Eidgenössisches Departement für

auswärtige Angelegenheiten EDA

Bern, 13. Juni 2025

Paket «Stabilisierung und

Weiterentwicklung der

Beziehungen Schweiz–EU»

Erläuternder Bericht

zur Eröffnung

des

Vernehmlassungsverfahrens

2 / 931

Übersicht

Ausgangslage

Für die Leistungsfähigkeit einer offenen Volkswirtschaft wie der Schweiz, die über

keine bedeutenden Rohstoffe und einen nur begrenzten Binnenmarkt verfügt, spielt

der Zugang zu ausländischen Märkten eine unabdingbare Rolle. Die Schweiz setzt

sich dafür ein, dass dieser Zugang möglichst weitreichend und geografisch diversifi-

ziert ist. Damit wird auch die Widerstandsfähigkeit in Krisen gestärkt. Gleichzeitig

konzentriert sich die Schweiz auf ihre wichtigsten Wirtschaftspartner. Die EU ist mit

einem Anteil von rund 59 Prozent am Warenhandel die mit Abstand wichtigste Han-

delspartnerin der Schweiz. Aus diesen Gründen stehen die Stabilisierung und Weiter-

entwicklung der Beziehungen mittels des bewährten bilateralen Wegs zwischen der

Schweiz und der EU im Zentrum der bundesrätlichen Aussen- und Wirtschaftspolitik.

Die Welt wird instabiler, unsicherer und unvorhersehbarer. Globale Entwicklungen

fordern die einzelnen Staaten heraus: Grossmächtekonkurrenz, zunehmendes Ge-

wicht neuer informeller Gruppierungen (z. B. BRICS), Erosion des internationalen

Rechts (Macht vor Recht), die Klimaveränderung, ein weiter zunehmender Migrati-

onsdruck, Entwicklungen in der Informationstechnologie und im Energiesektor, aber

auch wachsende Staatsschulden, eine Fragmentierung der internationalen Wirt-

schaftsordnung, zunehmende handelspolitische Spannungen sowie fragmentierte und

polarisierte Gesellschaften. Ein regelrechter «Ring of Fire» mit dem Krieg in der Uk-

raine, Unruhen im Balkan und im Kaukasus, Konflikten im Mittleren Osten, einer in-

stabilen Lage in Nordafrika sowie Machtumstürze in Subsahara-Afrika machen die

Weltlage zu einem fragilen Umfeld. Diesen globalen Instabilitäten kann die Schweiz

entgegentreten, wenn die Beziehungen zu ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, zu Part-

nern, die ihre Werte teilen, stabil und berechenbar sind. Vor diesem Hintergrund sind

geregelte Beziehungen zur EU für die Schweiz von strategischer Bedeutung.

Die Schweiz verfolgt seit mehr als 25 Jahren auf konsequente Weise den bilateralen

Weg mit der EU. Der bilaterale Weg weist von allen Optionen (Nichtstun, Freihandel,

Beitritt zum EWR, Beitritt zur EU) das ausgewogenste Verhältnis von konkretem, na-

mentlich wirtschaftlichem Nutzen sowie politischem Gestaltungsspielraum auf. Die

Erfahrung aus diesen 25 Jahren zeigt, dass der bilaterale Weg sich bewährt. Er wurde

deshalb direkt und indirekt neun Mal durch das Volk an der Urne bestätigt. Die

Schweiz kann aufgrund der mit der EU abgeschlossenen Binnenmarkt- und Koopera-

tionsabkommen gezielt an denjenigen Bereichen teilhaben, die ihren Kernanliegen

dienen, ohne dass die Kompetenzen der Kantone, der Bundesversammlung, des Bun-

desrates, der Gerichte oder des Volkes eingeschränkt werden. Mit den ausgehandel-

ten Mitwirkungsrechten in der dynamischen Rechtsübernahme für Bund, Kantone und

Parlament wird sie sich in Zukunft ausserdem bei der Weiterentwicklung des Rechts,

das Teil der Abkommen ist und sein wird, einbringen können.

3 / 931

Inhalt der Vorlage

Das vorliegende Paket ist Ausdruck der Kontinuität der massgeschneiderten Bezie-

hungen zwischen der Schweiz und der EU. Es stabilisiert den bewährten bilateralen

Weg und garantiert das Funktionieren der bestehenden bilateralen Verträge für die

Zukunft. Zudem werden dadurch die Beziehungen in denjenigen Bereichen weiterent-

wickelt, die im Interesse der Schweiz liegen. Konkret umfasst es einen

Stabilisie-

rungsteil

mit

(i)

der sektoriellen Verankerung von institutionellen Elementen in den

bestehenden Binnenmarktabkommen Personenfreizügigkeit, technische Handels-

hemmnisse (MRA), Land- und Luftverkehr unter Berücksichtigung von Ausnahmen,

Absicherungen und Prinzipien,

(ii)

der Aufnahme von Bestimmungen über staatliche

Beihilfen in die bestehenden Land- und Luftverkehrsabkommen,

(iii)

weiteren Anpas-

sungen der bestehenden Abkommen (Personenfreizügigkeit, technische Handels-

hemmnisse (MRA), Land- und Luftverkehr sowie Landwirtschaft),

(iv)

Kooperations-

abkommen in den Bereichen Forschung, Bildung und Weltraum sowie

(v)

der

Verstetigung des Schweizer Beitrags. Ein

Weiterentwicklungsteil

widerspiegelt die

Schweizer Interessen an einem gezielten Ausbau der bilateralen Beziehungen mit der

EU. Er umfasst:

(i)

neue Binnenmarktabkommen in den Bereichen Strom (inkl. insti-

tutionelle Elemente und staatliche Beihilfen) und Lebensmittelsicherheit (inkl. insti-

tutionelle Elemente) sowie

(ii)

ein neues Kooperationsabkommen im Bereich Gesund-

heit. Die Schweiz und die EU streben zudem nach einem regelmässigen politischen

Austausch in unterschiedlichen Bereichen. Folglich wurden

(i)

ein hochrangiger Di-

alog und

(ii)

eine institutionalisierte parlamentarische Zusammenarbeit beschlossen.

In einer gemeinsamen Erklärung wurden Übergangsregeln für die Phase ab Ende

2024 bis zum Inkrafttreten des Pakets festgelegt.

Die vorliegenden Abkommen sichern die verfassungsmässigen Kompetenzen der Kan-

tone, der Bundesversammlung, des Bundesrates, der Gerichte und des Volkes. Die

durch die Bundesverfassung garantierten Initiativ- und Referendumsrechte (Art. 136

Abs. 2 BV) sind weiterhin in vollem Umfang gewährleistet. Weder die einzelnen Ab-

kommen noch die darin enthaltenen institutionellen Elemente verhindern, dass eine

Volksinitiative lanciert werden kann, die sich gegen die Übernahme einer relevanten

Weiterentwicklung des EU-Rechts in das betroffene Abkommen richtet. Ebenso wird

gegen eine solche Rechtsübernahme beziehungsweise ein in diesem Zusammenhang

erforderliches neues Gesetz oder eine erforderliche Gesetzesanpassung wie bisher

das Referendum ergriffen werden können.

Es ist der Schweiz somit gelungen, ihr Kernziel mit Blick auf ihre Beziehungen zur

EU zu erreichen: eine bestmögliche gegenseitige Beteiligung an klar definierten Be-

reichen des Binnenmarkts sowie Kooperation in ausgewählten Interessenbereichen,

unter Wahrung des grösstmöglichen politischen Handlungsspielraums.

Dazu kommen inländische Massnahmen in den Bereichen Lohnschutz, Zuwanderung,

Studiengebühren, Strom und Landverkehr. Es handelt sich dabei um Massnahmen,

die für die Umsetzung der völkerrechtlichen Verträge nicht zwingend sind, vom Bun-

desrat jedoch zugunsten der innenpolitischen Tragfähigkeit des Pakets ausgearbeitet

wurden. Sie stützen sich auf einen breiten, inklusiven und transparenten Prozess mit

4 / 931

einer Vielzahl von innenpolitischen Akteuren, namentlich den Kantonen, den parla-

mentarischen Kommissionen der eidgenössischen Räte, den Städten und Gemeinden,

den Verbänden und Unternehmen sowie den Sozialpartnern und den politischen Par-

teien.

Der Bundesrat empfiehlt die Annahme der Umsetzungsgesetzgebung sowie der Be-

gleitmassnahmen.

5 / 931

Inhaltsverzeichnis

1

Allgemeiner Teil

29

1.1

Einführung und Ausgangslage: Schweizer Europapolitik

29

1.2

Geprüfte Alternativen und Paketansatz

33

1.3

Verlauf der Verhandlungen und Verhandlungsergebnis

37

1.3.1

Exploratorische Phase und Verhandlungsmandat

37

1.3.2

Verhandlungsphase

39

1.3.3

Miteinbezug von Parlament, Kantonen und weiteren

Interessensgruppierungen

41

1.3.4

Verhandlungsergebnis

44

1.4

Verhältnis zur Legislaturplanung sowie zu Strategien des

Bundesrates

46

1.4.1

Verhältnis zur Legislaturplanung

46

1.4.2

Verhältnis zu Strategien des Bundesrates

46

1.5

Erledigung parlamentarischer Vorstösse

47

1.6

Würdigung der Abkommen

49

1.6.1

Politische Würdigung

49

1.6.2

Wirtschaftliche Würdigung

56

2

Die einzelnen Abkommen

58

2.1

Institutionelle Elemente

58

2.1.1

Zusammenfassung

58

2.1.2

Ausgangslage

61

2.1.2.1

Institutionelle Elemente in den bestehenden

Binnenmarktabkommen

61

2.1.2.2

Verhandlungen über ein institutionelles

Rahmenabkommen

63

2.1.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

64

2.1.3.1

Interessenlage

64

2.1.3.2

Paketansatz und exploratorische Gespräche

65

2.1.3.3

Verhandlungsmandat

65

2.1.3.4

Verhandlungsprozess

67

2.1.4

Grundzüge der institutionellen Elemente

68

2.1.5

Erläuterungen zu einzelnen institutionellen

Bestimmungen

69

2.1.5.1

Präambel und allgemeine Bestimmungen

69

2.1.5.1.1

Präambel

69

2.1.5.1.2

Ziele

70

2.1.5.1.3

Beziehung zum Abkommen

71

2.1.5.1.4

Bilaterale Abkommen betreffend

den Binnenmarkt

71

2.1.5.2

Dynamische Rechtsübernahme

72

6 / 931

2.1.5.2.1

Mitwirkung an der Erarbeitung von

EU-Rechtsakten («

Decision

Shaping

»)

72

2.1.5.2.2

Integration von EU-Rechtsakten in

das Abkommen

73

2.1.5.2.3

Umsetzung der Verfahren zur

dynamischen Rechtsübernahme

79

2.1.5.3

Auslegung, Anwendung und Überwachung

79

2.1.5.3.1

Grundsatz der einheitlichen

Auslegung

79

2.1.5.3.2

Grundsatz der wirksamen und

harmonischen Anwendung

81

2.1.5.4

Streitbeilegung, Zusammenarbeit zwischen

Gerichten sowie Einreichung von Schriftsätzen

und Stellungnahmen

81

2.1.5.4.1

Ausschliesslichkeitsgrundsatz

81

2.1.5.4.2

Streitbeilegungsverfahren

82

2.1.5.4.3

Ausgleichsmassnahmen

84

2.1.5.4.4

Zusammenarbeit zwischen

Gerichten

86

2.1.5.4.5

Einreichung von Schriftsätzen und

Stellungnahmen

86

2.1.5.4.6

Umsetzung der Verfahren zur

Streitbeilegung und zur Einreichung

von Schriftsätzen und

Stellungnahmen

87

2.1.5.5

Weitere Bestimmungen

87

2.1.5.5.1

Finanzbeitrag

87

2.1.5.5.2

Bezugnahmen auf Gebiete und

Staatsangehörige sowie

Bestimmungen zum Inkrafttreten

und zur Durchführung und zu den

Adressaten in den EU-Rechtsakten

88

2.1.5.6

Schlussbestimmungen

88

2.1.5.7

Bestimmungen über den GA, den räumlichen

Geltungsbereich, die Rechte und Pflichten der

Mitgliedstaaten sowie die Vorrechte und

Befreiungen

89

2.1.6

Umsetzungserlass

89

2.1.7

Auswirkungen des Paketelements

89

2.1.7.1

Auswirkungen auf den Bund

91

2.1.7.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und

Berggebiete

92

2.1.7.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

92

2.1.7.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

92

7 / 931

2.1.7.5

Auswirkungen auf die Umwelt

92

2.1.7.6

Auswirkungen auf das Initiativ- und

Referendumsrecht

92

2.1.7.7

Andere Auswirkungen: Rolle des Parlaments

94

2.1.7.7.1

Allgemeine Erwägungen

94

2.1.7.7.2

Mitwirkungsmöglichkeiten des

Parlaments bei der dynamischen

Rechtsübernahme

94

2.1.8

Rechtliche Aspekte des Paketelements

97

2.1.8.1

Verfassungsmässigkeit der institutionellen

Elemente

97

2.1.8.2

Verfassungsmässigkeit der

Umsetzungsgesetzgebung und

Begleitmassnahmen

98

2.1.8.3

Vereinbarkeit mit anderen internationalen

Verpflichtungen der Schweiz

98

2.1.8.4

Erlassform

98

2.1.8.5

Vorläufige Anwendung

98

2.1.8.6

Datenschutz

98

2.2

Staatliche Beihilfen

100

2.2.1

Zusammenfassung

100

2.2.2

Ausgangslage und Vorverfahren

101

2.2.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

102

2.2.4

Materielle Grundzüge des EU-Beihilferechts

103

2.2.5

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der völkerrechtlichen

Beihilfebestimmungen

106

2.2.5.1

Zielsetzung und allgemeine Grundsätze der

völkerrechtlichen Beihilfebestimmungen

106

2.2.5.2

Verhältnis zu den bestehenden Abkommen

107

2.2.5.3

Beihilfedefinition, Grundsatz und

Ausnahmeregeln

107

2.2.5.4

Überwachungssysteme (Zwei-Pfeiler-Ansatz)

111

2.2.5.5

Bestehende Beihilfen

113

2.2.5.6

Transparenz

115

2.2.5.7

Modalitäten der Zusammenarbeit und

Konsultationen

115

2.2.5.8

Integration von EU-Rechtsakten in die

Beihilfeanhänge

116

2.2.5.9

Schlussbestimmungen

116

2.2.6

Grundzüge des Beihilfeüberwachungsgesetzes

116

2.2.6.1

Beihilfeüberwachungsgesetz

116

2.2.6.2

Verworfene Alternativen

117

2.2.6.3

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

121

2.2.6.4

Umsetzungsfragen

121

2.2.6.5

Verordnungen sowie Publikationen der

Überwachungsbehörde

122

8 / 931

2.2.7

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des

Beihilfeüberwachungsgesetzes

123

2.2.8

Änderung anderer Erlasse

186

2.2.8.1

Bundesgerichtsgesetz vom 17. Juni 2005 (BGG)

186

2.2.8.2

Verwaltungsgerichtsgesetz vom 17. Juni 2005

(VGG)

189

2.2.8.3

Kartellgesetz vom 6. Oktober 1995 (KG)

194

2.2.8.4

Luftfahrtgesetz vom 21. Dezember 1948

195

2.2.8.5

Preisüberwachungsgesetz vom 20. Dezember

1985 (PüG)

195

2.2.9

Zwischenzeitliche Änderung des Luftfahrtgesetzes

195

2.2.10

Auswirkungen des Paketelements

195

2.2.10.1

Auswirkungen auf den Bund

196

2.2.10.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und

Berggebiete

199

2.2.10.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

200

2.2.10.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

201

2.2.10.5

Auswirkungen auf die Umwelt

201

2.2.10.6

Andere Auswirkungen

202

2.2.11

Rechtliche Aspekte des Paketelements

202

2.2.11.1

Verfassungsmässigkeit der Protokolle

202

2.2.11.2

Verfassungsmässigkeit der

Umsetzungsgesetzgebung

202

2.2.11.2.1

Überwachung von Beihilfen des

Bundes

202

2.2.11.2.2

Überwachung von Beihilfen der

Kantone

203

2.2.11.2.3

Nicht einschlägige

Verfassungsgrundlagen

208

2.2.11.2.4

Fazit zur Verfassungsmässigkeit

209

2.2.11.3

Vereinbarkeit mit anderen internationalen

Verpflichtungen

209

2.2.11.4

Erlassform

209

2.2.11.5

Vorläufige Anwendung

209

2.2.11.6

Besondere rechtliche Aspekte zum

Umsetzungserlass

209

2.2.11.7

Datenschutz

209

2.3

Personenfreizügigkeit

211

2.3.1

Zusammenfassung

211

2.3.2

Ausgangslage

214

2.3.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

219

2.3.4

Vorverfahren

222

2.3.5

Grundzüge der Protokolle

223

2.3.5.1

Institutionelle Elemente

223

2.3.5.2

Änderungsprotokoll

224

9 / 931

2.3.5.2.1

Personenfreizügigkeit (Anhang I

FZA)

224

2.3.5.2.2

Koordinierung der Systeme der

sozialen Sicherheit (Anhang II FZA)

231

2.3.5.2.3

Anerkennung von

Berufsqualifikationen (Anhang III

FZA)

232

2.3.6

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der Protokolle

232

2.3.6.1

Institutionelles Protokoll

232

2.3.6.2

Änderungsprotokoll

235

2.3.6.2.1

Allgemeine Ausführungen

235

2.3.6.2.2

Hauptteil

236

2.3.6.2.3

Anhang I des Änderungsprotokolls

betreffend Anhang I des FZA

(Zuwanderung und Lohnschutz)

254

2.3.6.2.4

Anhang II des Änderungsprotokolls

betreffend Anhang II des FZA

(Koordinierung der Systeme der

sozialen Sicherheit)

255

2.3.6.2.5

Anhang III des Änderungsprotokolls

betreffend Anhang III des FZA

(Anerkennung von

Berufsqualifikationen)

257

2.3.6.2.6

Gemeinsame Erklärungen

262

2.3.6.3

Protokoll betreffend den Erwerb von

Immobilien in Malta und Protokoll über

Zweitwohnungen in Dänemark

265

2.3.6.4

Zusatzprotokoll zu Bewilligungen für

Langzeitaufenthalte

(Niederlassungsbewilligungen)

266

2.3.7

Grundzüge des Umsetzungserlasses

266

2.3.7.1

Umsetzungsgesetzgebung

269

2.3.7.1.1

Zuwanderung

269

2.3.7.1.2

Lohnschutz

270

2.3.7.1.3

Nichtdiskriminierung bei den

Studiengebühren

274

2.3.7.2

Begleitmassnahmen mit Gesetzesanpassungen

275

2.3.7.2.1

Zuwanderung

275

2.3.7.2.2

Lohnschutz

275

2.3.7.2.3

Gleichbehandlung bezüglich

Studiengebühren

280

2.3.7.3

Begleitmassnahmen ohne Gesetzesanpassungen

281

2.3.7.3.1

Zuwanderung

281

2.3.7.3.2

Lohnschutz

281

2.3.7.4

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

283

2.3.7.5

Umsetzungsfragen

283

10 / 931

2.3.7.5.1

Zuwanderung

283

2.3.7.5.2

Lohnschutz

287

2.3.8

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des

Umsetzungserlasses

288

2.3.8.1

Zuwanderung

288

2.3.8.1.1

Ausländer- und Integrationsgesetz

(AIG)

288

2.3.8.1.2

Arbeitsvermittlungsgesetz (AVG)

315

2.3.8.1.3

ETH-Gesetz

317

2.3.8.1.4

Hochschulförderungs- und -

koordinationsgesetz (HFKG)

318

2.3.8.2

Koordinierung der Systeme der sozialen

Sicherheit

318

2.3.8.2.1

Bundesgesetz über die berufliche

Alters-, Hinterlassenen- und

Invalidenvorsorge

318

2.3.8.2.2

Freizügigkeitsgesetz

319

2.3.8.2.3

Zivilgesetzbuch

319

2.3.8.3

Anerkennung von Berufsqualifikationen

320

2.3.8.3.1

Bundesgesetz über die Meldepflicht

und die Nachprüfung der

Berufsqualifikationen von

Dienstleistungserbringerinnen und -

erbringern in reglementierten

Berufen (BGMD)

320

2.3.8.3.2

Bundesgesetz über die

Verwaltungszusammenarbeit im

Bereich der Anerkennung von

Berufsqualifikationen

321

2.3.8.3.3

Änderung anderer Erlasse

331

2.3.8.4

Lohnschutz

332

2.3.8.4.1

Entsendegesetz (EntsG)

332

2.3.8.4.2

Bundesgesetz über das öffentliche

Beschaffungswesen (BöB)

350

2.3.8.4.3

Obligationenrecht (OR)

350

2.3.8.4.4

Bundesgesetz über die

Allgemeinverbindlicherklärung von

Gesamtarbeitsverträgen (AVEG)

354

2.3.8.4.5

Bundesgesetz über

Schuldbetreibung und Konkurs

(SchKG)

357

2.3.9

Auswirkungen des Paketelements

357

2.3.9.1

Auswirkungen auf den Bund

359

2.3.9.1.1

Finanzielle Auswirkungen

359

2.3.9.1.2

Personelle Auswirkungen

366

11 / 931

2.3.9.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und

Berggebiete

370

2.3.9.2.1

Auswirkungen auf Kantone im

Zuwanderungsbereich

370

2.3.9.2.2

Auswirkungen auf Kantone im

Bereich des Lohnschutzes

376

2.3.9.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

377

2.3.9.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

382

2.3.9.5

Auswirkungen auf die Umwelt

383

2.3.10

Rechtliche Aspekte der Protokolle

383

2.3.10.1

Verfassungsmässigkeit der Protokolle

383

2.3.10.1.1

Zuständigkeit

383

2.3.10.1.2

Verfassungsbestimmungen zur

strafrechtlichen Landesverweisung

(Art. 121 BV)

384

2.3.10.1.3

Verfassungsbestimmungen zur

Steuerung der Zuwanderung

(Art. 121a BV)

386

2.3.10.2

Verfassungsmässigkeit der

Umsetzungsgesetzgebung und

Begleitmassnahmen

390

2.3.10.2.1

Zuständigkeit

390

2.3.10.2.2

Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV)

390

2.3.10.2.3

Zuständigkeit des Bundes im

Bereich der Sozialhilfe

390

2.3.10.3

Vereinbarkeit mit anderen internationalen

Verpflichtungen der Schweiz

391

2.3.10.3.1

Bilaterale Abkommen mit EU-

Mitgliedstaaten in anderen

Bereichen als der sozialen Sicherheit

und der Steuerabkommen

391

2.3.10.3.2

EFTA-Übereinkommen

392

2.3.10.3.3

GATS/WTO

392

2.3.10.3.4

EMRK und UNO-Pakt II

393

2.3.10.3.5

Übereinkommen Nr. 98 der

Internationalen Arbeitsorganisation

(IAO)

393

2.3.10.4

Erlassform

394

2.3.10.5

Vorläufige Anwendung

394

2.3.10.6

Besondere rechtliche Aspekte zum

Umsetzungserlass

394

2.3.10.6.1

Unterstellung unter die

Ausgabenbremse

394

12 / 931

2.3.10.6.2

Einhaltung des

Subsidiaritätsprinzips und des

Prinzips der fiskalischen Äquivalenz

394

2.3.10.6.3

Delegation von

Rechtssetzungsbefugnissen

394

2.3.10.7

Datenschutz

397

2.4

Technische Handelshemmnisse (MRA)

399

2.4.1

Zusammenfassung

399

2.4.2

Ausgangslage

399

2.4.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

400

2.4.4

Vorverfahren

401

2.4.5

Grundzüge der Protokolle

401

2.4.6

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der Protokolle

401

2.4.6.1

Institutionelles Protokoll

401

2.4.6.2

Änderungsprotokoll

404

2.4.6.3

Technische Anpassungen der sektoriellen

Kapitel in Anhang 1

409

2.4.7

Grundzüge des Umsetzungserlasses

410

2.4.8

Auswirkungen des Paketelements

410

2.4.8.1

Auswirkungen auf den Bund

410

2.4.8.1.1

Finanzielle Auswirkungen

410

2.4.8.1.2

Personelle Auswirkungen

410

2.4.8.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und

Berggebiete

411

2.4.8.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

411

2.4.8.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

414

2.4.8.5

Auswirkungen auf die Umwelt

414

2.4.9

Rechtliche Aspekte des Paketelements

415

2.4.9.1

Verfassungsmässigkeit der Protokolle

415

2.4.9.2

Verfassungsmässigkeit der

Umsetzungsgesetzgebung

415

2.4.9.3

Vereinbarkeit mit anderen internationalen

Verpflichtungen der Schweiz

415

2.4.9.4

Erlassform

416

2.4.9.5

Vorläufige Anwendung

416

2.4.9.6

Besondere rechtliche Aspekte zum

Umsetzungserlass

416

2.4.9.7

Datenschutz

416

2.5

Landverkehr

417

2.5.1

Zusammenfassung

417

2.5.2

Ausgangslage

418

2.5.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

420

2.5.4

Vorverfahren

421

2.5.5

Grundzüge der Protokolle

422

13 / 931

2.5.6

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der Protokolle

423

2.5.6.1

Institutionelles Protokoll

423

2.5.6.2

Änderungsprotokoll

424

2.5.6.3

Gemeinsame Erklärung

438

2.5.6.4

Protokoll über staatliche Beihilfen

439

2.5.7

Grundzüge des Umsetzungserlasses

440

2.5.7.1

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des

Umsetzungserlasses

440

2.5.7.1.1

Eisenbahngesetz (EBG)

440

2.5.7.1.2

Personenbeförderungsgesetz (PBG)

