungsverband, scienceindustries, AGV Banken, economiesuisse,
Schweizer Obstverband und Privatkliniken Schweiz. Abrufbar unter: www.bak-econo-
mics.com > Studien & Analysen > Bedeutung der Personenfreizügigkeit aus Branchen-
sicht (Stand: 10.02.2025), sowie Industrie- und Handelskammer St. Gallen – Appenzell
(2024): Migration und ihre Bedeutung für Ostschweizer Unternehmen. Ergebnisse zur Un-
ternehmensumfrage. Abrufbar unter: www.ihk.ch > Wirtschaftspolitik > Publikationen >
Nr. 41: Arbeitsmigration.
836
2023 P 23.4171 Aktualisierter Bericht zur Personenfreizügigkeit und Zuwanderung in die
Schweiz (N 22.12.2023, Gössi Petra).
874 / 931
Neue Studien
Eine umfassende gesamtwirtschaftliche Abschätzung des volkswirtschaftlichen Werts
der Bilateralen I nahmen die Studien von Ecoplan und BAK Economics vor, welche
2015 die Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen I schätzten.
837
Im Jahr 2020 wurde die Studie von BAK Economics im Auftrag der Industrie- und
Handelskammer St. Gallen-Appenzell und der Industrie- und Handelskammer Thur-
gau aktualisiert.
838
Im Auftrag des SECO hat Ecoplan 2025 ihre Studie von 2015 ak-
tualisiert. Damit wurden gegenüber der ersten Ecoplan-Studie (2015) auch der Brexit,
die veränderten Handelsströme, neue Verkehrsdaten und neue Bevölkerungsszenarien
berücksichtigt sowie die Modellsimulation auf den Zeitraum 2028 bis 2045 angepasst.
Simuliert wird der Wegfall der bisherigen Abkommen der Bilateralen I vor Aktuali-
sierung durch das Paket Schweiz–EU. Die aktualisierten Modellberechnungen von
Ecoplan (2025a)
839
zu den bisherigen Bilateralen I bestätigen den hohen Wert der Bi-
lateralen I und der Assoziierung an die EU-Programme für Forschung und Innovation
für die Schweizer Volkswirtschaft. Gemäss den Modellberechnungen würde im Falle
eines Wegfalls der Bilateralen I und einer Rückstufung der Teilnahme der Schweiz an
den EU-Programmen für Forschung und Innovation auf den Status eines nicht-asso-
ziierten Drittstaats das BIP im Jahr 2045 um -4,90 % geringer ausfallen als mit funk-
tionierenden Abkommen und einer Assoziierung. Das FZA ist dabei das wichtigste
Abkommen. In einer isolierten Betrachtung entspricht der Wegfall des FZA rund drei
Viertel der Summe der Einzeleffekte. Der Wegfall der übrigen Abkommen der Bila-
teralen I entspricht rund einem Viertel.
Diese Studien reihen sich in die bestehende Literatur zu den Bilateralen I ein und un-
terstreichen, dass ein Wegfall der Bilateralen I bedeutende Veränderungen der wirt-
schaftlichen Rahmenbedingungen und negative Auswirkungen auf die Schweizer
Wirtschaft zur Folge hätte. Der Effekt auf das BIP pro Kopf eines Wegfalls der Bila-
teralen I schätzt die Modellsimulation auf -1,65 %. Das verlangsamte BIP-Wachstum
würde einen Einkommensverlust von rund 2500 Franken pro Kopf implizieren. Ku-
muliert über den Zeitraum 2028 bis 2045 würden die BIP-Einbussen 520 Milliarden
Franken erreichen.
Ohne Stabilisierung der Beziehungen Schweiz–EU, das heisst ohne die entsprechen-
den Elemente des neuen Pakets Schweiz–EU, ist zu erwarten, dass ganze Abkommen
oder Teile davon blockiert wären. In diesen Bereichen könnte die Schweiz aufgrund
einer mangelnden Aktualisierung nicht mehr am Binnenmarkt teilnehmen. In wel-
chem Umfang dies der Fall wäre, lässt sich heute nicht präzise voraussagen. Die in
der Studie von Ecoplan (2025a) geschätzten Auswirkungen beziehen sich auf das
837
Zwei Studien hatte das SECO im Auftrag des Bundesrates 2015 durch BAK Economics
und Ecoplan erstellen lassen. Die Studien sowie ein Synthesebericht sind abrufbar unter:
www.seco.admin.ch > Aussenwirtschaft & Wirtschaftliche Zusammenarbeit > Wirt-
schaftsbeziehungen > Europäische Union (EU) > Wirtschaftliche Bedeutung der Bilatera-
len I > Volkswirtschaftliche Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen I.
838
BAK Economics (2020): Volkswirtschaftliche Auswirkungen einer Kündigung der Bilate-
ralen I auf die Ostschweiz. Abrufbar unter: www.bak-economics.com > Studien & Analy-
sen > Volkswirtschaftliche Auswirkungen einer Kündigung der Bilateralen I auf die Ost-
schweiz.
839
Abrufbar unter: www.seco.admin.ch > Wirtschaftslage & Wirtschaftspolitik > Wirtschafts-
politik > Grundlagen für die Wirtschaftspolitik.
875 / 931
langfristige Szenario eines vollumfänglichen Wegfalls der Abkommen der Bilatera-
len I. Ein solches Szenario entspricht tendenziell einem Negativszenario in Bezug auf
die Auswirkungen eines Nicht-Abschlusses des Pakets Schweiz–EU. Es sind aber
auch andere Szenarien denkbar – etwa, dass die Zusammenarbeit in gewissen Berei-
chen weitergeführt würde oder – im Gegenteil – eine Blockade auch Abkommen aus-
serhalb der Bilateralen I betreffen würde, wie beispielsweise die Schengen/Dublin-
Assoziierung. Im ersten Fall dürften die negativen Auswirkungen eines Nicht-Ab-
schlusses gegenüber dem von der Studie gewählten Szenario deutlich geringer ausfal-
len, insbesondere wenn das FZA weitergeführt würde. Im letzteren Fall wären die
negativen Auswirkungen deutlich grösser. Der Bericht in Erfüllung des Postulats
15.3896 «Wirtschaftliche Vorteile dank Schengen-Partnerschaft»
840
kommt zum
Schluss, dass der Wegfall der Schengen/Dublin-Assoziierung bis 2030 zu einem jähr-
lichen Einkommensverlust von 4,7 bis 10,7 Milliarden Franken für die Schweizer
Volkswirtschaft führen würde. Das BIP würde um 1,6 bis 3,7 % geschmälert. Auch
für die öffentlichen Ausgaben im Asylbereich hätte dies Auswirkungen, da die
Schweiz deutlich mehr Personen an andere Dublin-Staaten überstellt, als sie selbst
von diesen übernimmt. Alleine die entsprechenden Einsparungen im Asylbereich ha-
ben sich zwischen 2012 und 2016 auf rund 220 Millionen Franken pro Jahr belaufen.
Weiter kommt der Bericht zum Schluss, dass jährlich rund 400 bis 500 Millionen
Franken nötig wären, damit die Schweiz ohne Schengen-Zusammenarbeit ein adäqua-
tes Niveau an innerer Sicherheit erreichen könnte.
Eine spezifische Abschätzung der faktischen Auswirkungen einer Blockade von Ab-
kommen der Bilateralen I ist nur in jenen Bereichen möglich, in denen es bereits zu
einer Blockade gekommen ist. Dies betrifft insbesondere das MRA im Bereich der
Medizinprodukte, dessen Aktualisierung seit 2021 blockiert ist, und den Bereich der
Forschungszusammenarbeit, wo die Schweiz zwischen 2021 und 2024 auf den Status
eines nicht-assoziierten Drittstaats zurückgestuft wurde. Infras
841
respektive BSS
Volkswirtschaftliche Beratung
842
haben diesbezüglich Untersuchungen durchgeführt
(s. Ziff. 2.4.8.3 und 2.8.9.3), welche die Modellsimulationen von Ecoplan ergänzen.
Das MRA im Medizinproduktebereich deckt Exporte von rund 6,1 Milliarden Fran-
ken und Importe von rund 3,4 Milliarden Franken ab und ist volkswirtschaftlich von
840
Siehe Bericht des Bundesrates «Die volkswirtschaftlichen und finanziellen Auswirkungen
der Schengen-Assoziierung der Schweiz» in Erfüllung des Postulats 15.3896 «Wirtschaft-
liche Vorteile dank Schengen-Partnerschaft». Abrufbar unter: www.parlament.ch > Su-
che > 15.3896.
841
Infras (2025): Vertiefungsstudie MRA - Fallbeispiel Medizinprodukte. Studie im Auftrag
des SECO. Zürich. Abrufbar unter: www.seco.admin.ch > Aussenwirtschaft & Wirtschaft-
liche Zusammenarbeit > Wirtschaftsbeziehungen > Technische Handelshemmnisse >
Staatsvertragliche Vereinbarungen (Mutual Recognition Agreements - MRA) > MRA
Schweiz – EU.
842
BSS Volkswirtschaftliche Beratung (2025): Einzelförderung der EU-Rahmenprogramme
für Forschung und Innovation: Auswirkungen der Schweizer Teilnahme. Studie im Auf-
trag des SBFI. Basel. Abrufbar unter: www.sbfi.amin.ch > Forschung und Innovation >
Internationale Forschungs- und Innovationszusammenarbeit > EU-Rahmenprogramme >
Zahlen und Fakten zur Schweizer Beteiligung> Einzelförderung der EU-
Rahmenprogramme für Forschung und Innovation: Auswirkungen der Schweizer Beteili-
gung.
876 / 931
Bedeutung. Insgesamt umfasst das MRA 20 Produktsektoren mit einem Exportvolu-
men in die EU von über 96 Milliarden Franken (ca. 72 % der Industriegüterexporte in
die EU) sowie einem Importvolumen aus der EU von über 94 Milliarden Franken (ca.
64 % der Industriegüterimporte aus der EU). Die Studie von Infras (2025) zeigt, dass
die Nicht-Aktualisierung des MRA im Bereich der Medizinprodukte zu Mehrkosten
für Schweizer Hersteller führte, auch wenn diese ihre Produkte bereits zuvor meist in
der EU hatten zertifizieren lassen. Die Mehrkosten variieren jedoch stark. Für grosse
Unternehmen, welche bereits Tochterunternehmen in der EU hatten und diese bei-
spielsweise als Bevollmächtigte bezeichnen konnten, waren die wiederkehrenden
Mehrkosten gemessen am Umsatz sehr gering (0,03–0,06 %). Bei kleineren und mit-
telgrossen Unternehmen, welche teilweise auf externe Dienstleister für die Ernennung
eines Bevollmächtigten angewiesen sind, waren die Mehrkosten deutlich höher (0,9–
1,3 % bei kleinen Unternehmen; 0,3–0,8 % bei mittleren Unternehmen). Zusätzlich
zu den wiederkehrenden Kosten fielen auch relevante einmalige Kosten für die Um-
stellung auf die Situation ohne MRA an. Diese betrugen im Durchschnitt 0,3 bis 0,7 %
des Umsatzes der Unternehmen und waren ebenfalls bei KMU deutlich höher. Diese
Kosten stellen einen wichtigen Faktor bei Standortentscheiden dar. Ein Drittel der be-
fragten Herstellerinnen und Hersteller berichtete im Zusammenhang mit der Nicht-
Aktualisierung, Produktionsverlagerungen geprüft zu haben. Einige Unternehmen ha-
ben Verlagerungen vollzogen.
Ähnlich hohe Mehrkosten entstanden auch auf der Importseite (wiederkehrende Kos-
ten von 0,3–0,4 % des Importwerts), was tendenziell das Produktangebot in der
Schweiz verteuert und die Produktvielfalt gesenkt hat. Darüber hinaus war die Ver-
waltungseffizienz beeinträchtigt, da Swissmedic eigenständig eine Datenbank für Me-
dizinprodukte
843
aufbauen und die Marktüberwachung ohne EU-Zusammenarbeit
ausbauen musste. Dies ging mit deutlich höherem Personalaufwand bei Swissmedic
einher.
Die Studie von BSS Volkswirtschaftliche Beratung untersuchte die Auswirkungen des
Wegfalls der Einzelprojektförderung aufgrund der Teilnahme der Schweiz als nicht-
assoziierter Drittstaat an den EU-Rahmenprogrammen für Forschung und Innovation,
wie dem mit 95,5 Milliarden Euro dotierten Programm Horizon Europe. Sie bestätigt
Ergebnisse früherer Umfragen bei Schweizer Programmteilnehmenden
844
, wonach
die nationalen Ausschreibungen die EU-Programme in ihrer Wirkung nicht ersetzen
konnten. Die Teilnahme an den EU-Einzelförderprojekten ist aufgrund des hohen
Wettbewerbs mit einem hohen Renommee für die Schweizer Forschenden, wie auch
für Forschungseinrichtungen, KMU und Start-ups verbunden. Ohne Teilnahme ist es
für den Schweizer Forschungsplatz schwieriger, Spitzenforschende zu rekrutieren und
zu halten. Neben dem Ausschluss aus der Einzelprojektförderung konnten Forschende
in der Schweiz auch an Verbundprojekten nur mit Einschränkungen und mittels der
im Rahmen der Übergangsmassnahmen genehmigten Direktfinanzierung durch den
843
Abrufbar unter: www.swissmedic.ch > Medizinprodukte > Swissdamed.
844
Abrufbar unter: www.sbfi.amin.ch > Forschung und Innovation > Internationale For-
schungs- und Innovationszusammenarbeit > EU-Rahmenprogramme > Zahlen und Fakten
zur Schweizer Beteiligung> Einzelförderung der EU-Rahmenprogramme für Forschung
und Innovation: Auswirkungen der Schweizer Beteiligung.
877 / 931
Bund teilnehmen (s. Ziff. 2.8.2.3.1). Forschenden von Schweizer Institutionen war es
nicht mehr erlaubt, Verbundprojekte zu koordinieren. Insgesamt würde der For-
schungsplatz Schweiz an Attraktivität verlieren, wenn die Schweiz nicht vollassoziiert
an den Programmen der EU teilnehmen kann. Das Staatssekretariat für Bildung, For-
schung und Innovation (SBFI) wird im Jahr 2026 eine ausführliche Wirksamkeitsstu-
die über die Beteiligung der Schweiz an den EU-Programmen für Forschung und In-
novation veröffentlichen.
Sowohl die Studie von Ecoplan (2025a) als auch die Studien von Infras und BSS
Volkwirtschaftliche Beratung untersuchten nicht den potenziellen Nutzen einer Wei-
terentwicklung der Teilnahme am EU-Binnenmarkt, die mit dem Paket Schweiz–EU
möglich wird (s. Ziff. 3.3.2). Eine solche Weiterentwicklung über die Elemente des
Pakets Schweiz–EU hinaus wird über die Zeit notwendig, da sich sowohl das Pro-
duktmarktrecht in der EU als auch in der Schweiz ständig weiterentwickelt, um tech-
nologischen Entwicklungen aber auch geänderten Regulierungsansprüchen Rechnung
zu tragen.
3.3.2
Auswirkungen der einzelnen Elemente des
Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU
Der Stabilisierungsteil des Pakets Schweiz–EU umfasst die institutionellen Elemente,
die staatlichen Beihilfen, den Schweizer Beitrag sowie die Aktualisierung und punk-
tuelle Ergänzung der bestehenden fünf Binnenmarktabkommen der Bilateralen I
(FZA, MRA, Landverkehr, Luftverkehr, Landwirtschaft) und die Teilnahme an den
EU-Programmen (Horizon-Paket, Erasmus+) und Agenturen (Weltraum). Der Wert
einer langfristigen Absicherung der bestehenden fünf Binnenmarktabkommen und der
Assoziierung an den EU-Programmen für Forschung und Innovation ist in Ziffer 3.3.1
thematisiert und in der darin vorgestellten Studie von Ecoplan (2025a) erfasst. Nach-
folgend werden die unmittelbaren volkswirtschaftlichen Auswirkungen der angepass-
ten bestehenden Binnenmarktabkommen erläutert.
Die
institutionellen Elemente
stellen sicher, dass im gemeinsamen Binnenmarkt mit
der EU für alle Marktteilnehmenden die gleichen Spielregeln gelten. Sie sind Voraus-
setzung für die langfristige Weiterführung des bilateralen Wegs (s. Ziff. 3.3.1), erhö-
hen die Rechtssicherheit und sichern die Teilnahme am EU-Binnenmarkt in den ge-
nannten Bereichen auch für die Zukunft. So darf etwa die EU bei künftigen
Differenzen die Aktualisierung der Binnenmarktabkommen nicht mehr verweigern –
die Schweiz könnte in einem solchen Fall ihre Interessen dank dem Streitbeilegungs-
mechanismus geltend machen – und keine unverhältnismässigen Ausgleichsmassnah-
men ergreifen. Eine erhöhte Rechtssicherheit in den Beziehungen zum wichtigsten
Handelspartner ist für die Schweiz gerade in Zeiten hoher geopolitischer Unsicherheit
und weltweiter protektionistischer Tendenzen ein wichtiger Standortvorteil. Mit der
Möglichkeit, bei den relevanten Rechtsetzungs- und Rechtsprechungsprozessen der
EU mitzureden (
Decision Shaping
und Stellungnahme bei Vorabentscheidungsver-
fahren der EU-Mitgliedstaaten vor dem EuGH), kann zudem auf diese Prozesse neu
zum Vorteil der Schweizer Volkswirtschaft Einfluss genommen werden.
Die
Einführung der Beihilfeüberwachung
im Anwendungsbereich der drei Abkom-
men (Landverkehr, Luftverkehr und Strom) wird den Wettbewerb und damit die Rah-
menbedingungen für den Standort Schweiz stärken. Auch wenn Beihilfen selten als
878 / 931
unzulässig beurteilt werden (s. Ziff. 2.2.10), kann die Überwachung eine wettbe-
werbsfreundlichere Ausgestaltung der geplanten Beihilfen bewirken und sich so po-
sitiv auf die Volkswirtschaft auswirken.