442

2.5.7.2

Begleitmassnahmen ohne Gesetzesanpassungen

444

2.5.7.3

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

446

2.5.7.4

Umsetzungsfragen

446

2.5.8

Auswirkungen des Paketelements

446

2.5.8.1

Auswirkungen auf den Bund

446

2.5.8.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und

Berggebiete

447

2.5.8.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

448

2.5.8.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

449

2.5.8.5

Auswirkungen auf die Umwelt

449

2.5.8.6

Andere Auswirkungen

449

2.5.9

Rechtliche Aspekte des Paketelements

450

2.5.9.1

Verfassungsmässigkeit der Protokolle

450

2.5.9.2

Verfassungsmässigkeit

Umsetzungsgesetzgebung und

Begleitmassnahmen

450

2.5.9.3

Vereinbarkeit mit anderen internationalen

Verpflichtungen der Schweiz

450

2.5.9.4

Erlassform

451

2.5.9.5

Vorläufige Anwendung

451

2.5.9.6

Besondere rechtliche Aspekte zum

Umsetzungserlass

451

2.5.9.7

Datenschutz

452

2.6

Luftverkehr

453

2.6.1

Zusammenfassung

453

2.6.2

Ausgangslage

454

2.6.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

455

2.6.4

Vorverfahren

455

2.6.5

Grundzüge der Protokolle

456

2.6.6

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der Protokolle

456

2.6.6.1

Institutionelles Protokoll

456

2.6.6.2

Änderungsprotokoll

457

2.6.6.3

Protokoll über die staatlichen Beihilfen

458

2.6.7

Grundzüge des Umsetzungserlasses

459

2.6.7.1

Umsetzungsgesetzgebung

460

14 / 931

2.6.7.2

Begleitmassnahmen mit Gesetzesanpassungen

460

2.6.7.3

Begleitmassnahmen ohne Gesetzesanpassungen

460

2.6.7.4

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

460

2.6.7.5

Umsetzungsfragen

460

2.6.8

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des

Umsetzungserlasses

461

2.6.9

Auswirkungen des Paketelements

461

2.6.9.1

Auswirkungen auf den Bund

461

2.6.9.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und

Berggebiete

461

2.6.9.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

462

2.6.9.3.1

Auswirkungen auf die Unternehmen

462

2.6.9.3.2

Auswirkungen auf weitere Akteure

463

2.6.9.3.3

Auswirkungen auf die

Gesamtwirtschaft

463

2.6.9.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

464

2.6.9.5

Auswirkungen auf die Umwelt

464

2.6.9.6

Andere Auswirkungen

464

2.6.10

Rechtliche Aspekte des Paketelements

464

2.6.10.1

Verfassungsmässigkeit der Protokolle

465

2.6.10.2

Verfassungsmässigkeit der

Umsetzungsgesetzgebung und

Begleitmassnahmen

465

2.6.10.3

Vereinbarkeit mit internationalen

Verpflichtungen der Schweiz

465

2.6.10.4

Erlassform

466

2.6.10.5

Vorläufige Anwendung

467

2.6.10.6

Besondere rechtliche Aspekte zum

Umsetzungserlass

467

2.6.10.7

Datenschutz

467

2.7

Landwirtschaft

468

2.7.1

Zusammenfassung

468

2.7.2

Ausgangslage

469

2.7.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

469

2.7.4

Vorverfahren

470

2.7.5

Grundzüge des Protokolls

471

2.7.6

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Protokolls

471

2.7.7

Grundzüge des Umsetzungserlasses

475

2.7.8

Auswirkungen des Paketelements

476

2.7.9

Rechtliche Aspekte des Paketelements

476

2.7.9.1

Verfassungsmässigkeit des Protokolls

476

2.7.9.2

Verfassungsmässigkeit der

Umsetzungsgesetzgebung und

Begleitmassnahmen

477

15 / 931

2.7.9.3

Vereinbarkeit mit anderen internationalen

Verpflichtungen der Schweiz

477

2.7.9.4

Erlassform

477

2.7.9.5

Vorläufige Anwendung

477

2.7.9.6

Besondere rechtliche Aspekte zum

Umsetzungserlass

477

2.7.9.7

Datenschutz

478

2.8

Programme

479

2.8.1

Zusammenfassung

479

2.8.2

Ausgangslage

480

2.8.2.1

Kontext: die Europäische Bildungs-,

Forschungs- und Innovationspolitik

482

2.8.2.1.1

Europäische Programme und

Initiativen für Forschung und

Innovation

482

2.8.2.1.2

Europäische Bildungsprogramme

483

2.8.2.2

Die Bestandteile der aktuellen

Programmgeneration: das Horizon-Paket 2021-

2027 und Erasmus+

483

2.8.2.2.1

Bestandteile des Horizon-Pakets

2021-2027

483

2.8.2.2.2

Aufbau und Funktionsweise des

Erasmus+ Programms

484

2.8.2.3

Bisherige Teilnahme der Schweiz an EU-

Programmen und -Initiativen im Bereich

Bildung, Forschung und Innovation

486

2.8.2.3.1

Die Teilnahme der Schweiz an den

EU-Programmen für Forschung und

Innovation

486

2.8.2.3.2

Die indirekte Teilnahme der

Schweiz an den europäischen

Bildungsprogrammen seit 2014

487

2.8.2.4

Die Bedeutung einer Assoziierung der Schweiz

an den BFI-Programmen der EU

489

2.8.2.4.1

Dringlichkeit einer Assoziierung am

Horizon-Paket 2021-2027

489

2.8.2.4.2

Bedeutung einer Assoziierung an

Erasmus+

492

2.8.2.5

Folgen bei einem Verzicht auf Assoziierung

498

2.8.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

499

2.8.3.1

Zielsetzung für EU-Programme im Allgemeinen

499

2.8.3.2

Verhandlungsmandat für das Paket Schweiz–

EU: Teil EU-Programme

500

2.8.3.3

Verhandlungsverlauf

500

2.8.4

Vorverfahren

501

16 / 931

2.8.4.1

Vorverfahren für eine Assoziierung am

Horizon-Paket 2021-2027

501

2.8.4.2

Vorverfahren für eine Assoziierung an

Erasmus+

502

2.8.4.3

Regulierungsfolgenabschätzung für das

Horizon-Paket 2021-2027 und Erasmus+

502

2.8.5

Grundzüge des Abkommens

502

2.8.6

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Abkommens

503

2.8.6.1.1

Horizontaler Teil

503

2.8.6.2

Protokoll I: Horizon Europe, Euratom

Programm, Programm Digital Europe und

Erasmus+

506

2.8.6.3

Protokoll II: ITER

508

2.8.7

Grundzüge des Umsetzungserlasses

509

2.8.7.1

Umsetzungsgesetzgebung

509

2.8.7.2

Inhalt des Finanzierungsbeschlusses für die

Schweizer Beteiligung am EU-

Bildungsprogramm Erasmus+ im Jahr 2027

509

2.8.7.3

Begleitmassnahmen ohne Gesetzesanpassung

512

2.8.7.4

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

513

2.8.7.5

Umsetzungsfragen

515

2.8.7.5.1

Verordnung zur Beteiligung der

Schweiz an den BFI-Programmen

der Europäischen Union

515

2.8.7.5.2

Umsetzung der Programme auf

europäischer und nationaler Ebene

515

2.8.7.5.3

Interessensvertretung der Schweiz

516

2.8.8

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des

Umsetzungserlasses

516

2.8.9

Auswirkungen des Paketelements

516

2.8.9.1

Auswirkungen auf den Bund

516

2.8.9.1.1

Finanzielle Auswirkungen

517

2.8.9.1.2

Personelle Auswirkungen

521

2.8.9.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und

Berggebiete

525

2.8.9.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

525

2.8.9.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

527

2.8.9.5

Auswirkungen auf die Umwelt

528

2.8.10

Rechtliche Aspekte des Paketelements

529

2.8.10.1

Verfassungsmässigkeit des Abkommens

529

2.8.10.2

Verfassungsmässigkeit der

Umsetzungsgesetzgebung und

Begleitmassnahmen

530

2.8.10.3

Vereinbarkeit mit anderen internationalen

Verpflichtungen der Schweiz

530

17 / 931

2.8.10.4

Erlassform

530

2.8.10.5

Vorläufige Anwendung

531

2.8.10.6

Besondere rechtliche Aspekte zum

Umsetzungserlass

532

2.8.10.6.1

Unterstellung unter die

Ausgabenbremse

532

2.8.10.6.2

Einhaltung des

Subsidiaritätsprinzips und des

Prinzips der fiskalischen Äquivalenz

532

2.8.10.6.3

Einhaltung der Grundsätze des

Subventionsgesetzes

533

2.9

Weltraum

534

2.9.1

Zusammenfassung

534

2.9.2

Ausgangslage

535

2.9.2.1

Die europäischen

Satellitennavigationsprogramme

535

2.9.2.2

Teilnahme der Schweiz an den europäischen

Satellitennavigationsprogrammen

535

2.9.2.3

Die Agentur der Europäischen Union für das

Weltraumprogramm

536

2.9.2.4

Verhandlungen 2018/2019

537

2.9.2.5

Common Understanding

538

2.9.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

538

2.9.3.1

Zielsetzung

538

2.9.3.2

Verhandlungsmandat

539

2.9.3.3

Verhandlungsverlauf

539

2.9.4

Vorverfahren

540

2.9.5

Grundzüge des Abkommens

541

2.9.6

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Abkommens

541

2.9.7

Grundzüge des Umsetzungserlasses

544

2.9.7.1

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

544

2.9.8

Auswirkungen des Paketelements

544

2.9.8.1

Auswirkungen auf den Bund

544

2.9.8.1.1

Finanzielle Auswirkungen

544

2.9.8.1.2

Personelle Auswirkungen

545

2.9.8.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und

Berggebiete

545

2.9.8.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

545

2.9.9

Rechtliche Aspekte des Paketelements

546

2.9.9.1

Verfassungsmässigkeit des Abkommens

546

2.9.9.2

Verfassungsmässigkeit der

Umsetzungsgesetzgebung und

Begleitmassnahmen

546

2.9.9.3

Vereinbarkeit mit anderen internationalen

Verpflichtungen der Schweiz

546

18 / 931

2.9.9.4

Erlassform

546

2.9.9.5

Vorläufige Anwendung

547

2.9.9.6

Besondere rechtliche Aspekte zum

Umsetzungserlass

548

2.9.9.7

Datenschutz

548

2.10

Schweizer Beitrag

549

2.10.1

Zusammenfassung

549

2.10.2

Ausgangslage

550

2.10.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

551

2.10.4

Vorverfahren

552

2.10.5

Grundzüge des Abkommens

553

2.10.5.1

Rahmen für den regelmässigen Schweizer

Beitrag

553

2.10.5.2

Umsetzungsbestimmungen

554

2.10.5.3

Höhe des Schweizer Beitrags für zukünftige

Beitragsperioden

555

2.10.5.4

Streitbeilegung

555

2.10.5.5

Erster Schweizer Beitrag unter dem

Beitragsabkommen

556

2.10.5.6

Einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung

557

2.10.6

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Abkommens

558

2.10.7

Grundzüge des Umsetzungserlasses

573

2.10.7.1

Umsetzungsgesetzgebung

573

2.10.7.2

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

574

2.10.7.3

Umsetzungsfragen

574

2.10.8

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des

Umsetzungserlasses

575

2.10.9

Inhalt der drei Kreditbeschlüsse

579

2.10.9.1

Verpflichtungskredit Kohäsion

579

2.10.9.1.1

Thematische Ausrichtung

579

2.10.9.1.2

Strategie und Umsetzungsprinzipien

582

2.10.9.1.3

Controlling und Evaluation

585

2.10.9.1.4

Ressourcen

586

2.10.9.2

Verpflichtungskredit Migration

586

2.10.9.2.1

Beschreibung

586

2.10.9.2.2

Umfeld

587

2.10.9.2.3

Thematische Ausrichtung

588

2.10.9.2.4

Strategie und Umsetzungsprinzipien

589

2.10.9.2.5

Controlling und Evaluation

592

2.10.9.2.6

Ressourcen

593

2.10.9.3

Verpflichtungskredit für die einmalige

zusätzliche finanzielle Verpflichtung

593

2.10.10

Auswirkungen des Paketelements

593

2.10.10.1

Auswirkungen auf den Bund

594

2.10.10.1.1

Finanzielle Auswirkungen

594

2.10.10.1.2

Personelle Auswirkungen

596

19 / 931

2.10.10.1.3

Auswirkungen auf die Aussenpolitik

598

2.10.10.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und

Berggebiete

599

2.10.10.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

599

2.10.10.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

599

2.10.10.5

Auswirkungen auf die Umwelt

600

2.10.11

Rechtliche Aspekte des Paketelements

600

2.10.11.1

Verfassungsmässigkeit des Abkommens

600

2.10.11.2

Verfassungsmässigkeit der

Umsetzungsgesetzgebung

600

2.10.11.3

Vereinbarkeit mit anderen internationalen

Verpflichtungen der Schweiz

601

2.10.11.4

Erlassform

601

2.10.11.5

Vorläufige Anwendung

601

2.10.11.6

Besondere rechtliche Aspekte zum

Umsetzungserlass

602

2.10.11.6.1

Unterstellung unter die

Ausgabenbremse

602

2.10.11.6.2

Einhaltung der Grundsätze des

Subventionsgesetzes

602

2.10.11.6.3

Delegation von

Rechtsetzungsbefugnissen

603

2.10.11.7

Datenschutz

603

2.11

Strom

604

2.11.1

Zusammenfassung

604

2.11.2

Ausgangslage

605

2.11.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

606

2.11.3.1

Zielsetzung der Verhandlungen und

Verhandlungsmandat

606

2.11.3.2

Handlungsbedarf

608

2.11.3.3

Geprüfte Alternativen und gewählte Lösung

608

2.11.3.4

Verhältnis zur Legislaturplanung und zur

Finanzplanung sowie zu Strategien des

Bundesrates

609

2.11.3.4.1

Verhältnis zur Legislaturplanung

609

2.11.3.4.2

Verhältnis zur Finanzplanung

609

2.11.3.4.3

Verhältnis zu Strategien des

Bundesrates

609

2.11.3.5

Erledigung parlamentarischer Vorstösse

610

2.11.3.6

Verhandlungsverlauf

610

2.11.4

Vorverfahren

610

2.11.4.1

Vorarbeiten

610

2.11.4.1.1

Vergangene Verhandlungen (2007-

2018)

610

20 / 931

2.11.4.1.2

Breiter Paketansatz und

exploratorische Gespräche

611

2.11.4.1.3

Ergebnis der Gespräche mit der EU

im Strombereich (

Common

Understanding

)

611

2.11.4.1.4

Abschluss der exploratorischen

Gespräche und Verhandlungsmandat

612

2.11.4.2

Einbezug der betroffenen Akteure während den

Stromverhandlungen

612

2.11.4.3

Studien und Gutachten

613

2.11.5

Grundzüge des Abkommens

613

2.11.5.1

Zusammenfassung des

Verhandlungsergebnisses

613

2.11.5.1.1

Für das Stromabkommen relevante

EU-Rechtsakte

615

2.11.6

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Abkommens

616

2.11.6.1

Geltungsbereich (Art. 2)

616

2.11.6.2

Nicht-Diskriminierung (Art. 3)

617

2.11.6.3

Nationale Netzgesellschaft (Art. 5)

617

2.11.6.4

Entflechtung der Verteilnetzbetreiber (VNB)

(Art. 6)

617

2.11.6.5

Marktöffnung und Grundversorgung (Art. 7)

618

2.11.6.6

Wegfall Vorränge und finanzielle

Entschädigung (Art. 8)

618

2.11.6.7

Versorgungssicherheit und Reserven (Art. 9)

619

2.11.6.8

Beteiligung an EU-Behörden und -Stellen (Art.

10)

620

2.11.6.9

Energieressourcen und Wasserkraft (Art. 11)

621

2.11.6.10

Staatliche Beihilfen (Art. 12-19)

621

2.11.6.11

Umweltrecht (Art. 20)

622

2.11.6.12

Kooperation im Bereich erneuerbare Energien

und Energieinfrastruktur (Art. 21 und 22)

623

2.11.6.13

Gemischter Ausschuss (Art. 25), Institutionelles

(Art. 26 ff.) und Informationsaustausch (Art. 40

ff.)

624

2.11.6.14

Finanzieller Beitrag (Art. 49)

625

2.11.6.15

Anhang I: Regeln des EU-Strombinnenmarkts

625

2.11.6.15.1

Generelles zu den Anhängen mit

Rechtsübernahme sowie

Zuständigkeiten von EU-

Institutionen

625

2.11.6.15.2

Risikovorsorge

627

2.11.6.15.3

ACER-Verordnung

627

2.11.6.15.4

Elektrizitätsbinnenmarkt-

Verordnung

628

2.11.6.15.5

Netzkodizes (Networkcodes)

628

21 / 931

2.11.6.15.6

ENTSO-E-Transparenzplattform

629

2.11.6.15.7

Elektrizitätsbinnenmarkt-Richtlinie

630

2.11.6.15.8

Integrität und Transparenz des

Grosshandelsmarktes (REMIT)

630

2.11.6.16

Anhänge III, IV und V

631

2.11.6.17

Erneuerbare Energien (Anhang VI)

631

2.11.6.17.1

Erneuerbaren-Ziel

631

2.11.6.17.2

Herkunftsnachweise (HKN) und

Erneuerbare-Energie-

Gemeinschaften

631

2.11.6.17.3

Besonderheiten im Bereich Holz

632

2.11.6.17.4

Kriterien für Nachhaltigkeit und

Treibhausgaseinsparungen für

Biotreibstoffe und Biobrennstoffe

632

2.11.6.17.5

Bewilligungsverfahren und

Raumplanung bei den erneuerbaren

Energien

632

2.11.7

Grundzüge des Umsetzungserlasses

633

2.11.7.1

Etappierte Umsetzung

633

2.11.7.1.1

Grundsatz eines etappierten

Vorgehens

633

2.11.7.1.2

Überblick der wichtigsten Themen

des zweiten Pakets

633

2.11.7.2

Umsetzung des Stromabkommens im nationalen

Recht

635

2.11.7.2.1

Marktregulierung –

Grosshandelsmarkt

635

2.11.7.2.2

Marktregulierung – Entflechtung

und Endverbrauchermarkt

636

2.11.7.2.3

Netze und Versorgungssicherheit

637

2.11.7.2.4

Erneuerbare Energien und Statistik

639

2.11.7.2.5

Staatliche Beihilfen

640

2.11.7.3

Begleitmassnahmen mit Gesetzesanpassungen

640

2.11.7.4

Begleitmassnahmen ohne Gesetzesanpassungen

641

2.11.7.5

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

641

2.11.7.6

Umsetzungsfragen

641

2.11.8

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des

Umsetzungserlasses

642

2.11.8.1

Energiegesetz (EnG)

642

2.11.8.2

Stromversorgungsgesetz (StromVG)

643

2.11.8.3

Bundesgesetz über die Aufsicht und

Transparenz in den Energiegrosshandelsmärkten

(BATE)

666

2.11.9

Auswirkungen des Paketelements

677

2.11.9.1

Auswirkungen auf den Bund

677

2.11.9.1.1

Finanzielle Auswirkungen

677

22 / 931

2.11.9.1.2

Personelle Auswirkungen

678

2.11.9.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und

Berggebiete

680

2.11.9.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

681

2.11.9.3.1

Auswirkungen auf das Stromsystem

681

2.11.9.3.2

Auswirkungen auf Strompreise,

Bruttoinlandsprodukt (BIP) und

Wohlfahrt

683

2.11.9.3.3

Auswirkungen auf Endverbraucher

684

2.11.9.3.4

Auswirkungen auf die Strombranche

685

2.11.9.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

687

2.11.9.5

Auswirkungen auf die Umwelt

687

2.11.9.6

Andere Auswirkungen

687

2.11.10

Rechtliche Aspekte des Paketelements

687

2.11.10.1

Verfassungsmässigkeit des Abkommens

687

2.11.10.2

Verfassungsmässigkeit der

Umsetzungsgesetzgebung und

Begleitmassnahmen

688

2.11.10.2.1

Zuständigkeit

688

2.11.10.2.2

Vereinbarkeit mit Grundrechten

689

2.11.10.3

Vereinbarkeit mit internationalen

Verpflichtungen der Schweiz

689

2.11.10.4

Erlassform

690

2.11.10.5

Vorläufige Anwendung

691

2.11.10.6

Besondere rechtliche Aspekte zum

Umsetzungserlass

691

2.11.10.6.1

Unterstellung unter die

Ausgabenbremse

691

2.11.10.6.2

Einhaltung der Grundsätze des

Subventionsgesetzes

691

2.11.10.6.3

Delegation von

Rechtsetzungsbefugnissen

691

2.11.10.7

Datenschutz

691

2.12

Lebensmittelsicherheit

693

2.12.1

Zusammenfassung

693

2.12.2

Ausgangslage

693

2.12.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

694

2.12.3.1

Zielsetzung

694

2.12.3.2

Verhandlungsverlauf

695

2.12.4

Vorverfahren

696

2.12.5

Grundzüge des Protokolls

697

2.12.6

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Protokolls

698

2.12.7

Grundzüge der Umsetzungserlasse

711

2.12.8

Umsetzung in der Tierschutzgesetzgebung

711

2.12.8.1

Tierschutzgesetz und Verordnungsrecht

711

23 / 931

2.12.8.2

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

713

2.12.8.3

Umsetzungsfragen

714

2.12.8.4

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des

Umsetzungserlasses

714

2.12.8.5

Auswirkungen dieses Umsetzungserlasses

716

2.12.8.5.1

Auswirkungen auf den Bund

716

2.12.8.5.2

Auswirkungen auf Kantone und

Gemeinden sowie auf urbane

Zentren, Agglomerationen und

Berggebiete

717

2.12.8.5.3

Auswirkungen auf die

Volkswirtschaft

717

2.12.8.5.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

718

2.12.8.5.5

Auswirkungen auf die Umwelt

718

2.12.8.5.6

Andere Auswirkungen

718

2.12.8.6

Rechtliche Aspekte des Umsetzungserlasses

719

2.12.8.6.1

Verfassungsmässigkeit

719

2.12.8.6.2

Vereinbarkeit mit anderen

internationalen Verpflichtungen der

Schweiz

719

2.12.8.6.3

Erlassform

719

2.12.8.6.4

Vorläufige Anwendung

719

2.12.8.6.5

Besondere rechtliche Aspekte zum

Umsetzungserlass

719

2.12.8.6.6

Datenschutz

720

2.12.9

Umsetzung in der Lebensmittelgesetzgebung

720

2.12.9.1

Lebensmittelgesetz

720

2.12.9.2

Verordnungsrecht

721

2.12.9.2.1

Allgemeines

721

2.12.9.2.2

Zu den einzelnen Bereichen

722

2.12.9.3

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

729

2.12.9.4

Umsetzungsfragen

729

2.12.9.5

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des

Umsetzungserlasses

731

2.12.9.6

Auswirkungen dieses Umsetzungserlasses

777

2.12.9.6.1

Auswirkungen auf den Bund

777

2.12.9.6.2

Auswirkungen auf Kantone und

Gemeinden sowie auf urbane

Zentren, Agglomerationen und

Berggebiete

777

2.12.9.6.3

Auswirkungen auf die

Volkswirtschaft

778

2.12.9.6.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

779

2.12.9.6.5

Auswirkungen auf die Umwelt

779

2.12.9.6.6

Andere Auswirkungen

779

2.12.9.7

Rechtliche Aspekte des Umsetzungserlasses

779

24 / 931

2.12.9.7.1

Verfassungsmässigkeit

779

2.12.9.7.2

Vereinbarkeit mit anderen

internationalen Verpflichtungen der

Schweiz

780

2.12.9.7.3

Erlassform

781

2.12.9.7.4

Vorläufige Anwendung

781

2.12.9.7.5

Besondere rechtliche Aspekte zum

Umsetzungserlass

781

2.12.9.7.6

Datenschutz

783

2.12.10

Umsetzung in der Landwirtschafts- und

Waldgesetzgebung

784

2.12.10.1

Landwirtschafts- und Waldgesetzgebung

784

2.12.10.1.1

Pflanzengesundheit

785

2.12.10.1.2

Pflanzenvermehrungsmaterial

787

2.12.10.1.3

Pflanzenschutzmittel

790

2.12.10.1.4

Futtermittel

792

2.12.10.1.5

Tierzucht

793

2.12.10.1.6

Hygiene in der Primärproduktion

(Futter- und Lebensmittel)

794

2.12.10.2

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

794

2.12.10.3

Umsetzungsfragen

794

2.12.10.4

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der

Umsetzungserlasse

794

2.12.10.4.1

Landwirtschaftsgesetz (LwG)

794

2.12.10.4.2

Waldgesetz (WaG)

795

2.12.10.5

Auswirkungen dieser Umsetzungserlasse

796

2.12.10.5.1

Auswirkungen auf den Bund

796

2.12.10.5.2

Auswirkungen auf Kantone und

Gemeinden sowie auf urbane

Zentren, Agglomerationen und

Berggebiete

798

2.12.10.5.3

Auswirkungen auf die

Volkswirtschaft

800

2.12.10.5.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

801

2.12.10.5.5

Auswirkungen auf die Umwelt

802

2.12.10.5.6

Andere Auswirkungen

803

2.12.10.6

Rechtliche Aspekte der Umsetzungserlasse

803

2.12.10.6.1

Verfassungsmässigkeit

803

2.12.10.6.2

Vereinbarkeit mit anderen

internationalen Verpflichtungen der

Schweiz

803

2.12.10.6.3

Erlassform

803

2.12.10.6.4

Vorläufige Anwendung

803

2.12.10.6.5

Besondere rechtliche Aspekte zum

Umsetzungserlass

803

2.12.10.6.6

Datenschutz

804

25 / 931

2.12.11

Umsetzung in der Tierseuchengesetzgebung

804

2.12.11.1

Tierseuchengesetz

804

2.12.11.2

Verordnungsrecht

805

2.12.11.3

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

807

2.12.11.4

Umsetzungsfragen

808

2.12.11.5

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des

Umsetzungserlasses

808

2.12.11.6

Auswirkungen dieses Umsetzungserlasses

812

2.12.11.6.1

Auswirkungen auf den Bund

812

2.12.11.6.2

Auswirkungen auf Kantone und

Gemeinden sowie auf urbane

Zentren, Agglomerationen und

Berggebiete

813

2.12.11.6.3

Auswirkungen auf die

Volkswirtschaft

813

2.12.11.6.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

814

2.12.11.6.5

Auswirkungen auf die Umwelt

814

2.12.11.6.6

Andere Auswirkungen

814

2.12.11.7

Rechtliche Aspekte dieses Umsetzungserlasses

814

2.12.11.7.1

Verfassungsmässigkeit

814

2.12.11.7.2

Vereinbarkeit mit anderen

internationalen Verpflichtungen der

Schweiz

814

2.12.11.7.3

Erlassform

815

2.12.11.7.4

Vorläufige Anwendung

815

2.12.11.7.5

Besondere rechtliche Aspekte zum

Umsetzungserlass

815

2.12.11.7.6

Datenschutz

816

2.12.12

Auswirkungen des Paketelements

816

2.12.12.1

Auswirkungen auf den Bund

819

2.12.12.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und

Berggebiete

821

2.12.12.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

821

2.12.12.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

821

2.12.12.5

Auswirkungen auf die Umwelt

822

2.12.12.6

Andere Auswirkungen

822

2.12.13

Rechtliche Aspekte des Paketelements

822

2.12.13.1

Verfassungsmässigkeit des Protokolls

822

2.12.13.2

Verfassungsmässigkeit der

Umsetzungsgesetzgebung und

Begleitmassnahmen

822

2.12.13.3

Vereinbarkeit mit anderen internationalen

Verpflichtungen der Schweiz

822

2.12.13.4

Erlassform

823

2.12.13.5

Vorläufige Anwendung

823

26 / 931

2.12.13.6

Besondere rechtliche Aspekte zur

Umsetzungsgesetzgebung

823

2.12.13.7

Datenschutz

823

2.13

Gesundheit

824

2.13.1

Zusammenfassung

824

2.13.2

Ausgangslage

826

2.13.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

827

2.13.4

Vorverfahren

828

2.13.5

Grundzüge des Abkommens

829

2.13.5.1

Gesundheitsabkommen

829

2.13.5.2

Protokoll EU4Health

830

2.13.6

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Abkommens

830

2.13.6.1

Gesundheitsabkommen

830

2.13.6.1.1

Allgemeine Bestimmungen

830

2.13.6.1.2

Institutionelle Bestimmungen

831

2.13.6.1.3

Schlussbestimmungen

832

2.13.6.1.4

Anhang I

833

2.13.6.2

Protokoll EU4Health

835

2.13.7

Grundzüge der Umsetzung

835

2.13.7.1

Umsetzungsgesetzgebung

835

2.13.7.1.1

Gesundheitsabkommen

835

2.13.7.1.2

Protokoll EU4Health

838

2.13.7.2

Umsetzungsfragen

838

2.13.7.3

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

839

2.13.8

Auswirkungen des Paketelements

840

2.13.8.1

Auswirkungen auf den Bund

840

2.13.8.1.1

Finanzielle Auswirkungen

840

2.13.8.1.2

Auswirkungen auf den

Eigenaufwand und das Personal

840

2.13.8.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

sowie auf urbane Zentren, Agglomerationen und

Berggebiete

843

2.13.8.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

844

2.13.8.3.1

Auswirkungen auf

Leistungserbringer

844

2.13.8.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

844

2.13.8.5

Auswirkungen auf die Umwelt

844

2.13.9

Rechtliche Aspekte des Paketelements

844

2.13.9.1

Verfassungsmässigkeit des Abkommens

844

2.13.9.2

Verfassungsmässigkeit der

Umsetzungsgesetzgebung

845

2.13.9.3

Vereinbarkeit mit anderen internationalen

Verpflichtungen der Schweiz

845

2.13.9.4

Erlassform

845

2.13.9.5

Vorläufige Anwendung

846

27 / 931

2.13.9.6

Besondere rechtliche Aspekte zum

Umsetzungserlass

846

2.13.9.7

Datenschutz

846

2.14

Hochrangiger Dialog

847

2.14.1

Zusammenfassung

847

2.14.2

Ausgangslage

847

2.14.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

849

2.14.4

Vorverfahren

850

2.14.5

Grundzüge des hochrangigen Dialogs

850

2.14.6

Erläuterungen zu einzelnen Paragraphen der

Gemeinsamen Erklärung

850

2.14.7

Auswirkungen des Paketelements

851

2.14.8

Rechtliche Aspekte des Paketelements

852

2.15

Zusammenarbeit der Parlamente

853

2.15.1

Zusammenfassung

853

2.15.2

Ausgangslage

854

2.15.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

854

2.15.4

Vorverfahren

855

2.15.5

Grundzüge des Abkommens

855

2.15.6

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Abkommens

855

2.15.7

Auswirkungen des Paketelements

856

2.15.8

Rechtliche Aspekte des Paketelements

857

3

Auswirkungen des Pakets Schweiz–EU

858

3.1

Auswirkungen auf den Bund

858

3.1.1

Finanzielle Auswirkungen

858

3.1.2

Personelle Auswirkungen

860

3.1.3

Auswirkungen auf die Aussenpolitik

862

3.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf urbane

Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

864

3.2.1

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

864

3.2.1.1

Auswirkungen im Bereich institutionelle

Elemente

864

3.2.1.2

Weitere Auswirkungen

865

3.2.1.3

Massnahmen des Bundes und Chancen für die

Kantone in zusätzlichen Bereichen

868

3.2.2

Auswirkungen auf urbane Zentren

869

3.2.3

Auswirkungen auf Agglomerationen

869

3.2.4

Auswirkungen auf Bergebiete

870

3.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

870

3.3.1

Ökonomische Bedeutung der langfristigen Sicherung der

sektoriellen Binnenmarktteilnahme

872

3.3.2

Auswirkungen der einzelnen Elemente des

Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU

877

3.3.3

Auswirkungen der drei neuen Abkommen

880

28 / 931

3.3.4

Fazit

881

3.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

881

3.5

Auswirkungen auf die Umwelt

882

4

Rechtliche Aspekte des Pakets Schweiz–EU

883

4.1

Genehmigungsbeschlüsse

883

4.2

Genehmigungsbeschluss zur Stabilisierung der bilateralen

Beziehungen

884

4.2.1

Referendum

884

4.2.1.1

Fakultatives Staatsvertragsreferendum

884

4.2.1.2

Obligatorisches Staatsvertragsreferendum

884

4.2.1.3

In der Verfassung nicht vorgesehenes

obligatorisches Staatsvertragsreferendum (sui

generis)

885

4.2.1.4

Obligatorisches Referendum über eine

Verfassungsrevision

887

4.2.1.5

Vorschlag des Bundesrates

888

4.2.2

Umsetzungsgesetzgebung

889

4.3

Genehmigungsbeschlüsse zur Weiterentwicklung der bilateralen

Beziehungen

889

4.3.1

Referendum

889

4.3.2

Umsetzungsgesetzgebung

889

4.4

Genehmigungsbeschluss über die parlamentarische

Zusammenarbeit

890

5

Würdigung des Pakets Schweiz–EU

891

5.1

Die Weiterführung des bilateralen Wegs als bewährte Option

891

5.2

Erfolgsfaktoren: Paketansatz, breite innenpolitische Abstützung

und Transparenz

892

5.3

Das Verhandlungsmandat erfüllt – inländische

Begleitmassnahmen beschlossen

894

5.4

Paket sichert Teilnahme am EU-Binnenmarkt

899

5.5

Empfehlung

899

Abkürzungsverzeichnis

901

Anhänge

922

29 / 931

Erläuternder Bericht zur Eröffnung des Vernehmlassungs-

verfahrens

1

Allgemeiner Teil

1.1

Einführung und Ausgangslage: Schweizer Europapolitik

Die Schweiz und die Welt erleben eine Zeit der wegbrechenden Sicherheiten. Dieser

Eindruck drängt sich ob mancher Entwicklungen der vergangenen Jahre auf. In der

wirtschaftlichen Sphäre drohen eine Fragmentierung der internationalen Ordnung,

eine Zunahme handelspolitischer Spannungen sowie ein Rückfall in Industriepolitik

und Protektionismus. Derweil schaffen technische Entwicklungen wie die künstliche

Intelligenz zwar neue wirtschaftliche Chancen, aber auch neue Unsicherheiten. Die

Covid-19-Pandemie zeigte ab 2020, wie verwundbar wir auch im 21. Jahrhundert an-

gesichts grenzüberschreitender Gefahren sind. 2022 ist mit dem Angriff Russlands

auf die Ukraine der Krieg nach Europa zurückgekehrt. Auch an anderen Orten eska-

lierten Konflikte, etwa im Nahen Osten. Eine neue Ära der Machtpolitik bricht an, in

der Grossstaaten sich wieder einzig nach dem Recht des Stärkeren gebaren. Das Prob-

lem des Klimawandels ist nach wie vor ungelöst. Und die Innenpolitik etlicher entwi-

ckelter Demokratien leidet unter wachsender Unzufriedenheit und Polarisierung so-

wie unter einer wachsenden Staatsschuld, deren drückende Last ihrerseits die

Unzufriedenheit und Polarisierung weiter anheizt.

Die Schweiz ist in vieler Hinsicht in einer besseren Lage als andere Länder. Dennoch

spürt man auch hierzulande, wie die Welt unsicherer und unberechenbarer geworden

ist. Dabei hat die Schweiz ihr Schicksal nicht immer vollständig selbst in der Hand,

sondern sieht sich globalen Trends, Machtpolitik und den Vorgaben der Geografie

gegenüber. Sie muss ihre unbestreitbaren Stärken ausspielen, das Beste aus der Situ-

ation machen und sich absichern, wo dies möglich ist und wo es wirklich zählt. Dazu

gehören an vorderster Stelle stabile Beziehungen zur Europäischen Union (EU).

Für die Schweiz, im Herzen Europas gelegen, ist die EU mit ihren 450 Millionen Ein-

wohnerinnen und Einwohnern von entscheidender Bedeutung. Dies gilt besonders mit

Blick auf ihren Binnenmarkt. Die EU ist mit Abstand die wichtigste Handelspartnerin

der Schweiz. Der Warenhandel ist fünfmal grösser als mit den USA und neunmal

grösser als mit China. Der Binnenmarkt erlaubt es den Menschen und den Unterneh-

men in Europa, von Freiheiten und Effizienzgewinnen zu profitieren, wie sie in dem

von kleinen und mittelgrossen Staaten geprägten Erdteil sonst nicht möglich wären.

Auch auf anderen Gebieten, etwa im Bereich Justiz und Inneres, sind die im Rahmen

der EU geschaffenen Strukturen von grösster wirtschaftlicher, migrations- und sicher-

heitspolitischer Tragweite für die Schweiz. Bei all ihren Errungenschaften ist die EU

indessen nicht ohne Mängel. Zu den häufig genannten Kritikpunkten gehört etwa, dass

die wirtschaftliche Integration noch immer nicht weit genug gehe, womit die EU ge-

genüber dynamischeren Wirtschaftsräumen in den Rückstand gerate, dass die Integra-

tion der vergangenen Jahrzehnte von einer zu wenig demokratischen und zu zentra-

listischen Entscheidfindung geprägt gewesen sei oder dass die EU zu Überregulierung

30 / 931

tendiere. Die Geschichte der EU ist eine Geschichte von Erfolgen, aber auch von Un-

zulänglichkeiten. Aus Krisen ist die Union aber bisher immer wieder gestärkt hervor-

gegangen.

In dieser komplexen Ausgangslage will der Bundesrat die Beziehungen zur EU stabi-

lisieren und weiterentwickeln und dabei Kontinuität wahren. Er will nicht weiter ge-

hen, als nötig ist, um die wesentlichen Interessen der Schweiz zu wahren. Weder ein

Alleingang noch ein Beitritt zur EU oder andere Optionen wie eine Integration in den

Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) oder eine reine Freihandelsbeziehung können

aus Sicht des Bundesrates die Interessen der Schweiz im gleichen Mass wahren. Die

Schweiz ist geografisch, kulturell, sprachlich und ideell ein zutiefst europäisches

Land. Gleichzeitig machen die institutionellen Partikularitäten ihres Staatswesens wie

die direkte Demokratie oder der Föderalismus eine EU-Mitgliedschaft schwer vor-

stellbar. An der Zusammenarbeit in Europa teilhaben und ihren Beitrag dazu leisten,

ohne dabei die staatlichen Eigenheiten zu verlieren – in diesem Spannungsfeld bewegt

sich die schweizerische Europapolitik seit Jahrzehnten. Es ist dies gleichsam der rote

Faden in den Beziehungen der Schweiz zur EU.

1

Einen ersten Versuch zur Lösung des Dilemmas machte die Schweiz schon wenige

Jahre nach der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) – Vor-

gängerorganisation der heutigen EU –, indem sie ein Assoziierungsgesuch stellte. Das

Gesuch von 1961 erfolgte im Zusammenspiel mit anderen Mitgliedstaaten der im Vor-

jahr geschaffenen Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA). Die Assoziierung

kam nicht zustande. Stattdessen nahmen die EFTA-Mitgliedstaaten Island, Norwegen,

Österreich, Portugal, Schweden und Schweiz sowie das in der EFTA mitwirkende

Finnland Verhandlungen über jeweils eigenständige Freihandelsabkommen mit der

EWG auf. Jenes

2

der Schweiz wurde 1972 unterzeichnet und schweizerischerseits im

gleichen Jahr in einer Volksabstimmung von 72,5 Prozent der Stimmenden und sämt-

lichen Ständen gutgeheissen. Das Abkommen belebte rasch den Handel zwischen der

Schweiz und der EWG. Es stellte aber einen Ordnungsrahmen dar, der weniger tief

ging als die Entwicklungen innerhalb der EWG. Während sich das Freihandelsabkom-

men auf den Abbau von Zöllen und Kontingenten beschränkte, hatte der Vertrags-

partner 1968 eine Zollunion eingerichtet (d. h. nicht nur die Binnenzölle abgeschafft,

sondern auch einen einheitlichen Aussenzoll gesetzt) und schickte sich an, einen ge-

meinsamen Markt zu schaffen. In den achtziger Jahren beschleunigten sich die Be-

strebungen für einen Binnenmarkt mit vier Freiheiten für den Verkehr von Waren,

Dienstleistungen, Personen und Kapital. Um nicht ins Hintertreffen zu geraten, inten-

sivierte die EFTA ab 1984 ihre Beziehungen zur EWG (Luxemburger Prozess) und

verhandelte mit ihr ab 1990 über die Gründung des EWR. Mit dem EWR sollten die

1

S. Bericht des Bundesrates «Lagebeurteilung Beziehungen Schweiz–EU» vom 9. Juni

2023 in Erfüllung der Postulate 13.3151 Aeschi Thomas vom 20. März 2013, 14.4080

Grüne Fraktion vom 8. Dezember 2014, 17.4147 Naef vom 14. Dezember 2017, 21.3618

Sozialdemokratische Fraktion vom 1. Juni 2021, 21.3654 Cottier vom 8. Juni 2021,

21.3667 Grüne Fraktion vom 9. Juni 2021, 21.3678 Fischer Roland vom 10. Juni 2021,

21.4450 Z’graggen vom 15. Dezember 2021, 22.3172 Maître vom 16. März 2022 und der

Motion 21.4184 Minder vom 30. September 2021.

2

Abkommen vom 22. Juli 1972 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der

Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, SR

0.632.401

.

31 / 931

EFTA-Mitgliedstaaten an einem Grossteil des gerade entstehenden EU-Binnenmarkts

partizipieren. Der «Europäische Wirtschaftsraum» wurde schliesslich per 1. Januar

1994 Wirklichkeit. Das EWR-Abkommen

3

war am 2. Mai 1992 unterzeichnet wor-

den, scheiterte in der Schweiz aber in der Volksabstimmung vom 6. Dezember des-

selben Jahres (Volk: 50,3 % Nein; Stände: 16,0 Nein). Die drei anderen der nunmehr

noch vier EFTA-Mitgliedstaaten – Island, Liechtenstein und Norwegen – traten dem

EWR dagegen bei.

In dieser veränderten Situation, und weil das Freihandelsabkommen von 1972 die Be-

dürfnisse der Schweizer Wirtschaft nicht genügend abdeckte, wählte die Schweiz ei-

nen neuen Ansatz. Sie verhandelte mit der EU fortan bilateral – das heisst nicht im

EFTA-Verbund – und sektoriell – das heisst über eine Beteiligung am EU-

Binnenmarkt lediglich in bestimmten Bereichen von gemeinsamem Interesse. Nach

langen Verhandlungen konnte am 21. Juni 1999 ein Paket von sieben sektoriellen Ab-

kommen abgeschlossen werden, die Bilateralen I (Personenfreizügigkeit

4

, technische

Handelshemmnisse

5

, öffentliches Beschaffungswesen

6

, Landwirtschaft

7

, Forschung

8

,

Luftverkehr

9

und Landverkehr

10

). Bei einigen davon handelte es sich um Binnen-

marktabkommen, bei anderen um Kooperationsabkommen mit der EU. Das Paket

wurde am 21. Mai 2000 vom Volk im Rahmen eines fakultativen Referendums mit

einem Ja-Stimmen-Anteil von 67,2 Prozent gutgeheissen. Es folgte ein Paket von

neun weiteren Abkommen, die Bilateralen II, die am 26. Oktober 2004 unterzeichnet

3

Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum, ABl. L 1 vom 3.1.1994, S. 3.

4

Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einer-

seits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die

Freizügigkeit, SR

0.142.112.681

.

5

Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der

Europäischen Gemeinschaft über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewer-

tungen, SR

0.946.526.81

.

6

Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der

Europäischen Gemeinschaft über bestimmte Aspekte des öffentlichen Beschaffungswe-

sens, SR

0.172.052.68

.

7

Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der

Europäischen Gemeinschaft über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen,

SR

0.916.026.81

.

8

Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und den

Europäischen Gemeinschaften über die wissenschaftliche und technologische Zusammen-

arbeit (mit Anhängen und Schlussakte), SR

0.420.513.1

(ursprüngliches Forschungsab-

kommen der Bilateralen I, ausgelaufen am 31. Dezember 2002, danach mehrere Folgeab-

kommen).

9

Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der

Europäischen Gemeinschaft über den Luftverkehr, SR

0.748.127.192.68

.

10

Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der

Europäischen Gemeinschaft über den Güter- und Personenverkehr auf Schiene und

Strasse, SR

0.740.72

.

32 / 931

wurden (Schengen

11

/Dublin

12

, Zinsbesteuerung [heute: automatischer Informations-

austausch]

13

, Betrugsbekämpfung

14

, landwirtschaftliche Verarbeitungsprodukte

15

,

Kultur

16

, Umwelt

17

, Statistik

18

, Ruhegehälter

19

und Bildung/Berufsbildung/Ju-

gend

20

). Sieben Abkommen unterstanden dem fakultativen Referendum, das indes

einzig gegen die Assoziierungsabkommen zu Schengen/Dublin ergriffen wurde. Das

Volk nahm diese am 5. Juni 2005 mit 54,6 Prozent Ja-Stimmen an. Zu den beiden

Paketen kommen weitere ältere und jüngere Abkommen der Schweiz mit der EU von

unterschiedlichem Gewicht. Der sogenannte bilaterale Weg beruht heute auf einem

Netz von über hundert Abkommen.

21

Mit den Jahren ist zwischen der Schweiz und

11

Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, der

Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft über die Assoziierung dieses

Staates bei der Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen-Besitzstands,

SR

0.362.31

.

12

Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und

der Europäischen Gemeinschaft über die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zu-

ständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz gestell-

ten Asylantrags, SR

0.142.392.68

.

13

Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und

der Europäischen Union über den automatischen Informationsaustausch über Finanzkonten

zur Förderung der Steuerehrlichkeit bei internationalen Sachverhalten, SR

0.641.926.81

.

14

Abkommen vom 26. Oktober 2004 über die Zusammenarbeit zwischen der Schweizeri-

schen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mit-

gliedstaaten andererseits zur Bekämpfung von Betrug und sonstigen rechtswidrigen Hand-

lungen, die ihre finanziellen Interessen beeinträchtigen, SR

0.351.926.81

.

15

Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und

der Europäischen Gemeinschaft zur Änderung des Abkommens zwischen der Schweizeri-

schen Eidgenossenschaft und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 22. Juli

1972 in Bezug auf die Bestimmungen über landwirtschaftliche Verarbeitungserzeugnisse,

SR

0.632.401.23

.

16

Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und

der Europäischen Gemeinschaft im Bereich audiovisuelle Medien über die Festlegung der

Voraussetzungen und Bedingungen für die Beteiligung der Schweizerischen Eidgenossen-

schaft an den Gemeinschaftsprogrammen MEDIA Plus und MEDIA-Fortbildung (mit An-

hängen und Schlussakte), SR

0.784.405.226.8

(ursprüngliches MEDIA-Abkommen der

Bilateralen II, ausgelaufen am 31. Dezember 2006, danach Folgeabkommen von 2007).

17

Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und

der Europäischen Gemeinschaft über die Beteiligung der Schweiz an der Europäischen

Umweltagentur und dem Europäischen Umweltinformations- und Umweltbeobachtungs-

netz (EIONET), SR

0.814.092.681

.

18

Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und

der Europäischen Gemeinschaft über die Zusammenarbeit im Bereich der Statistik, SR

0.431.026.81

.

19

Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen dem Schweizerischen Bundesrat und der

Kommission der Europäischen Gemeinschaften zur Vermeidung der Doppelbesteuerung

von in der Schweiz ansässigen ehemaligen Beamten der Organe und Agenturen der Euro-

päischen Gemeinschaften, SR

0.672.926.81

.

20

Politische Absichtserklärung, danach folgend: Abkommen vom 15. Februar 2010 zwi-

schen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Union zur Festlegung

der Voraussetzungen und Bedingungen für die Beteiligung der Schweizerischen Eidgenos-

senschaft am Programm «Jugend in Aktion» und am Aktionsprogramm im Bereich des le-

benslangen Lernens (2007–2013) (mit Anhängen), SR

0.402.268.1

.

21

Abrufbar unter: www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Überblick. S. ferner die

Arbeiten zu einer Beurteilung der Regelungsunterschiede zwischen dem schweizerischen

Recht und dem Recht der EU im Bereich der Binnenmarktabkommen der Bilateralen I:

Schlussbericht von alt Staatssekretär Mario Gattiker vom Mai 2022.

33 / 931

der EU somit eine einzigartige Zusammenarbeitsordnung entstanden. Für die EU hatte

diese allerdings stets einen provisorischen Charakter, da sie von einer letztendlichen

Mitgliedschaft der Schweiz ausging – dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines

vormals eingereichten Beitrittsgesuchs der Schweiz, das der Bundesrat schliesslich

am 27. Juli 2016 zurückzog. Dass die EU auch nach dem Rückzug des Gesuchs grund-

sätzlich mit einer Weiterführung des bilateralen Wegs einverstanden war, stellt alles

andere als eine Selbstverständlichkeit dar, handelt es sich doch um ein Arrangement,

wie es die EU mit keinem anderen Drittstaat kennt.

Ab 2010 prüften die Schweiz und die EU die Möglichkeit eines institutionellen Rah-

mens für das zwischen ihnen bestehende Vertragsgeflecht und verhandelten ab Mai

2014 über ein mögliches entsprechendes Abkommen. Dieses sollte namentlich Fragen

wie die Übernahme von EU-Recht in die Abkommen sowie die Rechtsauslegung,

Überwachung und Streitbeilegung regeln. Ende 2018 erklärte die EU die Verhandlun-

gen für beendet. Aus Sicht der Schweiz lag aber bei gewissen materiellen Punkten,

vor allem im Kontext des Freizügigkeitsabkommens (FZA) und der staatlichen Bei-

hilfen, noch keine zufriedenstellende Lösung vor. Als eine solche auch in Nachver-

handlungen nicht erzielt werden konnte, entschied der Bundesrat am 26. Mai 2021,

den Abkommenstext nicht zu unterzeichnen.

Die EU hatte zuvor schon erklärt, dass sie ohne eine Regelung der institutionellen

Fragen und der staatlichen Beihilfen sowie ohne permanenten Schweizer Kohäsions-

beitrag keine neuen Abkommen mit der Schweiz mehr abschliessen werde und beste-

hende Binnenmarktabkommen nur noch aktualisiere, wenn dies in ihrem überwiegen-

den Interesse liege. Solche Aktualisierungen sind immer dann erforderlich, wenn die

zugrundeliegende Gesetzgebung in der Schweiz und in der EU ändert. Ohne sie dro-

hen die Abkommen schrittweise an Wert zu verlieren. Die Weiterführung des bilate-

ralen Wegs ist damit ungesichert.

1.2

Geprüfte Alternativen und Paketansatz

Nach dem Ende der Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen

prüfte der Bundesrat die verschiedenen grundsätzlichen Handlungsoptionen, die sich

der Schweiz für ihr künftiges Verhältnis zur EU eröffnen. Er legte seine Überlegungen

im Bericht «Lagebeurteilung Beziehungen Schweiz–EU» dar, dessen definitive Fas-

sung er nach Konsultation der Aussenpolitischen Kommissionen von National- und

Ständerat am 9. Juni 2023 beschloss. Ausgangspunkt der Prüfung sind die Staatsziele

der Eidgenossenschaft, wie sie in Artikel 2 BV

22

– dem Zweckartikel – festgehalten

sind, darunter die Wahrung der Unabhängigkeit und Sicherheit, die gemeinsame

Wohlfahrt, die nachhaltige Entwicklung und eine friedliche und gerechte internatio-

nale Ordnung. Basierend auf den Staatszielen und den daraus folgenden schweizeri-

schen Interessen definiert der Bericht vier Kriterien zur Bewertung der europapoliti-

schen Optionen: erstens der Grad der wirtschaftlichen Integration mit der EU,

zweitens die Möglichkeit von (nichtwirtschaftlichen) Kooperationen, drittens der sich

22

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999, SR

101

.

34 / 931

der Schweiz bietende politische Handlungsspielraum und viertens die aussenpoliti-

sche Machbarkeit.

Es existiert keine Handlungsoption, mit der sich sämtliche Staatsziele oder alle vier

Kriterien im jeweils maximalen Umfang erfüllen lassen. Stattdessen tun sich Zielkon-

flikte auf. Für sich alleine genommen weisen die einzelnen Ziele (bzw. Kriterien) in

unterschiedliche europapolitische Richtungen. Es gilt deshalb Abwägungen vorzu-

nehmen, um denjenigen Ansatz zu wählen, der die Kriterien zwar nicht vollständig,

aber übers Ganze hinweg im optimalen Mass erfüllt. Insgesamt hat der Bundesrat im

Bericht vier grundsätzliche Handlungsoptionen näher betrachtet, die hier mit einer

weiteren, zunächst offensichtlich scheinenden ergänzt werden sollen – der des Ver-

zichts auf ein aktives Handeln.

1.

Nichtstun.

Diese erste Option mag auf den ersten Blick offensichtlich sein.

Schliesslich ist die Schweiz mit den bestehenden Strukturen im Verhältnis

zur EU gut gefahren – weshalb also etwas daran ändern? Das Problem liegt

darin, dass Passivbleiben nicht etwa bedeutet, den Status quo zu erhalten.

Da die EU prinzipiell keine Aktualisierungen existierender Binnenmarktab-

kommen mehr billigt, würden diese mittel- und langfristig ihre Wirkung

weitestgehend verlieren. Die Gefahr ist gross, dass vom heutigen Gefüge

der bilateralen Abkommen schliesslich nurmehr ein Rumpf übrigbliebe,

wobei in dessen Zentrum das alte Freihandelsabkommen von 1972 sowie

die bestehenden, nichtaktualisierten Binnenmarktabkommen stünden. Den

Bedürfnissen der Schweiz und ihrer Wirtschaft wäre damit nicht Genüge

getan. Auch punktuelle neue Vereinbarungen mit der EU in Bereichen des

EU-Binnenmarkts, bei welchen sich eine Zusammenarbeit aufdrängt (etwa

im Strommarkt), lassen sich in diesem Szenario nicht mehr realisieren.

2.

Reines Freihandelsverhältnis.

Die Schweiz baut den Rahmen ihrer wirt-

schaftlichen Integration mit der EU auf ein tieferes Niveau zurück. Dieser

besteht dann im Wesentlichen aus einem Abbau der tarifären Handels-

hemmnisse (Zölle und Kontingente). Dagegen fallen alle diejenigen Er-

leichterungen weg, die auf Rechtsharmonisierung beruhen, womit die

Schweizer Wirtschaft mit neuen (nichttarifären) Handelshemmnissen kon-

frontiert wäre. Ohne vorgesehene Rechtsharmonisierung vergrössert sich

der politische Handlungsspielraum der Schweiz nur scheinbar. Faktisch fällt

der Zugewinn aber vergleichsweise bescheiden aus, da sich die Schweiz an-

gesichts der Bedeutung des EU-Markts häufig veranlasst sehen dürfte, EU-

Recht einseitig zu übernehmen (autonomer Nachvollzug). Das reine Frei-

handelsverhältnis kann sich auf das Freihandelsabkommen von 1972 oder

auf ein modernisiertes, erweitertes Freihandelsabkommen mit der EU stüt-

zen. Bei reinem Freihandel ohne Rechtsharmonisierung besteht im Ver-

35 / 931

gleich zu heute wenig Potenzial für Erweiterungen, am ehesten im Land-

wirtschafts- und beschränkt im Dienstleistungsbereich, wobei diese den In-

teressen beider Seiten entsprechen müssten.

23

3.

Weiterführung des bilateralen Wegs.

Mit dem seit den neunziger Jahren

verfolgten Ansatz ist es gelungen, zwischen der Schweiz und der EU in aus-

gewählten Bereichen binnenmarktähnliche Verhältnisse zu schaffen und

darüber hinaus auf weiteren Gebieten zu kooperieren, vor allem mit der

Schengen/Dublin-Assoziierung. Zwar bestehen Lücken, aber die wesentli-

chen Bedürfnisse der Schweiz und namentlich der Schweizer Wirtschaft

sind erfüllt. Auch konnte die Schweiz ihren politischen Handlungsspiel-

raum wahren, wenn auch bisher die Möglichkeiten beschränkt sind, an der

für sie relevanten Entscheidfindung innerhalb der EU mitzuwirken. Mit der

Ankündigung der EU, die bestehenden Binnenmarktabkommen nur noch

eingeschränkt zu aktualisieren und keine neuen Abkommen mehr abschlies-

sen zu wollen, ist die Fortsetzung des bisherigen Vorgehens aber ungewiss

geworden – die aussenpolitische Machbarkeit des bilateralen Wegs ist in-

frage gestellt.

4.

Beitritt zum EWR.

Die Schweiz, die den EWR-Vertrag einst mit aushan-

delte, dürfte diesem vermutlich weiterhin ohne allzu grosse Hindernisse bei-

treten können, sollte sie sich dazu entscheiden. Anders als über den bilate-

ralen Weg nimmt sie dann nicht mehr nur in ausgewählten Bereichen, also

nicht mehr sektoriell, am EU-Binnenmarkt teil. Stattdessen gilt der Gross-

teil des EU-Binnenmarktrechts auch für die Schweiz (einschliesslich dasje-

nige zu horizontalen Politiken wie den staatlichen Beihilfen mit wenig

Spielraum für Ausnahmen). Der Schweizer Wirtschaft stellen sich damit

nur noch wenige Marktzugangshindernisse, am stärksten noch auf dem Ge-

biet der Landwirtschaft und aufgrund der weiterhin bestehenden Zollgrenze.

Kooperationen, wie sie die Schweiz im Rahmen des bilateralen Wegs

kannte, sind auch unter dem EWR-Regime möglich. Im EWR gehen die

Pflichten im Rahmen der dynamischen Übernahme von EU-Recht deutlich

weiter als die Rechte zur Mitwirkung bei der Schaffung des Rechts.

5.

Beitritt zur EU.

Als EU-Mitgliedstaat erlangt die Schweiz die volle Bin-

nenmarktbeteiligung und den Zugang zu sämtlichen EU-Kooperationen.

Ein solches Ausmass an Integration geht über die Bedürfnisse der Schweiz

und ihrer Wirtschaft hinaus. Anders als bei einer EWR-Mitgliedschaft hat

die Schweiz zwar die vollen Mitwirkungsrechte innerhalb der EU. Diese

23

S. Bericht des Bundesrates vom Juni 2015 in Beantwortung des Postulats Keller-Sutter

[13.4022] «Freihandelsabkommen mit der EU statt bilaterale Abkommen». Als Beispiel

für breite Freihandelsabkommen ohne Rechtsharmonisierung s. die Abkommen der EU

mit dem Vereinigten Königreich sowie mit Kanada: Handels- und Kooperationsabkommen

zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und

dem Vereinigten Königreich Grossbritannien und Nordirland andererseits, ABl. L 444

vom 31.12.2020, S. 14; Umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen (CETA) zwi-

schen Kanada einerseits und der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten anderer-

seits, ABl. L 11 vom 14.1.2017, S. 23.

36 / 931

vermögen aber die Beschränkung des Rahmens autonomer Gestaltung nicht

wettzumachen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die innerstaatlichen Ver-

schiebungen in der Schweiz mitberücksichtigt werden. Die direkte Demo-

kratie und der Föderalismus werden, wenn nicht formell, so doch sicher fak-

tisch geschwächt. Denkbar ist eine Befreiung von bestimmten Pflichten im

Rahmen der Beitrittsverhandlungen (z. B. betreffend die Übernahme der ge-

meinsamen Währung, des Euro), dies aber sicher nur in beschränktem Aus-

mass.

Der Bundesrat ist der Ansicht, dass der bilaterale Weg weiterhin die geeignetste Op-

tion ist, um das Verhältnis der Schweiz zur EU zu gestalten. Dieser weist das ausge-

wogenste Verhältnis von konkretem, namentlich wirtschaftlichem Nutzen und politi-

schem Gestaltungsspielraum auf. Ein reines Freihandelsverhältnis würde der engen

Verflechtung der schweizerischen Volkswirtschaft mit derjenigen der EU entgegen-

wirken, gleiches gilt längerfristig für schlichtes Passivbleiben. Eine EWR- und eine

EU-Mitgliedschaft andererseits würden den Handlungsspielraum der Schweiz in un-

verhältnismässiger Weise einschränken.

Mit diesem Ausgangspunkt hat der Bundesrat am 23. Februar 2022 beschlossen, die

offenen Punkte in den Gesamtbeziehungen zur EU auf der Grundlage eines breiten

Paketansatzes anzugehen. Bei den institutionellen Fragen hat er sich für einen verti-

kalen Ansatz entschieden, mit dem Ziel, diese Elemente in den einzelnen Binnen-

marktabkommen zu verankern. Er erachtete den breiten Paketansatz als geeignet, den

thematischen Gegenstand von Verhandlungen mit der EU so anzureichern, dass ein

beiderseits passender Ausgleich eher erreicht werden kann.

Das Paket besteht einerseits aus einem

Stabilisierungsteil

mit den folgenden Elemen-

ten:

Institutionelle Elemente.

Die bestehenden fünf Binnenmarktabkommen

(Personenfreizügigkeit, Technische Handelshemmnisse, Landverkehr,

Luftverkehr, Landwirtschaft) sowie künftige Binnenmarktabkommen wer-

den mit Elementen betreffend die Auslegung, Überwachung, dynamische

Rechtsübernahme und Streitbeilegung ergänzt. Prinzipien und Ausnahmen

schützen essenzielle Interessen der Schweiz.

Staatliche Beihilfen.

Mit den EU-Beihilferegeln gleichwertige Bestim-

mungen werden in die relevanten Binnenmarktabkommen eingefügt, also

in das Luft- und das Landverkehrsabkommen sowie in das neue Stromab-

kommen. Die Schweiz hat dabei ihre eigenen, äquivalenten Über-

wachungsstrukturen.

Kooperationsabkommen.

Diese regeln die Beteiligung der Schweiz an

Programmen der EU auf den Gebieten Forschung, Bildung, Weltraum so-

wie Gesundheit.

Beitrag.

Ein rechtsverbindlicher Mechanismus regelt und verstetigt den

Schweizer Beitrag an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten.

37 / 931

Andererseits werden mit dem

Weiterentwicklungsteil

die bilateralen Beziehungen

zusätzlich in ausgewählten Bereichen von gemeinsamem Interesse ausgebaut.

Neue Abkommen.

Zwei neue Binnenmarktabkommen auf den Gebieten

Strom und Lebensmittelsicherheit sowie ein neues Kooperationsabkommen

auf dem Gebiet der Gesundheit erweitern die Zusammenarbeit zwischen der

Schweiz und der EU in materieller Hinsicht.

Nicht Teil des Pakets ist insbesondere das Freihandelsabkommen von 1972 inklusive

seiner Protokolle.

Vorgesehen sind zudem Gefässe für den regelmässigen und breiten Kontakt, darunter

ein hochrangiger Dialog und eine institutionalisierte Zusammenarbeit der Parlamente.

Der Finanzregulierungsdialog Schweiz–EU ist bereits wiederaufgenommen worden.

Ferner legt eine gemeinsame Erklärung Übergangsregeln für die Phase ab Ende 2024

bis zum Inkrafttreten des Pakets fest.

1.3

Verlauf der Verhandlungen und Verhandlungsergebnis

1.3.1

Exploratorische Phase und Verhandlungsmandat

Am 23. Februar 2022 entschied der Bundesrat, mit der EU exploratorische Gespräche

zum Paketansatz aufzunehmen.

In den ersten Gesprächsrunden zeigte sich, dass die EU grundsätzlich bereit war, auf

den Paketansatz des Bundesrates einzutreten. In diversen Punkten waren aber Diffe-

renzen zwischen der Schweiz und der EU festzustellen. Der Bundesrat entschied des-

halb am 17. Juni 2022, die exploratorischen Gespräche zu intensivieren. Ab Juli 2022

fanden erste technische Gespräche zwischen der Schweiz und der EU, unter Einbezug

der jeweiligen Fachämter beziehungsweise zuständigen Generaldirektionen der Euro-

päischen Kommission statt; diese ergänzten ab diesem Zeitpunkt die politischen und

die diplomatischen Kontakte. Die EU machte die Verschriftlichung der Ergebnisse

des Prozesses in einem gemeinsamen Dokument zur Voraussetzung, um in einen Ver-

handlungsprozess einzusteigen. Dieses Vorgehen entsprach auch der Absicht des

Bundesrates, weil es erlaubte, nach Beendigung der exploratorischen Gespräche ab-

zuschätzen, ob allfällige Verhandlungen tatsächlich erfolgreich geführt werden könn-

ten.

Zur Stärkung der politischen und inhaltlichen Steuerung der Gespräche mit der EU

und den inländischen Akteuren setzte der Bundesrat am 31. August 2022 eine Projek-

torganisation unter der Leitung des Vorstehers des EDA ein. Diese Organisation um-

fasst eine Steuerungsgruppe, in der alle Departemente und die Bundeskanzlei (BK)

vertreten sind, sowie ein enger gefasstes Gremium (Kerngruppe), dem das EDA, das

EJPD, das WBF und die BK angehören. Bereits ab Sommer 2021 erfolgte die Einbin-

dung der innenpolitischen Akteure systematisch. Bei der Schaffung der Projektorga-

nisation wurde sodann ein beratender Ausschuss (

Sounding Board

) institutionalisiert,

welcher den direkten Einbezug der Kantone, der Sozialpartner und der Wirtschaft er-

laubt. Dieses Gremium wird ebenfalls vom Vorsteher des EDA geleitet.

38 / 931

Nachdem der Bundesrat am 29. März 2023 vom Stand der exploratorischen Gesprä-

che Kenntnis genommen hatte, beauftragte er die Bundesverwaltung, Eckwerte für ein

Verhandlungsmandat auszuarbeiten. Diese wurden am 21. Juni 2023 als Grundlage

für die spätere Erarbeitung eines Mandatsentwurfs verabschiedet. Der Bundesrat be-

auftragte in der Folge das EDA, in Zusammenarbeit mit dem EJPD und dem WBF die

Gespräche mit der EU fortzuführen, um die gemeinsame Basis im Hinblick auf die

möglichen Verhandlungen zu konsolidieren.

In den folgenden Monaten gelang es den Delegationen der Schweiz und der EU, ein

gemeinsames Dokument (

Common Understanding

24

) zu finalisieren, das die wesent-

lichen Resultate der exploratorischen Gespräche festhielt. Dabei handelt es sich um

ein gemeinsames Dokument der Delegationsleitenden beider Seiten auf diplomatisch-

technischer Ebene, das als solches nicht rechtsverbindlich ist. Das Dokument skizziert

Landezonen in allen Bereichen des

Paketansatzes. Die Schweiz und die EU verstän-

digten sich zudem auf gewisse Übergangsmassnahmen, zum Beispiel den provisori-

schen Zugang der Schweiz zu bestimmten Forschungsprogrammen ab Verhandlungs-

beginn. Die exploratorischen Gespräche wurden Ende Oktober 2023 abgeschlossen.

Insgesamt fanden während der exploratorischen Phase mit der EU – neben regelmäs-

sigen politischen Kontakten – elf Sondierungsrunden auf diplomatischer Ebene und

46 Gespräche auf technischer Ebene sowie im Rahmen der innenpolitischen Projekt-

organisation 33 Sitzungen der Steuerungsgruppe und zwölf des

Sounding Boards

statt.

Der Bundesrat orientierte zudem die Aussenpolitischen Kommissionen der eidgenös-

sischen Räte laufend über die innen- und aussenpolitischen Entwicklungen. Auch auf

technischer Ebene waren die innenpolitischen Ansprechpartner an thematischen Ar-

beitsgruppen beteiligt.

Nach Abschluss der exploratorischen Gespräche wurden deren Ergebnisse vom Bun-

desrat in seiner Sitzung vom 8. November 2023 vertieft geprüft. Er kam zum Schluss,

dass eine ausreichende Basis für die Aufnahme von Verhandlungen vorlag. Insbeson-

dere konnten in den exploratorischen Gesprächen Lösungen für die «Stolpersteine»

des institutionellen Abkommens gefunden werden.

Entsprechend verabschiedete der Bundesrat am 15. Dezember 2023 einen Entwurf für

ein Verhandlungsmandat.

25

Die Aussenpolitischen Kommissionen, weitere interes-

sierte parlamentarische Kommissionen sowie die Kantone wurden zum Mandatsent-

wurf konsultiert. Die Wirtschafts- und Sozialpartner wurden zur Stellungnahme ein-

geladen. Der Bundesrat stellte daraufhin fest, dass eine grosse Mehrheit der befragten

Akteure die Aufnahme von Verhandlungen mit der EU auf der Grundlage des Paket-

ansatzes unterstützte.

26

Anhand der Ergebnisse der Konsultationen präzisierte er den

24

https://www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Stabilisierung und Weiterentwick-

lung des bilateralen Wegs > Paket Schweiz-EU

25

https://www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Stabilisierung und Weiterentwick-

lung des bilateralen Wegs > Paket Schweiz-EU

26

Der Bericht über die Ergebnisse der Konsultation ist abrufbar unter: https://www.eda.ad-

min.ch/europa >Bilateraler Weg > Stabilisierung und Weiterentwicklung des bilateralen

Wegs > Paket Schweiz-EU.

39 / 931

Entwurf des Verhandlungsmandates und verabschiedete es am 8. März definitiv.

27

Kurz darauf, am 12. März 2024, verabschiedete die EU ihrerseits ihr Verhandlungs-

mandat.

28

1.3.2

Verhandlungsphase

Am 18. März 2024 eröffneten Bundespräsidentin Viola Amherd und die Präsidentin

der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, in Anwesenheit der jeweiligen

Chefunterhändler – Patric Franzen, stellvertretender Staatssekretär, für die Schweiz

und Richard Szostak, Direktor, für die EU – offiziell die Verhandlungen zwischen der

Schweiz und der EU.

Im Verlauf der Verhandlungen fanden mehrere Kontakte auf politischer Ebene zwi-

schen Bundespräsidentin Viola Amherd und der Präsidentin der Europäischen Kom-

mission, Ursula von der Leyen, sowie zwischen Bundesrat Ignazio Cassis und dem

für die Beziehungen zur Schweiz zuständigen Vizepräsidenten der Europäischen

Kommission, Maroš Šefčovič, statt. Auf diplomatischer Ebene fanden ebenfalls Aus-

tausche zwischen dem Staatssekretär des EDA und dem Kabinettschef von Vizeprä-

sident Maroš Šefčovič statt. Diese Kontakte auf politischer und diplomatischer Ebene

setzten Impulse für den Prozess. Die Verhandlungen wurden von den Chefunterhänd-

lern geführt. Diese trafen sich auf ihrer Ebene rund dreimal im Monat, zuzüglich häu-

figere punktuelle Kontakten. Sie waren für die Leitung des gesamten Verhandlungs-

prozesses verantwortlich. Zudem befassten sie sich mit Fragen, die nicht in den

einzelnen Verhandlungsgruppen geklärt werden konnten. Dabei zogen sie die für die

jeweiligen Themen zuständigen Unterhändler der Verhandlungsgruppen bei. Es gab

14 Verhandlungsgruppen zu folgenden Themenbereichen:

(i)

institutionelle Ele-

mente,

(ii)

staatliche Beihilfen,

(iii)

Personenfreizügigkeit (Zuwanderung),

(iv)

Per-

sonenfreizügigkeit (Lohnschutz),

(v)

Landverkehr,

(vi)

gegenseitige Anerkennung

von Konformitätsbewertungen,

(vii)

Luftverkehr,

(viii)

Lebensmittelsicherheit und

Landwirtschaft,

(ix)

Strom,

(x)

Gesundheit,

(xi)

Programme,

(xii)

Weltraum,

(xiii)

Schweizer Beitrag und

(xiv)

transversale Elemente. Die Schweizer Delegatio-

nen in diesen Verhandlungsgruppen wurden jeweils von zwei Unterhändlern geleitet,

einer aus dem fachlich zuständigen Departement und einer aus der Abteilung Europa

des Staatssekretariats EDA. Den Delegationen gehörten Vertreterinnen und Vertreter

der zuständigen Bundesdepartemente, der Kantone, sofern deren Zuständigkeiten be-

troffen waren, und der Mission der Schweiz bei der EU an. Die Delegationen der EU

in den Verhandlungsgruppen wurden von Unterhändlern aus den zuständigen Gene-

raldirektionen und dem Generalsekretariat der Europäischen Kommission geleitet.

Die meisten Sitzungen der Chefunterhändler und der Verhandlungsgruppen fanden

online

statt, einige jedoch auch vor Ort in Bern oder in Brüssel.

An seiner Sitzung vom 26. Juni 2024 nahm der Bundesrat eine Standortbestimmung

zu den Verhandlungen mit der EU vor. Er stellte in einigen Bereichen konkrete Fort-

27

https://www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Stabilisierung und Weiterentwick-

lung des bilateralen Wegs > Paket Schweiz-EU

28

www.consilium.europa.eu > Nachrichten und Medien > Pressemitteilungen > 12. März

2024 (15:05)

40 / 931

schritte fest. In anderen Bereichen, vor allem bei der Zuwanderung und beim Lohn-

schutz, mussten sich die Positionen der Delegationen noch weiter annähern. Der Bun-

desrat beauftragte die Departemente, die Arbeiten auf aussen- und innenpolitischer

Ebene weiterzuführen.

Am 4. Juli 2024 fand ein Telefongespräch zwischen Bundesrat Ignazio Cassis und

dem Exekutiv-Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, Maroš Šefčovič, statt.

Dabei ging es namentlich um die Teilnahme der Schweiz an den europäischen For-

schungsprogrammen. Am selben Tag hatte die EU nämlich beschlossen, dass sich die

Forschenden aus der Schweiz an den ersten drei Ausschreibungen des Europäischen

Forschungsrats für das Programmjahr 2025 gemäss der in der Sondierungsphase vor-

gesehenen Übergangregelung beteiligen dürfen. Bundesrat Ignazio Cassis und Exe-

kutiv-Vizepräsident Maroš Šefčovič telefonierten am 20. September 2024 erneut, um

eine Standortbestimmung zum Fortschreiten der Verhandlungen vorzunehmen und

die nächsten Schritte zu besprechen. Auf dieses Gespräch folgten Treffen in Brüssel

zwischen den Chefunterhändlern sowie zwischen dem Staatssekretär des EDA und

dem scheidenden und dem neuen Kabinettschef von Exekutiv-Vizepräsident Maroš

Šefčovič.

An seiner Sitzung vom 6. November 2024 führte der Bundesrat erneut eine vertiefte

Diskussion über den Stand der Verhandlungen mit der EU und die Arbeiten im Hin-

blick auf die interne Umsetzung des Pakets. Er stellte fest, dass in den meisten Berei-

chen des Pakets substanzielle Fortschritte erzielt worden waren, insbesondere bei den

institutionellen Fragen und den staatlichen Beihilfen. In anderen Bereichen, vor allem

Personenfreizügigkeit, Strom und Schweizer Kohäsionsbeitrag, sollten die Verhand-

lungen im Hinblick auf eine Einigung der beiden Parteien weitergehen. Der Bundesrat

beauftragte das EDA und die fünf anderen betroffenen Departemente (EJPD, WBF,

UVEK, EDI und EFD), die Verhandlungen mit der EU weiterzuführen.