Der
Schweizer Beitrag
trägt zur wirtschaftlichen Entwicklung der Partnerstaaten bei,
indem unter anderem die institutionellen Rahmenbedingungen und die Rechtssicher-
heit gefördert werden. Eine dadurch verbesserte wirtschaftliche Entwicklung in diesen
Ländern kommt auch der Schweizer Wirtschaft in Form von neu geschaffenen Ab-
satzmärkten und Investitionsmöglichkeiten zugute. Zudem können Schweizer Unter-
nehmen sowohl über direkte und indirekte Auftragsvergabe im Rahmen des Schwei-
zer Beitrags als auch über die öffentlichen Ausschreibungen in der EU, die aus den
EU-Struktur- und Kohäsionsprogrammen finanziert werden, profitieren. Dies bestä-
tigt auch eine externe Evaluation des ersten, bereits abgeschlossenen Erweiterungs-
beitrags.
845
Die vertiefte Prüfung einer Stichprobe von 29 Projekten zeigt, dass die
Projekte einen Mehrwert schaffen und positiv zur längerfristigen wirtschaftlichen und
sozialen Entwicklung der betroffenen Branchen und Regionen beitragen. Ausserdem
bestätigte die Evaluation die positiven Auswirkungen auf die bilateralen Beziehungen
der Schweiz zu den Partnerstaaten sowie gestärkte Partnerschaften zwischen Organi-
sationen der beiden Länder und erhöhte wirtschaftliche Opportunitäten für Schweizer
Firmen.
Die
Aktualisierung des FZA
garantiert, dass die Zuwanderung weiterhin arbeits-
marktorientiert erfolgt und das schweizerische Lohnschutzniveau auf Grundlage der
flankierenden Massnahmen abgesichert ist. Ein dreistufiges Schutzkonzept bestehend
aus Ausnahmen, Absicherungen und einer konkretisierten Schutzklausel gewährleis-
tet eine massgeschneiderte Übernahme des relevanten EU-
Acquis
, insbesondere der
Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG. Diese Teilübernahme führt zu gewissen
Mehrkosten beim Staat (s. Ziff. 2.3.9.1.1), hat aber keine direkten Auswirkungen auf
die Unternehmen in der Schweiz. Die inländischen Begleitmassnahmen beim Lohn-
schutz sind gezielt auf die Bereiche ausgerichtet, in denen Handlungsbedarf besteht,
um das Lohnschutzniveau aufrechtzuerhalten. Anvisiert werden in erster Linie Ent-
sendebetriebe aus dem EU-Raum. Soweit sich die Massnahmen auch an Schweizer
Unternehmen richten, bauen sie auf dem Bestehenden auf und schaffen keine neuen
Belastungen für Schweizer Firmen. Der flexible Arbeitsmarkt wird nicht einge-
schränkt. (s. Ziff. 2.3.1). Die mit dem Verhandlungsresultat vorgesehene Gleichbe-
handlung bei den Studiengebühren von Studierenden aus der EU mit solchen aus der
Schweiz dürfte keine namhaften Auswirkungen auf die Volkswirtschaft haben, nicht
zuletzt da weiterhin eine mengenmässige Beschränkung, beispielsweise über Leis-
tungstests, möglich ist. Die Konkretisierung der Schutzklausel bietet der Schweiz die
Möglichkeit, die Personenfreizügigkeit beziehungsweise einzelne Bestimmungen da-
raus vorübergehend einzuschränken, sofern sich aus deren Anwendung schwerwie-
gende wirtschaftliche oder soziale Schwierigkeiten ergeben. Durch die Konkretisie-
rung des Vorgehens und der neuen Streitbeilegungsmechanismen sind die möglichen
Ausgleichsmassnahmen enger definiert und die Risiken bei einer Berufung auf die
Schutzklausel besser abschätzbar. Insgesamt ist gegenüber der heutigen Regelung mit
845
Abrufbar unter: www.eda.admin.ch > EDA > Publikationen > Evaluationsbericht zum Er-
weiterungsbeitrag 2015: Das Wichtigste in Kürze.
879 / 931
keinen bedeutenden Veränderungen zu rechnen. Die Schweizer Wirtschaft kann wei-
terhin bei Bedarf Arbeitskräfte aus der EU rekrutieren, was für den Wirtschaftsstand-
ort und die Planungssicherheit der Unternehmen von grosser Bedeutung ist.
Die Verankerung der institutionellen Elemente im
MRA
ermöglicht eine regelmäs-
sige Aktualisierung des Abkommens und, wo im Interesse der Schweiz und der EU,
eine Ausdehnung des Abkommens auf neue Bereiche, womit technische Handels-
hemmnisse abgebaut werden können. Derzeit von einer Blockade der Aktualisierung
betroffen ist der Medizinproduktebereich, was den Handel mit Medizinprodukten er-
schwert (s. Ziff. 3.3.2). Eine Aktualisierung des MRA steht künftig zudem unter an-
derem im Bereich der Maschinen und der Bauprodukte an.
Die
Aktualisierung des Landverkehrsabkommens
umfasst eine Öffnung des inter-
nationalen Schienenpersonenverkehrs, wobei die hohe Qualität des Schweizer öV-
Systems sowie auch die Schweizer Lohn- und Arbeitsbedingungen nicht negativ be-
einträchtigt werden. Diese Öffnung erlaubt neuen Anbietern, unter bestimmten Vo-
raussetzungen zusätzliche internationale Verbindungen zu schaffen und damit das An-
gebot zugunsten der Kunden allgemein zu verbessern. Der neu geschaffene
Wettbewerb kann zudem die Preise senken, wovon Kunden weiter profitieren.
Die
Aktualisierung des Luftverkehrsabkommens
umfasst die Realisierung der Ka-
botage (8. und 9. Freiheit) sowie die Beteiligung an der Forschungspartnerschaft
SESAR 3. Durch den Austausch der Kabotagerechte erhalten Schweizer Fluggesell-
schaften das Recht, Inlandflüge innerhalb der EU-Staaten anzubieten, was deren
Wettbewerbsfähigkeit stärkt und eine effiziente Auslastung ermöglicht. EU-
Fluggesellschaften haben zukünftig die Möglichkeit, im Gegenzug Inlandflüge in der
Schweiz anzubieten.
Die Teilnahme an SESAR 3 ermöglicht es zudem der Luftfahrt-
industrie, insbesondere Flugsicherungsanbietern, Flughäfen und Fluggesellschaften,
über hierfür vorgesehene Fördermittel in die Entwicklung von innovativen Technolo-
gien und Verfahren zu investieren.
Im Agrarteil des
Landwirtschaftsabkommens
erfolgen keine volkswirtschaftlich re-
levanten Änderungen. Die volkswirtschaftlichen Auswirkungen des Zusatzprotokolls
zur Lebensmittelsicherheit finden sich unter Ziffer 3.3.3.
Das
Programmabkommen
bietet einen Rechtsrahmen für die Assoziierung der
Schweiz an die Programme der EU, namentlich auch in den Bereichen Bildung, For-
schung und Innovation. Es sichert die Assoziierung am Horizon-Paket 2021–2027,
Erasmus+ und EU4Health und legt die Grundlage für die Teilnahme an deren Nach-
folgeprogrammen sowie an anderen Programmen und Agenturen der EU, beispiels-
weise in den Bereichen Kultur oder Raumfahrt. Wie in Ziffer 3.3.1 ausgeführt, wird
mit der Assoziierung ans Horizon-Paket 2021–2027 die internationale Wettbewerbs-
fähigkeit in Forschung und Innovation gestärkt sowie die Standortattraktivität für for-
schungsstarke Unternehmen erhöht und gefestigt. Für die Attraktivität der Hochschu-
len im Wettbewerb um die besten Forschenden und Studierenden ist die internationale
Vernetzung und der Zugang zur Einzelförderung zentral. Die Assoziierung an Eras-
mus+ stärkt die Mobilität von Personen in der Ausbildung sowie die Zusammenarbeit
der Bildungsinstitutionen und -akteure. Dies trägt zu einer hohen Bildungsqualität bei
und verbessert damit das Arbeitskräfteangebot. Schliesslich erleichtert die Teilnahme
880 / 931
an der EUSPA den Schweizer Unternehmen, die in der Raumfahrt tätig sind, die Be-
teiligung an Ausschreibungen und Konsortien bezüglich den Programmkomponenten
Galileo und EGNOS des EU-Weltraumprogramms. Insgesamt trägt die Assoziierung
an die EU-Programme zur internationalen Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der
Schweiz bei.
3.3.3
Auswirkungen der drei neuen Abkommen
Mit den drei neuen Abkommen weitet die Schweiz die Binnenmarktteilnahme auf ei-
nen neuen Bereich aus, erweitert die Teilnahme in einem Weiteren und strebt im Ge-
sundheitsbereich eine engere Zusammenarbeit mit der EU an.
Mit dem
Stromabkommen
zwischen der Schweiz und der EU werden der Zugang
der Schweiz zum europäischen Strommarkt abgesichert, Risiken wie ungeplante
Stromflüsse reduziert und die Versorgungssicherheit gestärkt. Dies wirkt sich positiv
auf die Standortattraktivität und Planungssicherheit für die Unternehmen aus. Zudem
wird der Strommarkt für alle Kunden geöffnet, was die Wettbewerbsdynamik stärkt,
den Stromlieferanten Effizienzanreize gibt und zu tieferen Endverbraucherpreisen
beitragen kann. Gewisse Mehrkosten entstehen für einige Stromunternehmen auf-
grund der stärkeren Entflechtung. Diese Entflechtung ist jedoch notwendig, um den
Wettbewerb im Strommarkt zugunsten der Volkswirtschaft insgesamt zu stärken.
Dank des Stromabkommens können die Grenztransportkapazitäten für Strom völker-
rechtlich abgesichert werden. Ecoplan (2025b)
846
schätzt, dass dadurch im Zeitraum
2030 bis 2050 im Vergleich zu einem Szenario mit stark eingeschränkten Grenzkapa-
zitäten (Szenario KEINE KOOPERATION) zusätzliche Handelsgewinne von jährlich
rund 0,5 bis 1,2 Milliarden Franken zu erwarten sind und bis 2050 Stromsystemkosten
in der Grössenordnung von jährlich bis zu 1 Milliarde Franken eingespart werden
können. Die Strompreise fielen dadurch im Jahr 2050 rund 14 % tiefer aus, das BIP
knapp 0,5 % höher. Diese geschätzten Auswirkungen sind jedoch mit hoher Unsicher-
heit verbunden, da das Referenzszenario bei einem Nichtzustandekommen des Strom-
abkommens unklar ist.
Darüber hinaus erhalten die Konsumenten und Konsumentinnen neu die Möglichkeit,
sich zwischen dem Angebot der Grundversorgung und dem freien Markt zu entschei-
den. Dies stärkt den Wettbewerb im Schweizer Strommarkt und wirkt sich positiv auf
die Angebotsvielfalt aus. Es begünstigt zudem tiefere Preise und fördert die Innova-
tion.
Mit einem
Protokoll zum Landwirtschaftsabkommen im Bereich der Lebensmit-
telsicherheit
werden nichttarifäre Handelshemmnisse für den Handel mit Lebensmit-
teln, Pflanzenschutzmitteln, Pflanzen, Saatgut, Futtermitteln sowie Tieren und tieri-
schen Produkten weiter reduziert und der Verbraucherschutz zugleich gestärkt. Dies
wird möglich dank der Errichtung eines gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums
mit harmonisierten Rechtsvorschriften, welcher auch den Zugang zur Europäischen
Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) und zu europäischen Warn- und Koope-
846
Abrufbar unter: www.bfe.admin.ch > Versorgung > Stromversorgung > Stromabkommen
Schweiz – EU.
881 / 931
rationssystemen vorsieht und die Schweiz in das Zulassungssystem für Pflanzen-
schutzmittel der EU einbindet. Vereinzelt kommt es dadurch zu zusätzlichen Anfor-
derungen. Dies betrifft beispielsweise verstärkte Kontrollen im Bereich Pflanzenge-
sundheit oder eine Pflicht zur Durchführung von Tierarztbesuchen in Abhängigkeit
des Risikos einer Tierseuche. Diese Massnahmen mindern umgekehrt die Risiken von
Tierseuchen oder der Verbreitung von Pflanzenschädlingen und -krankheiten sowie
die damit zusammenhängenden volkswirtschaftlichen Kosten.
Mit dem
Gesundheitsabkommen
strebt die Schweiz eine engere Zusammenarbeit im
Gesundheitsbereich an. Dadurch erhält sie Zugang zu epidemiologischen Informatio-
nen, Fachwissen und Netzwerken, was eine frühzeitige Erkennung und wirksame Re-
aktion bei grenzüberschreitenden Gesundheitsbedrohungen ermöglicht. Dies bedingt
unter anderem eine Ausweitung des nationalen Überwachungssystems für übertrag-
bare Krankheiten auf weitere Krankheitserreger, wie dies in der EU vorgesehen ist.
Dies dürfte insbesondere in der Einführungsphase zu einem gewissen Mehraufwand
für bestimmte Gesundheitsdienstleister wie Labore oder Kliniken führen. Durch Sy-
nergien mit den laufenden Digitalisierungsarbeiten dürfte der Mehraufwand jedoch
begrenzt ausfallen (s. Ziff. 2.13.8.3). Diesem Mehraufwand sind die Kosten von Ge-
sundheitskrisen gegenüberzustellen. Wie die Covid-19-Pandemie gezeigt hat, können
diese mit hohen volkswirtschaftlichen Kosten einhergehen. Mit einer engeren grenz-
überschreitenden Koordination und Zusammenarbeit in Europa kann die Krisenbe-
wältigung sowie Prävention gestärkt, die Bevölkerung besser geschützt und damit die
volkswirtschaftlichen Kosten im Falle von Gesundheitskrisen gesenkt werden.
3.3.4
Fazit
Das Paket Schweiz–EU sichert die sektorielle Teilnahme am EU-Binnenmarkt in den
bisherigen Bereichen der Bilateralen I und dehnt diese Teilnahme auf den Strom- und
den gesamten Lebensmittelbereich aus. Mit den institutionellen Elementen erhöht die
Schweiz die Rechtssicherheit und sichert die Teilnahme am EU-Binnenmarkt in den
genannten Bereichen auch für die Zukunft. Zudem wird eine Zusammenarbeit im Ge-
sundheitsbereich etabliert. Mit den in den Verhandlungen erreichten Ausnahmen und
den inländischen Begleitmassnahmen bleibt die Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt
ausgerichtet und der Lohnschutz sowie der
Service public
der Schweiz sind abgesi-
chert. Schweizer Unternehmen haben damit eine hohe Rechtssicherheit, dass Waren,
Dienstleistungen und Kapital auch in Zukunft mit dem wichtigsten Handelspartner
der Schweiz möglichst ungehindert zirkulieren können und bei Bedarf Arbeitskräfte
aus der EU rekrutiert werden können. In Zeiten geopolitischer Spannungen und einer
fragmentierten Weltordnung ist dies ein entscheidender Standortfaktor für eine offene
Volkswirtschaft wie die Schweiz.
3.4
Auswirkungen auf die Gesellschaft
Mit Blick auf die Gesellschaft ist das Paket insofern von Bedeutung, als es die man-
nigfaltigen Errungenschaften des bilateralen Wegs seit 1999 abzusichern hilft. Dazu
gehören beispielsweise die Möglichkeiten für eine freiere und einfachere Mobilität in
Europa, die sich den Schweizerinnen und Schweizern mit dem FZA eröffneten. Beim
882 / 931
FZA lassen sich ferner auch die positiven Effekte auf die Altersvorsorge durch die
Zuwanderung vor allem jüngerer Personen in die Schweiz anführen (s. Ziff. 2.3.9.4).
Einige Elemente des Pakets dienen dem Schutz der Menschen in der Schweiz, etwa
vor Risiken aufgrund mangelnder Produktsicherheit (mit dem MRA und mit dem Le-
bensmittelsicherheitsabkommen) oder vor Gesundheitsgefahren (mit dem Gesund-
heitsabkommen).
3.5
Auswirkungen auf die Umwelt
Das Paket dürfte lediglich punktuelle Auswirkungen auf die Umwelt entfalten. Ge-
mäss den Darstellungen zu den einzelnen Abkommen unter Ziffer 2 fallen die Aus-
wirkungen auf die Umwelt, wo absehbar, jeweils positiv aus. Zu nennen sind bei-
spielsweise die Weiterführung der Verlagerungspolitik im Landverkehr, das grosse
Gewicht der Klimaforschung im Rahmen von Horizon Europe oder die Förderung von
Projekten durch den Schweizer Beitrag, die den Schutz der Umwelt zum Ziel haben.
883 / 931
4
Rechtliche Aspekte des Pakets Schweiz–EU
4.1
Genehmigungsbeschlüsse
Der Bundesrat beantragt den Räten die Genehmigung von vier referendumsfähigen
Bundesbeschlüssen: ein Genehmigungsbeschluss zur Stabilisierung der bilateralen
Beziehungen, drei Genehmigungsbeschlüsse zur Weiterentwicklung der bilateralen
Beziehungen, die jeweils dem fakultativen Referendum unterstehen. Ausserdem un-
terbreitet er einen Genehmigungsbeschluss über die parlamentarische Zusammenar-
beit und vier Finanzierungsbeschlüssen. Dabei handelt es sich um einfache Bundes-
beschlüsse, die nicht dem Referendum unterstehen. Dieses Vorgehen entspricht dem
verfassungsmässigen Grundsatz der Einheit der Materie.
Der Genehmigungsbeschluss zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen umfasst
das Änderungsprotokoll zum Freizügigkeitsabkommen, das Institutionelle Protokoll
zum Freizügigkeitsabkommen, das Änderungsprotokoll zum MRA, das Institutionelle
Protokoll zum MRA, das Änderungsprotokoll zum Landverkehrsabkommen, das In-
stitutionelle Protokoll zum Landverkehrsabkommen, das Beihilfeprotokoll zum Land-
verkehrsabkommen, das Änderungsprotokoll zum Luftverkehrsabkommen, das Insti-
tutionelle Protokoll zum Luftverkehrsabkommen, das Beihilfeprotokoll zum
Luftverkehrsabkommen, das Änderungsprotokoll zum Landwirtschaftsabkommen,
das EU-Programmabkommen, das Weltraumabkommen und das Beitragsabkommen.
Das Inkrafttreten dieser völkerrechtlichen Verträge ist über eine entsprechende in al-
len Verträgen gleichlautende Klausel miteinander verbunden. Sie werden deshalb in
einem Genehmigungsbeschluss zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen vorge-
legt.
Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit, das Stromabkommen und das Gesundheits-
abkommen werden in drei separaten Genehmigungsbeschlüssen zur Weiterentwick-
lung der bilateralen Beziehungen vorgelegt. Das Inkrafttreten dieser völkerrechtlichen
Verträge ist über eine Klausel im jeweiligen Vertrag mit dem Inkrafttreten der völker-
rechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen verknüpft. Hin-
gegen ist das Inkrafttreten der drei völkerrechtlichen Verträge zur Weiterentwicklung
der bilateralen Beziehungen rechtlich nicht untereinander verbunden. Auch das In-
krafttreten der völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Beziehun-
gen ist nicht rechtlich mit dem Inkrafttreten der Verträge zur Weiterentwicklung der
bilateralen Beziehungen verknüpft.
Das Protokoll über die parlamentarische Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und
der EU wird in einem separaten einfachen Bundesbeschluss zur Genehmigung unter-
breitet.
884 / 931
4.2
Genehmigungsbeschluss zur Stabilisierung der bilateralen
Beziehungen
4.2.1
Referendum
4.2.1.1
Fakultatives Staatsvertragsreferendum
Einem fakultativen Referendum des Volkes unterstehen nach Artikel 141 Absatz 1
Buchstabe d Ziffer 3 BV völkerrechtliche Verträge, die wichtige rechtsetzende Best-
immungen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert.
Fast alle völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen
entsprechen diesem Kriterium (s. jeweils die Ziffer zu den rechtlichen Aspekten eines
Paketelements).
847
Der Genehmigungsbeschluss zur Stabilisierung der bilateralen Be-
ziehungen erfüllt demnach die Voraussetzungen des fakultativen Staatsvertragsrefe-
rendums.
4.2.1.2
Obligatorisches Staatsvertragsreferendum
Einem obligatorischen Referendum von Volk und Ständen untersteht nach 140 Absatz
1 Buchstabe b BV der Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu
supranationalen Gemeinschaften. Die völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung
der bilateralen Beziehungen sehen nicht einen Beitritt zu einer Organisation für kol-
lektive Sicherheit vor. Zu prüfen bleibt, ob sie das Kriterium eines Beitritts zu einer
supranationalen Gemeinschaft erfüllen.
Nach der Praxis des Bundesrates
848
setzt der Beitritt zu einer supranationalen Gemein-
schaft voraus, dass sich die Schweiz Organen unterstellt, die:
–
unabhängig, das heisst nicht an Instruktionen der Vertragsparteien gebun-
den sind;
–
ihre Befugnisse durch Mehrheitsbeschluss ausüben;
–
direkt anwendbare Entscheide treffen, die auch für Einzelpersonen unmit-
telbar verbindlich sind;
–
relativ umfassende materielle Befugnisse haben.
Die völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen erfül-
len diese Kriterien nicht. Erstens schaffen sie im Bereich der Rechtsetzung keine Me-
chanismen, die einem unabhängigen Organ die Befugnis erteilen, verbindliche
Rechtsanpassungen zu beschliessen. Die Schweiz entscheidet weiterhin autonom und
nach ihren bestehenden Rechtsetzungsverfahren über das für sie geltende Recht (s.
847
Eine Ausnahme bildet insbesondere das Änderungsprotokoll zum MRA, das der Bundesrat
gestützt auf Art. 14 des Gesetzes über die technischen Handelshemmnisse (SR
946.51
) ab-
schliessen könnte. Wegen der Konnexität zum Stabilisierungsteil soll auch dieses Ände-
rungsprotokoll in den Bundesbeschluss aufgenommen werden.
848
Botschaft vom 18. Mai 1992 zur Genehmigung des Abkommens über den Europäischen
Wirtschaftsraum, BBl 1992 IV 1, 539; Botschaft vom 23. Oktober 1974 über die Neuord-
nung des Staatsvertragsreferendums, BBl 1974 III 1133, 1156 f.
885 / 931
Ziff. 2.1.7). Zweitens schaffen die Verträge im Bereich der Rechtsanwendung keine
von den Vertragsparteien unabhängigen Organe. Bei Streitigkeiten suchen die Ver-
tragsparteien zunächst im Rahmen von Gesprächen im Gemischten Ausschuss des je-
weiligen Abkommens nach einer Einigung. Wird keine Einigkeit erzielt, kann jede
Vertragspartei, wie auch im Wirtschaftsvölkerrecht üblich, ein paritätisch zusammen-
gesetztes Schiedsgericht anrufen. Das Schiedsgericht zieht, wenn seiner Ansicht nach
die Auslegung von EU-Recht für die Beurteilung des Streitfalls relevant und notwen-
dig ist, den EuGH zur Auslegung bei. Der Streit selbst wird jedoch nicht vom EuGH,
sondern immer nur vom Schiedsgericht beurteilt (s. Ziff. 2.1.5.4). Drittens ist die Zu-
sammenarbeit mit der EU weiterhin materiell auf einzelne Sektoren beschränkt. Die
institutionellen Elemente sind im Rahmen der völkerrechtlichen Verträge zur Stabili-
sierung der bilateralen Beziehungen schliesslich nur für die bestehenden Binnen-
marktabkommen (ohne Landwirtschaftsabkommen) vorgesehen (s. Ziff. 2.1.1).
Der Bundesrat prüfte die Kriterien der Supranationalität auch bei der Vorlage der
Schengen/Dublin-Assoziierungsabkommen und des EWR-Abkommens. Er verneinte
die Supranationalität in beiden Fällen.
849
Der Bundesrat vertrat jedoch die Auffas-
sung, dass das EWR-Abkommen in den Bereichen der Rechtsetzung und der Rechts-
anwendung supranationale Elemente aufweist. Zudem hätte das EWR-Abkommen zur
integralen Geltung des EU-Binnenmarktrechts geführt, einschliesslich der Regelun-
gen in Bereichen wie Umwelt, Konsumentenschutz, Gesellschafts- und Steuerrecht.
Dennoch kam der Bundesrat zum Ergebnis, dass das EWR-Abkommen keinen Beitritt
zu einer supranationalen Gemeinschaft bewirkt hätte.
Die völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Verträge weisen an-
ders als das EWR-Abkommen keine supranationalen Elemente und einen materiell
weniger umfassenden Anwendungsbereich auf. Sie bewirken deshalb keinen Beitritt
zu einer supranationalen Gemeinschaft und unterstehen nicht dem obligatorischen
Staatsvertragsreferendum nach Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe b BV.
4.2.1.3
In der Verfassung nicht vorgesehenes obligatorisches
Staatsvertragsreferendum (sui generis)
Die Bundesversammlung unterstellte unter der alten BV drei völkerrechtliche Ver-
träge einem obligatorischen Referendum, obwohl die zum jeweiligen Zeitpunkt gel-
tende Verfassung das nicht vorsah: den Beitritt zum Völkerbund (1920), das Freihan-
delsabkommen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1972) und den Beitritt
zum EWR (1992). Der Bundesrat bekräftigt die Auffassung, dass dieses Vorgehen in
Ausnahmefällen zur Anwendung kommen kann, wenn der völkerrechtliche Vertrag
einen schwerwiegenden Eingriff in die innere Struktur der Schweiz mit sich bringt,
849
Botschaft vom 18. Mai 1992 zur Genehmigung des Abkommens über den Europäischen
Wirtschaftsraum, BBl 1992 IV 1, 539 ff.; Botschaft vom 1. Oktober 2004 zur Genehmi-
gung der bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union, ein-
schliesslich der Erlasse zur Umsetzung der Abkommen («Bilaterale II»), BBl 2004 5965
ff., 6288 ff.
886 / 931
namentlich die verfassungsmässige Ordnung tangiert, oder eine grundlegende Neu-
orientierung der schweizerischen Aussenpolitik bewirkt.
850
Der Bundesrat und die Bundesversammlung haben bisher nie die institutionellen Ele-
mente der bestehenden bilateralen Abkommen als schwerwiegenden Eingriff in die
innere Struktur der Schweiz und ihre verfassungsmässige Ordnung beurteilt. Mit dem
Luftverkehrsabkommen der Bilateralen I (1999) unterstellte sich die Schweiz der Zu-
ständigkeit der EU-Kommission sowie des EuGH für die Durchsetzung der wettbe-
werbsrechtlichen Bestimmungen. In eng begrenzten Bereichen erfolgte somit eine
Übertragung von gewissen Kompetenzen an die EU-Organe. Das Abkommen erlaubt
den Vertragsparteien zudem, bei Vertragsverletzungen Schutzmassnahmen zu ergrei-
fen. Eine Unterstellung der Bilateralen I unter ein obligatorisches Referendum auf-
grund dieser institutionellen Elemente beim Luftverkehrsabkommen stand jedoch we-
der im Bundesrat noch in den Räten zur Debatte
851
, obwohl die Übertragung von
gewissen Kompetenzen an die EU-Organe – wenn auch in einem eng begrenzten
Sachbereich – weitergingen als der nun vorgesehene Streitbelegungsmechanismus in
den Binnenmarktabkommen. Die Schengen/Dublin-Assoziierungsabkommen der Bi-
lateralen II (2004) beinhalten die Pflicht der Schweiz, im Anwendungsbereich der
Abkommen dynamisch EU-Recht in die Abkommen zu übernehmen. Kommt es zwi-
schen der Schweiz und der EU zu einem Streit über die Rechtsübernahme und gelingt
es den Vertragsparteien nicht, diesen innert sechs Monaten beizulegen, führt dies au-
tomatisch zur Beendigung der Abkommen. Der EuGH spielt bei der Auslegung des
Schengen-/Dublin-Besitzstandes eine wichtige Rolle. Trotzdem kam der Bundesrat
auch hier zum Schluss, dass die Assoziierung an Schengen und an Dublin «zu keiner
tiefgreifenden Änderung unseres Staatswesens führt», «nicht die verfassungsmässige
Ordnung tangiert» und nicht «die Souveränität unseres Landes [einschränkt]».
852
Diese Auffassung wurde in den Ratsdebatten bestätigt.
853
850
Botschaft vom 23. Oktober 1974 über die Neuordnung des Staatsvertragsreferendums, BBl
1974 III 1133, 1138; Votum Koller (Departementsvorsteher EJPD), AB N 1998 54 f. (To-
talrevision der BV); Botschaft vom 1. Oktober 2004 zur Genehmigung der bilateralen Ab-
kommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union, einschliesslich der Erlasse
zur Umsetzung der Abkommen («Bilaterale II»), BBl 2004 5969 ff., 6288 f.; Botschaft
vom 1. Oktober 2010 zur Volksinitiative «Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussen-
politik (Staatsverträge vors Volk!)», BBl 2010 6963 ff., 6970, 6985; Botschaft vom 15. Ja-
nuar 2020 zum obligatorischen Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfas-
sungscharakter (Änderung von Art. 140 der Bundesverfassung), BBl 2020 1243 ff., 1247.
851
Botschaft zur Genehmigung der sektoriellen Abkommen zwischen der Schweiz und der
EG vom 23. Juni 1999, BBl 1999 6128, 6438. Die einzige Forderung nach einem obligato-
rischen Referendum in den Räten war so begründet, dass die Bilateralen I einem «histori-
schen Schritt» entsprächen und das Landverkehrsabkommen dem Alpenschutzartikel wi-
derspreche. Der Antrag wurde abgelehnt mit 146 zu 26 Stimmen (AB N 1999 1487 ff.).
852
Botschaft vom 1. Oktober 2004 zur Genehmigung der bilateralen Abkommen zwischen
der Schweiz und der Europäischen Union, einschliesslich der Erlasse zur Umsetzung der
Abkommen («Bilaterale II»), BBl 2004 5969 ff., 6290
853
Anträge auf Unterstellung unter ein obligatorisches Referendum wurden abgelehnt, im
Ständerat mit mit 6 zu 31 Stimmen (AB S 2004 728 f.) und im Nationalrat mit 57 zu 120
Stimmen (AB N 2004 1969 ff.). Vgl. Votum Blocher (Departementsvorsteher EJPD), AB
S 2004 729: «Die Frage war, zu prüfen, ob diese Rechtsfolge der faktischen Kündigung
des Vertrages eine Einschränkung des freien Wählerwillens ist. [...] Das ist die Frage der
Souveränität: Ist sie beeinträchtigt oder nicht? [...] [Der Bundesrat] findet nicht, dass das
ein so schwerwiegender Eingriff in die Souveränität sei.»
887 / 931
Die völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen wahren
das Funktionieren der Schweizer Institutionen sowie die aus der direkten Demokratie,
dem Föderalismus und der Unabhängigkeit des Landes fliessenden Prinzipien. Na-
mentlich wird die Schweiz weiterhin eigenständig, gemäss ihren bestehenden Recht-
setzungsverfahren und unter Wahrung der direktdemokratischen Rechte über alle
Rechtsanpassungen entscheiden können. Ein Streitfall infolge der Nicht-Übernahme
eines relevanten EU-Rechtsaktes in ein Binnenmarktabkommen kann gegebenenfalls
zu verhältnismässigen Ausgleichsmassnahmen der EU im betroffenen Abkommen
oder einem anderen Binnenmarktabkommen (ohne Landwirtschaftsabkommen) füh-
ren. Die Konsequenzen einer Nicht-Übernahme sind damit weniger einschneidend als
unter den Schengen/Dublin-Assoziierungsabkommen, welche vorbehältlich einer Ei-
nigung der Parteien bei einer Nicht-Übernahme automatisch dahinfallen. Die völker-
rechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen wahren auch die
verfassungsmässigen Rechte sowie die Zuständigkeiten der Kantone, des Parlaments,
des Bundesgerichts und der übrigen Schweizer Gerichte sowie des Bundesrates. Ihre
Umsetzung erfordert keine Anpassung der BV. Wie die Bilateralen I und II bewirken
demnach auch die völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Bezie-
hungen keinen schwerwiegenden Eingriff in die innere Struktur der Schweiz und tan-
gieren auch nicht die verfassungsmässige Ordnung.
Durch die völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen
will der Bundesrat, den mit den Bilateralen I und II eingeschlagenen Weg weiterfüh-
ren. Die Stabilisierung der bilateralen Beziehungen bewirkt demnach keine grundle-
gende Neuorientierung der schweizerischen Aussenpolitik.
Die völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen wahren
nach dem Gesagten die verfassungsmässige Ordnung und bewirken weder einen
schwerwiegenden Eingriff in die innere Struktur der Schweiz noch eine grundlegende
Neuorientierung der schweizerischen Aussenpolitik.
Die Notwendigkeit eines obligatorischen Referendums lässt sich schliesslich auch
nicht damit begründen, dass die völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung gemäss
der bundesgerichtlichen Rechtsprechung der Verfassung vorgehen und damit faktisch
eine Verfassungsänderung bewirken würden. Bereits die Bundesverfassung sieht vor,
dass im Falle eines Normenkonflikts zwischen einem Staatsvertrag und der Verfas-
sung, wenn dieser durch eine koordinierende Auslegung nicht gelöst werden kann,
Staatsverträge unabhängig vom gewählten Referendum anzuwenden sind, also einen
Anwendungsvorrang geniessen. Nach der Praxis der Bundesbehörden gilt dieser An-
wendungsvorrang jedenfalls im Falle eines Konflikts zwischen einer älteren Verfas-
sungsbestimmung und einem jüngeren Staatsvertrag. Aus diesem Anwendungsvor-
rang, den Artikel 190 BV Staatsverträgen und Bundesgesetzen gleichermassen
zubilligt, kann weder abgeleitet werden, dass Staatsverträge und Bundesgesetze in der
Normenhierarchie über der Verfassung oder auf dem gleichen Rang wie diese stehen,
noch dass sie dem obligatorischen Referendum zu unterstellen sind.
4.2.1.4
Obligatorisches Referendum über eine Verfassungsrevision
Die völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen unter-
stehen nach der geltenden Verfassung dem fakultativen Staatsvertragsreferendum (s.
888 / 931
Ziff. 4.2.1.1-4.2.1.3). Der einzige Weg, sie in Abweichung der Artikel 140 und 141
BV einem obligatorischen Referendum zu unterstellen, wäre demnach eine Anpas-
sung der BV. Die Revisionsschranken nach Artikel 194 Absatz 2 BV würden es nicht
ausschliessen, die BV um eine Übergangsbestimmung zu ergänzen, welche vorsieht,
dass die völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen
genehmigt werden und der Bundesrat ermächtigt ist, sie zu ratifizieren. Die Über-
gangsbestimmung unterstünde einem obligatorischen Referendum nach Artikel 140
Absatz 1 Buchstabe a BV.
Für die Genehmigung eines völkerrechtlichen Vertrags auf dem Weg der förmlichen
Verfassungsrevision gibt es bisher ein Beispiel. Seit 2002 ist der Beitritt der Schweiz
zur UNO, und damit einhergehend die Genehmigung der UNO-Charta
854
, in Artikel
197 Ziffer 1 BV vorgesehen. Allerdings ist der UNO-Beitritt nicht mit den völker-
rechtlichen Verträgen zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen vergleichbar.
Erstens geht die Bestimmung auf eine Volksinitiative zurück. Da die BV nur die
Volksinitiative auf Änderung der BV kennt, stand den Initianten bloss dieser Weg
offen. Das gilt für den Bundesrat und die Bundesversammlung nicht. Zweitens betraf
die Volksinitiative den Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrags, der nach Artikel
140 Absatz 1 Buchstaben b BV ohnehin dem obligatorischen Referendum unterstan-
den hätte, da die UNO eine Organisation für kollektive Sicherheit darstellt. Die Tat-
sache, dass der UNO-Beitritt auf dem Weg einer Verfassungsrevision genehmigt
wurde, hatte mit anderen Worten keine Auswirkungen auf die Zuständigkeitsordnung.
4.2.1.5
Vorschlag des Bundesrates
Die völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen erfül-
len nicht die Voraussetzungen eines obligatorischen Staatsvertragsreferendums nach
Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe b BV. Sie erfüllen auch nicht die Voraussetzungen,
unter denen nach der Praxis unter der alten BV ein völkerrechtlicher Vertrag, der nicht
unter das obligatorische Staatsvertragsreferendum fiel, einem obligatorischen Refe-
rendum (sui generis) unterstellt werden konnte. Sie unterstehen demnach nach der
geltenden BV dem fakultativen Staatsvertragsreferendum.
Mit der Wahl des fakultativen Referendums wahrt der Bundesrat die Kohärenz mit
seiner bisherigen Praxis und die Kontinuität der Schweizer Europapolitik. Die grund-
sätzliche Frage eines obligatorischen Staatsvertragsreferendums sui generis bleibt
durch den Entscheid des Bundesrates unberührt.