Am 28. November 2024 traf sich Bundesrat Ignazio Cassis in Begleitung des Chefun-

terhändlers und der Staatssekretäre des EDA, des SECO und des SEM ein weiteres

Mal mit dem Exekutiv-Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, Maroš Šefčo-

vič, in Bern. Nach einer politischen Bilanzziehung zu den Verhandlungen stellten sie

fest, dass die Verhandlungen in den meisten Bereichen des Pakets weit fortgeschritten

waren und erörterten die noch offenen Fragen. Sie bekräftigten ihr Engagement, die

Verhandlungen erfolgreich abzuschliessen, wobei ein materieller Abschluss der Ver-

handlungen bis Ende des Jahres angestrebt wurde, sofern der Inhalt qualitativ zufrie-

denstellend wäre.

An seiner Sitzung vom 20. Dezember 2024 nahm der Bundesrat mit Befriedigung

vom erfolgreichen materiellen Abschluss der Verhandlungen zwischen der Schweiz

und der EU Kenntnis. Er stellte fest, dass die Schweizer Delegation die im Verhand-

lungsmandat festgesetzten Ziele in allen betroffenen Bereichen erreicht hatte. Er be-

auftragte die betroffenen Departemente, die nächsten Schritte für einen formellen Ab-

schluss

der

Verhandlungen vorzubereiten.

Am

selben

Tag

trafen

sich

Bundespräsidentin Viola Amherd und die Präsidentin der Europäischen Kommission,

Ursula von der Leyen, anlässlich des materiellen Abschlusses der Verhandlungen in

41 / 931

Bern und begrüssten das Verhandlungsresultat. Von der Verabschiedung des Ver-

handlungsmandats durch den Bundesrat bis zum materiellen Abschluss der Verhand-

lungen wurden 197 Verhandlungssitzungen durchgeführt.

Nach dem materiellen Abschluss der Verhandlungen nahmen die Delegationen die

formal-rechtliche Überarbeitung und Übersetzung der Dokumente im Hinblick auf

den formellen Abschluss der Verhandlungen an die Hand.

1.3.3

Miteinbezug von Parlament, Kantonen und weiteren

Interessensgruppierungen

Im Verlauf des gesamten Prozesses gewährleistete ein kontinuierlicher Austausch mit

den zuständigen parlamentarischen Kommissionen der eidgenössischen Räte, den

Kantonen, den Sozialpartnern und der Wirtschaft, dass die zentralen Akteure in der

Schweiz stets über die Gespräche auf dem Laufenden waren und ihre Standpunkte

einbringen konnten.

So war das Parlament während der verschiedenen Phasen eng in die Arbeit einbezo-

gen. Dieser Einbezug erfolgte in erster Linie im Rahmen des für den europapolitischen

Austausch institutionalisierten Formats der «Europapolitischen Aktualitäten», die bei

jeder Sitzung beider Aussenpolitischen Kommissionen (APK) traktandiert sind. Wäh-

rend der exploratorischen Gespräche mit der EU zwischen März 2022 und Oktober

2023 fand in Anwesenheit einer Delegation des Bundesrates beziehungsweise des

EDA 26-mal ein solcher Austausch statt. Auf Anfrage wurden andere Sachbereichs-

kommissionen über den Stand der Arbeiten informiert. Die APK wurden im April

2022 über die vom Bundesrat am 23. Februar 2022 verabschiedeten Eckpunkte für ein

Verhandlungspaket und die ersten Entwicklungen in den exploratorischen Gesprä-

chen informiert

29

. Um dem Informationsbedürfnis in Bezug auf die Stossrichtung des

Pakets Rechnung zu tragen, schlug der Bundesrat den APK ausserdem vor, eine aus-

serordentliche Informationsveranstaltung zu diesem Thema durchzuführen. Neben

der kontinuierlichen Information über den Verlauf der exploratorischen Gespräche

wurden die APK Anfang 2023 zum Bericht des Bundesrates «Lagebeurteilung Bezie-

hungen Schweiz–EU» konsultiert

30

, der auch auf die Sondierungen zum Paket

Schweiz–EU eingeht.

Nach Abschluss der exploratorischen Gespräche mit der EU wurden die zuständigen

parlamentarischen Kommissionen zum Entwurf des Verhandlungsmandats konsul-

tiert

31

. Anfang 2024 befassten sich acht verschiedene parlamentarische Kommissio-

nen an zwanzig Sitzungen mit dem Mandat (APK und andere interessierte Kommis-

sionen: Verkehr und Fernmeldewesen [KVF], Soziale Sicherheit und Gesundheit

29

Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) (15. Dezember

2023): Bericht zu den exploratorischen Gesprächen zwischen der Schweiz und der EU zur

Stabilisierung und Weiterentwicklung ihrer Beziehungen.

30

www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > Medienmitteilungen des Bun-

desrates > 09.06.2023 > Bundesrat verabschiedet den Bericht Lagebeurteilung Beziehun-

gen Schweiz

–EU.

31

www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > Medienmitteilungen des Bun-

desrates > 08.03.2024 > Beziehungen Schweiz

–EU:

Bundesrat verabschiedet das endgül-

tige Verhandlungsmandat

.

42 / 931

[SGK], Staatspolitische Kommission [SPK], Umwelt, Raumplanung und Energie

[UREK], Wirtschaft und Abgaben [WAK], Wissenschaft, Bildung und Kultur [WBK]

und Finanzen [FK]). Die APK sowie zwei weitere Sachbereichskommissionen

(WAK, KVF) unterstützten den Mandatsentwurf in ihrer Stellungnahme an den Bun-

desrat. Die Kommissionen verlangten eine Reihe von Präzisierungen des Mandats, die

der Bundesrat bei der Verabschiedung des endgültigen Verhandlungsmandats am

8. März 2024 weitgehend übernahm.

Danach wurde das Parlament über eine ausführliche und kontinuierliche Information

der APK im Rahmen der «Europapolitischen Aktualitäten» in die Verhandlungsfüh-

rung einbezogen. Während der Verhandlungen haben verschiedene Mitglieder des

Bundesrates an nicht weniger als 13 Sitzungen der APK über die Verhandlungen in-

formiert. Auch die EFTA/EU-Delegation des Parlaments wurde einbezogen, nament-

lich bei einem Austausch über die parlamentarische Zusammenarbeit Schweiz–EU (s.

Ziff. 2.15). Bei diesem Verhandlungsthema, welches das Parlament direkt betrifft,

wurden die APK Ende 2024 zum Entwurf des Protokolls mit der EU konsultiert. Die

Kommissionen beider Räte unterstützten den Ansatz des Bundesrates. Ausserdem

wurden auf Anfrage auch andere Sachbereichskommissionen über den Stand der Ar-

beiten in ihrem Zuständigkeitsbereich informiert. Beispielsweise wurden die WBK

mehrmals über die Gespräche zum Programm Horizon Europe informiert. Schliess-

lich fand über das institutionalisierte Vorgehen zur Beteiligung des Parlaments im

Bereich der Aussenpolitik gemäss Artikel 152 des Parlamentsgesetzes

32

hinaus ein

informeller Austausch auf verschiedenen Ebenen statt, um das Paket und seine inner-

staatliche Umsetzung zu erörtern: z. B. mit den Präsidenten der APK und der Ständi-

gen Subkommission für Europafragen der APK-N, aber auch mit den Fraktionen oder

deren Vorsitzenden.

Auch der Einbezug der Kantone wurde durch den ständigen Austausch auf der politi-

schen und technischen Ebene in jeder Phase des Prozesses zum Paket Schweiz–EU

sichergestellt. Bundesrat und -verwaltung informierten die Kantone bereits während

der exploratorischen Gespräche intensiv über deren Verlauf. Auch auf technischer

Ebene waren die Kantone an thematischen Arbeitsgruppen beteiligt. Die Kantone

wurden dann in Anwendung von Artikel 55 BV sowie des diese Verfassungsbestim-

mung konkretisierenden Mitwirkungsgesetzes

33

im Dezember 2023 zum Entwurf des

Verhandlungsmandats des Bundesrates konsultiert. Die Konferenz der Kantonsregie-

rungen (KdK) nahm am 2. Februar 2024 dazu Stellung. Sie befürwortete die Verhand-

lungslinien des Bundesrates und unterstützte die Aufnahme von Verhandlungen mit

der EU. Die Stellungnahme wurde von einer Mehrheit von 24 der 26 Kantone befür-

wortet.

Auf politischer Ebene wurde sichergestellt, dass kantonale politische Vertreterinnen

und Vertreter vor, während und nach den Verhandlungen laufend informiert wurden

und die Möglichkeit hatten, sich zu äussern:

(i)

Einerseits waren die Kantone in zwei

32

RS

171.10

33

Bundesgesetz vom 22. Dezember 1999 über die Mitwirkung der Kantone an der Aussen-

politik des Bundes (BGMK; SR

138.1

); Vereinbarung vom 7. Oktober 1994 zwischen

Bundesrat und KdK.

43 / 931

institutionalisierten Gefässen vertreten, nämlich im Europadialog Bund–Kantone und

mit einer Vertretung im

Sounding Board

der Projektorganisation.

(ii)

Andererseits

wurde ein regelmässiger Austausch mit dem Schweizer Chefunterhändler und weite-

ren Vertreterinnen und Vertretern der Bundesverwaltung in der Europakommission

der KdK organisiert. Bis zur Eröffnung der Vernehmlassung wurden insgesamt 22

Europadialoge und 25 Sitzungen des

Sounding Boards

durchgeführt. Daneben nah-

men diverse hochrangige Mitglieder der Bundesverwaltung, darunter zwei Staatssek-

retäre und der Chefunterhändler, an rund zehn Sitzungen der Europakommission der

KdK teil.

Als zentrale Partner des Bundes wurden die Kantone auch stark in die Verhandlungs-

organisation einbezogen. So waren sie in acht (von insgesamt 14) Verhandlungsgrup-

pen, die Themen mit kantonaler Zuständigkeit behandelten, durch fachliche Vertrete-

rinnen und Vertreter der Konferenz der Kantonsregierungen und relevanter

Direktorenkonferenzen (DK) in den Schweizer Verhandlungsdelegationen vertreten

(s. Ziff. 2.1, 2.2., 2.3, 2.5, 2.8, 2.11, 2.13): Kantonale Vertreterinnen und Vertreter

waren in den Verhandlungsgruppen zu den Institutionellen Modulen, den staatlichen

Beihilfen, PFZ – Zuwanderung, PFZ – Lohnschutz, Landverkehr, Storm, Gesundheit

und Programme vertreten. Beteiligte Direktorenkonferenzen waren die Konferenz der

Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK), die Konferenz der Volkswirt-

schaftsdirektorinnen und -direktoren (VDK), die Konferenz der kantonalen Direkto-

rinnen und Direktoren des öffentlichen Verkehrs (KÖV), die Konferenz der Energie-

direktorinnen und -direktoren (EnDK), die Konferenz der Gesundheitsdirektorinnen

und -direktoren (GDK) und die Konferenz der Erziehungsdirektorinnen und -direkto-

ren (EDK). In den Arbeitsgruppen Bund–Kantone hatten die Kantone weitere Gele-

genheit, sich auf technischer Ebene einzubringen. Auf der innenpolitischen Ebene

wurden die Kantone durch die zuständigen Ämter eng in die Erarbeitung der jeweili-

gen inländischen Umsetzungsgesetzgebung involviert. Die Ergebnisse dieses techni-

schen Austauschs konnten anschliessend in den oben genannten politischen Gremien

(Europadialog,

Sounding Board

) diskutiert werden. Nach den Verhandlungen lief der

Austausch in den institutionalisierten Gefässen Europadialog und

Sounding Board

weiter.

Weitere institutionelle Partner des Bundes wie Städte und Gemeinden, beziehungs-

weise der Schweizerische Städteverband (SSV) und der Schweizerische Gemeinde-

verband (SGV), wurden bei verschiedenen Gelegenheiten vom Departementschef des

EDA oder dem Staatssekretär des EDA über den Stand der Verhandlungen informiert

und konnten dabei ihre Anliegen einbringen.

Die Sozialpartner und die Wirtschaft wurden während der exploratorischen Gespräche

sowie Verhandlungen eng einbezogen. Neben etwa 110 Sitzungen der fachspezifi-

schen innenpolitischen Gremien zu Lohnschutz, Zuwanderung, Strom und Landver-

kehr (Weitere Ausführungen s. Ziff. 2) waren der Schweizerische Gewerkschaftsbund

(SGB), Travail.Suisse, der Schweizerische Arbeitgeberverband (SAV), der Schwei-

zerische Gewerbeverband (SGV) sowie economiesuisse Teil des

Sounding Boards

.

Dieses Gremium tagt monatlich unter der Leitung des Departementschefs des EDA.

Bis zur Eröffnung der Vernehmlassung fanden insgesamt 25 Sitzungen statt. Im Rah-

44 / 931

men des

Sounding Boards

wurden die Sozialpartner und economiesuisse kontinuier-

lich über den Fortschritt der exploratorischen Gespräche, der Verhandlungen und der

inländischen Umsetzung informiert und konnten ihre Anliegen einbringen. Ergänzend

dazu fanden regelmässig weitere Treffen zwischen Vertreterinnen und Vertretern der

Departemente auf Bundesrats- und Direktionsstufe, dem Chefunterhändler sowie den

Sozialpartnern und economiesuisse statt.

Die Spitzen der grössten politischen Parteien, Vertreterinnen und Vertreter weiterer

Gewerkschaften, Angestelltenverbände, Wirtschafts- und Branchenverbände, Han-

delskammern sowie der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) und Swissgrid waren

aktiv in den Informationsaustausch eingebunden und wurden dabei zum Stand der

exploratorischen Gespräche, der Verhandlungen und zur inländischen Umsetzung

durch die zuständigen Departemente und das EDA auf technischer und politischer

Ebene informiert. Weiter wurden zivilgesellschaftliche Organisationen bei verschie-

denen Gelegenheiten informiert und ihre Anliegen entgegengenommen. Alle interes-

sierten Akteurinnen und Akteure hatten zudem die Möglichkeit, sich zum Verhand-

lungsmandat zu äussern. Die Anliegen wurden, soweit möglich in den Verhandlungen

berücksichtigt.

1.3.4

Verhandlungsergebnis

Das aus den Verhandlungen hervorgegangene Paket entspricht dem vom Bundesrat

am 23. Februar 2022 beschlossenen Ansatz. Es besteht aus zwei Teilen: einem Teil

über die Stabilisierung und einem Teil über die Weiterentwicklung der Beziehungen

Schweiz–EU. Der Stabilisierungsteil umfasst

(i)

die sektorielle Verankerung von in-

stitutionellen Elementen in den bestehenden Binnenmarktabkommen Personenfreizü-

gigkeit, technische Handelshemmnisse (MRA), Land- und Luftverkehr unter Berück-

sichtigung von Ausnahmen, Absicherungen und Prinzipien,

(ii)

die Aufnahme von

Bestimmungen über staatliche Beihilfen in die bestehenden Land- und Luftverkehrs-

abkommen,

(iii)

weitere Anpassungen der bestehenden Abkommen (Personenfreizü-

gigkeit, technische Handelshemmnisse (MRA), Land- und Luftverkehr sowie Land-

wirtschaft),

(iv)

Kooperationsabkommen in den Bereichen Forschung, Bildung und

Weltraum sowie

(v)

die Verstetigung des Schweizer Beitrags

.

Die Elemente des Sta-

bilisierungsteils können nur gemeinsam in Kraft treten. Der Weiterentwicklungsteil

umfasst

(i)

neue Binnenmarktabkommen in den Bereichen Strom (inkl. institutionelle

Elemente und staatliche Beihilfen) und Lebensmittelsicherheit (inkl. institutionelle

Elemente) sowie

(ii)

ein neues Kooperationsabkommen im Bereich Gesundheit. Jedes

Element des Weiterentwicklungsteils kann unabhängig von den anderen in Kraft tre-

ten, sofern die Instrumente des Stabilisierungsteils in Kraft treten (s. Kap. 2 zu den

einzelnen Verhandlungsergebnissen und Ziff. 2.1.5.6 zu den Bestimmungen zum In-

krafttreten).

Die Schweiz und die EU streben zudem nach einem regelmässigen poli-

tischen Austausch in unterschiedlichen Bereichen. Folglich wurden

(i)

ein hochrangi-

ger Dialog und

(ii)

eine institutionalisierte parlamentarische Zusammenarbeit

beschlossen.

Die Schweiz und die EU haben darüber hinaus in einer Gemeinsamen Erklärung den

Umfang der Partnerschaft und der Zusammenarbeit im Zeitraum von Ende 2024 bis

zum Inkrafttreten des Pakets festgelegt. Sie haben sich insbesondere auf folgende

Punkte geeinigt:

45 / 931

Der Umfang der Zusammenarbeit im Rahmen der bilateralen Beziehungen

zwischen der Schweiz und der EU sollte ausgebaut werden.

Seit dem 1. Januar 2025 wird die Übergangsregelung im Bereich Forschung

und Innovation vollständig angewandt. Dies ermöglicht den Schweizer Ein-

richtungen den Zugang zu fast allen Ausschreibungen der Programme Ho-

rizon Europe, Euratom und Digital Europe.

Die Schweiz und die EU arbeiten zusammen, um die Sicherheit und das

reibungslose Funktionieren der Stromnetze aufrechtzuerhalten und die Be-

völkerung im Falle schwerwiegender grenzüberschreitender Gesundheits-

gefahren zu schützen, insbesondere durch die technische Beteiligung an den

EU-Instrumenten zur Gesundheitssicherheit. Sie verlängern ausserdem die

Übergangsmassnahmen, damit die Schweiz über das Jahr 2025 hinaus an

der Eisenbahnagentur der Europäischen Union teilnehmen kann.

Der Dialog über die Finanzmarktregulierung, der am 4. Juli 2024 wieder

aufgenommen wurde, wird fortgesetzt.

Die Schweiz und die EU arbeiten eng und nach Treu und Glauben zusam-

men, um das gute Funktionieren der bestehenden Binnenmarktabkommen

sicherzustellen. Insbesondere führen sie Gespräche über die Umsetzung des

MRA.

Aufgrund der Sensibilität, die der Ratifikationsprozess des Pakets für die

Schweiz und die EU aufweist, sollten beide Parteien auf seinen Abschluss

hinwirken und gleichzeitig ihre bilateralen Beziehungen festigen.

Diese Gemeinsame Erklärung ist rechtlich unverbindlich. Der Abschluss der Erklä-

rung liegt gemäss Artikel 184 Absatz 1 BV

34

in der Kompetenz des Bundesrates.

Betreffend die inländische Genehmigung kann der Bundesrat Abkommen in einem

Bundesbeschluss gebündelt und gemeinsam vorlegen (horizontale Bündelung). Sie

müssen einen sachlichen Zusammenhang zueinander aufweisen (Einheit der Materie).

Das Recht der Stimmberechtigten auf freie Willensbildung und unverfälschte Stimm-

abgabe (Art. 34 Abs. 2 BV) muss in einem verhältnismässigen Ausgleich zu den öf-

fentlichen Interessen an einer Bündelung der Abkommen stehen. Den Behörden

kommt dabei ein substantieller Ermessensspielraum zu.

Der Bundesrat schlägt vor, das Paket Schweiz–EU in einen Stabilisierungs- und einen

Weiterentwicklungsteil zu unterteilen. Die Elemente des Stabilisierungsteils sollen in

einem Bundesbeschluss vorgelegt werden. Sie sind sachlich dadurch verbunden, dass

sie der

Stabilisierung

des bilateralen Wegs dienen. Bei den drei Abkommen des Wei-

terentwicklungsteils handelt es sich um eine

Weiterentwicklung

des bilateralen Wegs.

Sie werden vom Bundesrat je in einem separaten Bundesbeschluss vorgelegt.

Die Abkommen erfordern eine Umsetzung in verschiedenen Bundesgesetzen. Diese

können in den jeweiligen Bundesbeschluss über die Genehmigung des Abkommens

34

SR

101

46 / 931

bzw. der Abkommen aufgenommen werden, wenn diese dem fakultativen Referen-

dum (mit Volksmehr) unterstehen (vertikale Bündelung, vgl. Art. 141

a

Abs. 2 BV).

Nach der Praxis gilt das auch für flankierende oder kompensatorische Massnahmen

in der Form eines Bundesgesetzes.

Der Bundesrat legt dem Parlament somit insgesamt vier referendumsfähige Bundes-

beschlüsse vor: einen über den Stabilisierungsteil sowie je einen für die drei neuen

Abkommen des Weiterentwicklungsteils (s. Ziff. 4).

1.4

Verhältnis zur Legislaturplanung sowie zu Strategien des

Bundesrates

Der Bundesrat will die Beziehungen zur EU, welche die Schweiz über den sogenann-

ten bilateralen Weg regelt, stabilisieren und weiterentwickeln. So hat er es unter an-

derem in der Botschaft zur Legislaturplanung 2023–2027, der Aussenpolitischen Stra-

tegie 2024–2027 (APS) sowie in der 2021 verabschiedeten Strategie zur

Aussenwirtschaftspolitik festgehalten

35

. Er will dies durch die Aktualisierung beste-

hender Binnenmarktabkommen, den Abschluss neuer Abkommen in den Bereichen

Strom, Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, die Beteiligung der Schweiz an EU-

Programmen, insbesondere im Bereich Bildung, Forschung und Innovation, sowie die

Lösung der institutionellen Fragen und die Regelung der staatlichen Beihilfen in den

einzelnen Binnenmarktabkommen erreichen. Des Weiteren ist der Bundesrat bereit,

durch die Verstetigung eines Schweizer Beitrags zu einem sicheren, stabilen und pros-

perierenden Europa beizutragen.

1.4.1

Verhältnis zur Legislaturplanung

Die in der Botschaft vom 24. Januar 2024

36

zur Legislaturplanung 2023–2027 unter

Ziel 2 als Richtliniengeschäfte und im Bundesbeschluss vom 6. Juni 2024 über die

Legislaturplanung 2023–2027, Artikel 3, einzeln aufgelisteten Abkommen und Bot-

schaften werden in der vorliegenden Vernehmlassungsvorlage zusammengeführt und

als Sammelbotschaft verabschiedet.

1.4.2

Verhältnis zu Strategien des Bundesrates

Vor dem Hintergrund der aktuellen weltpolitischen und -wirtschaftlichen Situation

bleibt ein stabiles und prosperierendes Europa für die Sicherheit, den Wohlstand und

die Unabhängigkeit der Schweiz wichtig. Die Beziehung zur EU sowie allen europä-

ischen Staaten ist daher auch der grösste geografische Schwerpunkt der aktuellen

APS. Das vorliegende Paket nimmt alle Elemente auf, die in der APS in Zusammen-

hang mit der Stabilisierung und Weiterentwicklung des bilateralen Wegs mit der EU

erwähnt werden. In der Strategie wird zudem betont, dass die Regelung der Beziehun-

gen zur EU Einfluss auf zahlreiche Aspekte des täglichen Lebens in der Schweiz hat.

Kantone, Parlament und weitere Interessengruppierungen sollen deshalb eng in die

35

Schweizerischer Bundesrat, Botschaft vom 24. Januar 2024 zur Legislaturplanung 2023–

2027; Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten, Aussenpolitische

Strategie 2024–2027, Bern, 31. Januar 2024; Eidgenössisches Departement für Wirtschaft,

Bildung und Forschung WBF, Strategie zur Aussenwirtschaftspolitik, Bern 24. November

2021.

36

BBl

2024

1440

47 / 931

Gestaltung miteinbezogen werden. Diesem Anliegen wird mit dem Paket Rechnung

getragen. Der Einbezug des Parlaments und der Kantone hat während des gesamten

Prozesses stattgefunden und wird explizit festgehalten.

Die 2021 verabschiedete Strategie zur Aussenwirtschaftspolitik des Bundesrates hält

fest, dass die Schweiz weiterhin eine regulatorische Annäherung zum wichtigsten

Handelspartner, der EU, verfolgt. Die Stabilisierung und Weiterentwicklung des be-

währten bilateralen Wegs bleiben dabei die prioritären Ziele.

Elemente des Pakets entsprechen zudem verschiedenen übergeordneten Zielen aus di-

versen weiteren Strategien; etwa im Bereich Bildung, Forschung und Innovation

(BFI). Gemäss der Internationalen BFI-Strategie der Schweiz schafft der Bund die

optimalen Rahmenbedingungen für die internationale Betätigung von Schweizer Akt-

euren in diesem Bereich

37

. Die im Paket verhandelte Teilnahme am Horizon-Paket

2021–2027 und Erasmus+ erfüllt dieses Ziel.

Mit der Energiestrategie 2050 will der Bundesrat langfristig eine sichere Energiever-

sorgung sicherstellen und die energiebedingte Umweltbelastung reduzieren

38

. Im Mai

2017 hat das Schweizer Stimmvolk dazu dem neuen Energiegesetz zugstimmt

39

. Im

Juni 2024 hat das Schweizer Stimmvolk mit der Zustimmung zum Bundesgesetz über

eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien die Stossrichtung der Ener-

giestrategie 2050 bestätigt

40

. Die Energiestrategie 2050 erfordert eine stärkere Elekt-

rifizierung des Energiesystems. Das Paket CH-EU inkl. Stromabkommen vereinfacht

deren Umsetzung, indem sie die Einbindung der Schweiz ins europäische Stromsys-

tem und damit den Austausch und Handel von Strom völkerrechtlich absichern.

Ein Ziel der Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030 ist, dass die Schweiz mit ande-

ren europäischen Staaten arbeitet, um den wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und

territorialen Zusammenhalt zu verbessern und so die territorialen Disparitäten in Eu-

ropa zu verringern

41

. Mit der Verstetigung des Schweizer Beitrags, der Teil des Pakets

ist, wird diesem Ziel nachgekommen.

1.5

Erledigung parlamentarischer Vorstösse

Mit der vorliegenden Botschaft werden folgende parlamentarische Vorstösse zur Ab-

schreibung beantragt:

Die Motion 14.3120 Sozialdemokratische Fraktion «Die Partnerschaft mit Europa si-

cherstellen» beauftragt den Bundesrat, die erreichte Qualität unserer Beziehungen zur

EU zu gewährleisten. Er soll die rechtlichen Grundlagen vorschlagen, welche den

Beibehalt, die Weiterentwicklung und die Vertiefung unserer Beziehungen zu Europa

37

Schweizerischer Bundesrat, Internationale Strategie der Schweiz im Bereich Bildung, For-

schung und Innovation, Bern, Juli 2018.

38

Abrufbar unter: www.bfe.admin.ch > Politik > Energiestrategie 2050

39

BBl 2016 7683

40

AS 2024 679

41

Schweizerischer Bundesrat, Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030, Bern, 23. Juni 2021.

48 / 931

sicherstellen. Das in der vorliegenden Botschaft beantragte Paket Schweiz–EU be-

zweckt eine solche Stabilisierung und Weiterentwicklung der Beziehungen mit der

EU (s. Kap. 1 und 5).

Die Motion 10.3005 APK-S «Massnahmen zur frühzeitigen Information des Parla-

mentes über relevante europäische Gesetzgebungsentwürfe» verlangt im Wesentli-

chen eine verstärkte Information der eidgenössischen Räte über europäische Gesetz-

gebungsentwürfe, die für die Schweiz relevant sind. Das Postulat 11.3916 Nordmann

«Informationspolitik zum autonomen Nachvollzug von EU-Recht» verlangt eine bes-

sere Information zum «autonomen Nachvollzug» von EU-Recht in der Schweiz. Die

Postulate 14.3557 Schilliger «Übernahme von EU-Recht. Kein Swiss Finish und kein

vorauseilender Gehorsam» und 14.3577 Fournier «Übernahme von EU-Recht. Weder

Swiss Finish noch vorauseilender Gehorsam» beauftragen den Bundesrat, aufzuzei-

gen, wie sichergestellt werden kann, dass einerseits das von der Schweiz übernom-

mene EU-Recht nicht noch zusätzlich verschärft wird (

Swiss Finish

) und andererseits

diese Übernahme zum spätest möglichen Zeitpunkt erfolgt. Das Postulat 18.3059

Nussbaumer «Zukünftige parlamentarische Mitwirkung in Angelegenheiten

Schweiz/EU» verlangt, dass die Möglichkeiten der zukünftigen Mitwirkung des Par-

laments in europapolitischen Angelegenheiten in einem Bericht dargelegt werden. Die

Motion 19.3170 Lombardi [Rieder] «Gesetzliche Grundlage zur Wahrung des Mit-

sprache- und Entscheidungsrechts von Parlament, Volk und Kantonen bei der Umset-

zung des Rahmenabkommens» verlangt im Wesentlichen, dass der Prozess der dyna-

mischen Übernahme von EU-Recht definiert und das Mitspracherecht von Parlament,

Volk und Kantonen gewährleistet wird. Die Anliegen dieser Vorstösse blieben auch

nach dem Abbruch der Verhandlungen über einen Entwurf für ein institutionelles

Rahmenabkommen mit der EU relevant. In der vorliegenden Botschaft werden die im

Rahmen des Pakets Schweiz–EU ausgehandelten institutionellen Elemente dargelegt

(s. Ziff. 2.1), darunter die dynamische Übernahme von EU-Recht und die damit ver-

bundenen Verfahren. Sie enthält Vorschläge, wie die Information und Mitwirkung des

Parlaments diesbezüglich verstärkt werden können, insbesondere im Hinblick auf eine

künftige Beteiligung der Schweiz am Prozess der Ausarbeitung von EU-Rechtsakten

Decision Shaping

(s. Ziff. 2.1.7.7).

Die Motionen 21.3691 Munz «Stopp dem Lebensmittelbetrug», 21.3903 Egger «Le-

bensmittelbetrug stärker bekämpfen zum Schutz der heimischen Lebensmittelproduk-

tion und der Konsumenten» und 21.3936 Michaud Gigon «Verstärkte Anstrengungen

zur Bekämpfung von Lebensmittelbetrug» beauftragen den Bundesrat im Wesentli-

chen damit, den Lebensmittelbetrug besser zu ahnden. Entsprechende Bestimmungen

werden ins Ausführungsgesetz zum Abkommen über Lebensmittelsicherheit mit der

EU aufgenommen (s. Ziff. 2.12.10.4, Lebensmittelgesetz).

Die Motion 17.3630 WBK-S «Vollassoziierung an Erasmus plus ab 2021», das Pos-

tulat 20.3928 WBK-N «Roadmap für die internationale Zusammenarbeit und Mobili-

tät nach Erasmus plus» und das Postulat 24.4345 Christ «Kosten-Nutzen-Analyse ei-

ner Assoziierung der Schweiz an Erasmus plus im Vergleich zum Schweizer

Programm Movetia» betreffen die Teilnahme der Schweiz an Erasmus+ und die in-

ternationale Mobilität grundsätzlich. Sie werden unter Ziffer 2.8 zum EU-

Programmabkommen behandelt, das den Weg zu einer Teilnahme an Erasmus+ ebnet.

49 / 931

Das Postulat 21.3498 Die Mitte-Fraktion «Massnahmen für die künftige wirtschaftli-

che Zusammenarbeit mit der EU» beauftragt den Bundesrat, darzulegen, mit welchen

Massnahmen die wirtschaftliche Entwicklung in der Schweiz und deren Wettbewerbs-

fähigkeit im europäischen Raum ohne institutionelles Rahmenabkommen mit der EU

gestützt werden können. Das Postulat 22.3296 Michaud Gigon «Europadossier. Aus-

wirkungen auf die Schweizer Wirtschaft und Ansätze des Bundesrates» verlangt die

Vorlage einer Gesamtschau darüber, wie sich das Scheitern des Rahmenabkommens

mit der EU mittel- und langfristig auf die Schweizer Wirtschaft auswirkt, wenn es mit

der EU zu keiner Einigung über die Konsolidierung und die Weiterentwicklung des

bilateralen Wegs kommt. Das Postulat 24.3528 FDP-Liberale Fraktion «Wert der Bi-

lateralen Verträge für die Schweiz» verlangt einen Bericht über die Auswirkungen,

die ein schrittweiser Wegfall der bestehenden bilateralen Verträge für die Schweiz

mittel- bis langfristig hätte. Die vorliegende Botschaft bezweckt die Stabilisierung

und die Weiterentwicklung der Beziehungen zur EU, wobei der hindernisfreie Zugang

zum EU-Binnenmarkt das Kernstück des Pakets Schweiz–EU bildet. Die Botschaft

erläutert ausserdem die geprüften Alternativen sowie die wirtschaftlichen Auswirkun-

gen des Pakets (s. Ziff. 1.2, 1.6, 3.3).

Die Motion 18.4105 KVF-S «Kooperationsmodell anstelle der Öffnung des internati-

onalen Schienenpersonenverkehrs» beauftragt den Bundesrat, eine allfällige Öffnung

des Markts für den internationalen Schienenpersonenverkehr dem Parlament zum Ent-

scheid vorzulegen. Diese Frage wird dem Parlament im Rahmen des Landverkehrs-

abkommens mit der EU, das eine Öffnung des internationalen Schienenpersonenver-

kehrs vorsieht, vorgelegt (s. Ziff. 2.5).

Die Motion 21.3500 Die Mitte-Fraktion «Rechtssicherheit für die Zusammenarbeit

zwischen der Schweiz und der EU im europäischen Stromsystem gewährleisten!» ver-

langt die Aufnahme diesbezüglicher Verhandlungen mit der EU. Die Motion 21.4500

Die Mitte-Fraktion «Verhandlung zwischenstaatlicher technischer Vereinbarungen

im Bereich Strom» verlangt technische Vereinbarungen mit der EU oder ihren Mit-

gliedstaaten. Diese Anliegen werden im Rahmen des Stromabkommens mit der EU

abgedeckt (s. Ziff. 2.11.3.5).

1.6

Würdigung der Abkommen

1.6.1

Politische Würdigung

Der Abschluss der vorliegenden Abkommen sichert die bewährten Beziehungen zwi-

schen der Schweiz und der EU und das Funktionieren der bestehenden bilateralen

Verträge für die Zukunft. Das Paket CH–EU ist Ausdruck einer Kontinuität. Zudem

erlaubt dieser Weg die Weiterentwicklung des bilateralen Wegs in denjenigen Berei-

chen, die im Interesse der Schweiz liegen. Diese Stabilisierung und Weiterentwick-

lung ist vor dem Hintergrund der aktuellen geopolitischen Lage von strategischer Not-

wendigkeit für die Schweiz. Globale Entwicklungen fordern die einzelnen Staaten

heraus: Grossmächtekonkurrenz, zunehmendes Gewicht neuer informeller Gruppie-

rungen (z. B. BRICS), Erosion des internationalen Rechts (Macht vor Recht), die Kli-

maveränderung, ein weiter zunehmender Migrationsdruck, Entwicklungen in der In-

formationstechnologie und im Energiesektor, aber auch wachsende Staatsschulden,

50 / 931

eine Fragmentierung der internationalen Wirtschaftsordnung, zunehmende handels-

politische Spannungen sowie fragmentierte und polarisierte Gesellschaften. Die Welt

wird instabiler, unsicherer und unvorhersehbarer. Ein regelrechter «

Ring of Fire

» mit

dem Krieg in der Ukraine, Unruhen im Balkan und im Kaukasus, Konflikten im Mitt-

leren Osten, eine instabile Lage in Nordafrika sowie Machtumstürze in Subsahara-

Afrika machen die Weltlage zu einem fragilen Umfeld. Diesen globalen Instabilitäten

kann die Schweiz nur entgegentreten, wenn die Beziehungen zu ihrer unmittelbaren

Nachbarschaft, zu Partnern, die ihre Werte teilen, stabil und berechenbar sind. Die

Beziehungen zur EU sind folglich für die Wahrung der aussen-, sicherheits- und wirt-

schaftspolitischen Interessen der Schweiz von zentraler Bedeutung. Sie sind nicht nur

eine strategische Notwendigkeit für die Sicherheit, den Wohlstand und die Unabhän-

gigkeit der Schweiz. Sie stellen ebenfalls sicher, dass die Schweizer Bevölkerung –

insbesondere die kommenden Generationen – auch in Zukunft vielfältige Perspekti-

ven behält.

Nach einigen Jahren der Stagnation der Beziehungen mit der EU und der Rechtsunsi-

cherheit, in denen die Stabilisierung und Weiterentwicklung des Verhältnisses zur EU

aufgrund nicht gelöster institutioneller Fragen mit der EU auf Eis lagen, legt der Bun-

desrat mit dem vorliegenden Paket eine solide Grundlage für geregelte Beziehungen

mit dem wichtigsten Partner vor. Anpassungen an den bestehenden Abkommen be-

schränken sich auf das Notwendigste, um das Funktionieren der bestehenden Verträge

sicherzustellen. Dies dient der Rechtssicherheit. Die Suche nach dieser Lösung ver-

langte sowohl von der Schweiz als auch der EU Flexibilität sowie auch Beharrlichkeit

und Ausdauer, damit die Kerninteressen auf beiden Seiten gewahrt werden konnten.

Die Notwendigkeit einer Definition der institutionellen Elemente wurde vom Bundes-

rat in diesem Prozess mehrfach geprüft und bestätigt. Bei den institutionellen Elemen-

ten handelt es sich im Wesentlichen um gemeinsame Regeln in den Bereichen Rechts-

auslegung, Rechtsentwicklung sowie Streitschlichtung und -beilegung. Der Bundesrat

kam zum Schluss, dass eine Stabilisierung der bilateralen Beziehungen mit der EU

nur mit einer Aufnahme der institutionellen Elemente in den einzelnen Binnenmarkt-

abkommen möglich ist. Er ist überzeugt, dass die vorliegenden institutionellen Best-

immungen ein ausgewogenes Verhandlungsresultat darstellen, das auch die Weiter-

entwicklung der Binnenmarktabkommen für die Zukunft berechenbar und verbindlich

macht. Der Weiterentwicklungsteil mit den neuen Abkommen baut auf dieser Stabi-

lisierung auf. Die Bereitschaft der EU, auf diese Anliegen der Schweiz einzugehen,

ist ein Verhandlungserfolg, dessen Grundstein bereits im Rahmen der exploratori-

schen Gespräche gelegt werden konnte.

Die vorliegenden Abkommen sichern die verfassungsmässigen Kompetenzen der

Kantone, der Bundesversammlung, des Bundesrates, der Gerichte und des Volkes.

Darüber hinaus sind folgende Elemente spezifisch zu würdigen:

-

Institutionelle Elemente:

Die institutionellen Elemente (s. Ziff. 2.1) erhöhen die

Rechtssicherheit und schützen vor willkürlichen, sachfremden Massnahmen. Sie be-

treffen nur die Binnenmarktabkommen und, soweit für dessen Funktionieren notwen-

dig, das Gesundheitsabkommen. Sie werden entsprechend dem sektoriellen Ansatz in

jedem Abkommen spezifisch geregelt. Dadurch konnten wichtige Eigenheiten der

51 / 931

verschiedenen Abkommen berücksichtigt werden. Zudem finden die institutionellen

Elemente innerhalb der definierten Ziele und Geltungsbereiche der Abkommen An-

wendung, so dass die Auswirkungen der dynamischen Rechtsübernahme klar be-

grenzt sind (s. Ziff. 2.1.5.1.2 und 2.1.5.2.2). Die Schweiz kann sich dank dem

Deci-

sion Shaping

am EU-Rechtsetzungsverfahren in den von den Abkommen betroffenen

Bereichen beteiligen. Sie entscheidet auch mit der dynamischen Rechtsübernahme

weiterhin selbstständig über jede Anpassung der Abkommen. Die innerstaatlich be-

stehenden Verfahren und Zuständigkeiten der Schweiz bleiben unangetastet. Parla-

ment und Volk können weiterhin über die Übernahme von EU-Rechtsakten in die

Abkommen (oder deren Ablehnung) entscheiden und haben damit weiterhin das letzte

Wort. Die essenziellen Interessen der Schweiz wurden durch Ausnahmen abgesichert.

Für den Agrarteil des Abkommens über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeug-

nissen (Landwirtschaftsabkommen) konnte eine spezifische Lösung gefunden wer-

den: In diesem Bereich gibt es keine dynamische Rechtsübernahme. Der Streitbeile-

gungsmechanismus beschränkt sich auf ein Schiedsgericht ohne Rolle für den

Europäischen Gerichtshof (EuGH), und die Ausgleichsmassnahmen können nur in-

nerhalb des Landwirtschaftsabkommens (Agrar- und Lebensmittelsicherheitsteil) ge-

troffen werden.

- Staatliche Beihilfen:

Die Beihilferegulierung erfolgt nur im Geltungsbereich von

drei Abkommen, d.h. des Strom-, des Landverkehrs- und des Luftverkehrsabkom-

mens. Die Einhaltung des Beihilferechts wird in der Schweiz durch Schweizer Behör-

den überwacht. Der

Service public

(z. B. beim öffentlichen Verkehr und beim Strom)

ist nicht gefährdet. Die Schweizer Wirtschaftsordnung beruht auf der Wirtschaftsfrei-

heit und dem Wettbewerb. Die Beihilfeüberwachung trägt dazu bei, indem sie Wett-

bewerbsverzerrungen vorbeugt.

-

Personenfreizügigkeit:

Die Migrationspolitik der Schweiz basiert einerseits auf dem

Freizügigkeitsabkommen mit der EU/EFTA, andererseits auf der subsidiären, durch

Höchstzahlen und Kontingente begrenzten Zulassung von Drittstaatsangehörigen zum

Arbeitsmarkt. Die Zuwanderung von EU/EFTA Staatsangehörigen in die Schweiz er-

folgt primär in den Arbeitsmarkt. Diese Zuwanderung ist stets nachfrageorientiert und

ist somit grundsätzlich nur möglich, wenn eine freie Stelle vorhanden ist, beziehungs-

weise eine eigenständige wirtschaftliche Existenz aufgebaut werden kann. Im aktuel-

len Recht sind zudem verschiedene Massnahmen verankert, welche den Lohnschutz

gewährleisten und eine Unterminierung der Arbeitsbedingungen verhindern. Dieser

Ansatz soll fortgesetzt werden. Daher sehen die mit der EU ausgehandelten Lösungen

im Bereich der Personenfreizügigkeit sowohl bei der Zuwanderung als auch beim

Lohnschutz umfassende Schutz- und Absicherungskonzepte vor.

Das Paket sieht im Bereich

Zuwanderung

ein umfassendes Schutzkonzept vor. Dieses

Schutzkonzept besteht aus der Verankerung von Prinzipien, Ausnahmen und einer

Schutzklausel für den Fall von schwerwiegenden wirtschaftlichen und sozialen Stö-

rungen. Folgende Prinzipien sind abgesichert:

(i)

Die Zuwanderung aus der EU bleibt

arbeitsmarktorientiert. Nur wer über eine Arbeitsstelle oder genügend finanzielle Mit-

tel verfügt, darf in die Schweiz ziehen.

(ii)

Im Falle eines Jobverlustes ist es verpflich-

tend, dass der entsprechende Effort für eine Neuanstellung geleistet und mit den zu-

ständigen Behörden kooperiert wird. Das Aufenthaltsrecht kann ansonsten entzogen

52 / 931

werden.

(iii)

Für Personen, deren Arbeitsaufenthalt in der Schweiz nur kurzer Natur

ist (bis zu drei Monate), besteht weiterhin eine Meldepflicht. So kann sichergestellt

werden, dass die Arbeitsbedingungen eingehalten werden. Das Schutzkonzept wird

ergänzt durch Ausnahmen:

(i)

Ausschaffungen sind möglich wie bis anhin. Straffällig

gewordene EU-Bürgerinnen und -Bürger können weiterhin gemäss Artikel 121 der

BV des Landes verwiesen werden.

(ii)

Das in der Richtlinie 2004/38/EG vorgesehene

Daueraufenthaltsrecht nach fünfjährigem Aufenthalt steht nur Erwerbstätigen offen:

Rentner, Studierende und länger von der Sozialhilfe abhängige Personen erhalten kein

Daueraufenthaltsrecht.

(iii)

Die Schweiz erhält nach Inkrafttreten des Änderungspro-

tokolls ein Jahr Zeit, um biometrische Identitätskarten einzuführen. Zudem bleiben

alle bis zu diesem Zeitpunkt ausgestellten Schweizer Identitätskarten ohne Chip in der

EU weiterhin bis zu ihrem Ablaufdatum gültig (längstens zehn Jahre). Ein weiteres

Element des Schutzkonzepts ist die konkretisierte Schutzklausel:

Mit dieser kann die

Schweiz das Schutzklauselverfahren bei schwerwiegenden wirtschaftlichen und sozi-

alen Problemen eigenständig aktivieren. Unabhängig von einer Einigung im Gemisch-

ten Ausschuss und damit unabhängig von einer Zustimmung der EU, kann die

Schweiz an das Schiedsgericht gelangen, wenn sie der Meinung ist, dass eine Situa-

tion vorliegt, die Schutzmassnahmen erfordert. Das Schiedsgericht prüft, ob eine Aus-

lösesituation vorliegt. Trifft das Schiedsgericht einen negativen Entscheid, könnte die

Schweiz trotzdem Schutzmassnahmen ergreifen. Ist die EU der Ansicht, dass diese

Massnahmen das FZA verletzen, könnte sie ein Streitbeilegungsverfahren initiieren.

Über die Art und Dauer von geeigneten Schutzmassnahmen entscheidet die Schweiz

selbstständig.

Im Bereich des

Lohnschutzes

wurde ein dreistufiges Absicherungskonzept ausgehan-

delt. Dieses umfasst folgende Elemente:

(i)

Prinzipien: «Gleicher Lohn für gleiche

Arbeit am gleichen Ort». Firmen aus der EU, die in der Schweiz einen Auftrag erle-

digen, müssen also auch weiterhin dieselben Löhne zahlen und Arbeitsbedingungen

gewährleisten wie eine Schweizer Firma.

«Duales Kontrollsystem»:

Durchgeführt

werden Lohnkontrollen weiterhin von den paritätischen Kommissionen, also Gewerk-

schaften und Arbeitgebende zusammen, sowie den Kantonen.

(ii)

Ausnahmen: Mit

der Voranmeldefrist, autonome Festlegung der Kontrolldichte, Kautionspflicht im

Wiederholungsfall und der Dokumentationspflicht für Selbstständigerwerbende sind

Schweizer Besonderheiten abgesichert. Konkret müssen in Risikobranchen grenz-

überschreitende Dienstleistungserbringungen weiterhin im Voraus (vier Arbeitstage)

gemeldet werden, um die Kontrollen in diesen sensiblen Branchen planen zu können.

Was als Risikobranche zählt und wie oft kontrolliert wird, bestimmt die Schweiz

selbst. Weiter kann die Schweiz von einem ausländischen Entsendebetrieb eine Kau-

tion verlangen, sollte dieser im Rahmen einer früheren Entsendung eine finanzielle

Verpflichtung gegenüber einer paritätischen Kommission nicht beglichen haben. Bei

Nichtleisten der Kaution kann die Schweiz eine Sanktion bis hin zu einer Dienstleis-

tungssperre verhängen. Schliesslich müssen Selbstständige mit Dokumenten weiter-

hin nachweisen, dass sie wirklich selbstständig sind. So wird Scheinselbstständigkeit

verhindert.

(iii)

Non-Regression-Klausel:

Diese stellt sicher, dass die Schweiz künftig

keine EU-Rechtsentwicklungen übernehmen muss, die den hiesigen Lohnschutz

schwächen würden. Die Schweiz hat damit faktisch ein

Opting-out-Recht

bei entspre-

chenden EU-Rechtsentwicklungen.

53 / 931

- Technische Handelshemmnisse (MRA):

Die regelmässige Aktualisierung des MRA

spart Schweizer Exportunternehmen Zeit und Geld bei der Vermarktung ihrer Pro-

dukte in der EU. Das MRA vereinfacht wie bisher den Zertifizierungsprozess für Pro-

dukte (keine Doppelzertifizierung), bringt Erleichterungen für die Wirtschaftsakteure,

senkt die Bürokratie und damit die Produktepreise und stärkt die Versorgungssicher-

heit im Inland und die Wettbewerbsfähigkeit im Ausland. Das MRA trägt so zur Si-

cherung hiesiger Arbeitsplätze bei.

- Landwirtschaft / Lebensmittelsicherheit:

Die neu vorgesehene Ausweitung des

Landwirtschaftsabkommens im Bereich der Lebensmittelsicherheit stärkt den Ver-

braucherschutz, indem Konsumentinnen und Konsumenten noch besser vor Täu-

schungen und gefährlichen Lebensmitteln geschützt werden. Die Ausweitung stärkt

zudem die Binnenmarktbeteiligung durch einen umfassenden Abbau nichttarifärer

Handelshemmnisse. Dabei bleibt die Schweiz agrarpolitisch souverän. Der Agrarteil

des Landwirtschaftsabkommens ist von der dynamischen Rechtsübernahme ausge-

schlossen, und im neuen Streitbeilegungsverfahren spielt der EuGH keine Rolle. Dazu

kommt, dass in diesem Bereich keine Ausgleichsmassnahmen aus anderen Binnen-

marktabkommen möglich sind. Der Grenzschutz (Zölle und Kontingente) für land-

wirtschaftliche Produkte bleibt, wie er ist. Ausnahmen, insbesondere in den Bereichen

Tierschutz und gentechnisch veränderte Organismen, sind gewährleistet. Damit blei-

ben Schweizer Standards abgesichert.

-

Gesundheit

: Das neue Gesundheitsabkommen gewährleistet umfassenden Zugang

zu den Gesundheitssicherheitsmechanismen der EU und zum Europäischen Zentrum

für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC). Die Schweiz stärkt

durch diese Zusammenarbeit ihre Frühwarn- und Reaktionsfähigkeit im Zusammen-

hang mit Gesundheitsgefahren und kann die Gesundheit der Schweizer Bevölkerung

besser schützen. Über nationale Massnahmen zur Verhütung und Bewältigung von

Gesundheitsbedrohungen entscheidet die Schweiz jedoch weiterhin eigenständig. Das

Abkommen fokussiert auf Gesundheitssicherheit. Andere Bereiche der Gesundheits-

politik, zum Beispiel Tabak oder die Patientenrechte in der grenzüberschreitenden

Gesundheitsversorgung, fallen nicht in den Geltungsbereich des Abkommens. Zusätz-

lich ermöglicht ein Protokoll zum Programmabkommen eine Teilnahme der Schweiz

am Bereich «Krisenvorsorge» des mehrjährigen Programms der EU im Bereich Ge-

sundheit (aktuell «EU4Health»).

- Programme:

Die Schweiz kann sich systematischer an den EU-Programmen betei-

ligen, insbesondere in den Bereichen Bildung, Forschung und Innovation. Die Asso-

ziierung an das Horizon-Paket (bestehend aus Horizon Europe, Euratom Programm,

Digital Europe Programme und der Forschungsinfrastruktur ITER) ist rückwirkend

ab dem 1. Januar 2025 (mit Ausnahme von ITER ab dem 1. Januar 2026) und für

Erasmus+ ab dem 1. Januar 2027 vorgesehen. Institutionen, Unternehmen, For-

schende, Bildungsverantwortliche sowie Personen in Ausbildung erhalten die Mög-

lichkeit, sich umfassend an den Programmaktivitäten zu beteiligen. Die Schweiz er-

hält europaweiten Zugang zu bedeutenden Ressourcen, Kompetenzen und

Netzwerken. Dies stärkt die Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft der Schweiz.

Ein starker Bildungs-, Forschungs-, und Innovationsstandort fördert mit seinen Akti-

vitäten das langfristige Wirtschaftswachstum.

54 / 931

-

Weltraum

: Das Abkommen über die Beteiligung an der Agentur der EU für das

Weltraumprogramm (EUSPA) ermöglicht es der Schweiz, voraussichtlich ab dem

1. Januar 2026 operativ an den Aktivitäten der EUSPA bezogen auf die Programm-

komponenten Galileo und EGNOS (

European Geostationary Navigation Overlay

Service

) des EU-Weltraumprogramms teilzunehmen. Zukünftig könnte sie auch an

Aktivitäten der EUSPA bezogen auf weitere Programmkomponenten des EU-

Weltraumprogramms teilnehmen, sofern dies im EU-Programmabkommen vorgese-

hen wird. Dieses Abkommen stärkt die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und

der EU im strategischen Bereich der Raumfahrt.

-

Strom

: Mit dem Stromabkommen wird die Einbindung der Schweiz ins europäische

Stromsystem und insbesondere die Verfügbarkeit der Grenzkapazitäten zum Import

von Strom völkerrechtlich abgesichert. Schweizer Akteure können gleichberechtigt

und hindernisfrei am europäischen Strombinnenmarkt teilnehmen. Schweizer Behör-

den und Institutionen können mit europäischen Pendants zusammenarbeiten und die

Weiterentwicklung des europäischen Strombinnenmarkts mitgestalten. Das Stromab-

kommen stärkt dadurch die Versorgungssicherheit und den sicheren Netzbetrieb, ver-

einfacht den Austausch und Handel mit Strom, ermöglicht einen optimalen Einsatz

der flexiblen Schweizer Wasserkraft auf den europäischen Märkten, begünstigt tiefere

Strompreise und tiefere Kosten der Stromversorgung, ermöglicht Wohlfahrtsgewinne

und vereinfacht den Übergang zu einem klimaneutralen Energiesystem. Wo innenpo-

litisch notwendig und im Interesse der Schweiz, wurden im Stromabkommen spezifi-

sche Ausnahmen und Präzisierungen ausgehandelt. So hat die Schweiz das Recht, die

Strommarktöffnung mit einer regulierten Grundversorgung und regulierten Stromta-

rifen zu flankieren. Haushalte und KMU mit einem Jahresverbrauch bis 50 MWh pro

Arbeitsstätte können ihren Stromanbieter frei wählen oder in der regulierten Grund-

versorgung verbleiben beziehungsweise in diese zurückkehren. Das Stromabkommen

enthält keine Vorgaben zum Eigentum an Anlagen zur Produktion, Übertragung und

Verteilung von Strom. Verteilnetzbetreiber können öffentlich-rechtlich organisiert

bleiben. Der

Service public

in der Schweiz bleibt auch unter dem Stromabkommen

gewährleitstet. Die Schweiz behält das Recht, notwendige Reserven zu erstellen, und

darf bei der Analyse des Reservebedarfs spezifische Schweizer Eigenheiten berück-

sichtigen. Diese Flexibilität ist explizit als Ausnahme von der dynamischen Rechts-

übernahme abgesichert. Ebenso behält die Schweiz das Recht, die Bedingungen für

die Nutzung ihrer Energieressourcen inklusive Wasserkraft und ihren Energiemix ei-

genständig festzulegen. Das Stromabkommen macht zudem keine Vorgaben zur

Vergabe von Konzessionen und dem Wasserzins.

- Landverkehr:

Mit der Marktöffnung im internationalen Schienenpersonenverkehr

können ausländische Bahnunternehmen grenzüberschreitende Zugsverbindungen in

die Schweiz nur ausserhalb des Taktfahrplans anbieten, müssen für den Abschnitt in

der Schweiz Schweizer Löhne bezahlen und können dazu verpflichtet werden, Teil

des direkten Verkehrs zu werden (z. B. GA und Halbtax auf Schweizer Strecken an-

erkennen). Kooperationen zwischen einem EU- und einem schweizerischen Bahnun-

ternehmen bleiben erlaubt. Die Trassenvergabe erfolgt weiterhin durch die Schweiz,

was im Abkommen abgesichert ist. Seitens EU werden keine Pläne zur Zentralisie-

rung verfolgt. Auf Schweizer Strassen gilt für Lastwagen weiterhin: höchstens 40-

55 / 931

Tönner, Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe (LSVA), Nacht- und Sonntags-

fahrverbot, kein Ausbau der Strassenkapazität durch die Alpen (völkerrechtliche Ab-

sicherung der Alpeninitiative). So kann die Schweiz ihre Verlagerungspolitik von der

Strasse auf die Schiene absichern. Der

Service public

im nationalen Fern-, Regional-

und Ortsverkehr bleibt uneingeschränkt Sache der Schweiz. Er ist nicht von den Re-

geln im Abkommen betroffen. Die fortgesetzte Zusammenarbeit mit der EU-

Eisenbahnagentur (ERA) vereinfacht die Zertifizierung von Schweizer Rollmaterial

und hilft dem Industriestandort Schweiz.

- Luftverkehr:

Das Abkommen gewährleistet ein hohes Sicherheitsniveau im Flugver-

kehr, eine bessere und sichere Anbindung ins Ausland und räumt schweizerischen

Fluggesellschaften im EU-Raum neuerdings auch das Kabotagerecht ein. Schweizer

Fluggesellschaften sind auf dem EU-Markt den EU-Gesellschaften gleichgestellt

(z.B. freie Wahl und Anzahl der Destinationen, freie Preisfestsetzung). Dies erlaubt

tiefe Preise und eine enge Anbindung ans kontinentale Verkehrsnetz. Die Schweizer

Teilnahme an der Europäischen Agentur für Flugsicherheit ist abgesichert und sorgt

für ein hohes Sicherheitsniveau. Die Konsumentinnen und Konsumenten verfügen

über die gleichen Passagierrechte wie in der EU, unter anderem werden sie bei An-

nullierungen und Verspätungen entschädigt. Die Mitwirkungsrechte (

decision

shaping

) der Schweiz bei der Rechtsentwicklung im Bereich des Luftverkehrs werden

abgesichert. Die Schweizer Industrie ist berechtigt zur Teilnahme am Programm für

die Forschung zum Flugverkehrsmanagementsystem für den einheitlichen europäi-

schen Luftraum (SESAR 3, Single European Sky Air Traffic Management Research).

- Schweizer Beitrag

: Mit dem Schweizer Beitrag investiert die Schweiz seit 2007 in

die Stabilität und den Zusammenhalt in Europa. Auch die EWR/EFTA-Staaten Nor-

wegen, Liechtenstein und Island, die wie die Schweiz keine EU-Mitglieder sind, leis-

ten einen Beitrag. Da sie stärker in den Binnenmarkt integriert sind, fallen ihre Bei-

träge trotz kleinerer Wirtschaftsstärke höher aus als der Schweizer Beitrag von 350

Millionen Franken pro Jahr von 2030–2036. Norwegen beispielsweise bezahlt bereits

heute umgerechnet 430 Millionen Franken pro Jahr, obwohl das BIP der Schweiz fast

doppelt so gross ist. Der Schweizer Beitrag trägt dazu bei, die wirtschaftliche und

soziale Ungleichheit in der EU zu reduzieren und auf wichtige gemeinsame Heraus-

forderungen, beispielsweise im Bereich Migration, zu reagieren. Er stärkt zudem un-

mittelbar die bilateralen Beziehungen der Schweiz mit den Partnerstaaten. Das kommt

auch der Schweiz und ihrer Wirtschaft zugute.

Das Interesse der EU an vorhersehbaren und stabilen Beziehungen mit der Schweiz,

auch mit Blick auf bestehende und zukünftige Herausforderungen, dürfte ausschlag-

gebend gewesen sein, dass sie Schweizer Forderungen in diesen Bereichen entgegen-

kam. Ebenso spielte die zeitliche Komponente in der Endphase der Verhandlungen

eine Rolle: Die Europäische Kommission unter der Leitung von Kommissionspräsi-

dentin Ursula von der Leyen war bestrebt, die Verhandlungen mit der Schweiz noch

in der alten Legislatur (vor Ende 2024) abzuschliessen. Auch dank eines parallelen

Verhandlungsabschlusses in allen Bereichen konnte der im Mandat definierte Interes-

senausgleich mit der EU erreicht werden. Dazu kommen innenpolitische Begleitmass-

nahmen in spezifischen Anliegen, die das Gesamtergebnis ergänzen.

56 / 931

Die vorliegenden Abkommen sichern die verfassungsmässigen Kompetenzen der

Kantone, der Bundesversammlung, der Gerichte und des Bundesrates. Die durch die

Bundesverfassung garantierten Initiativ- und Referendumsrechte (Art. 136 Abs.2 BV)

sind weiterhin in vollem Umfang gewährleistet. Weder die einzelnen Abkommen

noch die darin enthaltenen institutionellen Elemente verhindern, dass eine Volksiniti-

ative lanciert werden kann, die sich gegen die Übernahme einer relevanten Weiterent-

wicklung des EU-Rechts in das betroffene Abkommen richtet, sofern sie die bekann-

ten verfassungsrechtlichen Gültigkeitsvoraussetzungen erfüllt. Ebenso wird gegen

eine solche Rechtsübernahme beziehungsweise ein in diesem Zusammenhang erfor-

derliches neues Gesetz oder eine erforderliche Gesetzesanpassung wie bisher das Re-

ferendum ergriffen werden können.

Damit ist es der Schweiz gelungen, ihr Kernziel mit Blick auf ihre Beziehungen zur

EU zu erreichen: Eine bestmögliche gegenseitige Beteiligung an klar definierten Be-

reichen des Binnenmarkts sowie Kooperation in ausgewählten Interessenbereichen,

unter Wahrung des grösstmöglichen politischen Handlungsspielraums.

Ebenso wie beim Abschluss vorangehender Abkommen mit der EU werden weitere

europapolitische Schritte durch die vorliegenden Abkommen in keiner Weise präju-

diziert.

1.6.2

Wirtschaftliche Würdigung

Für die Leistungsfähigkeit einer offenen Volkswirtschaft wie der Schweiz, die über

keine bedeutenden natürlichen Ressourcen und einen nur begrenzten Binnenmarkt

verfügt, ist der Zugang zu ausländischen Märkten unabdingbar. Im Vergleich zu ähn-

lich grossen Volkswirtschaften weist die Schweiz eine relativ hohe Diversifikation

ihrer Handelspartner auf. Die EU ist jedoch mit einem Anteil von rund 59 % am Wa-

renhandel die mit Abstand wichtigste Handelspartnerin der Schweiz. Die Zusammen-

arbeit mit den Nachbarn widerspiegelt sich in eng verflochtenen Wirtschafts- und

Wissenschaftsbeziehungen. Das Warenhandelsvolumen der Schweiz mit der EU

(rund 300 Mrd. CHF im Jahr 2023) ist fünfmal grösser als jenes mit den USA

(63 Mrd. CHF) und neunmal grösser als mit der Volksrepublik China (33 Mrd.

CHF).

42

Allein der Warenhandel mit den Grenzregionen der Schweiz übertrifft den-

jenigen mit den USA.

43

Ähnlich bedeutsame Verflechtungen bestehen in den Arbeits-

und Kapitalmärkten. (s. Ziff. 3.3)

Angesichts dieser wirtschaftlichen Zusammenhänge soll das Paket Schweiz–EU die

Wirtschaftsbeziehungen der Schweiz mit einem der grössten Binnenmärkte der Welt

stabilisieren und weiterentwickeln. Es sichert die sektorielle Teilnahme am EU-

Binnenmarkt in den bisherigen Bereichen der Bilateralen I und dehnt diese Teilnahme

42

Abrufbar unter www.eda.admin.ch/europa > Publikationen > Schweiz-EU in Zahlen (ba-

sierend auf Total 1, ohne Gold, 2023).

43

Daten gemäss Rückmeldungen der Schweizer Botschaften, auf Basis der nachfolgenden

Quellen: Französischer Zoll (www.lekiosque.finance.gouv.fr), Italienisches Statistikamt

(www.coeweb.istat.it), Österreichische Bundesländer (www.wko.at), Deutsche Bundeslän-

der (www.statistik-bw.de und www.export-app.de). Für Umrechnung von EUR in CHF

wurde der durchschnittliche Wechselkurs von 2023 von 0,97 verwendet (Eidgenössische

Steuerverwaltung ESTV).

57 / 931

auf den Strom- und den gesamten Lebensmittelbereich aus. Mit den institutionellen

Elementen erhöht die Schweiz die Rechtssicherheit und sichert die Teilnahme am EU-

Binnenmarkt in den genannten Bereichen auch für die Zukunft. Mit den in den Ver-

handlungen erreichten Ausnahmen sowie den inländischen Begleitmassnahmen bleibt

die Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt ausgerichtet und der Lohnschutz sowie der

Service public

in der Schweiz sind abgesichert. Schweizer Unternehmen haben damit

eine hohe Rechtssicherheit, dass Waren, Dienstleistungen und Kapital auch in Zu-

kunft mit dem wichtigsten Handelspartner der Schweiz möglichst ungehindert zirku-

lieren und bei Bedarf Arbeitskräfte grenzüberschreitend rekrutiert werden können. In

Zeiten geopolitischer Spannungen und einer fragmentierten Weltordnung ist dies ein

entscheidender Standortfaktor für eine offene Volkswirtschaft wie die Schweiz.

58 / 931

2

Die einzelnen Abkommen

2.1

Institutionelle Elemente

2.1.1

Zusammenfassung

Fünf der bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU erlauben der

Schweiz gegenwärtig eine Teilnahme am Binnenmarkt der EU: das Abkommen über

die Freizügigkeit

44

(FZA), das Abkommen über den Güter- und Personenverkehr auf

Schiene und Strasse

45

(LandVA), das Abkommen über den Luftverkehr

46

(LuftVA),

das Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen

47

(MRA) und das Abkommen über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen

48

(Landwirtschaftsabkommen). Diese fünf Binnenmarktabkommen enthalten instituti-

onelle Bestimmungen, welche die Aktualisierung der Abkommen aufgrund der Wei-

terentwicklung des Rechts der Parteien, ihre Auslegung, ihre Anwendung und Über-

wachung sowie die Streitbeilegung betreffen. Aktuell sind diese Abkommen statisch,

das heisst, ihre Aktualisierung hängt vom Willen der Parteien ab, und die Streitbeile-

gung erfolgt ausschliesslich auf diplomatisch-politischer Ebene. Mit der statischen

Natur der Abkommen ist das Risiko verbunden, dass die Rechtslage in der Schweiz

und in der EU als Folge unterschiedlicher Entwicklungen divergiert, was zu Rechts-

unsicherheiten führen kann. Da die Streitbeilegung zudem auf die diplomatisch-poli-

tische Ebene beschränkt ist, besteht die Gefahr, dass Differenzen zwischen den Par-

teien ungelöst bleiben.

Im Anschluss an Gespräche, die seit 2006 geführt wurden, nahmen die Schweiz und

die EU 2014 Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen auf

(s. Ziff. 2.1.2.2). Am 26. Mai 2021 beschloss der Bundesrat, den Entwurf des institu-

tionellen Rahmenabkommens nicht zu unterzeichnen, weil er zum Schluss gekommen

war, dass in einigen Schlüsselfragen im Zusammenhang mit der Personenfreizügig-

keit, dem Lohnschutz und den staatlichen Beihilfen weiterhin substanzielle Differen-

zen bestanden. Die EU hielt an ihrer Position, die sie bereits während der Verhand-

lungen über den Entwurf des institutionellen Rahmenabkommens vertreten hatte, fest

und verknüpfte die Aktualisierung der bestehenden Binnenmarktabkommen, den Ab-

schluss neuer Binnenmarktabkommen und die Zusammenarbeit mit der Schweiz in

verschiedenen Bereichen wie der Forschung mit der Lösung betreffend die institutio-

nellen Fragen und die staatlichen Beihilfen.

Der Bundesrat nahm eine Evaluation seiner Europapolitik vor. Er wollte Lösungen

finden, die es ermöglichen, den bilateralen Weg mit der EU zu stabilisieren und wei-

terzuentwickeln. Insbesondere wollte er der Schweiz eine hindernisfreie Teilnahme

am EU-Binnenmarkt in den von den bestehenden Binnenmarktabkommen abgedeck-

ten Bereichen sichern und künftig neue Abkommen abschliessen, unter gleichzeitiger

Wahrung der Funktionsweise der Institutionen der Schweiz, insbesondere der Grund-

sätze der direkten Demokratie, des Föderalismus und der Unabhängigkeit des Landes.