Die Genehmigung der völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen
Beziehungen auf dem Weg der Verfassungsrevision bringt nach der Auffassung des
Bundesrates staatspolitische Risiken mit sich. Erstens würde es bedeuten, dass im Ein-
zelfall ohne Zustimmung des Verfassungsgebers vom verfassungsmässigen Verfah-
ren für die Genehmigung völkerrechtlicher Verträge abgewichen würde. Zuständig
wären Volk und Stände anstatt dem Volk. Mit dem notwendigen Mehr würde ein
zentraler Aspekt des direkt-demokratischen Verfahrens durch den Bundesrat und die
854
SR
0.120
889 / 931
Bundesversammlung anstatt durch die Verfassung bestimmt. Zweitens besteht für die-
ses Vorgehen kein vergleichbarer Präzedenzfall. Der UNO-Beitritt hätte wie darge-
stellt ohnehin einem obligatorischen Referendum unterstanden (s. Ziff. 4.2.1.4). Die
Genehmigung auf dem Weg der Verfassungsrevision veränderte die Zuständigkeits-
ordnung demnach nicht. Unter der alten BV unterstellte die Bundesversammlung drei
völkerrechtliche Verträge entgegen der jeweils geltenden Verfassung einem obligato-
rischen Referendum (s. Ziff. 4.2.1.3). Auch diese Beispiele sind nicht mit dem vorlie-
genden Vertragspaket vergleichbar: Der Beitritt zum Völkerbund und das Freihan-
delsabkommen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hätten nach der
damaligen Rechtslage andernfalls überhaupt keinem Referendum unterstanden. Der
Beitritt zum EWR wies supranationale Elemente auf (s. Ziff. 4.2.1.2) und erforderte
eine Verfassungsänderung, die ohnehin dem obligatorischen Referendum unterstan-
den hätte. Drittens besteht das Risiko, dass durch die Genehmigung auf dem Weg der
Verfassungsrevision ein Präzedenzfall für zukünftige völkerrechtliche Verträge ent-
stehen würde.
Der Bundesrat schlägt aus diesen Gründen vor, die völkerrechtlichen Verträge zur
Stabilisierung der bilateralen Beziehungen entsprechend den Vorgaben der geltenden
BV einem fakultativen Referendum zu unterstellen.
4.2.2
Umsetzungsgesetzgebung
Die Bundesgesetze und Gesetzesänderungen, die der Umsetzung der völkerrechtli-
chen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen dienen, werden in den
Genehmigungsbeschluss zu den völkerrechtlichen Verträgen aufgenommen, wie dies
Artikel 141
a
Absatz 2 BV vorsieht. Dieses Vorgehen entspricht dem verfassungsmäs-
sigen Grundsatz der Einheit der Materie und berücksichtigt die Praxis von Bundesrat
und Bundesversammlung betreffend die Genehmigung und Umsetzung völkerrechtli-
cher Verträge.
4.3
Genehmigungsbeschlüsse zur Weiterentwicklung der
bilateralen Beziehungen
4.3.1
Referendum
Die drei Genehmigungsbeschlüsse zur Weiterentwicklung der bilateralen Beziehun-
gen unterstehen jeweils einem fakultativen Referendum des Volkes nach Artikel 141
Absatz 1 Buchstabe d BV. Nach dieser Bestimmung werden völkerrechtliche Verträge
dem fakultativen Referendum unterstellt, die wichtige rechtsetzende Bestimmungen
enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Das Pro-
tokoll zur Lebensmittelsicherheit, das Stromabkommen und das Gesundheitsabkom-
men entsprechen diesem Kriterium (s. Ziff. 2.11.10.4, 2.12.13.4, 2.13.9.4).
4.3.2
Umsetzungsgesetzgebung
Die Bundesgesetze und Gesetzesänderungen, die der Umsetzung der völkerrechtli-
chen Verträge zur Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen dienen, werden in
den Genehmigungsbeschluss zum jeweiligen Vertrag aufgenommen, wie dies Artikel
141
a
Absatz 2 BV vorsieht. Dieses Vorgehen entspricht dem verfassungsmässigen
Grundsatz der Einheit der Materie und berücksichtigt die Praxis von Bundesrat und
890 / 931
Bundesversammlung betreffend die Genehmigung und Umsetzung völkerrechtlicher
Verträge.
4.4
Genehmigungsbeschluss über die parlamentarische
Zusammenarbeit
Der Genehmigungsbeschluss zum Protokoll über die parlamentarische Zusammenar-
beit zwischen der Schweiz und der EU untersteht keinem Referendum. Das Protokoll
erfüllt keine der Voraussetzungen nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d BV.
891 / 931
5
Würdigung des Pakets Schweiz–EU
Aufgrund des Umfangs des vorliegenden Geschäfts wird im Folgenden eine Gesamt-
würdigung aus übergeordneter Sicht dargelegt.
5.1
Die Weiterführung des bilateralen Wegs als bewährte
Option
Vor dem Hintergrund der aktuellen geopolitischen Lage, in welcher sich Europa mit
industriepolitischen und protektionistischen Strömungen und sicherheitspolitischen
Herausforderungen konfrontiert sieht, sind stabile und berechenbare Beziehungen zur
EU von strategischer Notwendigkeit. Die Zusammenarbeit mit dem Nachbarn wider-
spiegelt sich in eng verflochtenen Wirtschafts- und Wissenschaftsbeziehungen (s.
Ziff. 3.3). Das Warenhandelsvolumen der Schweiz mit der EU (rund 300 Mrd. CHF /
2023) ist fünfmal grösser als jenes mit den USA (63 Mrd. CHF / 2023) und rund
neunmal grösser als mit der Volksrepublik China (33 Mrd. CHF / 2023).
855
Allein der
Handel mit den Grenzregionen (Baden-Württemberg, Bayern, Auvergne-Rhône-Al-
pes, Grand Est, Bourgogne-Franche-Comté, Lombardei, Piemont, Trentino / Alto A-
dige, Aostatal, Tirol, Vorarlberg) der Schweiz (93 Mrd. CHF / 2023)
856
übertrifft den-
jenigen mit den USA. Die Entwicklung der Märkte ausserhalb der EU stellt dabei
genauso ein Erfordernis dar, wie die Stabilisierung und Weiterentwicklung der sekto-
riellen Teilhabe am europäischen Binnenmarkt eine Notwendigkeit ist. Aus diesen
Gründen stehen die Stabilisierung und Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen
der Schweiz und der EU im Zentrum der bundesrätlichen Aussen- und Wirtschaftspo-
litik (s. Ziff. 3.1.3. und Ziff. 3.3). Angesichts der Weltlage und deren Entwicklung in
absehbarer Zukunft ist es entscheidend, Kontinuität zu bewahren und voraussehbare
und berechenbare rechtliche Grundlagen mit der Nachbarschaft zu haben.
Die Schweiz verfolgt seit mehr als 25 Jahren auf konsequente Weise den bilateralen
Weg mit der EU. In seinen drei jüngsten europapolitischen Berichten von 2006
857
,
2010
858
und 2023
859
bekräftigte der Bundesrat diesen Weg als bestes Instrument für
die Gestaltung der Beziehungen zur EU. Der bilaterale Weg weist von allen Optionen
(Nichtstun, Freihandel, Beitritt zum EWR, Beitritt zur EU) das ausgewogenste Ver-
hältnis von konkretem, namentlich wirtschaftlichem Nutzen und politischem Gestal-
tungsspielraum auf (s. Ziff. 1.2). Die Schweiz kann aufgrund der mit der EU abge-
schlossenen Binnenmarkt- und Kooperationsabkommen gezielt an denjenigen
Bereichen teilhaben, die ihren Kernanliegen dienen. Mit den in der dynamischen
855
www.eda.admin.ch/europa > Publikationen > Schweiz-EU in Zahlen (basierend auf Total
1, ohne Gold, 2023).
856
Daten gemäss Rückmeldungen der Schweizer Botschaften, auf Basis der nachfolgenden
Quellen: Französischer Zoll (www.lekiosque.finance.gouv.fr), Italienisches Statistikamt
(www.coeweb.istat.it), Österreichische Bundesländer (www.wko.at), Deutsche Bundeslän-
der (www.statistik-bw.de und www.export-app.de). Für Umrechnung von EUR in CHF
wurde der durchschnittliche Wechselkurs von 2023 von 0,97 verwendet (Eidgenössische
Steuerverwaltung ESTV).
857
www.eda.admin.ch/europa > Publikationen > Berichte > Links > Europabericht 2006.
858
www.eda.admin.ch/europa > Publikationen > Berichte > Links > Bericht des Bundesrates
über die Evaluation der schweizerischen Europapolitik.
859
www.eda.admin.ch/europa > Publikationen > Berichte > Dokumente > Bericht Lagebeur-
teilung Beziehungen Schweiz-EU.
892 / 931
Rechtsübernahme ausgehandelten Mitwirkungsrechten für Bund, Kantone und Parla-
ment wird sie sich in Zukunft ausserdem bei der Weiterentwicklung des Rechts, das
Teil der Abkommen ist und sein wird, einbringen können. Ein stabiler und vorherseh-
barer Binnenmarkt sowie politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich solide Mit-
gliedstaaten liegen im Interesse der Schweiz. Über die Projekte des Schweizer Bei-
trags (s. Ziff. 2.10) zeigt sich die Schweiz nicht nur solidarisch mit ihren Partnern in
Europa, sondern hält auch die Instrumente in der Hand, um diese Ziele gemeinsam
mit den EU-Mitgliedstaaten zu erreichen. Davon profitieren beide Seiten.
5.2
Erfolgsfaktoren: Paketansatz, breite innenpolitische
Abstützung und Transparenz
Der Bundesrat wählte im Februar 2022 unter dieser Prämisse einen breiten Ansatz,
der bei der Gestaltung der bilateralen Beziehungen zur EU die Kerninteressen der
Schweiz (und ihrer Wirtschaft) am besten berücksichtigt: den Paketansatz. Auf diesen
Vorschlag liess sich die EU in den darauffolgenden exploratorischen Gesprächen (ab
März 2022) und Verhandlungen (ab März 2023) ein. Dieser breite Paketansatz hat
sich als ein ausschlaggebender Faktor für den erfolgreichen Abschluss der Verhand-
lungen erwiesen. Das Paket umfasst einen
Stabilisierungsteil
mit
(i)
der sektoriellen
Verankerung von institutionellen Elementen in den bestehenden Binnenmarktabkom-
men Personenfreizügigkeit, technische Handelshemmnisse (MRA), Land- und Luft-
verkehr unter Berücksichtigung von Ausnahmen, Absicherungen und Prinzipien,
(ii)
der Aufnahme von Bestimmungen über staatliche Beihilfen in die bestehenden Land-
und Luftverkehrsabkommen,
(iii)
weiteren Anpassungen der bestehenden Abkommen
Personenfreizügigkeit, technische Handelshemmnisse (MRA), Land- und Luftverkehr
sowie Landwirtschaft,
(iv)
Kooperationsabkommen in den Bereichen Forschung, Bil-
dung und Weltraum sowie
(v)
der Verstetigung des Schweizer Beitrags. Ein
Weiter-
entwicklungsteil
widerspiegelt die Schweizer Interessen an einem gezielten Ausbau
der bilateralen Beziehungen mit der EU. Er umfasst:
(i)
neue Binnenmarktabkommen
in den Bereichen Strom (inkl. institutionelle Elemente und staatliche Beihilfen) und
Lebensmittelsicherheit (inkl. institutionelle Elemente) sowie
(ii)
ein neues Koopera-
tionsabkommen im Bereich Gesundheit. Die Schweiz und die EU streben zudem nach
einem regelmässigen politischen Austausch in unterschiedlichen Bereichen. Folglich
wurden
(i)
ein hochrangiger Dialog und
(ii)
eine institutionalisierte parlamentarische
Zusammenarbeit beschlossen. In einer gemeinsamen Erklärung wurden Übergangsre-
geln für die Phase ab Ende 2024 bis zum Inkrafttreten des Pakets festgelegt
.
Nach zahlreichen politischen Kontakten, elf exploratorischen und 46 technischen Ge-
sprächen konnten die Sondierungen im Oktober 2023 mit der Vorlage eines gemein-
samen Dokuments (
Common Understanding
) abgeschlossen werden.
860
Die Intensität
und Tiefe insbesondere der technischen Gespräche zeitigten in allen Paketelementen
mögliche Lösungsansätze. Das zuvor breit definierte Interessenfeld konnte hierdurch
enger abgesteckt werden. Dies schuf geeignete Voraussetzungen für die Verhandlun-
gen.
860
www.eda.admin.ch/europa > Publikationen > Berichte > Dokumente > Bericht zu den ex-
ploratorischen Gesprächen zwischen der Schweiz und der EU zur Stabilisierung und Wei-
terentwicklung ihrer Beziehungen, 15.12.2023.
893 / 931
Die Verhandlungen wurden unter der Leitung des Chefunterhändlers Patric Franzen,
stellvertretender Staatssekretär im EDA, zwischen März und Dezember 2024 in 14
verschiedenen Verhandlungsgruppen geführt. Sechs Departemente, mehr als 20 Bun-
desämter und über 70 Expertinnen und Experten waren Teil einer austarierten Struk-
tur, in welcher das Gleichgewicht zwischen sektorspezifischen und allgemeinen Inte-
ressen gemeinsam definiert wurde. Der Paketansatz ermöglichte während des ganzen
Prozesses (mehr als 200 Verhandlungsrunden) die Wahrung eines Gesamtblicks, auch
wenn die Verhandlungen in einzelnen Bereichen – taktisch oder politisch bedingt –
unterschiedlich rasch voranschritten. Flankiert wurden die exploratorischen Gesprä-
che und Verhandlungen mit der EU von Kontakten auf politischer Ebene. Dies ge-
schah einerseits zwischen dem jeweiligen Bundespräsidenten und der Präsidentin der
Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, und anderseits zwischen dem Vor-
steher des EDA, Bundesrat Ignazio Cassis, und dem Vizepräsidenten der Europäi-
schen Kommission, Maroš Šefčovič (s. Ziff. 1.3).
Zur Stärkung der politischen und inhaltlichen Steuerung der Gespräche mit der EU
und den inländischen Akteuren setzte der Bundesrat am 31. August 2022 eine Pro-
jektorganisation unter der Leitung des Vorstehers des EDA ein. Diese Organisation
umfasst eine Steuerungsgruppe, in der alle Departemente und die Bundeskanzlei (BK)
vertreten sind, sowie ein enger gefasstes Gremium (Kerngruppe), dem das EDA, das
EJPD, das WBF und die BK angehören. Eine interdepartementale Arbeitsgruppe unter
der Leitung des Staatssekretärs des EDA, Alexandre Fasel, koordiniert zusätzlich die
inländischen Umsetzungsarbeiten auf operativer Ebene.
Bereits ab Sommer 2021 erfolgte die Einbindung der innenpolitischen Akteure syste-
matisch. Bei der Schaffung der Projektorganisation wurde sodann ein beratender Aus-
schuss (
Sounding Board
) institutionalisiert, welcher den direkten Einbezug der Kan-
tone, der Sozialpartner und der Wirtschaft erlaubt. Dieses Gremium wird ebenfalls
vom Vorsteher des EDA geleitet. Im Laufe der exploratorischen Gespräche wurden
parallele Gespräche mit einer Vielzahl von innenpolitischen Akteuren aufgenommen.
Dem Bundesrat war es von Anfang an ein grosses Anliegen, den Prozess auf eine
tragfähige Basis zu stellen. Im Europadialog zwischen Bund und Kantonen, geleitet
durch die Vorsteher des EDA und des WBF, wurden die einzelnen Etappen und Her-
ausforderungen regelmässig beleuchtet und auf Anfrage in technischen Sitzungen im
Rahmen der Europakommission der Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) ver-
tieft. Ein konstanter Austausch mit den zuständigen parlamentarischen Kommissio-
nen der eidgenössischen Räte gewährleistete deren Einbezug und diente dem Bundes-
rat zur stetigen Prüfung der innenpolitischen Machbarkeit. WBF, UVEK und EJPD
etablierten ausserdem diverse Gesprächsgefässe zu den innenpolitisch entscheidenden
Elementen des Pakets: Lohnschutz, Zuwanderung, Studiengebühren, Strom und
Landverkehr. Teilweise unter Beteiligung der jeweiligen Departementsvorsteher wur-
den die Anliegen der Kantone, der parlamentarischen Kommissionen, der Städte und
Gemeinden, der Verbände und Unternehmen, der Sozialpartner sowie der Parteien
wurden geprüft. Diese flossen in die aussenpolitische Positionierung ein. Der Bundes-
rat ist der Ansicht, dass diese konsequent geführten innenpolitischen Gespräche und
die Verhandlungen es ermöglichten, bei der Lösungssuche den grössten gemeinsamen
Nenner zu definieren, der im Sinne des Paketansatzes den Interessen der Schweiz
bestmöglich dient.
894 / 931
Laufende Verhandlungen bedingen eine gewisse Zurückhaltung und Sorgfalt in der
Handhabung von Positionen und taktischen Überlegungen. Trotzdem entschied sich
der Bundesrat bei der Einbindung der genannten innenpolitischen Akteure für maxi-
male Transparenz unter Wahrung der aussenpolitischen Interessen. Mitunter deshalb
gelang es, im Dialog mit den inländischen Partnern Vertrauen aufzubauen. Im De-
zember 2023 entschied sich der Bundesrat für eine breite Konsultation des provisori-
schen Verhandlungsmandats und die Veröffentlichung des
Common Understanding
.
Mehr Adressaten als rechtlich notwendig wurden zu einer Stellungnahme aufgefor-
dert. Das Parlament widmete dem Geschäft in der Folge 20 Sitzungen in acht ver-
schiedenen parlamentarischen Kommissionen (Aussenpolitische Kommissionen
[APK] und weitere interessierte Kommissionen: Kommissionen für Wissenschaft,
Bildung und Kultur [WBK], Kommissionen für soziale Sicherheit und Gesundheit
[SGK], Kommissionen für Umwelt, Raumplanung und Energie [UREK], Kommissi-
onen für Verkehr und Fernmeldewesen [KVF], Kommissionen für Wirtschaft und Ab-
gaben [WAK], Staatspolitische Kommissionen [SPK], Finanzkommissionen [FK]).