Der Bundesrat beschloss deshalb, die institutionellen Elemente in einen Paketansatz

44

SR

0.142.112.681

45

SR

0.740.72

46

SR

0.748.127.192.68

47

SR

0.946.526.81

48

SR

0.916.026.81

59 / 931

zu integrieren, den er am 23. Februar 2022 verabschiedete und der als Grundlage für

die exploratorischen Gespräche und später für die Verhandlungen mit der EU diente.

Anders als beim Entwurf des institutionellen Rahmenabkommens wollte der Bundes-

rat die institutionellen Elemente nun jeweils in den verschiedenen Binnenmarktab-

kommen durch einen sektoriellen Ansatz verankern.

Die zentralen Punkte der ausgehandelten institutionellen Elemente sind die Folgen-

den:

Gemäss dem sektoriellen Ansatz wurden die institutionellen Elemente in

die bestehenden und künftigen Binnenmarktabkommen sowie analog, so-

weit für dessen Funktionieren erforderlich, ins Gesundheitsabkommen in-

tegriert. Es gibt kein horizontales Rahmenabkommen mehr, wie es bis 2021

Gegenstand der Verhandlungen war. Dies ermöglicht es, die institutionellen

Elemente besser an die Besonderheiten der einzelnen Abkommen anzupas-

sen, den spezifischen Interessen der Schweiz Rechnung zu tragen und neue

Verknüpfungen zwischen den bestehenden und künftigen Binnenmarktab-

kommen im Hinblick auf eine Kündigung zu vermeiden (abgesehen von der

Lebensmittelsicherheit, die Teil des Landwirtschaftsabkommens ist). Es

gibt somit keine «Super-Guillotine-Klausel».

Die dynamische Rechtsübernahme beschränkt sich auf den Geltungsbereich

und die in den Abkommen definierten Ziele und gewährleistet eine regel-

mässige Aktualisierung der Binnenmarktabkommen, wodurch die Teil-

nahme der Schweiz am EU-Binnenmarkt gesichert ist. Für jede Aktualisie-

rung ist weiterhin die Zustimmung der Schweiz und der EU erforderlich

(kein Automatismus). Die verfassungsmässigen Verfahren der Schweiz

werden eingehalten, insbesondere durch ausreichend lange Fristen. Die we-

sentlichen Interessen der Schweiz werden durch Ausnahmen gewahrt. Für

jedes der Binnenmarktabkommen sind die vitalen Interessen der Schweiz

(z. B. Verlagerungspolitik im Bereich Landverkehr, Lohnschutz im Bereich

Personenfreizügigkeit, Reservekraftwerke im Bereich Strom) durch ent-

sprechende Ausnahmen abgesichert. Die Rechtsverbindlichkeit dieser Aus-

nahmen ist klar definiert, ebenso wie jene der Absicherungen und der Prin-

zipien im Bereich der Personenfreizügigkeit und des Lohnschutzes

(s. Ziff. 2.3.6).

Der Streitbeilegungsmechanismus legt einen rechtlichen Rahmen fest, der

es der Schweiz erlaubt, ihre Rechte wirksam durchzusetzen. Kann während

der diplomatisch-politischen Phase im Gemischten Ausschuss (GA) keine

Lösung gefunden werden, entscheidet ein paritätisch zusammengesetztes

Schiedsgericht (SchG) über die Streitfälle. Das SchG zieht den Gerichtshof

der Europäischen Union (EuGH) nur dann bei, wenn es um die Auslegung

eines unionsrechtlichen Begriffs geht und sofern dies für die Beilegung des

Streitfalls relevant und notwendig ist. Ob eine Frage dem EuGH vorgelegt

wird, entscheidet das SchG, und der EuGH kann nicht von sich aus in einem

Schiedsgerichtsverfahren intervenieren. Auch der Entscheid über den

Streitfall obliegt in allen Fällen stets dem SchG.

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Leistet eine Partei dem Entscheid des SchG nicht Folge, müssen die Aus-

gleichsmassnahmen der anderen Partei verhältnismässig sein und sich auf

die Binnenmarktabkommen beschränken. Es ist damit möglich, Ausgleichs-

massnahmen im Rahmen eines anderen Binnenmarktabkommens als dem

von der Streitigkeit betroffenen Abkommen zu ergreifen (ausser im Agrar-

teil des Landwirtschaftsabkommens [s. letzter Spiegelstrich]). Sie dürfen je-

doch nicht in anderen Bereichen getroffen werden, zum Beispiel bei der

Zusammenarbeit im Bereich der Programme. Die Parteien können sich an

das SchG wenden, um die Verhältnismässigkeit der Ausgleichsmassnah-

men beurteilen zu lassen. Sie können vor dem Inkrafttreten der Ausgleichs-

massnahmen das SchG anrufen, um eine Verlängerung der automatischen

aufschiebenden Wirkung von drei Monaten bis zum endgültigen Entscheid

über die Verhältnismässigkeit zu beantragen.

Die einheitliche Auslegung und Anwendung der Abkommen sowie deren

Überwachung werden von der Schweiz und der EU jeweils auf dem eigenen

Hoheitsgebiet gewährleistet (Zwei-Pfeiler-Modell). Die Zuständigkeiten

des Bundesgerichts und der Schweizer Gerichte sowie des EuGH und der

Gerichte der Mitgliedstaaten für die Auslegung der Abkommen im Einzel-

fall bleiben gewahrt. Die Parteien behalten zudem die Autonomie ihrer Ge-

richte betreffend die Auslegung ihres eigenen Rechts. Die Kompetenzen der

Schweizer Gerichte und des Bundesgerichts werden durch das Verhand-

lungsergebnis folglich nicht beeinträchtigt.

Die Hauptverantwortung für die Verwaltung der Abkommen liegt wie bis-

her bei den GA, in denen die Schweiz und die EU paritätisch vertreten sind

und ihre Entscheide einstimmig fällen.

Die Schweiz kann Einfluss auf den Rechtsetzungsprozess nehmen, indem

sie bei allen Rechtsakten, die in den Geltungsbereich der Abkommen fallen,

an den Rechtsetzungsverfahren der EU teilnimmt

(Decision Shaping

).

Die Schweiz kann zudem Einfluss auf die Gerichtsverfahren der EU neh-

men, da sie bei Auslegungsfragen, die sich auf die Schweiz auswirken, beim

EuGH Schriftsätze einreichen oder Stellungnahmen abgeben kann.

Für den Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens ist eine Sonderregelung

vorgesehen: Aufgrund des Verhandlungsergebnisses besteht das Landwirt-

schaftsabkommen aus zwei separaten Teilen – einem Agrarteil und einem

Teil zur Lebensmittelsicherheit. Die Binnenmarktaspekte sind in Zukunft

ausschliesslich im Protokoll zur Lebensmittelsicherheit enthalten. Im Agr-

arteil gibt es also keine dynamische Rechtsübernahme, und der Streitbeile-

gungsmechanismus beschränkt sich auf ein SchG ohne irgendeine Rolle für

den EuGH. Ausserdem können Ausgleichsmassnahmen bei Verstössen ge-

gen den Agrarteil nur im Rahmen des Landwirtschaftsabkommens getroffen

werden, und bei Streitigkeiten in Bezug auf die anderen Binnenmarktab-

kommen können keine Ausgleichsmassnahmen im Agrarteil des Landwirt-

schaftsabkommens getroffen werden.

61 / 931

Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt. Er beantragt

im Rahmen des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU die Genehmigung der in-

stitutionellen Protokolle des FZA, des LandVA, des LuftVA und des MRA. Betref-

fend die Genehmigung des Stromabkommens, des Protokolls zur Lebensmittelsicher-

heit und des Gesundheitsabkommens siehe die Ziffern 2.11.1, 2.12.1 bzw. 2.13.1.

2.1.2

Ausgangslage

2.1.2.1

Institutionelle Elemente in den bestehenden

Binnenmarktabkommen

Im Zusammenhang mit den Binnenmarktabkommen werden vor allem jene Bestim-

mungen als «institutionelle Elemente» angesehen, die sich auf die Aktualisierung der

Abkommen aufgrund der Weiterentwicklung des Rechts der Parteien, ihre Auslegung,

ihre Anwendung und ihre Überwachung sowie die Streitbeilegung beziehen.

Die aktuellen institutionellen Bestimmungen in den fünf bestehenden Binnenmarkt-

abkommen ähneln sich, wobei aufgrund der besonderen Beschaffenheit der Abkom-

men gewisse Unterschiede bestehen.

49

Im Folgenden werden diese institutionellen

Bestimmungen summarisch und allgemein beschrieben:

-

Äquivalenz oder Integration des Rechts: Das LandVA, das MRA und das

Landwirtschaftsabkommen beruhen heute auf dem Grundsatz der Äquiva-

lenz des Rechts der Schweiz und der EU. Konkret werden diese Abkommen

in der Regel aktualisiert, wenn sich das EU-Recht ändert. Die Schweiz passt

ihre Gesetzgebung entsprechend an, damit sie das Ziel der Äquivalenz mit

dem EU-Recht erreicht. Das LuftVA beruht auf dem Grundsatz der Integra-

tion. Die in diesem Bereich geltenden EU-Rechtsakte werden in gemein-

same Regeln der Parteien überführt. Das FZA beruht theoretisch auf dem

Grundsatz der Äquivalenz, in der Praxis folgten die bisherigen Anpassun-

gen jedoch dem Grundsatz der Integration.

-

Auslegung: Soweit die Anwendung der Abkommen EU-Rechtsbegriffe im-

pliziert bzw. die Bestimmungen der Abkommen und der darin enthaltenen

EU-Rechtsakte materiell mit den EU-Vorschriften identisch sind, ist gemäss

den Abkommen die vor deren Unterzeichnung ergangene Rechtsprechung

des EuGH zu berücksichtigen. Was die Rechtsprechung des EuGH anbe-

langt, die nach der Unterzeichnung ergangen ist, sind Informationsaus-

tausch- und Beratungsverfahren vorgesehen.

-

Anwendung und Überwachung: Die Parteien sind verpflichtet, alle erfor-

derlichen Massnahmen zu ergreifen, um die Erfüllung der in den Abkom-

men festgelegten Verpflichtungen sicherzustellen. Jede Partei ist für die

ordnungsgemässe Umsetzung der Abkommen in ihrem Hoheitsgebiet ver-

antwortlich (Zwei-Pfeiler-Modell). Das LuftVA enthält besondere Rege-

lungen zur Anwendung und Überwachung, insbesondere indem es den EU-

Institutionen bestimmte Befugnisse einräumt.

49

BBl

1999

6156 ff.

62 / 931

-

Verwaltung: Die zentrale Rolle bei der Verwaltung der Abkommen kommt

den GA zu. Pro Abkommen gibt es einen GA und zwei für das Landwirt-

schaftsabkommen (GA für Landwirtschaft und Gemischter Veterinäraus-

schuss). In den GA entscheiden die beiden Parteien im gegenseitigen Ein-

vernehmen, das heisst mit Einstimmigkeit. Die GA können Empfehlungen

aussprechen und haben nur in jenen Fällen Entscheidungsbefugnis, die in

den Abkommen vorgesehen sind. Die Entscheide werden von den Parteien

nach ihren eigenen Regeln umgesetzt. Die GA sorgen für das reibungslose

Funktionieren der Abkommen, aktualisieren die meisten Anhänge entspre-

chend der Weiterentwicklung des EU-Rechts und erleichtern den Informa-

tionsaustausch und die Beratungen zwischen den Parteien, insbesondere

über Entwicklungen in der Rechtsetzung und Rechtsprechung. Sie treten je

nach Bedarf zusammen, mindestens jedoch einmal im Jahr. Jeder GA kann

Arbeitsgruppen einsetzen, die ihn bei der Erfüllung seiner Aufgaben unter-

stützen.

-

Streitbeilegung: Die GA sind auch für die Beilegung von Streitigkeiten zu-

ständig, mit denen sie auf Antrag einer Partei befasst werden. Kann ein

Streitfall im GA nicht beigelegt werden, bleibt er ungelöst. In Bezug auf das

LuftVA können Entscheide, die von den EU-Institutionen gemäss den Re-

geln dieses bestehenden Abkommens getroffen werden, nur vor dem EuGH

und nicht im GA angefochten werden. So sieht das LuftVA seit über 25

Jahren in eng begrenzten Bereichen Kompetenzen für den EuGH insbeson-

dere gegenüber schweizerischen Privatpersonen und Wirtschaftsakteuren

vor. Das geht über die Integrationstiefe der neuen institutionellen Elemente

hinaus, die grundsätzlich lediglich eine Rolle des EuGH in der zwischen-

staatlichen Streitbeilegung vorsehen, die auf die Auslegung von unions-

rechtlichen Begriffen (sofern diese relevant und notwendig ist) begrenzt ist.

Im Übrigen spielt die Rechtsprechung des EuGH bereits im Kontext der

Assoziierung der Schweiz an Schengen/Dublin eine wichtige Rolle, mit ein-

schneidenden Folgen bei diesbezüglicher Uneinigkeit. Wenn die Schweiz

wesentlich von der Rechtsprechung des EuGH zum Schengen/Dublin-Be-

sitzstand abweicht (was bisher noch nie vorgekommen ist), müssen die

beide Parteien eine Lösung finden. Dies bedeutet, dass entweder die

Schweiz die Rechtsprechung des EuGH übernimmt oder dass die EU die

Abweichung akzeptiert (was wenig wahrscheinlich ist). Geschieht weder

das eine noch das andere innerhalb einer bestimmten Frist, gilt die Schen-

gen/Dublin-Assoziierung der Schweiz automatisch als beendet. Das Vorlie-

gen von Abweichungen seitens der Schweiz von der Rechtsprechung des

EuGH kann im Übrigen auch im Rahmen von Schengen-Evaluierungen the-

matisiert werden. Diesfalls kann die Europäische Kommission gegenüber

der Schweiz Empfehlungen aussprechen, und die Schweiz ist verpflichtet,

über deren Umsetzung Bericht zu erstatten.

-

Massnahmen zur Wiederherstellung des Gleichgewichts, zeitlich befristete

Schutzmassnahmen und Aussetzung: Das LandVA und das LuftVA sehen

die Möglichkeit von Massnahmen zur Wiederherstellung des Gleichge-

wichts bzw. von zeitlich befristeten Schutzmassnahmen vor. Stellt eine Par-

63 / 931

tei fest, dass die andere Partei die in diesen Abkommen festgelegten Ver-

pflichtungen nicht einhält oder einen Entscheid des GA nicht umsetzt, kann

die geschädigte Partei nach Beratungen im GA geeignete Massnahmen er-

greifen, um das Gleichgewicht der Abkommen wiederherzustellen. Das

MRA sieht vor, dass eine Partei, die feststellt, dass die andere Partei die

Bestimmungen des Abkommens nicht einhält, nach Konsultation im GA die

Anwendung von Anhang 1 des Abkommens ganz oder teilweise aussetzen

kann.

2.1.2.2

Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen

Die Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen sind Gegenstand ei-

nes ausführlichen Berichts des Bundesrates vom 26. Mai 2021

50

. Im Folgenden wer-

den die wichtigsten Punkte dieses Berichts zusammengefasst.

2006 zog der Bundesrat offiziell die Möglichkeit eines «Rahmenabkommens» in Er-

wägung, um den bilateralen Weg mit der EU zu festigen. 2007 beschloss er, die

Zweckmässigkeit eines solchen Abkommens zu prüfen. Damit kam er einem Wunsch

des Parlaments nach, das die Prüfung der Zweckmässigkeit und Machbarkeit eines

solchen Abkommens seit 2002 wiederholt gefordert hatte. Die EU bekundete auch

Interesse an einem «Rahmenabkommen», was in den Schlussfolgerungen des Rates

vom 8. Dezember 2008 bestätigt wurde. Darin wurde das Ziel der EU für die Einrich-

tung eines institutionellen Mechanismus für die bilateralen Abkommen zwischen der

Schweiz und der EU festgelegt. Aber erst 2010 setzten die Schweiz und die EU eine

gemeinsame Arbeitsgruppe ein, um die Möglichkeit eines «Rahmenabkommens» auf

technischer Ebene zu sondieren. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe wurden trotz grös-

serer Differenzen als ermutigend angesehen. Sie erlaubten es der Schweiz, ihre Stra-

tegie sowie ihre Grundsätze für eine institutionelle Lösung festzulegen. Angesichts

eines steigenden Drucks seitens der Europäischen Kommission, die institutionellen

Fragen vor weiteren Fortschritten bei den offenen Dossiers zu klären, arbeitete die

Schweiz 2012 zuhanden der EU Vorschläge für eine institutionelle Lösung aus. Dieser

Austausch brachte die Diskussionen auf technischer Ebene wieder in Gang und er-

möglichte es der Schweiz und der EU, 2013 ein gemeinsames «

Non-Paper

» mit drei

möglichen Verhandlungsoptionen zu definieren. Die Schweiz und die EU bevorzug-

ten die Option mit einem Zwei-Pfeiler-Modell, bei dem die Schweiz und die EU je

selbständig für die Auslegung und Überwachung in ihrem eigenen Hoheitsgebiet ver-

antwortlich sind, wobei dem EuGH eine Rolle bei der Streitbeilegung eingeräumt

wird.

Auf dieser Grundlage wurden 2014 Verhandlungen aufgenommen. Zwischen 2014

und 2018 trafen sich die Delegationen der Schweiz und der EU regelmässig im Rah-

men formeller Verhandlungsrunden. Obwohl bei diesen Verhandlungen Kompro-

misse erzielt wurden, insbesondere bezüglich der institutionellen Mechanismen,

konnte für bestimmte materielle Fragen im Zusammenhang mit dem FZA, das heisst

mit der Richtlinie 2004/38/EG und den flankierenden Massnahmen (FlaM) im Be-

reich des Lohnschutzes, keine Lösung gefunden werden.

50

www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Überblick bilateraler Weg > Institutionel-

les Abkommen (bis 2021) > Informationen und Dokumente zum Institutionellen Abkom-

men.

64 / 931

Am 23. November 2018 teilte die EU der Schweiz mit, dass die Verhandlungen über

den Entwurf des institutionellen Rahmenabkommens aus ihrer Sicht abgeschlossen

seien. Sie verstärkte den Druck auf die Schweiz hinsichtlich eines raschen Abschlus-

ses des Abkommens, indem sie sich fortan weigerte, die bestehenden bilateralen Ab-

kommen weiter zu aktualisieren, es sei denn, dies liege im Einzelfall im überwiegen-

den Interesse der EU. Aufgrund der noch offenen Punkte verzichtete der Bundesrat

auf die Paraphierung des Entwurfs des institutionellen Rahmenabkommens und un-

terzog ihn einer breiten, landesweiten Konsultation. Diese erlaubte es, drei Punkte zu

identifizieren, bei denen noch Klärungsbedarf bestand: die Richtlinie 2004/83/EG, die

FlaM im Bereich des Lohnschutzes und die staatlichen Beihilfen. Über diese Punkte

informierte der Bundesrat die Europäische Kommission mit Schreiben vom 7. Juni

2019.

51

Die im Entwurf des institutionellen Rahmenabkommens enthaltenen institu-

tionellen Lösungen wurden nicht als klärungsbedürftig erachtet und daher im Schrei-

ben des Bundesrates nicht erwähnt.

Nach Einbezug der Kantone und Sozialpartner legte der Bundesrat am 11. November

2020 seine Position zu den drei verbleibenden offenen Punkten im Entwurf des insti-

tutionellen Rahmenabkommens fest. Die Nachverhandlungen mit der EU ab Januar

2021 zu den von der Schweiz verlangten Klärungen führten zu einem besseren gegen-

seitigen Verständnis. Sie bestätigten aber vor allem die grundsätzlichen Differenzen

in den Bereichen Personenfreizügigkeit, Lohnschutz und staatliche Beihilfen.

Am 26. Mai 2021 nahm der Bundesrat eine Gesamtbeurteilung des Ergebnisses der

Verhandlungen über den Entwurf des institutionelle Rahmenabkommens vor.

52

Er

kam zum Schluss, dass zwischen der Schweiz und der EU in zentralen Bereichen des

Entwurfs des institutionellen Rahmenabkommens weiterhin substanzielle Differenzen

bestanden. Für ihn waren daher die Voraussetzungen für einen Abschluss des institu-

tionellen Rahmenabkommens nicht gegeben. Er beschloss deshalb, es nicht zu unter-

zeichnen und damit die diesbezüglichen Verhandlungen zu beenden. Der Bundesrat

sah es aber im gemeinsamen Interesse der Schweiz und der EU, die bewährte bilate-

rale Zusammenarbeit zu sichern und die bestehenden Abkommen konsequent weiter-

zuführen. Die EU setzte ihre Praxis fort, die Aktualisierung von Binnenmarktabkom-

men sowie die Zusammenarbeit in anderen Bereichen mit der Lösung der

institutionellen Fragen zu verknüpfen, und stufte die Schweiz am 12. Juni 2021 für

Horizon Europe auf den Status eines nicht-assoziierten Drittstaates herab.

2.1.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

2.1.3.1

Interessenlage

Nach dem Abschluss der Verhandlungen über den Entwurf des institutionellen Rah-

menabkommens nahm der Bundesrat eine Lagebeurteilung seiner Europapolitik vor.

Nach der Abwägung der vier Handlungsoptionen – reines Freihandelsverhältnis, Fort-

setzung des bilateralen Wegs, Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR),

Beitritt zur EU (s. Ziff. 1.2) – kam der Bundesrat zum Schluss, dass es im Interesse

51

www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Überblick bilateraler Weg > Institutionel-

les Abkommen (bis 2021) > Konsultationen 2019.

52

www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Überblick bilateraler Weg > Institutionel-

les Abkommen (bis 2021) > Informationen und Dokumente zum Institutionellen Abkom-

men.

65 / 931

der Schweiz liege, Lösungen zu finden, die es erlauben, den bilateralen Weg mit der

EU, ihrer wichtigsten wirtschaftlichen und politischen Partnerin, zu stabilisieren und

weiterzuentwickeln. Insbesondere will er der Schweiz eine hindernisfreie Teilnahme

am EU-Binnenmarkt in den von den bestehenden Binnenmarktabkommen abgedeck-

ten Bereichen sichern und künftig neue Abkommen abschliessen, unter gleichzeitiger

Wahrung der Funktionsweise der Institutionen der Schweiz, insbesondere der direkten

Demokratie, des Föderalismus und der Unabhängigkeit des Landes. Er ist der Ansicht,

dass es im Interesse der Schweiz liegt, die Rechtssicherheit im Rahmen ihrer Teil-

nahme am EU-Binnenmarkt zu erhöhen und gleichzeitig die Wahrung der wesentli-

chen Interessen der Schweiz zu gewährleisten, insbesondere durch Ausnahmen. An-

ders als im Entwurf des institutionellen Rahmenabkommens strebte der Bundesrat

eine sektorielle Regelung der institutionellen Fragen in jedem einzelnen Abkommen

an, um den Besonderheiten der Abkommen besser Rechnung tragen zu können. Der

Bundesrat wollte, dass die Abkommen regelmässig aktualisiert werden können, um

zu verhindern, dass Rechtsabweichungen und Handelshindernisse entstehen, die die

Teilnahme der Schweiz am EU-Binnenmarkt erschweren. Ausserdem strebte er einen

Streitbeilegungsmechanismus an, der einen Rechtsrahmen festlegt, der es der Schweiz

ermöglicht, ihre Rechte wirksam durchzusetzen. Der Bundesrat wollte schliesslich

Einfluss auf die Rechtsetzungs- und Rechtsprechungsprozesse der EU nehmen, wenn

diese Bereiche der Binnenmarktabkommen betreffen und somit Auswirkungen auf die

Schweiz haben.

Die EU ihrerseits argumentierte, dass die Weiterführung der Teilnahme der Schweiz

an ihrem Binnenmarkt und eine mögliche Ausweitung dieser Teilnahme voraussetzt,

dass für die Beziehungen mit der Schweiz in den Bereichen der Binnenmarktabkom-

men dieselben Regeln gelten wie im Binnenmarkt selbst

(Level Playing Field

, auch

im Bereich der staatlichen Beihilfen). Sie wollte deshalb, dass die bilateralen Abkom-

men durch institutionelle Mechanismen ergänzt werden, die unter anderem die dyna-

mische Übernahme von EU-Recht und ein System zur Streitbeilegung mit einer Rolle

für den EuGH vorsehen.

2.1.3.2

Paketansatz und exploratorische Gespräche

Aufgrund dieser Interessenanalyse beschloss der Bundesrat am 23. Februar 2022, die

offenen Punkte im Gesamtkontext der Beziehungen zur EU zu klären und dabei einen

Paketansatz zu wählen (s. Ziff. 1.2). Dieser Paketansatz umfasst insbesondere die in-

stitutionellen Elemente. Diese will der Bundesrat durch einen sektoriellen Ansatz in

den verschiedenen Binnenmarktabkommen verankern.

Auf der Grundlage dieses Paketansatzes fanden zwischen der Schweiz und der EU

exploratorische Gespräche statt. Die institutionellen Elemente wurden auch während

dieser exploratorischen Gespräche thematisiert, was sich im

Common Understanding

widerspiegelt (s. Ziff. 1.3.1).

2.1.3.3

Verhandlungsmandat

An seiner Sitzung vom 8. November 2023 prüfte der Bundesrat die Ergebnisse der

exploratorischen Gespräche mit der EU und der internen Arbeiten. Er kam zum

Schluss, dass die exploratorischen Gespräche abgeschlossen seien, und beschloss, ein

Verhandlungsmandat zu erarbeiten. Der Bundesrat verabschiedete an seiner Sitzung

vom 15. Dezember 2023 den Entwurf eines Mandats für Verhandlungen mit der EU,

66 / 931

das die Leitlinien für die Verhandlungen enthält.

53

Der Entwurf war zwischen dem

15. Dezember 2023 und dem 15. Februar 2024 Gegenstand einer Konsultation. Aus

der Konsultation ergaben sich Anpassungsvorschläge bezüglich der institutionellen

Elemente (s. Bericht über die Ergebnisse der Konsultation zum Entwurf eines Ver-

handlungsmandats zwischen der Schweiz und der Europäischen Union über die Sta-

bilisierung und Weiterentwicklung ihrer Beziehungen

54

).

Der Bundesrat berücksichtigte diese Anpassungsvorschläge. Der Mandatsentwurf

wurde dahingehend angepasst, dass die Ausgleichsmassnahmen, die eine Partei er-

greifen kann, wenn die andere Partei einem Entscheid des SchG in einem Streitbeile-

gungsverfahren nicht nachkommt, erst in Kraft treten, wenn das SchG über ihre Ver-

hältnismässigkeit entschieden hat («aufschiebende Wirkung»). Damit wird

insbesondere bezweckt, allfällige Schäden aufgrund von Ausgleichsmassnahmen zu

vermeiden, die in der Folge als unverhältnismässig beurteilt werden. Ausserdem

wurde das Mandat dahingehend angepasst, dass die Schweiz eine parlamentarische

Zusammenarbeit zwischen der Bundesversammlung und dem Europäischen Parla-

ment anstrebt (s. Ziff. 2.15).

Das endgültige Verhandlungsmandat wurde am 8. März 2024 verabschiedet.

55

In Be-

zug auf die institutionellen Elemente enthielt es die folgenden Leitlinien:

Die Schweiz ist bestrebt, die institutionellen Elemente in jedes bestehende

und künftige Binnenmarktabkommen zu integrieren. Diese Elemente zielen

darauf ab, die Homogenität des Rechts innerhalb des Binnenmarkts durch

die Beseitigung von Marktzugangshindernissen in den abgedeckten Berei-

chen zu gewährleisten. Sie wahren das Funktionieren der Schweizer Insti-

tutionen, namentlich die aus der direkten Demokratie, dem Föderalismus

und der Unabhängigkeit des Landes fliessenden Prinzipien.

Die Schweiz ist bestrebt, die in den Abkommen bestehenden Ausnahmen

aufrechtzuerhalten.

Auslegung und Anwendung: Die einheitliche Auslegung und Anwendung

gemäss den völkerrechtlichen Grundsätzen werden durch die Behörden der

Parteien auf deren jeweiligem Hoheitsgebiet sichergestellt (Zwei-Pfeiler-

Modell). Die Kompetenz des Bundesgerichts zur Auslegung des Schweizer

Rechts und die Kompetenz des EuGH zur Auslegung des EU-Rechts, ein-

schliesslich der Abkommensbestimmungen, die unionsrechtliche Begriffe

implizieren, werden respektiert.

Überwachung: Die Abkommen werden durch die Behörden der Parteien ei-

genständig auf deren jeweiligem Hoheitsgebiet gemäss den völkerrechtli-

chen Grundsätzen überwacht (Zwei-Pfeiler-Modell).

53

www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Stabilisierung und Weiterentwicklung des

bilateralen Wegs > Paket Schweiz-EU.

54

www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Stabilisierung und Weiterentwicklung des

bilateralen Wegs > Paket Schweiz-EU.

55

www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Stabilisierung und Weiterentwicklung des

bilateralen Wegs > Paket Schweiz-EU.

67 / 931

Dynamische Rechtsübernahme: Die regelmässige Aktualisierung der beste-

henden und künftigen Binnenmarktabkommen wird durch die dynamische

Rechtsübernahme sichergestellt; dies unter der Voraussetzung, dass

(i)

die

Schweiz an der Weiterentwicklung des sie betreffenden EU-Rechts teilneh-

men kann (

Decision Shaping

),

(ii)

ihre verfassungsrechtlichen Verfahren

respektiert werden und

(iii)

keine EU-Rechtsentwicklungen übernommen

werden, die in den Anwendungsbereich einer Ausnahme fallen.

Streitbeilegung: Im Streitfall suchen die Parteien im GA nach einer politi-

schen Lösung. Bei fehlender Einigung im GA kann jede Partei den Streitfall

einem paritätischen SchG unterbreiten. Wirft der Streitfall eine Frage be-

treffend eine Ausnahme von der dynamischen Rechtsübernahme auf und

impliziert er nicht die Auslegung oder Anwendung von unionsrechtlichen

Begriffen, entscheidet das SchG den Streitfall ohne Einbezug des EuGH.

Wirft der Streitfall eine Frage betreffend die Auslegung oder Anwendung

einer Bestimmung eines Abkommens oder des EU-Rechts auf, deren An-

wendung unionsrechtliche Begriffe betrifft, und ist die Auslegung dieser

Bestimmung für die Streitbeilegung relevant und für eine Entscheidfällung

durch das SchG notwendig, so unterbreitet das SchG diese Frage dem

EuGH zur Auslegung, welche für das SchG verbindlich ist. In jedem Fall

obliegt es dem SchG zu entscheiden, ob die Voraussetzungen für eine An-

rufung des EuGH gegeben sind, der EuGH kann nicht von sich aus in einem

Schiedsgerichtsverfahren intervenieren. Der Entscheid über den Streit

selbst wird immer vom SchG gefällt.

Ausgleichsmassnahmen: Stellt das SchG eine Verletzung fest, können im

betroffenen Abkommen bzw. in einem anderen Binnenmarktabkommen

verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen ergriffen werden. Die Schweiz

strebt an, dass die Ausgleichsmassnahmen erst in Kraft treten, wenn das

SchG über deren Verhältnismässigkeit entschieden hat. Das Ziel ist insbe-

sondere, allfällige Schäden aufgrund von Ausgleichsmassnahmen zu ver-

meiden, die in der Folge als unverhältnismässig beurteilt werden.

Parlamentarische Zusammenarbeit: Die Schweiz strebt die Etablierung ei-

ner parlamentarischen Zusammenarbeit zwischen der Bundesversammlung

und dem Europäischen Parlament an.

2.1.3.4

Verhandlungsprozess

Seitens EU verabschiedete der Rat das entsprechende Verhandlungsmandat am

12. März 2024.

56

Die Verhandlungen begannen offiziell am 18. März 2024

(s. Ziff. 1.3.21).

Im Rahmen der Verhandlungen wurden die institutionellen Elemente von der Ver-

handlungsgruppe «Institutionelle Bestimmungen und andere Fragen» behandelt.

Diese Verhandlungsgruppe wurde von den Chefunterhändlern der beiden Delegatio-

56

www.consilium.europa.eu/de > Nachrichten und Medien > Pressemitteilungen > 12. März

2024 (15:05).

68 / 931

nen geleitet. Die Leitung der Schweizer Delegation wurde gemeinsam von der Abtei-

lung Europa des Staatssekretariats (Eidgenössisches Departement für auswärtige An-

gelegenheiten [EDA]), in der Person des Chefunterhändlers, und vom Bundesamt für

Justiz (BJ) (Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement [EJPD]) wahrgenommen.

Die Delegation umfasste ausserdem Vertreterinnen und Vertreter der Konferenz der

Kantonsregierungen, der Direktion für Völkerrecht (EDA) und der Mission der

Schweiz bei der Europäischen Union in Brüssel. Vertreterinnen und Vertreter anderer

Bundesstellen, wie zum Beispiel der Eidgenössischen Finanzverwaltung (Eidgenös-

sisches Finanzdepartement), wurden bei Themen in ihrer Zuständigkeit ebenfalls

punktuell in die Delegation einbezogen. Neben den Verhandlungen über die instituti-

onellen Bestimmungen war diese Verhandlungsgruppe auch für bestimmte Quer-

schnittsthemen, namentlich im Zusammenhang mit der Umsetzung der institutionel-

len Elemente in den verschiedenen Abkommen, zuständig.

Die erste Verhandlungsrunde über die institutionellen Elemente fand am Tag nach der

formellen Aufnahme der Verhandlungen am 19. März 2024 statt. Beide Delegationen

betrachteten die institutionellen Elemente aufgrund ihrer Auswirkungen auf die Ver-

handlungen zu vielen anderen Themen als vorrangig. Sie beschlossen deshalb, sich

häufiger zu treffen als die sektoriellen Verhandlungsgruppen. Die Gespräche waren

von harten inhaltlichen Positionen der Delegationen geprägt, aber auch von der Be-

reitschaft, Lösungen zu finden. Die Verhandlungen über die wichtigsten institutionel-

len Bestimmungen wurden am 11. Juli 2024 materiell abgeschlossen. Die Gespräche

wurden nach der Sommerpause fortgesetzt. Dabei standen insbesondere die Umset-

zung der institutionellen Elemente in den verschiedenen betroffenen Bereichen sowie

andere transversale Elemente im Zentrum. Insgesamt fanden 25 Verhandlungsrunden

statt, die letzte am 3. Dezember 2024. Parallel dazu fand ein Austausch auf informel-

ler und auf technischer Ebene statt.

2.1.4

Grundzüge der institutionellen Elemente

In einem ersten Schritt wurden die institutionellen Elemente in der Verhandlungs-

gruppe «Institutionelle Bestimmungen und andere Fragen» für alle Binnenmarktab-

kommen transversal verhandelt. Anschliessend wurden die institutionellen Elemente

in den sektoriellen Verhandlungsgruppen behandelt. Diese einigten sich auf die not-

wendigen Anpassungen, um den Besonderheiten der einzelnen Abkommen Rechnung

zu tragen und die spezifischen Interessen der Schweiz zu wahren. Die institutionellen

Elemente sind auch im Gesundheitsabkommen enthalten, soweit sie für das Funktio-

nieren dieses Abkommens erforderlich sind.

In den folgenden Unterkapiteln werden die institutionellen Elemente so präsentiert,

wie sie transversal ausgehandelt und in die jeweiligen Binnenmarktabkommen inte-

griert wurden. Zum besseren Verständnis und soweit nichts anderes angegeben, wird

auf die entsprechenden Artikel des institutionellen Protokolls (IP-LuftVA) und des

Änderungsprotokolls (ÄP-LuftVA) des LuftVA Bezug genommen. Die sektoriellen

Anpassungen für die verschiedenen Binnenmarktabkommen und die Besonderheiten

der institutionellen Elemente des Gesundheitsabkommens werden in den entsprechen-

den Teilen des erläuternden Berichts beschrieben (s. Ziff. 2.3 bis 2.6, 2.11 bis 2.13).

69 / 931

Die institutionellen Elemente werden direkt in die neuen Abkommen bzw. mittels

Protokolle in die bestehenden Abkommen integriert. Sie können in sieben Themen-

bereiche unterteilt werden:

Präambel und allgemeine Bestimmungen: Ziele, Beziehung der institutio-

nellen Bestimmungen zum Abkommen (bei Protokollen) und Definition der

bilateralen Binnenmarktabkommen (s. Ziff. 2.1.5.1).

Dynamische Rechtsübernahme: Teilnahme der Schweiz an der Ausarbei-

tung der relevanten EU-Rechtsakte («

Decision Shaping

») und deren In-

tegration in das Abkommen (s. Ziff. 2.1.5.2).

Auslegung, Anwendung und Überwachung des Abkommens: Grundsatz der

einheitlichen Auslegung und Grundsatz der wirksamen und harmonischen

Anwendung (s. Ziff. 2.1.5.3).

Streitbeilegung: Ausschliesslichkeitsgrundsatz, Streitbeilegungsverfahren,

Ausgleichsmassnahmen, Zusammenarbeit zwischen Gerichten sowie Ein-

reichung

von

Schriftsätzen

und

Stellungnahmen

beim

EuGH

(s. Ziff. 2.1.5.4).

Bestimmungen zum Finanzbeitrag und Bestimmungen zum besseren Ver-

ständnis der in die Abkommen aufgenommenen EU-Rechtsakte

(s. Ziff. 2.1.5.5).

Schlussbestimmungen (s. Ziff. 2.1.5.6).

Bestimmungen zu anderen Fragen, deren Formulierung vereinheitlicht und

deren Inhalt aktualisiert wurde, insbesondere Bestimmungen, die die GA,

den räumlichen Geltungsbereich der Abkommen, die Rechte und Pflichten

der Mitgliedstaaten sowie die Vorrechte und Befreiungen regeln

(s. Ziff. 2.1.5.7).

2.1.5

Erläuterungen zu einzelnen institutionellen Bestimmungen

2.1.5.1

Präambel und allgemeine Bestimmungen

2.1.5.1.1

Präambel

In der Präambel werden die Gründe zur Aufnahme der institutionellen Bestimmungen

in das Abkommen beschrieben. Sie vermittelt den Hintergrund für diese Bestimmun-

gen und kann bei ihrer Auslegung helfen.

Die Präambel verweist auf die zahlreichen Abkommen zwischen der Schweiz und der

EU, die darauf abzielen, die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu stärken und die wirt-

schaftlichen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU auf der Grundlage von

Gleichheit, Gegenseitigkeit und allgemeiner Ausgewogenheit der Vorteile, Rechte

und Pflichten zu festigen. Das Ziel, die Beteiligung der Schweiz am EU-Binnenmarkt

auf der Basis der Einheitlichkeit und derselben Regeln, die für den Binnenmarkt gel-

ten, zu stärken und zu vertiefen, wird ergänzt durch das Ziel, die Unabhängigkeit der

Schweiz und der EU sowie ihrer Institutionen und, was die Schweiz betrifft, die

70 / 931

Grundsätze der direkten Demokratie, des Föderalismus und des sektorspezifischen

Charakters ihrer Beteiligung am EU-Binnenmarkt zu wahren.

Die Präambel bekräftigt, dass die Zuständigkeiten des Bundesgerichts und der

Schweizer Gerichte sowie der Gerichte der Mitgliedstaaten und des EuGH für die

Auslegung des Abkommens im Einzelfall gewahrt bleiben. Die Parteien behalten zu-

dem die Autonomie ihrer Gerichte betreffend die Auslegung ihres eigenen Rechts.

Die Kompetenzen der Schweizer Gerichte und des Bundesgerichts werden durch das

Verhandlungsergebnis folglich nicht beeinträchtigt. Die Wahrung dieser Kompeten-

zen ist in den institutionellen Bestimmungen verankert.

2.1.5.1.2

Ziele

Ziel der institutionellen Bestimmungen ist es, den Parteien, Wirtschaftsakteuren und

Privatpersonen eine grössere Rechtssicherheit, Gleichbehandlung und gleiche Wett-

bewerbsbedingungen zu gewährleisten (Art. 1 Abs. 1 IP-LuftVA). Dieses Ziel gilt nur

für jene Teile der Abkommen, die sich auf die Beteiligung der Schweiz am EU-

Binnenmarkt beziehen, und nicht für jene Teile der Abkommen, die diese Beteiligung

nicht betreffen (z. B. die Thematik der Niederlassungsbewilligungen in einem Proto-

koll zum FZA). Es unterscheidet sich insbesondere vom Ziel des EWR, einen einheit-

lichen Wirtschaftsraum in Europa zu schaffen.

Die «neuen institutionellen Lösungen» umfassen

(i)

ein Verfahren für die dynamische

Übernahme der relevanten EU-Rechtsakte in das Abkommen,

(ii)

die einheitliche

Auslegung und Anwendung des Abkommens und der EU-Rechtsakte, auf die darin

Bezug genommen wird,

(iii)

die Überwachung und Anwendung des Abkommens und

(iv)

die Beilegung von Streitigkeiten zwischen den Parteien im Zusammenhang mit

dem Abkommen. Diese Elemente ermöglichen einen kontinuierlichen und ausgewo-

genen Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Parteien (Art. 1 Abs. 2

Bst. a bis d IP-LuftVA). Es wird daran erinnert, dass die Abkommen zwischen der

Schweiz und der EU völkerrechtliche Instrumente sind und dass die Grundsätze des

Völkerrechts berücksichtigt werden müssen. Es wird auch betont, dass die institutio-

nellen Elemente allen bisherigen und künftigen Binnenmarktabkommen gemeinsam

sind. Die institutionellen Elemente sollen somit grundsätzlich in alle künftigen Bin-

nenmarktabkommen aufgenommen werden, nicht aber in andere Arten von Abkom-

men, wie zum Beispiel Kooperationsabkommen. Die dynamische Rechtsübernahme

ist von einer Ausdehnung des EU-Rechtsbestands auf die Schweiz zu unterscheiden,

wie es beispielsweise der Fall wäre, wenn die Schweiz der EU beitreten würde. Dies

bedeutet insbesondere, dass die Schweiz nicht an die allgemeinen Grundsätze des Bin-

nenmarkts gebunden ist, wie zum Beispiel die Grundfreiheiten des EU-Binnenmarkts

oder den Grundsatz der Nichtdiskriminierung, es sei denn, dies wurde von den Par-

teien ausdrücklich für bestimmte Elemente vereinbart.

Die Bestimmung über die Ziele stellt schliesslich klar, dass die institutionellen Ele-

mente den Geltungsbereich und die Ziele, wie sie in jedem Binnenmarktabkommen

individuell festgelegt sind, nicht ändern (Art. 1 Abs. 2 IP-LuftVA). Mit anderen Wor-

ten: Die Anwendung dieser Elemente muss innerhalb des durch den Geltungsbereich

und die Ziele des Abkommens vorgegebenen Rahmens erfolgen. Dieser allgemeine

Grundsatz gilt für alle institutionellen Elemente und wird auch in den anderen institu-

71 / 931

tionellen Bestimmungen präzisiert. Diese Garantie ist besonders wichtig, um das Aus-

mass der dynamischen Rechtsübernahme zu begrenzen, denn diese darf den Geltungs-

bereich und die Ziele des Abkommens nicht ändern. Die Beschränkung der dynami-

schen Rechtsübernahme auf den in jedem einzelnen Abkommen

definierten

Geltungsbereich verhindert beispielsweise, dass die Schweiz im Rahmen der Perso-

nenfreizügigkeit arbeitsrechtliche Regelungen der EU übernehmen müsste. Das Ar-

beitsrecht fällt nicht in den Geltungsbereich des FZA. Der Geltungsbereich und die

Ziele des Abkommens können nur einvernehmlich von beiden Parteien mittels eines

ordentlichen Verfahrens zur Änderung des Abkommens angepasst werden.

2.1.5.1.3

Beziehung zum Abkommen

Diese Bestimmung ist nur vorgesehen, wenn die institutionellen Bestimmungen mit-

tels eines Protokolls in die bestehenden Binnenmarktabkommen eingefügt werden.

Sie regelt das Verhältnis zwischen den bereits bestehenden institutionellen Bestim-

mungen im Abkommen und den neuen institutionellen Bestimmungen, die im Proto-

koll vereinbart wurden. Eine solche Bestimmung ist somit in künftigen Abkommen

nicht erforderlich, da die institutionellen Bestimmungen in diesen Fällen direkt in den

Hauptteil des Abkommens aufgenommen werden.

Als Grundsatzregel gilt die Aufhebung (Art. 2 Abs. 2 IP-LuftVA). Die bestehenden

institutionellen Bestimmungen des Abkommens, die durch die neuen institutionellen

Bestimmungen im Protokoll hinfällig werden, sind aufgelistet. Die Auflistung ist ab-

schliessend. Bestehende institutionelle Bestimmungen des Abkommens, die nicht auf-

gelistet sind und nicht durch das Änderungsprotokoll geändert werden, bleiben in

Kraft. Ziel ist es, Rechtssicherheit zu gewährleisten.

Im Übrigen stellt diese Bestimmung klar, dass das institutionelle Protokoll, sein An-

hang und seine Anlage integraler Bestandteil des Abkommens sind und dass jede Be-

zugnahme auf die «Europäische Gemeinschaft» oder die «Gemeinschaft» als Bezug-

nahme auf die EU gilt (Art. 2 Abs. 1 und 3 IP-LuftVA).

2.1.5.1.4

Bilaterale Abkommen betreffend den Binnenmarkt

Die bestehenden und künftigen Binnenmarktabkommen zwischen der Schweiz und

der EU werden als «kohärentes Ganzes» betrachtet, das eine ausgewogene Verteilung

der Rechte und Pflichten zwischen den Parteien gewährleistet (Art. 3 Abs. 1 IP-

LuftVA). Diese Bestimmung widerspiegelt eine politisch motivierte Formulierung in

Absatz 12 des

Common Understanding

und hat keine konkrete rechtliche Wirkung.

Sie schafft auch keine zusätzliche kündigungsbezogene Verknüpfung zwischen den

bestehenden und künftigen Binnenmarktabkommen, wie es im Entwurf des instituti-

onellen Rahmenabkommens vorgesehen war (Art. 12 Entwurf des institutionellen

Rahmenabkommens, «Super-Guillotine»).

Die Bestimmung hält fest, dass es sich beim betreffenden Abkommen um ein Abkom-

men in einem Bereich betreffend den Binnenmarkt handelt (Art. 3 Abs. 2 IP-LuftVA).

Diese Klarstellung ist notwendig, um den Umfang der Ausgleichsmassnahmen zu be-

grenzen, die nur im Rahmen von Binnenmarktabkommen ergriffen werden können

(s. Ziff. 2.1.5.4.3).

72 / 931

Der Begriff «Binnenmarktabkommen», der in diesem erläuternden Bericht aus Grün-

den der Vereinfachung verwendet wird, hat die gleiche Bedeutung wie der in den Pro-

tokollen und Abkommen verwendete Begriff «Abkommen im Bereich/in den Berei-

chen betreffend den Binnenmarkt, an dem/denen die Schweiz teilnimmt».

2.1.5.2

Dynamische Rechtsübernahme

Die Binnenmarktabkommen müssen regelmässig an die relevanten Entwicklungen

des EU-Rechts angepasst werden, damit die Teilnahme der Schweiz am EU-

Binnenmarkt in den betreffenden Sektoren langfristig gesichert ist. Ohne Aktualisie-

rung würden Rechtsabweichungen entstehen, die zu immer grösseren Hürden bei der

Umsetzung der Binnenmarktabkommen, wie sie von den Parteien angestrebt wird,

führen könnten. Diese Hürden würden die angestrebte Rechtssicherheit und ganz all-

gemein die in den Abkommen vorgesehene Beteiligung der Schweiz am EU-

Binnenmarkt gefährden, was insbesondere die Schweizer Wirtschaftsakteure benach-

teiligen würde. Die Aktualisierung der Abkommen ist eine gemeinsame Verpflich-

tung der Schweiz und der EU. So kann die Schweiz zum Beispiel in Zukunft, wenn

die EU mit der Aktualisierung eines Abkommens in Verzug ist (wie seit 2021 beim

MRA), ihre Rechte über den Streitbeilegungsmechanismus geltend machen

(s. Ziff. 2.1.5.4). Zudem kann die Schweiz künftig an der Erarbeitung von Rechtsak-

ten der EU mitwirken, die sie betreffen (s. Ziff. 2.1.5.2.1).

Zu beachten ist, dass – unabhängig vom Paket Schweiz-EU – die laufenden Arbeiten

in den Gemischten Ausschüssen zur Aktualisierung der bestehenden Binnenmarktab-

kommen gemäss der bisherigen Praxis fortgeführt werden.

2.1.5.2.1

Mitwirkung an der Erarbeitung von EU-Rechtsakten

Decision Shaping

»)

Vorschläge für neue Rechtsakte werden in der EU durch die Europäische Kommission

ausgearbeitet. Die EU sichert der Schweiz eine grösstmögliche Teilnahme am Prozess

zur Ausarbeitung von EU-Rechtsakten durch die Europäische Kommission (

Decision

Shaping

) zu. Diese Teilnahme entspricht jener, die für die EWR-Staaten vorgesehen

ist.

Die Modalitäten des

Decision Shaping

sind unterschiedlich, je nachdem, ob es sich

um Rechtsakte (Art. 4 Abs. 1 IP-LuftVA), delegierte Rechtsakte (Art. 4 Abs. 2 IP-

LuftVA) oder Durchführungsrechtsakte (Art. 4 Abs. 3 IP-LuftVA) handelt. Grund für

die verschiedenen Modalitäten sind die unterschiedlichen Prozesse bei der Ausarbei-

tung dieser drei Arten von Rechtsakten in der EU. In allen drei Fällen zieht die Euro-

päische Kommission Sachverständige der Schweiz gleichermassen zurate, wie sie die

Stellungnahmen der Sachverständigen der EU-Mitgliedstaaten für die Ausarbeitung

eines ersten Entwurfs einholt. Darüber hinaus kann bei Rechtsakten ein Meinungsaus-

tausch im GA stattfinden. Bei den wichtigen Etappen vor dem Erlass des Rechtsakts

müssen sich die Parteien auf Antrag einer Partei erneut konsultieren. Bei delegierten

Rechtsakten und Durchführungsrechtsakten, die in die alleinige Zuständigkeit der Eu-

ropäischen Kommission fallen, gewährt die Europäische Kommission der Schweiz

die grösstmögliche Teilnahme an der Ausarbeitung ihrer Vorschläge (sog. Komitolo-

gieverfahren). Über diese Mitwirkung bei der Erarbeitung von EU-Rechtsakten hin-

aus können Sachverständige der Schweiz an den Arbeiten der Ausschüsse teilnehmen,

73 / 931

wenn dies zur Gewährleistung des ordnungsgemässen Funktionierens des Abkom-

mens erforderlich ist (Art. 4 Abs. 4 IP-LuftVA). Eine Liste der betroffenen Aus-

schüsse wird vom GA erstellt und aktualisiert.

Zusätzlich zum

Decision Shaping

kann die Schweiz ausserdem über Direktkontakte

mit einzelnen EU-Mitgliedstaaten oder dem Europäischen Parlament Einfluss auf die

Diskussion in der EU nehmen.

Dieser Artikel gilt nicht für Bestimmungen oder Rechtsakte der EU, die in den An-

wendungsbereich einer Ausnahme fallen (Art. 4 Abs. 5 IP-LuftVA), da diese Rechts-

akte von der Integrationspflicht ausgenommen sind (s. Ziff. 2.1.5.2.2; Art. 5 Abs. 7

IP-LuftVA). Bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den Parteien darüber, ob die

Schweiz an der Ausarbeitung eines EU-Rechtsakts teilnehmen können soll oder nicht,

können die Parteien den Streitbeilegungsmechanismus in Anspruch nehmen

(s. Ziff. 2.1.5.4).

Diese Modalitäten des

Decision Shaping

sind von denjenigen zu unterscheiden, die

im Zusammenhang mit der Assoziierung der Schweiz an Schengen gelten, wo die

Schweiz mehr Rechte hat. Im letzteren Fall kann die Schweiz aus historischen Grün-

den und aufgrund der Kompetenzordnung innerhalb der EU auch an den Arbeiten im

Rat der EU teilnehmen. Die EWR-Staaten werden im Rahmen ihrer Teilnahme am

EU-Binnenmarkt auch nicht in die Arbeiten des Rates der EU einbezogen.

2.1.5.2.2

Integration von EU-Rechtsakten in das Abkommen

Allgemeine Pflichten der Parteien

Die Schweiz und die EU sind verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Rechtsakte der

EU, die in den Bereichen des Abkommens erlassen werden, nach ihrer Verabschie-

dung so rasch wie möglich in das Abkommen integriert werden (Art. 5 Abs. 1 IP-

LuftVA). Ziel dieser Verpflichtung ist es, in den Bereichen des EU-Binnenmarkts, an

denen die Schweiz durch das Abkommen teilnimmt, Rechtssicherheit und rechtliche

Homogenität zu gewährleisten, was im Interesse der Wirtschaftsakteure und Privat-

personen liegt. Wie bereits erwähnt, handelt es sich dabei um eine gemeinsame Ver-

pflichtung beider Parteien, nicht nur um eine Verpflichtung der Schweiz. Die Ver-

pflichtung beschränkt sich auf EU-Rechtsakte, die in den Bereichen des Abkommens

erlassen wurden, das heisst, die in den Geltungsbereich und die Ziele des Abkommens

fallen (s. Ziff. 2.1.5.2.2).

Die Rechtsübernahme erfolgt nicht automatisch. Ein Automatismus würde bedeuten,

dass die EU-Rechtsakte nach der Verabschiedung direkt ins Abkommen integriert

würden, ohne dass ein Handeln der Schweiz und der EU erforderlich wäre. Vielmehr

setzt jede Übernahme eines neuen EU-Rechtsakts in ein Abkommen einen individu-

ellen Beschluss der Schweiz und der EU voraus (s. «Integrationsverfahren»).

Die Parteien haben keine Frist für die Erfüllung dieser Integrationspflicht definiert.

Es wird lediglich festgelegt, dass die Rechtsakte «so rasch wie möglich» integriert

werden müssen (s. «Integrationsverfahren»). Dies lässt den Parteien einen gewissen

Handlungsspielraum. Die Frist kann je nach EU-Rechtsakt variieren und hängt von

verschiedenen Kriterien ab, zum Beispiel von der Komplexität des Rechtsakts, davon,

ob es sich um einen allgemeinen oder einen rein technischen Rechtsakt handelt, oder

74 / 931

davon, wie viel Zeit die Schweiz und die EU benötigen, um sich über die Modalitäten

der Übernahme des Rechtsakts zu einigen.

Im Folgenden werden die spezifischen Pflichten der Schweiz beschrieben, die sich

aus der Übernahme von EU-Rechtsakten ergeben. Diese Pflichten variieren je nach

Art der dynamischen Übernahme, also Integration (z. B. Art. 5 Abs. 2 IP-LuftVA)

oder Äquivalenz (z. B. Art. 5 Abs. 2 IP-MRA):

Bei der Integrationsmethode werden die in die Abkommen integrierten EU-

Rechtsakte allein durch ihre Integration in das Abkommen Teil der Schwei-

zer Rechtsordnung, vorbehaltlich der allfälligen vom GA beschlossenen

Anpassungen dieser Rechtsakte. Dies entspricht dem monistischen System

der Schweiz. Diese Rechtsakte werden von der Schweiz grundsätzlich di-

rekt angewendet, ohne dass sie in das Landesrecht überführt werden müs-

sen, selbst wenn eine solche Überführung theoretisch möglich wäre. Die

Schweiz muss das Landesrecht jedoch anpassen, wenn es den Bestimmun-

gen der integrierten EU-Rechtsakte widerspricht oder wenn eine Präzisie-

rung derselben notwendig ist.

Bei der Äquivalenzmethode erlässt die Schweiz in ihrer Rechtsordnung

Bestimmungen oder behält solche bei, um das Ergebnis zu erreichen, das

durch die in das Abkommen integrierten EU-Rechtsakte erzielt werden soll,

vorbehaltlich der vom GA beschlossenen Anpassungen dieser Rechtsakte.

Diese Rechtsakte sind grundsätzlich nicht direkt anwendbar in der Schweiz.

Die Schweiz muss jedoch dafür sorgen, dass ihr Recht das gleiche Ergebnis

erzielt, das mit den betreffenden EU-Rechtsakten angestrebt wird – und

nicht, dass das Landesrecht mit diesen Rechtsakten identisch ist. Diese Me-

thode lässt der Schweiz also einen grösseren Handlungsspielraum. Bei der

Übernahme neuen EU-Rechts ist konkret zu prüfen, ob das entsprechende

schweizerische Recht nach wie vor äquivalent ist. Ist dies nicht der Fall, ist

eine Anpassung des Schweizer Rechts erforderlich.

Die oben beschriebenen spezifischen Pflichten der Schweiz gelten unabhängig von

der Art des betreffenden Rechtsakts der EU (Verordnung, Richtline usw.). Die Be-

sonderheiten der verschiedenen Arten von EU-Rechtsakten für die EU-

Mitgliedstaaten sind nicht auf die Schweiz anwendbar, da sie der EU nicht angehört.

Im LandVA und im MRA ist die Äquivalenzmethode vorgesehen. Im LuftVA ist wie

bereits heute die Integrationsmethode vorgesehen, ebenso im FZA, das de facto auch

schon nach dieser Methode funktioniert. Das Stromabkommen, das Protokoll zur Le-

bensmittelsicherheit und das Gesundheitsabkommen sehen grundsätzlich die Integra-

tionsmethode vor, wobei unter Berücksichtigung der Beschaffenheit dieser Abkom-

men Besonderheiten gelten. Für den Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens ist

keine dynamische Rechtsübernahme vorgesehen (s. Ziff. 2.1.1). Für die Übernahme

von EU-Rechtsakten in die Beihilfe-Anhänge gelten besondere Bestimmungen

(s. Ziff. 2.2.5.8).

Betreffend Bezugnahmen auf andere EU-Rechtsakte, die in Rechtsakten der EU ent-

halten sind, die in die Abkommen integriert wurden, ist im Übrigen zu beachten, dass

diese nicht für die Schweiz gelten, es sei denn, in den technischen Anpassungen wurde

75 / 931

etwas anderes vereinbart. Falls dies aus Gründen der Klarheit wichtig ist, kann in den

technischen Anpassungen auch präzisiert werden, was anstelle solcher Bezugnahmen

für die Schweiz gilt.

Diese Integrationspflicht steht im Einklang mit den Postulaten 14.3557 Schilliger und

14.3577 Fournier, wonach sichergestellt werden soll, dass das in die Abkommen in-

tegrierte EU-Recht «nicht noch zusätzlich verschärft und unter dem Deckmantel der

Übernahme von EU-Recht mit sachfremden Bestimmungen angereichert wird (kein

Swiss Finish

)». Die Integrations- und die Äquivalenzmethode verpflichten die

Schweiz in keiner Weise dazu, über die in den EU-Rechtsakten festgelegten Ver-

pflichtungen hinauszugehen. Bei der Integrationsmethode werden diese Rechtsakte

allein durch ihre Integration in das Abkommen Teil der Schweizer Rechtsordnung.

Die Schweiz muss ihr Recht nur dann anpassen, wenn es den Bestimmungen des ent-

sprechenden EU-Rechtsakts widerspricht oder dieser nicht direkt anwendbar ist

self-executing

»). Bei der Äquivalenzmethode ist die Schweiz einzig dazu verpflich-

tet, in ihrem nationalen Recht das gleiche Ergebnis zu erzielen, das mit den EU-

Rechtsakten erreicht werden soll. Ihr Handlungsspielraum ist also noch grösser als bei

der Integrationsmethode, da sie nur verpflichtet ist, die Ziele der entsprechenden EU-

Rechtsakte zu erreichen. Die Mittel hierfür liegen in ihrer Zuständigkeit. Darüber hin-

aus ermöglichen es Ausnahmen sowie Absicherungen und Prinzipien im Bereich der

Personenfreizügigkeit und des Lohnschutzes, den Besonderheiten der Schweiz im

Rahmen der dynamischen Rechtsübernahme Rechnung zu tragen. Zusammenfassend

verpflichtet die dynamische Übernahme von EU-Rechtsakten im Rahmen der Binnen-

marktabkommen die Schweiz also in keiner Weise dazu, über das betreffende EU-

Recht hinauszugehen. Sie erlaubt es ihr im Übrigen, ihren Besonderheiten weitestge-

hend Rechnung zu tragen.

Schliesslich ist die Schweiz beim «autonomen Nachvollzug» von EU-Recht völlig

frei. Es gibt in diesem Zusammenhang keinerlei völkerrechtliche Verpflichtung zur

Übernahme des EU-Rechts. Die Schweiz kann darüber also vollumfänglich nach ihren

eigenen Interessen entscheiden.

Integrationsverfahren

Das Verfahren zur Integration eines EU-Rechtsakts beginnt, sobald die EU die

Schweiz im GA darüber informiert, dass ein solcher Rechtsakt erlassen wurde. Diese

Information muss so rasch wie möglich nach Erlass des Rechtsakts erfolgen (Art. 5

Abs. 3 IP-LuftVA).

Auf Antrag einer Partei kann der GA einen Meinungsaustausch über diesen Rechtsakt

durchführen (Art. 5 Abs. 3 IP-LuftVA). Diese Gesprächsphase ist ein wichtiger

Schritt im Verfahren. Die Parteien müssen zu diesem Zeitpunkt prüfen, ob der Rechts-

akt vor der Integration angepasst werden muss, zum Beispiel aufgrund von Ausnah-

men. Ausserdem können bei diesem Schritt auch spezifische Übernahmemodalitäten,

wie zum Beispiel besondere Übergangsfristen, festgelegt werden. Die Parteien kön-

nen auch neue Ausnahmen vereinbaren. Wie lange die Gesprächsphase dauert, hängt

von der Art des jeweiligen Rechtsakts ab (s. «Allgemeine Pflichten der Parteien»).

Im Anschluss an diese Gesprächsphase muss der GA, das heisst die Schweiz und die

EU gemeinsam, der Integrationspflicht nachkommen, indem er so rasch wie möglich

76 / 931

einen Beschluss zur Änderung der Anhänge des Abkommens, einschliesslich der er-

forderlichen Anpassungen des zu integrierenden Rechtsakts, fasst (Art. 5 Abs. 4 IP-

LuftVA). Auch hier haben sich die Parteien dafür entschieden, keine bestimmte Frist

vorzusehen, sondern dem GA Spielraum zu lassen.

Die Kompetenz des GA zur Umsetzung der Integrationspflicht beschränkt sich auf die

Änderung der Anhänge. Der GA kann den Hauptteil des Abkommens nicht ändern.

Der gegebenenfalls zu aktualisierende EU-Rechtsbestand befindet sich nämlich in den

Anhängen. Die dynamische Rechtsübernahme dürfte grundsätzlich keine Auswirkun-

gen auf den Hauptteil des Abkommens haben. Dieser enthält namentlich die Bestim-

mungen zum Geltungsbereich und zu den Zielen, die durch die dynamische Rechts-

übernahme eben gerade nicht geändert werden können. Sollte es zur Gewährleistung

der Kohärenz des Abkommens mit den geänderten Anhängen dennoch erforderlich

sein, den Hauptteil zu ändern, kann der GA den Parteien eine Änderung des Abkom-

mens nach ihren internen Verfahren vorschlagen, wobei in jedem Fall eine Genehmi-

gung beider Parteien erforderlich ist (Art. 5 Abs. 5 IP-LuftVA).

In dieser Bestimmung wird auch präzisiert, dass Bezugnahmen im Hauptteil des Ab-

kommens auf EU-Rechtsakte, die nicht mehr in Kraft sind, als Bezugnahmen auf den

aufhebenden Rechtsakt gelten, wie er im Anhang enthalten ist, sofern nichts anderes

vorgesehen ist (Art. 5 Abs. 6 IP-LuftVA). Mit dieser Präzisierung soll vermieden wer-

den, dass eine Änderung des Abkommens erforderlich ist, nur um eine Bezugnahme

auf einen Rechtsakt zu ersetzen. Diese Präzisierung zur Bezugnahme im Hauptteil des

Abkommens hat jedoch keine materielle Bedeutung. Ausserdem ist zu beachten, dass

Bezugnahmen auf EU-Rechtsakte in bestehenden Abkommen, die trotz der Änderung

dieser Rechtsakte nicht aktualisiert wurden, als Bezugnahmen auf die geänderten

Rechtsakte gelten, wie sie in den Anhang integriert wurden.

Der Beschluss des GA, den EU-Rechtsakt in den Anhang des Abkommens zu integ-

rieren, tritt sofort in Kraft, jedoch keinesfalls vor dem Zeitpunkt der Anwendbarkeit

des entsprechenden Rechtsakts in der EU (Art. 5 Abs. 8 IP-LuftVA). Es macht näm-

lich keinen Sinn, dass ein EU-Rechtsakt seine Wirkung in den bilateralen Beziehun-

gen zwischen der Schweiz und der EU entfaltet, noch bevor er dies in der Rechtsord-

nung der EU tut. Die Regel des sofortigen Inkrafttretens gilt zudem nicht in Fällen, in

denen die Schweiz verfassungsrechtliche Verpflichtungen erfüllen muss, damit der

Beschluss des GA Rechtswirksamkeit erlangen kann, also wenn der Beschluss des

GA zur Integration des neuen EU-Rechtsakts in das Abkommen vom Parlament oder

sogar vom Stimmvolk genehmigt werden muss. Wenn das Parlament oder das Volk

den Beschluss des GA vor dessen Inkrafttreten genehmigen muss, wird das übliche

interne Verfahren zur Genehmigung völkerrechtlicher Verträge angewendet.

Für solche Fälle sind ausreichende Fristen vorgesehen, damit die Schweiz ihre für die

Integration des betreffenden Rechtsakts vorgesehenen internen Verfahren durchfüh-

ren kann. Während des Meinungsaustauschs im GA – vor der Beschlussfassung –

muss die Schweiz die EU darüber informieren, ob solche verfassungsrechtlichen Ver-

pflichtungen erfüllt werden müssen, bevor der Beschluss in Kraft treten kann (Art. 6

Abs. 1 IP-LuftVA). Es ist keine konkrete Frist für diese Mitteilung vorgesehen, was

der Schweiz einen gewissen Spielraum lässt. Ab dem Zeitpunkt der Mitteilung verfügt

die Schweiz über eine Frist von zwei Jahren, um ihre verfassungsrechtlichen Ver-

77 / 931

pflichtungen zu erfüllen, das heisst die Genehmigung des GA-Beschlusses zur In-

tegration des Rechtsakts durch die Bundesversammlung (Art. 6 Abs. 2 IP-LuftVA).

Wird gegen den Genehmigungsbeschluss das Referendum ergriffen, so wird die Frist

um ein weiteres Jahr verlängert (Art. 6 Abs. 2 IP-LuftVA). Sobald die Schweiz ihre

verfassungsrechtlichen Verpflichtungen erfüllt hat, notifiziert sie dies der EU (Art. 6

Abs. 4 IP-LuftVA). Der Beschluss des GA tritt am Tag des Eingangs dieser Notifika-

tion in Kraft, jedoch keinesfalls vor dem Zeitpunkt der Anwendbarkeit des entspre-

chenden Rechtsakts in der EU (Art. 6 Abs. 5 IP-LuftVA).

Der Beschluss des GA ist grundsätzlich ab dem Zeitpunkt seiner Verabschiedung vor-

läufig anzuwenden, es sei denn, die Schweiz teilt der EU unter Angabe von Gründen

mit, dass eine vorläufige Anwendung nicht möglich ist (Art. 6 Abs. 3 IP-LuftVA).