Die APK sowie zwei weitere Sachbereichskommissionen (WAK, KVF) reichten Stel-
lungnahmen ein. Die Kantone verabschiedeten mit 24 Stimmen (bei einer Gegen-
stimme und einer Enthaltung) ebenfalls eine zustimmende Stellungnahme. Von den
angefragten Sozial- und Wirtschaftspartnern sowie weiteren innenpolitischen Part-
nern wandten sich sieben mit Stellungnahmen an den Bundesrat. 27 weitere Stellung-
nahmen von nicht direkt angeschriebenen Akteuren gingen ein. Der Bundesrat be-
rücksichtigte die Präzisierungsvorschläge aus der Konsultation bei der Ausarbeitung
des endgültigen Verhandlungsmandats. Er passte das Mandat in vier Bereichen an:
institutionelle Elemente, Personenfreizügigkeit (Zuwanderung, Lohnschutz), Land-
verkehr und Strom.
861
Die jeweiligen Anpassungen und damit das definitive Verhand-
lungsmandat machte er öffentlich.
5.3
Das Verhandlungsmandat erfüllt – inländische
Begleitmassnahmen beschlossen
Die vorliegenden Abkommen sind Ausdruck der massgeschneiderten Beziehungen
zwischen der Schweiz und der EU. Das Paket CH-EU widerspiegelt Kontinuität, sta-
bilisiert den bewährten Weg und baut ihn aus. Nach einigen Jahren der Stagnation und
Rechtsunsicherheit, in denen die Schweiz willkürlichen oder unverhältnismässigen
Massanahmen der EU im Falle von Streitigkeiten ausgeliefert war, legt der Bundesrat
mit dem vorliegenden Paket eine solide Grundlage für geregelte Beziehungen mit dem
wichtigsten Partner. Die Tatsache, dass die Europäische Kommission bestrebt war,
die Verhandlungen noch vor Ende Jahr materiell abzuschliessen, gereichte der
Schweiz zum Vorteil. Der Bundesrat kam am 20. Dezember 2024 zum Schluss, dass
das Mandat vom 8. März 2024 in sämtlichen Bereichen erfüllt und die Resultate des
Common Understanding
übertroffen wurden. In einzelnen Bereichen konnten im Ver-
gleich zum Mandat Verbesserungen erzielt werden:
861
www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > Medienmitteilungen des Bun-
desrats > 08.03.2024 > Beziehungen Schweiz-EU: Der Bundesrat verabschiedet das end-
gültige Verhandlungsmandat > Bericht über die Ergebnisse der Konsultation zum Entwurf
eines Verhandlungsmandats zwischen der Schweiz und der Europäischen Union über die
Stabilisierung und Weiterentwicklung ihrer Beziehungen.
895 / 931
(1) Die im Rahmen der Verhandlungen gefundene Lösung bezüglich der Schutzklau-
sel (Art. 14 Ab. 2 FZA) (s. Ziff. 2.3) erfüllt die Ansprüche des Mandats hinsichtlich
einer Konkretisierung und ergänzt das Schutzkonzept Zuwanderung mit drei Ausnah-
men (Daueraufenthalt, Landesverweisung, Biometrie) und zwei Absicherungen (Mel-
deverfahren, Aufenthaltsbeendigung) um wichtige Elemente. Indem die Konkretisie-
rung für den gesamten Anwendungsbereich des FZA gilt, wurde das
Verhandlungsmandat übertroffen. Aufgrund der erreichten Ausgestaltung kann die
Schutzklausel grundsätzlich auch beim Lohnschutz greifen.
(2) Hervorzuheben sind die Verhandlungsergebnisse betreffend Landwirtschaftsab-
kommen (s. Ziff 2.7). Während das Verhandlungsmandat vorsieht, dass sämtliche
Binnenmarktabkommen durch ein Zusatzprotokoll zu den institutionellen Elementen
ergänzt werden, konnte erreicht werden, dass der Agrarteil von der dynamischen
Rechtsübernahme ausgenommen wird und ein eigener Streitbeilegungsmechanismus
ohne Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Anwendung gelangt. Zudem können
Ausgleichsmassnahmen in den Agrar-Anhängen nur im Falle einer Verletzung des
Landwirtschaftsabkommens (inkl. Lebensmittelsicherheit) ergriffen werden. Das be-
deutet, dass die Agrar-Anhänge vor allfälligen Ausgleichsmassnahmen bei Verlet-
zung anderer Binnenmarktabkommen geschützt sind (keine
Cross-Retaliation
). Dies
sind wichtige Errungenschaften mit Blick auf den Erhalt der Souveränität in der Ag-
rarpolitik. Des Weiteren konnte neben der Absicherung der im Mandat vorgesehenen
Ausnahmen im Protokoll zur Lebensmitteilsicherheit noch eine zusätzliche Absiche-
rung (betreffend Angabe Herkunftsland bei Lebensmitteln) erreicht werden. Diese Er-
gebnisse stellen bedeutende Verbesserungen im Vergleich zum
Common Under-
standing
und zum Verhandlungsmandat dar.
(3) Ebenfalls erwähnenswert sind die Resultate und Verbesserungen betreffend Land-
verkehrsabkommen (s. Ziff. 2.5). Die Kernanliegen hinsichtlich Absicherung der
Trassenvergabe durch die Schweiz und des Taktfahrplans konnten erreicht werden.
Darüber hinaus werden die Bestrebungen der Schweiz, die Verlagerungspolitik weiter
zu stärken, mit dem vorliegenden Abkommen unterstützt werden, indem die Leis-
tungsabhängige Schwerverkehrsabgabe (LSVA) an die zukünftigen Entwicklungen
angepasst werden kann.
In den Verhandlungen mit der EU ist es gelungen, innerhalb aller Verhandlungsgrup-
pen eine ausgewogene Balance zu erreichen. In der Gesamtsicht führt dies zu einem
deutlich besseren Ergebnis, als dies mit den vergangenen Ansätzen erreicht werden
konnte.
Die durch die Bundesverfassung garantierten Initiativ- und Referendumsrechte
(Art.136 Abs. 2 BV) sind weiterhin in vollem Umfang gewährleistet. Weder die ein-
zelnen Abkommen noch die darin enthaltenen institutionellen Elemente verhindern,
dass eine Volksinitiative lanciert werden kann, die sich gegen die Übernahme einer
relevanten Weiterentwicklung des EU-Rechts in das betroffene Abkommen richtet,
sofern sie die bekannten verfassungsrechtlichen Gültigkeitsvoraussetzungen erfüllt.
Ebenso wird gegen eine solche Rechtsübernahme beziehungsweise ein in diesem Zu-
sammenhang erforderliches neues Gesetz oder eine erforderliche Gesetzesanpassung
wie bisher das Referendum ergriffen werden können.
896 / 931
Inländische Begleitmassnahmen ergänzen das Paket. Es handelt sich dabei um Mass-
nahmen, die für die Umsetzung der völkerrechtlichen Verträge nicht zwingend sind,
vom Bundesrat jedoch zwecks Erhöhung der innenpolitischen Tragfähigkeit des Pa-
kets zusätzlich ausgearbeitet wurden.
- Zuwanderung
Die ausgehandelte Schutzklausel wird mit der innenpolitischen Umsetzung in der na-
tionalen Gesetzgebung weiter konkretisiert. Artikel 21b des Vorentwurfs zum Aus-
länder- und Integrationsgesetz (VE-AIG) legt die Kompetenzen des Bundesrates im
Zusammenhang mit der Auslösung der vertraglichen Schutzklausel in Artikel 14a des
neuen Freizügigkeitsabkommens (nFZA) fest und definiert mögliche Schutzmassnah-
men. Mit der Nennung von Schwellenwerten und Indikatoren mit Blick auf die Aus-
lösung, sowie mit dem Antragsrecht der Kantone wird die Schutzklausel weiter kon-
kretisiert, deren Handhabung klargestellt und deren Anwendung innenpolitisch breit
abgestützt. Das Zusammenspiel zwischen der vertraglichen Schutzklausel im FZA ei-
nerseits und deren innerstaatliche Umsetzung ergibt ein wirksames Instrument. Die
genaue Definition der Indikatoren und der Höhe der Schwellenwerte folgt auf Ver-
ordnungsstufe.
Die nationale Umsetzung der Schutzklausel im AIG und auf Verordnungsstufe wird
mit einem Monitoring ergänzt, welches die Indikatoren und Schwellenwerte bezie-
hungsweise deren konkrete Anwendung überwacht. Das Monitoring erlaubt es in Er-
gänzung zu bestehenden Instrumenten, die Auswirkungen der Anwendung des FZA
auf Zuwanderung, Arbeitsmarkt, soziale Sicherheit sowie weitere Bereiche wie Woh-
nungswesen und Verkehr zu beobachten, und bildet eine Grundlage für den Entscheid
über eine Auslösung der Schutzklausel (s. Ziff. 2.3.6.1 und Ziff. 2.3.8.1). Artikel 96a
VE-AIG hält fest, in welchen Situationen Rechte aus dem FZA wegen Rechtsmiss-
brauch erlöschen (z. B. Scheinwohnsitz, Scheinarbeitsverträge). Weitere Begleitmass-
nahmen sehen eine Verbesserung des Datenaustauschs zwischen den Migrationsbe-
hörden, den Arbeitsämtern und den Sozialhilfebehörden (Art. 97 Abs. 3 und 5 VE-
AIG) sowie die Sanktionierung von Unternehmen, welche die 90-Tage-Regel für
Dienstleistungen umgehen, vor (Art. 122c VE-AIG).
- Studiengebühren
Die Ausfälle der beiden ETH aufgrund der Nicht-Diskriminierung bei den Studienge-
bühren (Simulation 2025/26: 23,3 Mio. CHF / Jahr)
862
sollen vom Bund als Eigner im
Rahmen der Botschaft zur Förderung von Bildung, Forschung und Innovation (BFI-
Botschaft) 2029–2032 abgegolten werden. Die Ausfälle der betroffenen Kantone und
ihrer Hochschulinstitutionen werden durch eine auf vier Jahre befristete Bundesunter-
stützung abgefedert: Der Bund übernimmt dabei 50 Prozent der durch die Nicht-Dis-
kriminierung verursachten Gesamtausfälle (Simulation 2024/25: 21,8 Mio. CHF /
862
www.sem.admin.ch > Publikation & Service > Service > Forschung und Evaluation > Stu-
die von Ecoplan vom 09.05.2025: «RFA zur Teilübernahme der Unionsbürgerrichtlinie
UBRL. Auswirkungen auf die staatlichen Institutionen».
897 / 931
Jahr)
863
. Dieser Prozentsatz liegt deutlich höher als der Bundesanteil am Gesamtbe-
trag der Referenzkosten an Universitäten und Fachhochschulen (Grundbeiträge ge-
mäss Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz [HFKG]). Er unterstreicht da-
mit sein Engagement, die Hochschulen bei der Anpassung ihrer Strategien, welche
aufgrund der Nicht-Diskriminierung bei den Studiengebühren erforderlich wird, zu
unterstützen. Der Bundesbeitrag soll Hochschulen mit Einbussen wegen tieferen Ge-
bühreneinnahmen und solche, die die Kosten für EU-Studierende heute schon selbst
tragen, entlasten. Dabei wird der Beitrag nach folgendem Verteilschlüssel auf die
Hochschulen aufgeteilt: Im ersten Jahr erfolgt die Verteilung zu 80 Prozent nach Ein-
bussen und zu 20 Prozent nach dem Anteil der EU-Studierenden, mit einer schrittwei-
sen Anpassung zugunsten des Anteils der EU-Studierenden in den folgenden drei Jah-
ren, was den Anliegen zahlreicher Kantone Rechnung trägt. Die vierjährige
Befristung gibt den Hochschulen genügend Zeit zur Anpassung ihrer Strategien. Diese
Begleitmassnahme ergänzt damit die ordentlichen Grundbeiträge des Bundes nach
HFKG, bei deren Zusprache sowohl die Gesamtzahl der Studierenden als auch der
Anteil ausländischer Studierenden berücksichtigt wird – darunter auch aus der EU (s.
Ziff. 2.3.8).
- Lohnschutz
Aufgrund gewisser Zugeständnisse gegenüber der EU im Bereich des Lohnschutzes
waren sich Bundesrat, Kantone und Sozialpartner bereits beim Start der exploratori-
schen Gespräche einig, dass inländische Massnahmen zur Sicherung des Lohnschut-
zes nötig sind. Der Bundesrat hat diese Massnahmen zusammen mit Kantonen und
Sozialpartnern erarbeitet und schlägt deren Umsetzung im Rahmen von Anpassungen
des Entsendegesetzes (EntsG), des Bundesgesetzes über das öffentliche Beschaf-
fungswesen (BöB), des Bundesgesetzes über die Allgemeinverbindlicherklärung von
Gesamtarbeitsverträgen (AVEG)
und des Obligationsrechts (OR) vor.
Das inländische Massnahmenpaket zum Lohnschutz umfasst vier Kategorien und
vierzehn Massnahmen. Die erste Kategorie kompensiert direkt die Zugeständnisse,
die gegenüber der EU gemacht werden mussten. Die Massnahmen garantieren Kon-
trollen trotz verkürzter Voranmeldefrist, vereinfachen Kontrollen vor Ort und entfal-
ten präventive Wirkung in Bezug auf die Einhaltung der Schweizer Lohn- und Ar-
beitsbedingungen. Die zweite Kategorie von Massnahmen wirkt dem Risiko
entgegen, dass die Dienstleistungssperre als Sanktionsinstrument seitens EU unter
Druck gerät. Die dritte Kategorie betrifft die EU-Spesenregelung, bezüglich welcher
die Schweiz bei der nationalen Umsetzung den im EU-Entsenderecht zur Verfügung
stehenden Spielraum maximal nutzt, um unlauterem Wettbewerb entgegenzuwirken.
Mit der vierten Kategorie von Massnahmen werden die sozialpartnerschaftlichen
Strukturen der Schweiz beim Lohnschutz gefestigt. Namentlich werden die heute all-
gemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträge abgesichert. Diese schaffen glei-
che Wettbewerbsbedingungen in einer Branche, und regeln zwingend einzuhaltende
Lohn- und Arbeitsbedingungen, welche auch für Entsendebetriebe aus dem EU-Raum
863
www.sem.admin.ch > Publikation & Service > Service > Forschung und Evaluation > Stu-
die von Ecoplan vom 09.05.2025: «RFA zur Teilübernahme der Unionsbürgerrichtlinie
UBRL. Auswirkungen auf die staatlichen Institutionen».
898 / 931
verbindlich sind. Die Massnahmen zur Festigung der sozialpartnerschaftlichen Struk-
turen beim Lohnschutz umfassen auch einen verbesserten Rechtsschutz für Betriebe,
die einen allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsvertrag unterstellt werden sol-
len sowie einen verbesserten Kündigungsschutz für gewählte Arbeitnehmervertrete-
rinnen und Arbeitnehmervertreter. Alle vierzehn Massnahmen zur Sicherung des
Schweizer Lohnschutzes sind aus Sicht des Bundesrates gezielt ausgerichtet auf die-
jenigen Bereiche, in denen Handlungsbedarf besteht, und fokussieren hauptsächlich
auf die sensiblen Branchen des Bauhaupt- und Bauausbaugewerbes. Sie schränken
den flexiblen Arbeitsmarkt nicht ein (s. Ziff. 2.3.6.4 Die inländischen Begleitmass-
nahmen sichern in Kombination mit dem Verhandlungsergebnis das aktuelle Lohn-
schutzniveau ab.
- Strom
Die Strommarktöffnung für alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher wird mit
inländischen Begleitmassnahmen flankiert. Haushalte und kleinere Unternehmen mit
einem Jahresverbrauch von weniger als 50 MWh pro Verbrauchsstätte können ihren
Lieferanten frei wählen oder in einer regulierten Grundversorgung mit regulierten
Preisen bleiben beziehungsweise in diese zurückkehren. Die Tarife in der Grundver-
sorgung sind jeweils für ein Jahr fixiert. Bei einem unterjährigen Wechsel in den
Markt darf der Grundversorger einen finanziellen Ausgleich für die anfallenden Kos-
ten verlangen. Lieferanten auf dem freien Markt müssen sich bei der Eidgenössischen
Elektrizitätskommission (ElCom) registrieren und haben ein Risikomanagement zu
betreiben. Für Ausfälle von Lieferanten im Strommarkt wird eine regulierte Ersatz-
versorgung definiert. Endverbraucherinnen und Endverbraucher im Markt haben An-
spruch auf dynamische Stromverträge oder Verträge mit fixem Preis und fester Lauf-
zeit. Um Transparenz zu gewährleisten und Missbrauch zu verhindern macht das
Stromversorgungsgesetz (StromVG864 ) Vorgaben an die Vertragsinhalte im freien
Markt. Für die Endverbraucherinnen und Endverbraucher wird mindestens eine Ver-
gleichsplattform und eine Ombudsstelle mit Schlichtungsmöglichkeit eingerichtet.
Die ElCom soll ein Monitoring zur wirtschaftlichen Entwicklung im geöffneten Markt
und in der Grundversorgung sowie zu den Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen
in der Stromwirtschaft durchführen und dem Bundesrat Bericht erstatten.
Die Rechte der Konsumentinnen und Konsumenten hinsichtlich Auswahl des Strom-
produkts und der Konsumentenschutz werden gestärkt. Im Falle allfälliger negativer
Auswirkungen auf das Personal der Stromwirtschaft trifft der Bundesrat geeignete
Massnahmen (s. Ziff. 2.11.7.3).
- Landverkehr
Um einer allfälligen und von den Gewerkschaften befürchteten Verschlechterung der
Sozialstandards bei einer Marktöffnung des internationalen Schienenpersonenver-
kehrs entgegenzuwirken, erarbeitet das UVEK (BAV) im Auftrag des Bundesrates
eine Weisung. Diese Weisung soll dem BAV bei der Prüfung von Konzessions- und
864
SR
734.7
899 / 931
Bewilligungsgesuchen als Massstab der Branchenüblichkeit der Sozialstandards die-
nen und ist bei Beanstandungen während der Ausübung der erteilten Transportrechte
heranzuziehen. Die Gewerkschaften und Personalverbände haben sich nach anfängli-
cher Skepsis konstruktiv in die Arbeiten an der erwähnten Weisung eingebracht. Ihre
Anregungen wurden und werden weiterhin soweit möglich berücksichtigt. Der Ent-
wurf soll bis Ende 2025 finalisiert werden, die Weisung soll aber erst zusammen mit
dem Gesamtpaket in Kraft treten.
Das UVEK beabsichtigt ausserdem, nach der Marktöffnung des internationalen Schie-
nenpersonenverkehrs ein Monitoring der Arbeitsbedingungen unter Einbezug der Ge-
werkschaften durchzuführen. Falls das Monitoring Handlungsbedarf aufzeigen
würde, könnte das UVEK dem Bundesrat Massnahmen beantragen (s. Ziff. 2.5.7).
5.4
Paket sichert Teilnahme am EU-Binnenmarkt
Für die Leistungsfähigkeit einer offenen Volkswirtschaft wie der Schweiz, die über
keine bedeutenden natürlichen Ressourcen und einen nur begrenzten Binnenmarkt
verfügt, spielt der Zugang zu ausländischen Märkten eine unabdingbare Rolle. Die
EU ist mit einem Anteil von rund 59 Prozent am Warenhandel die mit Abstand wich-
tigste Handelspartnerin der Schweiz
865
(s. Ziff. 3.3).
Angesichts dieser wirtschaftlichen Zusammenhänge soll das Paket Schweiz–EU die
Wirtschaftsbeziehungen der Schweiz mit einem der grössten Binnenmärkte der Welt
stabilisieren und weiterentwickeln. Es sichert die sektorielle Teilnahme am EU-
Binnenmarkt in den bisherigen Bereichen der Bilateralen I und dehnt diese Teilnahme
auf den Strom- und den gesamten Lebensmittelbereich aus. Das Paket hat keine Än-
derung der Bundesverfassung zur Folge: Die Kompetenzen der Kantone, der Bundes-
versammlung und der Schweizer Gerichte bleiben ebenso gewahrt wie die direktde-
mokratischen Instrumente. Mit den institutionellen Elementen erhöht die Schweiz die
Rechtssicherheit und sichert die Teilnahme am EU-Binnenmarkt in den genannten
Bereichen auch für die Zukunft. In Zeiten geopolitischer Spannungen und einer frag-
mentierten Weltordnung ist dies eine strategische Notwendigkeit für eine offene
Volkswirtschaft wie die Schweiz.
5.5
Empfehlung
Der Bundesrat will den bewährten bilateralen Weg mit der EU stabilisieren und wei-
terentwickeln. In einer von geopolitischer Instabilität und globalen Krisen geprägten
Welt sind stabile und vorhersehbare Beziehungen mit der EU – insbesondere mit un-
seren Nachbarländern – von strategischer Notwendigkeit. Der Ausbau der Wirt-
schaftsbeziehungen, die wissenschaftliche Zusammenarbeit, Rechtssicherheit und die
gemeinsame Bewältigung aktueller Herausforderungen sind unerlässlich, um die Si-
cherheit und den Wohlstand der Schweiz zu gewährleisten. Der bilaterale Weg trägt
seit 25 Jahren massgeblich zum Erfolg der Schweiz bei. Es ist von entscheidender
Bedeutung, diesen Weg auf der Grundlage rechtlich geklärter Beziehungen fortzuset-
zen.
865
www.eda.admin.ch/europa > Publikationen > Schweiz-EU in Zahlen (basierend auf Total
1, ohne Gold, 2023).
900 / 931
Der Bundesrat empfiehlt die Annahme der Umsetzungsgesetzgebung sowie der Be-
gleitmassnahmen.
901 / 931
Abkürzungsverzeichnis
Abkürzung
Erklärung
AB
Amtliches Bulletin der Bundesversammlung
ABl.
Amtsblatt der Europäischen Union
ACA
Academic Cooperation Association
ACER
Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulie-
rungsbehörden
(Agency for the Cooperation of Energy
Regulators)
ADIS
Tierseuchen-Informationssystem
(Animal Disease Infor-
mation System)
AEUV
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union
AGV
Arbeitgeberverband
AHV
Alters- und Hinterlassenenversicherung
AHVG
Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters-
und Hinterlassenenversicherung (SR 831.10)
AIA
Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der
Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäi-
schen Union über den automatischen Informationsaus-
tausch über Finanzkonten zur Förderung der Steuerehr-
lichkeit
bei
internationalen
Sachverhalten
(SR
0.641.926.81)
AIG
Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Auslän-
derinnen und Ausländer und über die Integration (Aus-
länder- und Integrationsgesetz) (SR 142.20)
AMIF
Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds
ÄP-
Änderungsprotokoll
APK-N
Aussenpolitische Kommission des Nationalrates
APK-S
Aussenpolitische Kommission des Ständerates
APS
Aussenpolitische Strategie
armasuisse
Bundesamt für Rüstung
ASNAZ
Alarmstelle der Nationalen Alarmzentrale
902 / 931
ASP
Alliance SwissPass
ASTRA
Bundesamt für Strassen
AsylG
Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (SR 142.31)
ATSG
Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemei-
nen Teil des Sozialversicherungsrechts (SR 830.1)
ave GAV
allgemeinverbindlich erklärter Gesamtarbeitsvertrag
AVEG
Bundesgesetz vom 28. September 1956 über die Allge-
meinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen
(SR 221.215.311)
AVG
Bundesgesetz vom 6. Oktober 1989 über die Arbeitsver-
mittlung und den Personalverleih (Arbeitsvermittlungs-
gesetz) (SR 823.11)
AVIG
Bundesgesetz vom 25. Juni 1982 über die obligatorische
Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädi-
gung (Arbeitslosenversicherungsgesetz) (SR 837.0)
AZG
Bundesgesetz vom 8. Oktober 1971 über die Arbeit in
Unternehmen des öffentlichen Verkehrs (Arbeitszeitge-
setz) (SR 822.21)
BAFU
Bundesamt für Umwelt
BAG
Bundesamt für Gesundheit
BAK
Bundesamt für Kultur
BATE
Bundesgesetz über die Aufsicht und Transparenz auf die
Energiegrosshandelsmärkten (BBl 2023 2864)
BAV
Bundesamt für Verkehr
BAZG
Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit
BAZL
Bundesamt für Zivilluftfahrt
BBl
Bundesblatt
BBL
Bundesamt für Bauten und Logistik
BevSV
Verordnung vom 11. November 2020 über den Bevölke-
rungsschutz (SR 520.12)
903 / 931
BewG
Bundesgesetz vom 16. Dezember 1983 über den Erwerb
von Grundstücken durch Personen im Ausland (SR
211.412.41)
BewV
Verordnung vom 1. Oktober 1984 über den Erwerb von
Grundstücken durch Personen im Ausland (SR
211.412.411)
BFE
Bundesamt für Energie
BFI
Bildung, Forschung und Innovation
BFS
Bundesamt für Statistik
BGBM
Bundesgesetz vom 6. Oktober 1995 über den Binnen-
markt (Binnenmarktgesetz) (SR 943.02)
BGE
Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Schweize-
rischen Bundesgerichts
BGer
Bundesgericht
BGFA
Bundesgesetz vom 23. Juni 2000 über die Freizügigkeit
der Anwältinnen und Anwälte (Anwaltsgesetz, SR
935.61)
BGG
Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht
(Bundesgerichtsgesetz, SR 173.110)
BGMD
Bundesgesetz vom 14. Dezember 2012 über die Melde-
pflicht und die Nachprüfung der Berufsqualifikationen
von Dienstleistungserbringerinnen und -erbringern in
reglementierten Berufen (SR 935.01)
BGMK
Bundesgesetz vom 22. Dezember 1999 über die Mitwir-
kung der Kantone an der Aussenpolitik des Bundes (SR
138.1)
BGÖ
Bundesgesetz vom 17. Dezember 2004 über das Öffent-
lichkeitsprinzip der Verwaltung (Öffentlichkeitsgesetz,
SR 152.3)
bgSO
besonders gefährliche Schadorganismen
BHÜG
Beihilfeüberwachungsgesetz
BIP
Bruttoinlandsprodukt
904 / 931
BIZMB
Bundesgesetz vom 25. September 2020 über die interna-
tionale Zusammenarbeit und Mobilität in der Bildung
(SR 414.51)
BK
Bundeskanzlei
BMVI
Instrument für finanzielle Hilfe im Bereich Grenzver-
waltung und Visumpolitik
(Border Management and
Visa Policy Instrument)
BNE
Bruttonationaleinkommen
BöB
Bundesgesetz vom 21. Juni 2019 über das öffentliche
Beschaffungswesen (SR 172.056.1)
BPUK
Schweizerische Bau-, Planungs- und Umweltdirektoren-
konferenz
BSV
Bundesamt für Sozialversicherungen
BV
Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossen-
schaft vom 18. April 1999 (Bundesverfassung, SR 101)
BVG
Bundesgesetz vom 25. Juni 1982 über die berufliche Al-
ters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (SR
831.40)
BVGer
Bundesverwaltungsgericht
BVV 3
Verordnung vom 13. November 1985 über die steuerli-
che Abzugsberechtigung für Beiträge an anerkannte
Vorsorgeformen (SR 831.461.3)
BZG
Bevölkerungs- und Zivilschutzgesetz vom 20. Dezem-
ber 2019 (SR 520.1)
CAC
Conformitas Agraria Communitatis
CoVEs
Exzellenzzentren für die berufliche Aus- und Weiterbil-
dung
(Centres of Vocational Excellence)
CSC
Ausschuss für die Koordinierte Aufsicht
(Coordinated
Supervision Committee
[des EDSA])
CU
Common Understanding
DAAD
Deutscher Akademischer Austauschdienst
DAWI
Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem In-
teresse
905 / 931
DEA
Direktion für europäische Angelegenheiten
DEP
Programm «Digitales Europa»
(Digital Europe Pro-
gramme)
DEZA
Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit
DigiSanté
Nationales Programm zur Förderung der digitalen
Transformation im Gesundheitswesen
DK
Direktorenkonferenz
DSG
Bundesgesetz vom 25. September 2020 über den Daten-
schutz (Datenschutzgesetz, SR 235.1)
DSO
Verteilnetzbetreiber
(Distribution System Operator)
EACEA
Europäische Exekutivagentur für Bildung und Kultur
(European Education and Culture Executive Agency)
EAD
Europäischer Auswärtiger Dienst
EASA
Europäische Agentur für Flugsicherheit
(European
Union Aviation Safety Agency)
EBA
Europäischer Berufsausweis
(European Professional
Card)
EBG
Eisenbahngesetz vom 20. Dezember 1957 (SR 742.101)
ECDC
Europäisches Zentrum für die Prävention und die Kon-
trolle von Krankheiten
ECHA
Europäische Chemikalienagentur
ECTS
Europäisches System zur Übertragung und Akkumulie-
rung von Studienleistungen
(European Credit Transfer
and Accumulation System)
EDA
Eidgenössisches Departement für auswärtige Angele-
genheiten
EDAV-DS
Verordnung vom 18. November 2015 über die Ein-,
Durch- und Ausfuhr von Tieren und Tierprodukten im
Verkehr mit Drittstaaten (SR 916.443.10)
EDAV-Ht
Verordnung vom 28. November 2014 über die Ein-,
Durch- und Ausfuhr von Heimtieren (SR 916.443.14)
EDI
Eidgenössisches Departement des Innern
906 / 931
EDK
Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und
-direktoren
EDÖB
Eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauf-
tragte
EDSA
Europäischer Datenschutzausschuss
EDSB
Europäische Datenschutzbeauftragte
EESSI
Elektronischer Austausch von Sozialversicherungsdaten
(Electronic Exchange of Social Security Information)
EFD
Eidgenössisches Finanzdepartement
EFK
Eidgenössische Finanzkontrolle
EFSA
Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit
(Eu-
ropean Food Safety Authority)
EFTA
Europäische Freihandelsassoziation
(European Free
Trade Association)
EFV
Eidgenössische Finanzverwaltung
EG
Europäische Gemeinschaft
EGNOS
Europäisches geostationäres Navigationssystem
(Euro-
pean Geostationary Navigation Overlay Service)
EHL
Hotelfachschule Lausanne
(École hôtelière de Lau-
sanne)
EIC
Europäischer Innovationsrat
(European Innovation
Council)
EJPD
Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement
EKK
Eidgenössische Kommission für Konsumentenfragen
EL
Ergänzungsleistungen
ELA
Europäische Arbeitsbehörde
(European Labour Autho-
rity)
ElCom
Eidgenössische Elektrizitätskommission
EMRK
Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der
Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische
Menschenrechtskonvention)
907 / 931
EnDK
Konferenz kantonaler Energiedirektoren
EnG
Energiegesetz vom 30. September 2016 (SR 730.0)
ENISA
Agentur der Europäischen Union für Cybersicherheit
(European Union Agency for Cybersecurity)
EntsG
Bundesgesetz vom 8. Oktober 1999 über die flankieren-
den Massnahmen bei entsandten Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern und über die Kontrolle der in Normalar-
beitsverträgen vorgesehenen Mindestlöhne (Entsende-
gesetz, SR 823.20)
ENTSO-E
Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber
(Eu-
ropean Network of Transmission System Operators for
Electricity)
EntsV
Verordnung vom 21. Mai 2003 über die in die Schweiz
entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (SR
823.201)
EnV
Energieverordnung vom 1. November 2017 (SR 730.01)
EnWG
Gesetz über die Elekritizitäts- und Gasversorung
(Deutschland)
EPC
Europäischer Berufsausweis (European Professional
Card)
EPFL
Eidgenössische
Technische
Hochschule
Lausanne
(École polytechnique fédérale de Lausanne)
EpG
Bundesgesetz vom 28. September 2012 über die Be-
kämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen
(Epidemiengesetz, SR 818.101)
EPPO
Europäische
Staatsanwaltschaft
EUSta
(European
Public Prosecutor’s Office)
EpV
Verordnung vom 29. April 2015 über die Bekämpfung
übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epidemien-
verordnung, SR 818.101.1)
ERA
Eisenbahnagentur der Europäischen Union
(European
Union Agency for Railways)
Erasmus
Aktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaft zur
Förderung der Mobilität von Hochschulstudierenden
908 / 931
(European Community Action Scheme for the Mobility
of University Students)
ERC
Europäischer Forschungsrat
(European Research Coun-
cil)
ERZ
Erneuerung des Zentralen Migrationsinformationssys-
tems
ESA
Europäische Weltraumorganisation
(European Space
Agency)
ESTI
Eidgenössisches Starkstrominspektorat
ESTV
Eidgenössische Steuerverwaltung
ETH
Eidgenössische Technische Hochschulen
EU
Europäische Union
EU-10
Die 2004 der EU beigetretenen Mitgliedstaaten Estland,
Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien,
Tschechische Republik, Ungarn und Zypern
EuGH
Gerichtshof der Europäischen Union
EUI
Initiative «Europäische Hochschulen»
(European Uni-
versities Initiative)
EUPA
EU-Programmabkommen
Euratom
Europäische Atomgemeinschaft
(European Atomic
Energy Community)
EURES
Kooperationsnetz der öffentlichen Arbeitsverwaltungen
der EU und der EFTA-Staaten
(European Employment
Services)
EUROPHYT
Mitteilungssystem der Europäischen Union zur Überwa-
chung der Pflanzengesundheit
(European Union Notifi-
cation System for Plant Health Interceptions)
EUSPA
Agentur der Europäischen Union für das Weltraumpro-
gramm
(European Union Agency for the Space Pro-
gramme)
EUSPA-Abkommen
Abkommen zur Teilnahme an der EUSPA
EVU
Elektrizitätsversorgungsunternehmen
EWG
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
909 / 931
EWR
Europäischer Wirtschaftsraum
EWRS
Frühwarn- und Reaktionssystem
(Early Warning and
Response System)
F&I
Forschung und Innovation
F4E
Fusion for Energy
FIFG
Bundesgesetz vom 14. Dezember 2012 über die Förde-
rung der Forschung und der Innovation (SR 420.1)
FIPBV
Verordnung vom 20. Januar 2021 über die Massnahmen
für die Beteiligung der Schweiz and den Programmen
der Europäischen Union im Bereich Forschung und In-
novation (SR 420.126)
FK
Finanzkommissionen
FlaM
Flankierende Massnahmen
FMBV
Verordnung des WBF vom 26. Oktober 2011 über die
Produktion und das Inverkehrbringen von Futtermitteln,
Zusatzstoffen für die Tierernährung und Diätfuttermit-
teln (Futtermittelbuch-Verordnung) (SR 916.307.1)
FMV
Verordnung vom 26. Oktober 2011 über die Produktion
und das Inverkehrbringen von Futtermitteln (Futtermit-
tel-Verordnung, SR 916.307)
FrSV
Verordnung vom 10. September 2008 über den Umgang
mit Organismen in der Umwelt (Freisetzungsverord-
nung, SR 814.911)
FZA
Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweize-
rischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäi-
schen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten anderer-
seits über die Freizügigkeit (Freizügigkeitsabkommen,
SR 0.142.112.681)
FZG
Bundesgesetz vom 17. Dezember 1993 über die Freizü-
gigkeit in der beruflichen Alters‑, Hinterlassenen- und
Invalidenvorsorge (Freizügigkeitsgesetz, SR 831.42)
GA
Gemischter Ausschuss CH–EU
GASP
Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik
GATS
Allgemeines Abkommen über den Handel mit Dienst-
leistungen
(General Agreement on Trade in Services)
910 / 931
GATT
Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen
(General Ag-
reement on Tariffs and Trade)
GAV
Gesamtarbeitsvertrag
GDK
Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen
und -direktoren
GebV
Gebührenverordnung
GebV-KG
Verordnung vom 25. Februar 1998über die Gebühren
zum Kartellgesetz (Gebührenverordnung KG, SR 251.2)
GesBG
Bundesgesetz vom 30. September 2016 über die Ge-
sundheitsberufe (Gesundheitsberufegesetz, SR 811.21)
GesReg
Gesundheitsberuferegister
GFSI
Global Food Safety Initiative
GNSS
Globales Navigationssatellitensystem
(Global Naviga-
tion Satellite System)
GNSS-
Kooperationsabkommen
Kooperationsabkommen vom 18. Dezember 2013 zwi-
schen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits
und der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits über die europäischen Satellitennavigati-
onsprogramme (SR
0.741.826.8)
GOVSATCOM
Staatliche Satellitenkommunikationsinfrastruktur der
EU
(European Union Governmental Satellite Communi-
cations)
GPS
Global Positioning System
GSA
Agentur für das Europäische GNSS
(European GNSS
Agency)
GVO
gentechnisch veränderter Organismus
HFKG
Bundesgesetz vom 30. September 2011 über die Förde-
rung der Hochschulen und die Koordination im schwei-
zerischen Hochschulbereich (Hochschulförderungs- und
koordinationsgesetz, SR 414.20)
HKN
Herkunftsnachweis
HSC
Gesundheitssicherheitsausschuss
(Health Security Com-
mittee)
911 / 931
HVPI
Harmonisierter Verbraucherpreisindex
i.V.m.
in Verbindung mit
IAO
Internationale Arbeitsorganisation
(International La-
bour Organization ILO)
ICAO
Internationale Zivilluftfahrtorganisation
(International
Civil Aviation Organization)
ICT
Informations- und Kommunikationstechnologie
(infor-
mation and communications technology
IEA
Internationale Energieagentur
IKT
Inkrafttreten
IMI
Binnenmarkt-Informationssystem
(Internal Market In-
formation System)
IMSOC
Informationsmanagementsystem für amtliche Kontrol-
len
(Information Management System for Official Con-
trols)
IP-
Institutionelles Protokoll
iRASFF
Schnellwarnsystem für Lebens- und Futtermittel
(Rapid
Alert System for Food and Feed)
IRIS
2
Infrastructure for Resilience, Interconnectivity and Se-
curity by Satellite
ISPM
Internationaler Standard für phytosanitäre Massnahmen
IT
Informationstechnologien
ITER
Internationaler Thermonuklearer Versuchsreaktor
(In-
ternational Thermonuclear Experimental Reactor)
ITO
unabhängiger Übertragungsnetzbetreiber
(Independent
Transmission System Operator)
IV
Invalidenversicherung
IVI
Institut für Virologie und Immunologie
KBOB
Koordinationskonferenz der Bau- und Liegenschaftsor-
gane der öffentlichen Bauherren
KdK
Konferenz der Kantonsregierungen
912 / 931
KG
Bundesgesetz vom 6. Oktober 1995 über Kartelle und
andere Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz, SR
251)
KKJPD
Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorin-
nen und -direktoren
KMU
Kleine und mittlere Unternehmen
KOF
Konjunkturforschungsstelle Eidgenössische Technische
Hochschule Zürich
KÖV
Konferenz der kantonalen Direktoren des öffentlichen
Verkehrs
kV
Kilovolt
kVA
Kilovoltampere
KVF
Kommissionen für Verkehr und Fernmeldewesen
KVG
Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenver-
sicherung (SR 832.10)
kW
Kilowatt
kWh
Kilowattstunde
LandVA
Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweize-
rischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Ge-
meinschaft über den Güter- und Personenverkehr auf
Schiene und Strasse (SR 0.748.127.192.68)
LEG
lokale Elektrizitätsgemeinschaft
LFG
Bundesgesetz vom 21. Dezember 1948 über die Luft-
fahrt (Luftfahrtgesetz, SR 0.748.127.192.68)
LFV
Verordnung vom 14. November 1973 über die Luftfahrt
(Luftfahrtverordnung, SR 748.01)
LGV
Lebensmittel- und Gebrauchsgegenständeverordnung
vom 16. Dezember 2016 (SR 817.02)
LMG
Bundesgesetz über Lebensmittel und Gebrauchsgegen-
stände vom 20. Juni 2014 (Lebensmittelgesetz, SR
817.0)
913 / 931
LMVV
Verordnung vom 27. Mai 2020 über den Vollzug der Le-
bensmittelgesetzgebung (SR 817.042)
LSVA
Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe
LTC
langfristige Verträge
(Long-Term Contracts)
LuftVA
Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweize-
rischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Ge-
meinschaft über den Luftverkehr
LwG
Bundesgesetz über die Landwirtschaft vom 29. April
1998 (Landwirtschaftsgesetz, SR 910.1)
MARI
Manually Activated Reserves Initiative
MAV
Verordnung über die Anerkennung von gymnsialen Ma-
turitätszeugnissen (Maturitätsanerkennungsverordnung,
SR 413.11)
MEBEKO
Medizinalberufekommission
MedBG
Bundesgesetz vom 23. Juni 2006 über die universitären
Medizinalberufe (Medizinalberufegesetz, SR 811.11)
MEDIA
Sub-Programm des EU-Programms « Creative Eu-
rope »: Maßnahmen zur Förderung der Entwicklung der
audiovisuellen Industrie (
Mesures pour Encourager le
Développement de l’Industrie Audiovisuelle
)
MedReg
Register der universitären Medizinalberufe
MEM
Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie
MFF
Multiannual Financial Framework
MFR
Mehrjähriger Finanzrahmen
(Multiannual Financial
Framework)
MiPV
Milchprüfungsverordnung vom 20. Oktober 2010 (SR
916.351.0)
MISSOC
Gegenseitiges Informationssystem für soziale Sicherheit
(Mutual Information System on Social Protection)
MoU
Absichtserklärung
(Memorandum of Understanding)
914 / 931
MRA
Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweize-
rischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Ge-
meinschaft über die gegenseitige Anerkennung von
Konformitätsbewertungen (Mutual Recognition Agree-
ment)
MSCA
Marie-Skłodowska-Curie-Aktionen
MStG
Militärstrafgesetz vom 13. Juni 1927 (SR 321.0)
MVS
Mobiles Verpflegungssystem
MW
Megawatt
MWh
Megawattstunde
NAZ
Nationale Alarmzentrale
NEMO
Nominierte Strommarktbetreiber
(Nominated Electricity
Market Operator)
NFUP
Nationales Fremdstoffuntersuchungsprogramm
NGO
Nichtregierungsorganisation
(Non-governmental orga-
nisation)
NNK
Netznutzungskonzept
NNP
Netznutzungspläne
öAV
öffentliche Arbeitsvermittlung
OECD
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
(Organisation for Economic Cooperation
and Development)
OR
Bundesgesetz vom 30. März 1911 betreffend die Ergän-
zung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Fünfter
Teil: Obligationenrecht, SR 220)
ParlG
Bundesgesetz vom 13. Dezember 2002 über die Bundes-
versammlung (Parlamentsgesetz,
SR 171.10
)
PBG
Bundesgesetz vom 20. März 2009 über die Personenbe-
förderung (Personenbeförderungsgesetz, SR 745.1)
PFZ
Personenfreizügigkeit
915 / 931
PGesV
Verordnung vom 31. Oktober 2018 über den Schutz von
Pflanzen vor besonders gefährlichen Schadstofforganis-
men (Pflanzengesundheitsverordnung, SR 916.20)
PGesV-WBF-UVEK
Verordnung des WFB und des UVEK vom 14. Novem-
ber 2019 zur Pflanzengesundheitsverordnung (SR
916.201)
PICASSO
Platform for the International Coordination of Auto-
mated Frequency Restoration and Stable System Opera-
tion
PK
paritätische Kommissionen
PMI
Vorhaben von gegenseitigem Interesse
(Projects of
Mutual Interest)
PRS
Öffentlicher regulierter Dienst
(Public Regulated Ser-
vice)
PrSG
Bundesgesetz vom 12. Juni 2009 über die Produktesi-
cherheit (SR 930.11)
PSMV
Verordnung vom 12. Mai 2010 über das Inverkehrbrin-
gen von Pflanzenschutzmitteln (Pflanzenschutzmittel-
verordnung, SR 916.161)
PsyG
Bundesgesetz vom 18. März 2011 über die Psychologie-
berufe (Psychologieberufegesetz, SR 935.81)
PublG
Bundesgesetz vom 18. Juni 2004 über die Sammlungen
des Bundesrechts und das Bundesblatt (Publikationsge-
setz, SR 170.512)
PüG
Preisüberwachungsgesetz vom 20. Dezember 1985 (SR
942.20)
RAV
Regionales Arbeitsvermittlungszentrum
RED II
Erneuerbare-Energien-Richtlinie
(Renewable Energy
Directive)
REMIT
Verordnung (EU) vom 25. Oktober 2011 über die Integ-
rität und Transparenz des Energiegrosshandelsmarkts
(Regulation on Wholesale Energy Market Integrity and
Transparency)
RFA
Regulierungsfolgenabschätzung
916 / 931
RHG
Bundesgesetz vom 23. Juni 2006 über die Harmonisie-
rung der Einwohnerregister und anderer amtlicher Per-
sonenregister
(Registerharmonisierungsgesetz,
SR
431.02)
RL
Richtlinie
RVOG
Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz vom
21. März 1997 (SR 172.010)
RVOV
Regierungs- und Verwaltungsorganisationsverordnung
vom 25. November 1998 (SR 172.010.1)
SAV
Schweizerischer Arbeitgeberverband
SBFI
Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation
SchG
Schiedsgericht
SchKG
Bundesgesetz vom 11. April 1889 über Schuldbetrei-
bung und Konkurs (SR 281.1)
SCM
Subventionen und Ausgleichsmassnahmen
(Subsidies
and Countervailing Measures)
SDG
Ziele für nachhaltige Entwicklung
(Sustainable Develo-
pment Goals)
SECO
Staatssekretariat für Wirtschaft
SEEI
Support for assessment of socio-economic and environ-
mental impacts of European R&I programme
SEM
Staatssekretariat für Migration
SEMP
Schweizer Programm zu Erasmus+ / Übergangslösung
für Erasmus+
SEPF
Swiss Expertise and Partnership Fund
SESAR 3
Gemeinsames Unternehmen für die Forschung zum
Flugverkehrsmanagement für den einheitlichen europäi-
schen Luftraum
(Single European Sky Air Traffic Ma-
nagement Research 3)
SGK
Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit
SGV
Schweizerische Gemeindeverband
SHK
Schweizerische Hochschulkonferenz
917 / 931
SKOS
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe
SNB
Schweizerische Nationalbank
SNE
Strategie Nachhaltige Entwicklung
SNF
Schweizerischer Nationalfonds
SOB
Schweizerische Südostbahn
SODK
Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozi-
aldirektoren
sog.
sogenannte
SPK
Staatspolitische Kommissionen
SR
Systematische Sammlung des Bundesrechts
SRK
Schweizerisches Rotes Kreuz
SSV
Schweizerischer Städteverband
StFV
Verordnung über den Schutz vor Störfällen vom 27. Feb-
ruar 1991 (Störfallverordnung, SR 814.012)
StGB
Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember
1937 (SR 311.0)
StromVG
Stromversorgungsgesetz vom 23. März 2007 (SR 734.7)
StromVV
Stromversorgungsverordnung vom 14. März 2008 (SR
734.71)
STS-EDA
Staatssekretariat Eidgenössisches Departement für aus-
wärtige Angelegenheiten
StSG
Strahlenschutzgesetz vom 22. März 1991 (SR 814.50)
SuG
Bundesgesetz vom 5. Oktober 1990 über Finanzhilfen
und Abgeltungen (Subventionsgesetz) (SR 616.1)
SVAG
Bundesgesetz vom 19. Dezember 1997 über eine leis-
tungsabhängige Schwerverkehrsabgabe (Schwerver-
kehrsabgabegesetz, SR 641.81)
SVAV
Verordnung vom 27. März 2024 über die Schwerver-
kehrsabgabe (Schwerverkehrsabgabeverordnung, SR
641.811)
SVV
Schweizerischer Versicherungsverband
918 / 931
TBDV
Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016 über
Trinkwasser sowie Wasser in öffentlich zugänglichen
Bädern und Duschanlagen (SR 817.022.11)
TBT
technische Handelshemmnisse
(Technical Barriers to
Trade)
TEN-E
transeuropäische Energieinfrastruktur
(Trans-European
Networks for Energy)
TERRE
Trans European Replacement Reserves Exchange
TRACES
Onlineplattform für Gesundheits- und Pflanzenschutz-
zertifikate
(Trade Control and Expert System)
TSchAV
Verordnung des EDI vom 5. September 2008 über Aus-
bildungen in der Tierhaltung und im Umgang mit Tieren
(Tierschutz-Ausbildungsverordnung, SR 455.109.1)
TSchG
Tierschutzgesetz vom 16. Dezember 2005 (SR 455)
TSchV
Tierschutzverordnung vom 23. April 2008 (SR 455.1)
TSG
Tierseuchengesetz vom 1. Juli 1966 (SR 916.40)
TSO
Übertragungsnetzbetreiber
(Transmission System Ope-
rator)
TSV
Tierseuchenverordnung vom 27. Juni 1995 (SR
916.401)
TVS
Textilverband Schweiz
TWh
Terawattstunde
TZV
Verordnung vom 31. Oktober 2012 über die Tierzucht
(Tierzuchtverordnung, SR 916.310)
UBRL
Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger
und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet
der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten
(Unionsbürgerrichtlinie/Freizügigkeitsrichtlinie)
UCPTE
Union für die Koordinierung der Erzeugung und des
Transports von elektrischer Energie
(Union for the Co-
ordination of Production and Transmission of Electri-
city)
UDB
Unionsdatenbank für flüssige und gasförmige erneuer-
bare Brennstoffe
919 / 931
UID
Unternehmens-Identifikationsnummer
ÜNB
Übertragungsnetzbetreiber
(Transmission System Ope-
rator)
UNO
Organisation der Vereinten Nationen
(United Nations
Organization)
UREK
Kommissionen für Umwelt, Raumplanung und Energie
UVEK
Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr,
Energie und Kommunikation
VACCP
Vulnerability Analysis/Critical Control Points
VDK
Konferenz kantonaler Volkswirtschaftsdirektorinnen
und Volkswirtschaftsdirektoren
VE
Vorentwurf (eines Gesetzes)
VFP
Verordnung vom 22. Mai 2002 über den freien Perso-
nenverkehr zwischen der Schweiz und der Europäischen
Union und deren Mitgliedstaaten, zwischen der Schweiz
und dem Vereinigten Königreich sowie unter den Mit-
gliedstaaten der Europäischen Freihandelsassoziation
(Verordnung über den freien Personenverkehr, SR
142.203)
VGG
Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesver-
waltungsgericht
(Verwaltungsgerichtsgesetz,
SR
173.32)
VHyMP
Verordnung des EDI vom 23. November 2005 über die
Hygiene bei der Milchproduktion (SR 916.351.021.1)
VHyS
Verordnung des EDI vom 23. November 2005 über die
Hygiene beim Schlachten (SR 817.190.1)
VID
Verordnung vom 5. November 2014 über Internet-Do-
mains (SR 784.104.2)
VK
Verpflichtungskredit
VKM
Vereinigung der kantonalen Migrationsbehörden
VLBE
Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016 über Le-
bensmittel für Personen mit besonderem Ernährungsbe-
darf (SR 817.022.104)
920 / 931
VLKA
Verordnung vom 8. Dezember 1997 über die Lebensmit-
telkontrolle in der Armee (SR 817.45)
VMüK
Verordnung des EDI vom 1. Dezember 2015 über die
Meldung von Beobachtungen übertragbarer Krankheiten
des Menschen (SR 818.101.126)
VNB
Verteilnetzbetreiber (Distribution System Operator)
VNBO
(Europäische) Organisation der Verteilnetzbetreiber
VNem
Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016 über Nah-
rungsergänzungsmittel (SR 817.022.14)
VöV
Verband öffentlicher Verkehr
VpM-BAFU
Verordnung des BAFU vom 29. November 2017 über
phytosanitäre
Massnahmen
für
den
Wald
(SR
916.202.2)
VpM-BLW
Verordnung des BLW vom 29. November 2019 über
phytosanitäre Massnahmen für die Landwirtschaft und
den produzierenden Gartenbau (SR 916.202.1)
VPRH
Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016 über die
Höchstgehalte für Pestizidrückstände in oder auf Er-
zeugnissen pflanzlicher und tierischer Herkunft (SR
817.021.23)
VPrP
Verordnung vom 23. November 2005 über die Primär-
produktion (SR 916.020)
VRLtH
Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016 über die
Höchstgehalte für Rückstände von pharmakologisch
wirksamen Stoffen und von Futtermittelzusatzstoffen in
Lebensmitteln tierischer Herkunft (SR 817.022.13)
VSAA
Verband Schweizerischer Arbeitsmarktbehörden
VSFK
Verordnung vom 16. Dezember 2016 über das Schlach-
ten und die Fleischkontrolle (SR 817.190)
VTNP
Verordnung vom 25. Mai 2011 über tierische Nebenpro-
dukte (SR 916.441.22)
VTSchS
Verordnung des BLV vom 8. November 2021 über den
Tierschutz beim Schlachten (SR 455.110.2)
VwVG
Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwal-
tungsverfahren (SR 172.021)
921 / 931
VZÄ
Vollzeitäquivalent
VZAE
Verordnung vom 24. Oktober 2007 über Zulassung,
Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (SR 142.201)
WACC
Gewichtete durchschnittliche Kapitalkosten
(Weighted
Average Cost of Capital)
WaG
Bundesgesetz vom 4. Oktober 1991 über den Wald
(Waldgesetz, SR 921.0)
WAK
Kommissionen für Wirtschaft und Abgaben
WaV
Verordnung vom 30. November 1992 über den Wald
(Waldverordnung, SR 921.01)
WBF
Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung
und Forschung
WBK
Kommissionen für Wissenschaft, Bildung und Kultur
WeBiG
Bundesgesetz vom 20. Juni 2014 über die Weiterbildung
(SR 419.1)
WEKO
Wettbewerbskommission
WES
Wiedereingliederungsstrategie
WHO
Weltgesundheitsorganisation
(World Health Organiza-
tion)
WKK
Wärme-Kraft-Kopplung
WOAH
Weltorganisation für Tiergesundheit
(World Organisa-
tion for Animal Health)
WöB
Wissensplattform nachhaltige öffentliche Beschaffung
WResV
Verordnung vom 25. Januar 2023 über die Errichtung ei-
ner Stromreserve für den Winter (SR 734.722)
WTO
Welthandelsorganisation
(World Trade Organization)
ZEMIS
Zentrales Migrationsinformationssystem
ZGB
Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember
1907 (SR 210)
ZV
Zollverordnung vom 1. November 2006 (SR 631.01)
922 / 931
Anhänge
Anhang 2.3 (1
):
Übersichtstabelle über die in Ziffer 2.3 (Personenfreizügigkeit)
verwendeten Daten
Zitat, Fundstelle
Quelle, Herleitung,
Annahmen
Letzte
Aktualisie-
rung
Bemerkungen
Ziff. 2.3.2 Ausgangs-
lage Zuwanderung
Zahlen stammen aus
der Ausländerstatis-
tik und der Jahressta-
tistik
Zuwanderung
2024 des SEM
2025
Zahlen
teilweise
gerundet.
Tabelle 2.3.9.1.1(1),
Beiträge,
die
die
Schweiz an Informa-
tionssysteme der EU
zu bezahlen hätte
Interne Abklärungen
der
Bundesverwal-
tung mit der Europäi-
schen Kommission
2025
Beiträge beziehen
sich teilweise auf
unterschiedliche
Bezugszeiten
(siehe Fussnoten)
Anhang 2.8 (1): Förderinstrumente im Rahmen von Erasmus+ und aktueller
Zugang der Schweiz
Legende:
Offener Zugang:
Schweizer Institutionen und Organisationen haben uneinge-
schränkten Zugang zu Aktivitäten und Mitteln des E+-Förderinstruments. Das heisst,
sie haben den gleichen Zugang wie Institutionen und Organisationen aus E+-Pro-
grammländern und können Mittel bei der EU-Kommission beantragen.
Eingeschränkter Zugang
:
Schweizer Institutionen und Organisationen können zwar
teilnehmen, aber im Unterschied zu Institutionen aus E+-Programmländern haben
sie weniger Rechte: sie können keine Projekte leiten, sich erst einem Konsortium
anschliessen, wenn die erforderliche Mindestanzahl von Institutionen aus Pro-
grammländern erreicht ist (in der Regel mindestens drei), nicht alle Aktivitäten
durchführen (z. B. (Ko)Leitung von Arbeitspaketen) und erhalten nur teilweise eine
finanzielle Unterstützung durch Erasmus+-Mittel.
Blockierter Zugang, parallele Ersatzmassnahmen:
Schweizer Institutionen und Or-
ganisationen haben keinen Zugang zu Aktivitäten und Mitteln des E+ - Förderinstru-
ments. Die «Schweizer Lösung» bietet aber parallele Ersatzmassnahmen.
Blockierter Zugang, keine parallelen Massnahmen
:
Schweizer Institutionen und Or-
ganisationen haben keinen Zugang zu Aktivitäten und Mitteln des E+ - Förderinstru-
ments. Die «Schweizer Lösung» bietet keine parallelen Ersatzmassnahmen.
923 / 931
Leitaktion 1
Aktivität
Bildungsbereich
Studierendenmobilität zu Learn- und Praktikums-
zwecken
Hochschulbildung
Gemischte Mobilität
Doktorandenmobilität
Personalmobilität zu Learn- und Schulungszwe-
cken
Gemsichte Intensivprogramme
Virtueller Autausch
Online-Sprachunterstützung
Mobilität von Lernenden
Berufsbildung
Mobilität von Personal
Online-Sprachunterstützung
Mobilität für Schüler
Schulbildung
Mobilität für Personal
Mobilität von Lernenden
Erwachsenenbildung
Mobilität für Personal
Jugendbegegnungen
Jugend
Vernetzung und Schulung für Jugendarbeiter
Jugendbeteiligungs-Aktivitäten
DiscoverEU
Virtueller Autausch
Mobilität für Personal
Sport
Leitaktion 2
Kooperationspartnerschaften
Hochschulbildung
Kapazitätsaufbau
Partnerschaften für Innovation
Zukunftsorientierte Projekte
Erasmus Mundus Aktionen
Lehrkräfteakademien
Europäische Hochschulen
Kleinere Partnerschaften
Berufsbildung
924 / 931
Kooperationspartnerschaften
Kapazitätsaufbau
Partnerschaften für Innovation
Zukunftsorientierte Projekte
Zentren der beruflichen Exzellenz
Kleinere Partnerschaften
Schulbildung
Kooperationspartnerschaften
Zukunftsorientierte Projekte
Lehrkräfteakademien
Kleinere Partnerschaften
Erwachsenenbildung
Kooperationspartnerschaften
Zukunftsorientierte Projekte
Kleinere Partnerschaften
Jugend
Kooperationspartnerschaften
Kapazitätsaufbau
Kleinere Partnerschaften
Sport
Kooperationspartnerschaften
Kapazitätsaufbau im Bereich Sport
Leitaktion 3
Unterstützung der Politikentwicklung und der poli-
tischen Zusammenarbeit
Hochschulbildung
Schulungs- und Kooperationsaktivitäten
Unterstützung der Politikentwicklung und der poli-
tischen Zusammenarbeit
Berufsbildung
Unterstützung der Politikentwicklung und der poli-
tischen Zusammenarbeit
Schulbildung
Unterstützung der Politikentwicklung und der poli-
tischen Zusammenarbeit
Erwachsenenbildung
«Die europäische Jugend vereint»
Jugend
925 / 931
Anhang 2.8 (2): Vergleich Assoziierung an Erasmus+ / «Schweizer Lösung»
(Zusammenfassung Kosten-Nutzen-Analyse)
Assoziierung an
Erasmus+
Weiterführung
«Schweizer Lösung»
Finanzielle
Tragbarkeit
In angespannter Lage der
Bundesfinanzen bedeutende
finanzielle Mittel notwendig
(Budget Erasmus+-Assozi-
ierung 2027: 187,5 Mio.
CHF, davon 15,8 Mio. CHF
für nationale Zusatzkosten)
Selbständige Bestimmung des
Budgets möglich, da keine
Übernahme der Programmricht-
linien notwendig (Budget
«Schweizer Lösung» gemäss Fi-
nanzplan 2027: 57,9 Mio. CHF,
davon ca. 7,0 Mio. CHF für Be-
trieb und Begleitmassnahmen).
Inhaltlicher Nutzen
Allgemein
Erhöhte internationale
Sichtbarkeit des Schweizer
Bildungssystems und seiner
Stärken und Bildungsab-
schlüsse.
Ausgestaltung der Lösung nach
effektiven Interessen der
Schweiz, jedoch
weniger Beteiligungs- und Ko-
operationsmöglichkeiten und
damit verbunden eingeschränkte
Sichtbarkeit und Bekanntma-
chung des Schweizer Bilungs-
systems.
Potential für Weiterent-
wicklung der Aktivitäten
und Erhöhung der Beteili-
gungszahlen vorhanden.
Beitrag zur Erreichung der
politischen Ziele im Bereich
Austausch und Mobilität in
der Bildung möglich.
Im internationalen Vergleich un-
terdurchschnittliche Weiterent-
wicklung der Aktivitäten und
Erhöhung der Beteiligungszah-
len (2017: 11'400 / 2024: 16'400
Mobilitäten). Politische Ziele im
Bereich Austausch und Mobili-
tät in der Bildung vor diesem
Hintergrund schwierig zu errei-
chen
Systematische Beteiligung
an EU-
Bildungszusammenarbeit
mit vollständigem und
Blockierter Zugang zu rund
zwei Dritteln der Erasmus+-Ak-
tivitäten. Trotz parallelen Er-
satzmassnahmen gilt die
Schweiz nicht als gleichwertiger
926 / 931
rechtlich gesichertem Zu-
gang zu allen Aktivitäten
von Erasmus+.
Partner wie die E+-Programm-
länder.
Inhaltlicher Nutzen
Leitaktion 1:
Lernmobilität von Ein-
zelpersonen
Budgetanteil (gemäss an-
nual work programme Eras-
mus+ 2025): 70%
Budgetanteil 80% (gemäss Fi-
nanzplan 2027)
Zugang
Zugang zu allen Mobilitäts-
aktivitäten und Begleit-
diensten. Kohärente und ef-
fiziente Abwicklung mittels
gemeinsamer IT-Tools.
Kein Zugang zu Mobilitätsakti-
vitäten von Erasmus+ und ge-
meinsamen Abwicklungstools.
Risiko einer zunehmenden «Di-
gital-Kluft» zu online-Tools im
Rahmen von Erasmus+.
Zusätzlich zur Outgoing-Mobili-
tät auch Übernahme der Inco-
ming-Mobilität notwendig.
Hoher administrativer Aufwand
durch zusätzliche, teils doppelte
Antragsformalitäten.
Mobilitätsprojekte
: Mehr
Austauschmöglichkeiten
und grössere, auch aus-
sereuropäische Auswahl an
Praktikumsplätzen.
Kooperationsprojekte
: v.a.
in der Anfangsphase Risiko
einer nicht vollständigen
Ausschöpfung der Mobili-
tätsmittel über den Hoch-
schulbereich hinaus, sofern
nicht angemessene Begleit-
massnahmen zur Verfügung
stehen.
Weniger Austauschmöglichkei-
ten und Mühe, gute Praktikums-
plätze zu finden.
927 / 931
Kompetenzerwerb
Breite Möglichkeiten für
den Erwerb internationaler
Kompetenzen (interkultu-
relle, sprachliche, persönli-
che und fachliche Kompe-
tenzen) und damit Beitrag
zu einer besseren Beschäfti-
gungsfähigkeit.
Aufgrund niedriger Mobilitäts-
quote eingeschränkte Möglich-
keiten zum Erwerb internationa-
ler Kompetenzen.
Nachholbedarf im Vergleich mit
anderen Staaten in sämtlichen
Bildungsbereichen ausser dem
Hochschulbereich.
Inhaltlicher Nutzen
Leitaktion 2:
Kooperationen zwi-
schen Institutionen
und Organisationen
Budgetanteil (gemäss an-
nual work programme Eras-
mus+ 2025): 21%
Budgetanteil 9%
Zugang
Aktiver Zugang zu allen
Kooperationsprojekten als
gleichwertiger Partner gesi-
chert.
Eingeschränkter Zugang.
Schweizer Institutionen können
Projekte in den wenigsten Fällen
selbst lancieren und koordinie-
ren und müssen i.d.R. höheren
Eigenanteil aufwenden.
Exzellenzförderung
Uneingeschränkter Zugang
zur Exzellenzförderung
(European Universities Ini-
tiative, Centres for Vocatio-
nal Excellence, Teacher
Academies etc.).
Lancierung und Koordinie-
rung von Projekten mög-
lich.
Schweizer Institutionen sind von
zentralen Projekten in der Ex-
zellenzförderung oder bei Inno-
vationsallianzen ausgeschlossen
(Beteiligung an European Uni-
versities Initiative ohne Koordi-
nationsfunktion möglich).
Inhaltlicher Nutzen
Leitaktion 3:
Unterstützung Politik-
entwicklung und poli-
tische Zusammenar-
beit
Budgetanteil (gemäss an-
nual work programme Eras-
mus+ 2025): 4%
Budgetanteil 0%
928 / 931
Partner & Gremien
Grenzüberschreitender Aus-
tausch zu strategischen, bil-
dungspolitischen Fragen mit
europäischen Partnern. Re-
gelmässige Bildungsminis-
ter- und Generaldirektoren-
treffen. Zugang als
Beobachter in sämtlichen
Programmgremien sowie in
weiteren Expertengruppen.
Einbezug in die Diskussion
bildungspolitischer Heraus-
forderungen.
Eingeschränkter Zugang zu bil-
dungspolitisch relevanten Foren
und Initiativen zur Entwicklung
der Bildungspolitik in Europa,
ausser im Hochschulbereich
(Bologna Follow-up Group).
Steuerungs-
möglichkeiten und
Programm-
umsetzung
Begrenzter Einfluss auf
Umsetzungsrichtlinien. We-
niger Flexibilität in Pro-
grammumsetzung. Bürokra-
tischer Überbau des
Programms. Aufwändigere
Berichterstattungspflichten.
Selbständige Steuerung und An-
passung der Aktivitäten und
Umsetzungsrichtlinien. Tiefer
administrativer Aufwand im
Umgang mit der Nationalagen-
tur.
Chancen & Risiken
Grosses Potenzial für Aus-
weitung der internationalen
Bildungszusammenarbeit.
Mittel- bis langfristig potentielle
Abkoppelung von europäischer
Bildungszusammenarbeit.
Angebot & Nachfrage
Risiko, dass Mobilitäts- und
Kooperationsaktivitäten na-
mentlich in der Einstiegs-
phase nicht das Niveau er-
reichen, welches in einem
ausgeglichenen Verhältnis
zum Assoziierungsbeitrag
steht, jedoch geringeres Ri-
siko dank einem mit der EU
ausgehandeltes Rabatt von
30 % für 2027 für Eras-
mus+.
Nachfrage übersteigt finanzielle
Möglichkeiten. Bei aktueller
Mittelausstattung kein oder nur
geringes Wachstum möglich.
Aufgrund notwendiger Priorisie-
rung z.T. Verzicht auf stark
nachgefragte Aktivitäten, wie
z.B. Dozierendenmobilität für
Förderung European Universi-
ties.
929 / 931
Budget
Sofern die Assoziierung mit
angemessenen Begleitmass-
nahmen unterstützt wird,
dürfte das Budget für de-
zentrale Aktivitäten voraus-
sichtlich vollständig ausge-
schöpft werden. Ansonsten
besteht das Risiko unvoll-
ständiger Ausschöpfung des
zur Verfügung gestellten
Budgets
Budgetentwicklung der Schwei-
zer Lösung seit 2014 hat den
Rückstand der Schweiz zuse-
hends vergrössert. Start 2014
auf dem Niveau des halben BIP-
Anteils, den die Schweiz im
Falle einer Assoziierung an
Erasmus+ hätte entrichten müs-
sen, und seither Verdoppelung.
Das EU-Budget hat sich demge-
genüber seither verdreifacht.
Anhang 2.11 (1): Glossar Ziffer 2.3 Strom
Endverbraucher bzw. Endkunde: Kunden, welche Elektrizität für den eigenen Ver-
brauch kaufen. Ausgenommen hiervon ist der Elektrizitätsbezug für den Eigenbedarf
eines Kraftwerkes sowie für den Antrieb von Pumpen in Pumpspeicherkraftwer-
ken.
866
Herkunftsnachweis (HKN): Seit 2013 werden HKN über die Herkunft und Qualität
des Stroms für die gesamte schweizerische Produktion aus Kraftwerken mit einer
Netzanschlussleistung über 30 Kilovoltampere (kVA) erbracht. Für den Endverbrau-
cher sind die HKN eine Garantie für den auf der Rechnung ausgewiesenen, gelieferten
Strommix.
867
MARI (Manually Activated Reserves Initiative): europäische Plattform für Re-
gelenergie (schnelle Tertiärregelenergie) bzw. für die gemeinsame Vorhaltung von
Regelleistung.
868
Marktkopplung (
Market Coupling
): Verfahren, wo getrennte Märkte für den Handel
von Energie und die dafür notwendigen Transportkapazitäten zu einem integrierten
Energiemarkt zusammengeschlossen oder eben gekoppelt werden.
869
PICASSO (Platform for the International Coordination of Automated Frequency Res-
toration and Stable System Operation): europäische Plattform für Regelenergie (Se-
kundärregelenergie) bzw. für die gemeinsame Vorhaltung von Regelleistung.
870
866
ElCom, Glossar, https://www.elcom.admin.ch/elcom/de/home/glossar.html
867
Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen, Glossar der VSE Branchendoku-
mente, https://www.strom.ch/de/service/glossar-der-vse-branchendokumente#Engpass
868
Swissgrid, April 2025, TERRE, MARI und PICASSO - Europäische Plattformen für die
gemeinsame Vorhaltung von Regelleistung (Factsheet).
869
Swissgrid, Februar 2015, Market Coupling (Factsheet).
870
Swissgrid, April 2025, TERRE, MARI und PICASSO - Europäische Plattformen für die
gemeinsame Vorhaltung von Regelleistung (Factsheet).
930 / 931
TERRE (Trans European Replacement Reserve Exchange): europäische Plattform für
Regelenergie (langsame Tertiärregelenergie) bzw. für die gemeinsame Vorhaltung
von Regelleistung.
871
Übertragungsnetz: Elektrizitätsnetz, das der Übertragung von Elektrizität über grös-
sere Distanzen im Inland sowie dem Verbund mit den ausländischen Netzen dient und
in der Regel auf der Spannungsebene 220/380 kV betrieben wird. Zum Übertragungs-
netz gehören insbesondere auch: a) Leitungen inklusive Tragwerke; b) Kuppeltrans-
formatoren, Schaltanlagen, Mess-, Steuer- und Kommunikationseinrichtungen; c) ge-
meinsam mit anderen Netzebenen genutzte Anlagen, die mehrheitlich im
Zusammenhang mit dem Übertragungsnetz genutzt werden oder ohne die das Über-
tragungsnetz nicht sicher oder nicht effizient betrieben werden kann; d) Schaltfelder
vor dem Transformator beim Übergang zu einer anderen Netzebene oder zu einem
Kraftwerk.
872
Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB): Der ÜNB ist verantwortlich für die Führung des
schweizerischen Übertragungsnetzes mit dem Ziel eines sicheren, leistungsfähigen
und effizienten Betriebs unter Einhaltung der technischen Grenzwerte und der gelten-
den technischen Regeln.
873
Verteilnetz: Elektrizitätsnetz hoher, mittlerer oder niederer Spannung zum Zwecke
der Belieferung von Endverbrauchern oder EVUs.
874
Verteilnetzbetreiber (VNB): Der VNB ist zuständig für die Gewährleistung des siche-
ren, leistungsfähigen und effizienten Betriebs des Verteilnetzes. Darüber hinaus
schliesst der VNB Netzanschlussnehmer an sein Netz an und ermöglicht Netznutzern
die Nutzung des Netzes.
875
Wasserzins: Der Wasserzins ist die Abgeltung zugunsten des Gemeinwesens (Ge-
meinden, Kantone) der Nutzung der Wasserkraft, die zur Energieerzeugung genutzt
wird.876
871
Swissgrid, April 2025, TERRE, MARI und PICASSO - Europäische Plattformen für die
gemeinsame Vorhaltung von Regelleistung (Factsheet).
872
ElCom, Glossar, https://www.elcom.admin.ch/elcom/de/home/glossar.html
873
Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen, Glossar der VSE Branchendoku-
mente, https://www.strom.ch/de/service/glossar-der-vse-branchendokumente#Engpass
874
ElCom, Glossar, https://www.elcom.admin.ch/elcom/de/home/glossar.html
875
Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen, Glossar der VSE Branchendoku-
mente, https://www.strom.ch/de/service/glossar-der-vse-branchendokumente#Engpass
876
Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen, Glossar der VSE Branchendoku-
mente, https://www.strom.ch/de/service/glossar-der-vse-branchendokumente#Engpass
931 / 931