Dies ist der Fall, wenn die dafür im Schweizer Recht vorgesehenen Voraussetzungen

nicht erfüllt sind.

57

Diese Voraussetzungen bleiben durch das vorliegende Verhand-

lungspaket unberührt. Da diese Voraussetzungen sehr restriktiv sind, dürfte eine vor-

läufige Anwendung nur sehr selten erfolgen, wie die Praxis im Zusammenhang mit

der Assoziierung an Schengen und Dublin gezeigt hat. Eine vorläufige Anwendung

vor dem Zeitpunkt der Anwendbarkeit des entsprechenden EU-Rechtsakts in der EU

ist ausgeschlossen.

Um die Beschlussfassung zu erleichtern, verpflichten sich die Parteien allgemein

dazu, im Rahmen des Verfahrens der dynamischen Rechtsübernahme nach Treu und

Glauben zusammenzuarbeiten (Art. 5 Abs. 9 IP-LuftVA).

Das oben erläuterte Integrationsverfahren erlaubt es, den Postulaten 14.3557 Schilli-

ger und 14.3577 Fournier Folge zu geben, das heisst sicherzustellen, dass die Über-

nahme des EU-Rechts «bzw. die Umsetzung in das schweizerische Recht zum spätest

möglichen Zeitpunkt erfolgt, falls nicht wirtschaftliche Interessen eine rasche Anwen-

dung verlangen (kein vorauseilender Gehorsam)». Es wurden ausreichend lange

Übernahmefristen vereinbart, damit die üblichen Schweizer Verfahren zur Genehmi-

gung völkerrechtlicher Verträge eingehalten werden können. Zudem ist vorgesehen,

dass die Beschlüsse des GA zur Integration neuer Rechtsakte der EU in die entspre-

chenden Abkommen keinesfalls vor Beginn der Anwendung dieser Rechtsakte in der

EU in Kraft treten oder provisorisch angewendet werden können.

Ausnahmen

Die Integrationspflicht gilt nicht für EU-Rechtsakte oder deren Bestimmungen, die in

den Anwendungsbereich einer Ausnahme fallen (Art. 5 Abs. 7 IP-LuftVA). Die Aus-

nahmen werden aufgeführt (z. B. Art. 5 Abs. 7 IP-FZA). Falls das Abkommen keine

Ausnahmen enthält, wird dies ebenfalls erwähnt (Art. 5 Abs. 7, 2. Satz, IP-LuftVA).

Ist eine der Parteien der Auffassung, dass ein EU-Rechtsakt oder ein Teil eines sol-

chen Rechtsakts in den Anwendungsbereich einer Ausnahme fällt, so kann sie dies im

Rahmen der Gesprächsphase nach der Information über den Erlass des Rechtsakts

durch die EU (s. «Integrationsverfahren») einbringen. Wenn die Ausnahme einen

ganzen Rechtsakt betrifft, darf er nicht in das Abkommen aufgenommen werden. Sind

57

Art. 7

b

RVOG und Art. 152 Abs. 3

bis

Bst. a ParlG.

78 / 931

nur Teile des Rechtsakts von einer Ausnahme betroffen, so wird der Rechtsakt inte-

griert, muss aber im Beschluss des GA angepasst werden, um das, was in den Anwen-

dungsbereich der Ausnahme fällt, auszuschliessen.

Die Parteien können später weitere Ausnahmen vereinbaren. In diesem Fall muss die

Bestimmung, die die Ausnahmen auflistet, geändert und die neue Ausnahme hinzu-

gefügt werden. Die Parteien – und nicht der GA – sind für die Änderung dieser Be-

stimmung zuständig.

Streitigkeiten im Zusammenhang mit der dynamischen Rechtsübernahme

Die institutionellen Bestimmungen sehen kein besonderes Verfahren für den Fall vor,

dass die Parteien sich nicht einig sind, ob ein EU-Rechtsakt in das Abkommen inte-

griert werden muss oder nicht, dass die für die Integration massgebenden Fristen nicht

eingehalten werden oder dass eine Partei ihrer Verpflichtung, einen EU-Rechtsakt in

das Abkommen aufzunehmen, nicht nachkommen kann oder will. Letzteres wäre etwa

der Fall, wenn ein Bundesbeschluss zur Genehmigung einer Anpassung eines Abkom-

mens in einer Referendumsabstimmung abgelehnt wird und definitiv auf eine neue

Vorlage verzichtet wird.

Die erwähnten Fälle könnte zu einem Streitfall führen, der gemäss dem dafür vorge-

sehenen Mechanismus beigelegt werden müsste (s. Ziff. 2.1.6.4). Falls die Parteien

im GA keine Einigung erzielen und das SchG zum Schluss kommt, dass eine Partei

gegen ihre Verpflichtungen verstossen hat, indem sie einen EU-Rechtsakt nicht wie

vereinbart in das Abkommen integriert hat, könnte die andere Partei – wenn die Partei,

die gegen das Abkommen verstossen hat, den Entscheid des SchG nicht umsetzt –

verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Die Partei, die den Rechtsakt

nicht integriert hat, könnte jedoch nicht zu dessen Integration gezwungen werden,

selbst wenn sie aus rechtlicher Sicht dazu verpflichtet wäre.

Zum Vergleich gilt es im Übrigen darauf hinzuweisen, dass die Folgen bei einem

Streit im Zusammenhang mit der dynamischen Rechtsübernahme gemäss den neuen

institutionellen Elementen weniger einschneidend sind als im Rahmen der Assoziie-

rung der Schweiz an Schengen und Dublin. Im Falle der Nichtübernahme einer rele-

vanten Weiterentwicklung des Schengen/Dublin-Besitzstands durch die Schweiz wird

die Assoziierung derselben an Schengen/Dublin nach einer bestimmten Frist nämlich

automatisch beendet (ausser die Parteien beschliessen etwas anderes).

Umfang der Verpflichtung zur dynamischen Rechtsübernahme

Weiter oben wurden die kumulativen Voraussetzungen für die Integration von EU-

Rechtsakten erläutert (s. Ziff. 2.3.6.1 zu den Besonderheiten im Bereich der Perso-

nenfreizügigkeit):

Der Rechtsakt muss einen Bereich des EU-Binnenmarkts betreffen, an dem

die Schweiz auf der Grundlage der Abkommen teilnimmt.

Er muss in den Geltungsbereich der Abkommen fallen und den darin fest-

gelegten Zielen entsprechen.

Er darf nicht in den Anwendungsbereich einer Ausnahme fallen.

79 / 931

Diese Kriterien erlauben es, klar abzugrenzen, welche Rechtsakte der EU in Zukunft

von der Verpflichtung zur dynamischen Rechtsübernahme betroffen sind.

2.1.5.2.3

Umsetzung der Verfahren zur dynamischen

Rechtsübernahme

Die oben erläuterten Verfahren im Zusammenhang mit der dynamischen Rechtsüber-

nahme werden gemäss den geltenden Zuständigkeiten innerhalb der Bundesverwal-

tung umgesetzt. Die Zusammensetzung der bestehenden GA wird nicht geändert. Zu-

ständig für die Festlegung der Position der Schweiz und ihre Vertretung beim

Decision Shaping

sind die für den Fachbereich des betreffenden Abkommens verant-

wortlichen Departemente und das EDA. Das EJPD ist beauftragt, die zuständigen De-

partemente rechtlich zu begleiten und zu unterstützen, auch im Rahmen des

Decision

Shaping

. Dabei überprüft es insbesondere die Angemessenheit und Übereinstimmung

der bundesrechtlichen Normen mit dem geltenden nationalen und internationalen

Recht. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) (Eidgenössisches Departement für

Wirtschaft, Bildung und Forschung [WBF]) wird bei beihilferechtlichen Fragestellun-

gen und für das damit verbundene

Decision Shaping

von den für die jeweils betroffe-

nen Abkommen zuständigen Ämtern beigezogen. Die Kantone werden regelmässig

informiert und eng einbezogen, wenn das

Decision Shaping

ihre Zuständigkeitsberei-

che berührt (s. Ziff. 2.1.7.2).

2.1.5.3

Auslegung, Anwendung und Überwachung

2.1.5.3.1

Grundsatz der einheitlichen Auslegung

Die institutionellen Bestimmungen sollen den Vertragsparteien, Wirtschaftsakteuren

und Privatpersonen in den Bereichen betreffend den Binnenmarkt, die in den Gel-

tungsbereich des Abkommens fallen, grössere Rechtssicherheit, Gleichbehandlung

und gleiche Wettbewerbsbedingungen gewährleisten. Um dieses Ziel zu erreichen, ist

eine einheitliche Auslegung und Anwendung der Binnenmarktvorschriften durch die

Parteien auf der Grundlage der Abkommen erforderlich.

Der Grundsatz der einheitlichen Auslegung richtet sich in erster Linie an Behörden

und Gerichte. Die Schweiz und die EU sind verpflichtet, die Binnenmarktabkommen

und die Rechtsakte der EU, auf die darin Bezug genommen wird, in ihrem jeweiligen

Hoheitsgebiet einheitlich und unter Beachtung der Grundsätze des Völkerrechts aus-

zulegen und anzuwenden (Art. 7 Abs. 1 IP-LuftVA). Dazu gehören insbesondere die

Bestimmungen des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge

58

. Der

Grundsatz der einheitlichen Auslegung gilt nur für die Bereiche des EU-

Binnenmarkts, an denen die Schweiz auf der Grundlage des Abkommens teilnimmt,

und nicht für andere Teile des Abkommens, die nicht die Teilnahme der Schweiz am

Binnenmarkt betreffen.

Die Rechtsakte der EU, auf die im Abkommen Bezug genommen wird, und, soweit

ihre Anwendung unionsrechtliche Begriffe impliziert, die Bestimmungen des Abkom-

mens selbst werden in Übereinstimmung mit der vor oder nach der Unterzeichnung

des Abkommens ergangenen Rechtsprechung des EuGH ausgelegt und angewandt

58

SR

0.111

80 / 931

(Art. 7 Abs. 2 IP-LuftVA). Dieser Grundsatz ist nicht neu. Bereits die bestehenden

Binnenmarktabkommen sehen vor, dass die Rechtsprechung des EuGH berücksichtigt

werden muss (s. Ziff. 2.1.2.1). Diese Verpflichtung beschränkt sich in der Regel auf

die vor der Unterzeichnung des Abkommens ergangene Rechtsprechung. In einer dem

Sinn und Zweck der Abkommen folgenden Logik (Schaffung einer parallelen Rechts-

lage) berücksichtigt das Bundesgericht allerdings bereits heute auch die nach der Un-

terzeichnung der Abkommen ergangene EuGH-Rechtsprechung; eine Ausnahme

macht es nur, wenn triftige Gründe vorliegen, die ein Abweichen von der neueren

EuGH-Rechtsprechung rechtfertigen.

59

Dies gilt insbesondere für den Bereich der

Personenfreizügigkeit. Die neue institutionelle Bestimmung erweitert also die Ver-

pflichtung zur Berücksichtigung der Rechtsprechung auf die nach der Unterzeichnung

des Abkommens ergangenen Urteile.

Die Verpflichtung zur einheitlichen Auslegung wird insgesamt durch die sogenannte

Polydor-Rechtsprechung des EuGH relativiert. Gemäss dieser Rechtsprechung (die

der EuGH ursprünglich mit Bezug auf Freihandelsabkommen entwickelte

60

, aber seit

2009

61

auch auf das FZA und seit 2013

62

auch auf das LuftVA anwendet) ist bei der

Auslegung der in die bilateralen Abkommen Schweiz–EU übernommenen EU-

Rechtsvorschriften der besondere Zweck des jeweiligen Abkommens zu berücksich-

tigen. Die Rechtsprechung des EuGH zum EU-Recht kann deshalb nicht per se auf

die bilateralen Abkommen übertragen werden. Dies ergibt sich daraus, dass diese Ab-

kommen keine vollständige Integration in den EU-Binnenmarkt vorsehen. Ihre Ziele

und ihr Geltungsbereich sind etwas enger gefasst. Auch das Bundesgericht verfolgt

eine analoge Rechtsprechung. Die institutionellen Bestimmungen ändern grundsätz-

lich

nichts

am

Charakter

der

darunterfallenden

Binnenmarktabkommen

(s. Ziff. 2.1.6.1.2). Deshalb würde diese Praxis auch in Zukunft ihre Gültigkeit behal-

ten.

Zum Vergleich spielt die Rechtsprechung des EuGH im Übrigen bereits auch im Kon-

text der Assoziierung der Schweiz an Schengen/Dublin eine wichtige Rolle, mit ein-

schneidenden Folgen bei diesbezüglicher Uneinigkeit. Wenn die Schweiz wesentlich

von der Rechtsprechung des EuGH zum Schengen/Dublin-Besitzstand abweicht (was

bisher noch nie vorgekommen ist), müssen die beide Parteien eine Lösung finden.

Dies bedeutet, dass entweder die Schweiz die Rechtsprechung des EuGH übernimmt

oder dass die EU die Abweichung akzeptiert (was wenig wahrscheinlich ist). Ge-

schieht weder das eine noch das andere innerhalb einer bestimmten Frist, gilt die

Schengen/Dublin-Assoziierung der Schweiz automatisch als beendet. Das Vorliegen

von Abweichungen seitens der Schweiz von der Rechtsprechung des EuGH kann im

Übrigen auch im Rahmen von Schengen-Evaluierungen thematisiert werden. Dies-

falls kann die Europäische Kommission gegenüber der Schweiz Empfehlungen aus-

sprechen, und die Schweiz ist verpflichtet, über deren Umsetzung Bericht zu erstatten.

59

Z. B. BGE 2C 484/2022, Urteil vom 15. Mai 2023, E. 3.4.2.

60

Z. B. EuGH, Urteil vom 9. Februar 1982,

Polydor

, C-270/80, EU:C:1982:43.

61

Z. B. EuGH, Urteil vom 15. März 2018,

Picart

, C-355/16, EU:C:2018:184, Pkt. 29.

62

EuGH, Urteil vom 7. März 2013,

Schweizerische Eidgenossenschaft g. Europäische Kom-

mission

, C‑547/10 P, EU:C:2013:139, Pkt. 80.

81 / 931

2.1.5.3.2

Grundsatz der wirksamen und harmonischen Anwendung

Die institutionellen Bestimmungen schaffen kein supranationales Überwachungsor-

gan, wie dies beim EWR der Fall ist. Die Schweiz und die EU sind gemäss dem Zwei-

Pfeiler-Modell eigenständig für die korrekte Anwendung der Abkommen auf ihrem

jeweiligen Hoheitsgebiet verantwortlich (Art. 8 Abs. 2 IP-LuftVA). Sie können Infor-

mationen austauschen, Fragen im Zusammenhang mit der Überwachung erörtern, zu-

sammenarbeiten und sich gegenseitig unterstützen (Art. 8 Abs. 1 IP-LuftVA). Falls

ausnahmsweise eine Übertragung von Überwachungskompetenzen an EU-

Institutionen erforderlich ist, um eine wirksame und harmonische Anwendung des

Abkommens sicherzustellen, wie es beispielsweise bereits heute im LuftVA der Fall

ist, ist dies im Abkommen ausdrücklich vorzusehen (Art. 8 Abs. 4 IP-LuftVA). Für

Streitigkeiten in Bezug auf die Anwendung oder Überwachung der Abkommen

kommt der Streitbeilegungsmechanismus zur Anwendung. (Art. 8 Abs. 4 IP-LuftVA;

s. Ziff. 2.1.5.4). Dieser Grundsatz wird durch die Bestimmung über die Rechte und

Pflichten nicht infrage gestellt (s. Ziff. 2.1.5.7).

2.1.5.4

Streitbeilegung, Zusammenarbeit zwischen Gerichten sowie

Einreichung von Schriftsätzen und Stellungnahmen

Der Streitbeilegungsmechanismus dient dazu, mögliche Differenzen zu beseitigen,

die im Rahmen des Abkommens zwischen den Parteien auftreten können. Dabei han-

delt es sich um einen zwischenstaatlichen Mechanismus. Weder natürliche noch ju-

ristische Personen können an das SchG gelangen, um ihre rechtlichen Interessen

durchzusetzen. Die Schweizer Gerichte bleiben für Rechtsstreitigkeiten in der

Schweiz zwischen einer Person oder einem Unternehmen und einer anderen Person,

einem anderen Unternehmen oder dem Staat im Zusammenhang mit den Abkommen

zuständig.

2.1.5.4.1

Ausschliesslichkeitsgrundsatz

Der vorgesehene Streitbeilegungsmechanismus ist ausschliesslich zuständig (Art. 9

IP-LuftVA). Die Schweiz und die EU verpflichten sich also, diesem Mechanismus

alle Streitigkeiten zu unterbreiten, die im Zusammenhang mit der Auslegung oder An-

wendung des Abkommens oder der EU-Rechtsakte, auf die darin Bezug genommen

wird, oder im Zusammenhang mit der Vereinbarkeit eines Beschlusses der Europäi-

schen Kommission mit dem Abkommen entstehen, falls dieses eine solche Kompe-

tenz vorsieht. Die Beschränkung auf die Beschlüsse der Europäischen Kommission

(im Gegensatz z. B. zu denjenigen der Agenturen) ist dadurch bedingt, dass nur sie

– ausnahmsweise – befugt ist, Entscheide gegenüber der Schweiz als Staat zu treffen.

Dies ist eine übliche Verpflichtung, die dazu dient, das sogenannte

Forum Shopping

(Wahl des günstigsten Gerichtsstands) zu unterbinden. Diese Bestimmung ist wichtig

für die Schweiz, schliesst sie doch die Möglichkeit aus, dass sich EU-Mitgliedstaaten

an die Europäische Kommission richten oder direkt an den EuGH gelangen können,

um Streitigkeiten mit der Schweiz beizulegen.

82 / 931

2.1.5.4.2

Streitbeilegungsverfahren

Die erste Etappe des Streitbeilegungsverfahrens erfolgt auf diplomatisch-politischer

Ebene, wie dies bereits heute der Fall ist (Art. 10 Abs. 1 IP-LuftVA). Im Falle von

Schwierigkeiten bei der Auslegung oder Anwendung des Abkommens (einschliess-

lich des allfälligen institutionellen Protokolls) oder eines Rechtsakts der EU, auf den

darin Bezug genommen wird, bemühen sich die Parteien zunächst, im GA eine Lö-

sung zu finden (Art. 10 Abs. 1 IP-LuftVA).

Falls im GA innerhalb von drei Monaten ab dem Datum, an dem er mit der Angele-

genheit befasst wurde, keine Lösung gefunden wird, kann die Schweiz oder die EU

verlangen, dass ein SchG damit befasst wird (Art. 10 Abs. 2 IP-LuftVA). Es handelt

sich um ein klassisches Schiedsgerichtsverfahren, wie es zahlreiche völkerrechtliche

Verträge vorsehen.

Die Besonderheit des Verfahrens besteht darin, dass das SchG bei Vorliegen bestimm-

ter Voraussetzungen den EuGH für die Auslegung des EU-Rechts beizieht (Art. 10

Abs. 3 IP-LuftVA). Dies ergibt sich aufgrund der Auslegungshoheit des EuGH über

das EU-Recht. Die drei Voraussetzungen, die für die Anrufung des EuGH gegeben

sein müssen, werden ausdrücklich genannt (Art. 10 Abs. 3, Unterabs. 1, IP-LuftVA):

(i)

wirft die Streitigkeit eine Frage zur Auslegung oder Anwendung eines Rechtsakts

der EU oder einer Bestimmung des Abkommens auf, deren Anwendung unionsrecht-

liche Begriffe impliziert, und

(ii)

ist die Auslegung dieser Bestimmung für die Streit-

beilegung relevant und

(iii)

für seine Entscheidungsfindung notwendig, so legt das

SchG die Frage dem EuGH vor. Der Entscheid, ob die Voraussetzungen für die An-

rufung des EuGH erfüllt sind, liegt immer beim SchG. Der EuGH kann entsprechend

nicht von sich aus in einem Schiedsgerichtsverfahren intervenieren. Da die Binnen-

marktabkommen nicht auf Schweizer Recht gründen, ist es im Übrigen weder vorge-

sehen noch erforderlich, dass das SchG dem Bundesgericht Fragen unterbreitet.

Nach der Aufzählung der Fälle, in denen das SchG den EuGH anruft, wird ein Fall

genannt, bei dem das SchG den EuGH nicht anrufen kann (Art. 10 Abs. 3, Unterabs.

2, IP-LuftVA):

(i)

Wenn die Streitigkeit eine Frage zur Auslegung oder Anwendung

einer Bestimmung aufwirft, die in den Anwendungsbereich einer Ausnahme fällt, und

(ii)

wenn die Streitigkeit nicht die Auslegung oder Anwendung von unionsrechtlichen

Begriffen impliziert, so entscheidet das SchG den Fall, ohne den EuGH anzurufen.

Diese Hypothese dient nur als Beispiel. Das SchG kann den EuGH nur anrufen, wenn

die im vorhergehenden Absatz genannten Bedingungen erfüllt sind. Dies gilt insbe-

sondere, wenn es um die Auslegung oder Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze

wie der Verhältnismässigkeit im Zusammenhang mit Ausnahmen von der dynami-

schen Rechtsübernahme geht. In diesem Fall stellen die allgemeinen Rechtsgrund-

sätze keine unionsrechtlichen Begriffe dar, und eine Anrufung des EuGH durch das

SchG bezüglich ihrer Auslegung oder Anwendung ist ausgeschlossen.

Wenn das SchG dem EuGH eine Auslegungsfrage vorlegt, ist dessen Entscheidung,

die lediglich die Auslegung des EU-Rechts betrifft, für das SchG bindend, und das

SchG bleibt für die Beilegung der Streitigkeit in der Hauptsache zuständig (Art. 10

Abs. 4 Bst. a IP-LuftVA). Der EuGH entscheidet im Rahmen des Streitbeilegungs-

mechanismus daher über keinen Streitfall, es ist immer das SchG, das diesen Ent-

scheid fällt. Beim Verfahren vor dem EuGH zur Klärung der vom SchG vorgelegten

83 / 931

Frage gelten die üblichen Verfahrensregeln des EuGH auch für die Schweiz (Art. 10

Abs. 4 Bst. b IP-LuftVA).

Zum Vergleich gilt es darauf hinzuweisen, dass die Rolle des EuGH im Rahmen der

Streitbeilegung gemäss den neuen institutionellen Elementen begrenzter ist als dieje-

nige die schon heute im LuftVA vorgesehen ist. Dieses Abkommen enthält nämlich

in eng begrenzten Bereichen seit über 25 Jahren Kompetenzen für den EuGH insbe-

sondere gegenüber schweizerischen Privatpersonen und Wirtschaftsakteuren.

Die Einzelheiten des Verfahrens vor dem SchG sind – je nach Struktur der Abkommen

– in Anlagen oder Protokollen geregelt. Die Regeln entsprechen im Wesentlichen dem

internationalen Recht in diesem Bereich. So bestimmen die Schweiz und die EU je

die gleiche Anzahl Schiedsrichter (Art. II.2 Abs. 1 und 2 der Anlage des IP-LuftVA

über das Schiedsgericht [AnlSchG-IP-LuftVA]). Sind drei Schiedsrichter zu bestel-

len, so bezeichnet jede Partei einen Schiedsrichter. Sind fünf Schiedsrichter zu bestel-

len, so bezeichnet jede Partei zwei Schiedsrichter. Die von den Parteien ernannten

Schiedsrichter ernennen ihrerseits gemeinsam den letzten Schiedsrichter, welcher die

Funktion der Präsidentin oder des Präsidenten des SchG wahrnimmt. Dabei stützen

sie sich auf eine Liste von qualifizierten Personen, die vorab von der Schweiz und der

EU im GA vereinbart wurde. Diese indikative Liste ist jedoch nicht verbindlich

(Art. II.2 Abs. 4 AnlSchG-IP-LuftVA). Für das Verfahren wurden Fristen festgelegt.

Das SchG muss seinen Entscheid grundsätzlich innerhalb von zwölf Monaten nach

seiner Bestellung fällen (Art. III.8 Abs. 2 AnlSchG-IP-LuftVA). Das SchG ist be-

strebt, seine Entscheide per Konsens zu fällen. Ist dies nicht möglich, entscheidet es

per Mehrheitsentscheid (Art. IV.1 AnlSchG-IP-LuftVA). Die mündlichen Verhand-

lungen vor dem SchG sind öffentlich, ausser es bestehen wichtige Gründe, die dage-

gensprechen (Art. III.12 Abs. 2 AnlSchG-IP-LuftVA). Die Entscheide des SchG sind

in jedem Fall öffentlich zugänglich, wobei die einschlägigen Bestimmungen über den

Datenschutz, das Berufsgeheimnis und die berechtigten Interessen der Vertraulichkeit

zu beachten sind (Art. IV.2 Abs. 4 AnlSchG-IP-LuftVA).

Die Anlagen bzw. Protokolle regeln auch die Einzelheiten der Anrufung des EuGH

durch das SchG. Die Parteien dürfen nicht direkt an den EuGH gelangen, sondern

müssen die Anrufung des EuGH beim SchG beantragen. Der Entscheid darüber ob-

liegt allein dem SchG. Lehnt das SchG den Einbezug des EuGH ab, so begründet es

seine Entscheidung (Art. III.9 Abs. 3 AnlSchG-IP-LuftVA). Der Antrag des SchG an

den EuGH hat den konkreten unionsrechtlichen Begriff zu enthalten, den der EuGH

auslegt (Art. III.9 Abs. 4 Bst. c AnlSchG-IP-LuftVA). Das SchG kann also den EuGH

nicht ersuchen, eine Bestimmung eines Binnenmarktabkommens als Ganzes auszule-

gen, sondern nur einen darin enthaltenen unionsrechtlichen Begriff. Die Fristen für

den Entscheid des SchG werden bis zum Urteil des EuGH ausgesetzt (Art. III.9

Abs. 2, Unterabs. 2, AnlSchG-IP-LuftVA), was das Verfahren erheblich verlängern

kann (als Anhaltspunkt, ähnliche Verfahren vor dem EuGH, sogenannte Vorabent-

scheidungsverfahren, dauerten durchschnittlich 16,8 Monate [Stand 2023]).

Bei der Streitbeilegung stützt sich das SchG auf das Abkommen, auf die Rechtsakte

der EU, auf die darin Bezug genommen wird, und auf die Regeln des Völkerrechts,

die für die Anwendung dieser Instrumente relevant sind, darunter insbesondere die

Bestimmungen über die Staatenverantwortlichkeit (Art. IV.3 Abs. 1 AnlSchG-IP-

LuftVA).

84 / 931

Die Parteien verpflichten sich, die notwendigen Massnahmen zu ergreifen, um den

Entscheid des SchG nach Treu und Glauben Folge zu leisten (Art. 10 Abs. 5 IP-

LuftVA). Die Partei, die gemäss SchG gegen das Abkommen verstossen hat, teilt der

anderen Partei über den GA die Massnahmen mit, die sie ergriffen hat, um dem Ent-

scheid des SchG Folge zu leisten. Beim Entscheid des SchG handelt es sich also um

einen Feststellungsentscheid. Dies bedeutet im Falle eines Streitfalls in Bezug auf die

Verpflichtung, einen EU-Rechtsakt in das Abkommen zu integrieren, dass der Ent-

scheid des SchG allein nicht zur Folge hat, dass der EU-Rechtsakt in das Abkommen

aufgenommen wird, sondern dass das übliche Übernahmeverfahren durchlaufen wer-

den muss, bei dem eine Zustimmung beider Parteien im GA erforderlich ist. Es ist

also immer Sache der Parteien, den Entscheid des SchG gemäss ihren eigenen Ver-

fahren umzusetzen, auch bei einem Streit über die Frage, ob ein EU-Rechtsakt inte-

griert werden muss oder nicht (s. Ziff. 2.1.5.2.2).

2.1.5.4.3

Ausgleichsmassnahmen

Der neue Streitbeilegungsmechanismus sieht vor, dass jede Partei unter bestimmten

Voraussetzungen Ausgleichsmassnahmen gegenüber der anderen Partei ergreifen

kann. Dieses Konzept ist jedoch nicht neu. Es ist vor allem im Handelsrecht verbreitet,

etwa im Recht der Welthandelsorganisation oder in Investitionsabkommen. So hat die

Schweiz beispielsweise Freihandelsabkommen mit Kanada

63

, Indonesien

64

, China

65

und der Türkei

66

abgeschlossen, die Ausgleichsmassnahmen vorsehen. Auch die Bin-

nenmarktabkommen sehen bereits gewisse Instrumente wie Massnahmen zur Wieder-

herstellung des Gleichgewichts, befristete Schutzmassnahmen und die Aussetzung der

Anwendung des betroffenen Anhangs vor, wenn zwischen den Parteien Uneinigkeit

über die Einhaltung der Verpflichtungen aus den Abkommen besteht (s. Ziff. 2.1.2.1).

Die Ausgleichsmassnahmen stellen keine Sanktionen dar und haben keinen Strafcha-

rakter. Sie dienen dazu, ein allfälliges Ungleichgewicht zwischen den Rechten und

Pflichten der Parteien zu beheben, wenn diese eine Streitigkeit nicht auf andere Weise

beilegen können.

Merkmale

Leistet eine Partei dem Entscheid des SchG keine Folge oder stehen die getroffenen

Umsetzungsmassnahmen nach Ansicht der anderen Partei nicht in Einklang mit dem

Entscheid des SchG, kann die andere Partei Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Die

Ausgleichsmassnahmen müssen verhältnismässig sein. Sie dürfen nur im Rahmen des

vom Entscheid des SchG betroffenen Abkommens oder im Rahmen eines anderen

Binnenmarktabkommens (mit Ausnahme des Agrarteils des Landwirtschaftsabkom-

mens [s. Ziff. 2.1.1]; «c

ross-retaliation

»]) getroffen werden. Ausgleichsmassnahmen

dienen dazu, ein allfälliges Ungleichgewicht zu beheben, das durch die Nichtbeach-

tung des Entscheids des SchG entstanden ist. Sie haben also keinen Strafcharakter

(Art. 11 Abs. 1 IP-LuftVA).

63

SR

0.632.312.32

64

SR

0.632.314.271

65

SR

0.946.292.492

66

SR

0.632.317.631

85 / 931

Ausgleichsmassnahmen dürfen nicht rückwirkend sein. Dies bedeutet, dass die erwor-

benen Rechte und Pflichten von Privatpersonen und Wirtschaftsakteuren bestehen

bleiben (Art. 11 Abs. 4 IP-LuftVA).

Mit der Möglichkeit von Ausgleichsmassnahmen führt der Streitbeilegungsmechanis-

mus also ein Verfahren ein, das es den Parteien erlaubt, mit Situationen umzugehen,

in denen eine Partei ihren Verpflichtungen aus den Binnenmarktabkommen nicht

nachkommt, und das Gleichgewicht der Rechte und Pflichten zwischen den Parteien

im Rahmen dieser Abkommen wiederherzustellen. So sind die Parteien stets ver-

pflichtet, ihren Verpflichtungen aus den Abkommen nachzukommen und die Ent-

scheide des SchG nach Treu und Glauben umzusetzen. Der Streitbeilegungsmecha-

nismus selbst sieht jedoch die Möglichkeit für die Parteien vor, von einer spezifischen

Verpflichtung aus einem Binnenmarktabkommen abzuweichen, wenn sie dies für not-

wendig erachten, sofern sie im Gegenzug akzeptieren, dass die andere Partei Aus-

gleichsmassnahmen ergreifen kann. Dieser Mechanismus stellt eine wichtige Neue-

rung in den Binnenmarktabkommen dar.

Vorgehen

Diejenige Partei, die beabsichtigt, Ausgleichsmassnahmen zu ergreifen, muss dies der

anderen mitteilen und angeben, um welche Massnahmen es sich handelt. Die Mass-

nahmen haben eine automatische aufschiebende Wirkung von drei Monaten ab ihrer

Notifikation, das heisst, sie dürfen in diesen drei Monaten nicht umgesetzt werden

(Art. 11 Abs. 1 IP-LuftVA). Nach der Notifikation haben die Parteien eine Frist von

einem Monat, um innerhalb des GA eine Lösung zu finden. Falls der GA innerhalb

dieser Frist nicht beschliesst, die Massnahmen auszusetzen, zu ändern oder aufzuhe-

ben, kann die Partei, gegen die sich die Massnahmen richten, die Frage deren Verhält-

nismässigkeit dem SchG unterbreiten (Art. 11 Abs. 2 IP-LuftVA).

Die Parteien können ab Beginn des Schiedsverfahrens beantragen, dass die aufschie-

bende Wirkung von drei Monaten verlängert wird (Art. III.10 Abs. 1 AnlSchG-IP-

LuftVA). In diesem Fall muss das SchG innerhalb eines Monats anhand von klar de-

finierten Kriterien entscheiden, ob es die aufschiebende Wirkung verlängert, grund-

sätzlich bis zu seinem endgültigen Entscheid zur Verhältnismässigkeit (Art. III.10

Abs. 4 und 7 AnlSchG-IP-LuftVA). Die Aussetzung der Fristen, die üblicherweise für

Fälle gelten, in denen das SchG eine Frage dem EuGH unterbreitet, findet keine An-

wendung in Verfahren über die aufschiebende Wirkung, was

de facto

ausschliesst,

dass das SchG dem EuGH eine Frage in diesem Rahmen vorlegen kann (Art. III.10

Abs. 5 AnlSchG-IP-LuftVA). Die Kriterien für den Entscheid des SchG sind:

(i)

Prima-facie

-Prüfung der Argumente der Partei, welche die Aussetzung beantragt,

durch das SchG,

(ii)

Abklärung, ob die Partei, welche die Aussetzung beantragt, ohne

Aussetzung einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden erleiden

würde, und

(iii)

Abklärung, ob der Schaden, welcher der die Aussetzung beantragen-

den Partei entsteht, schwerer wiegt als das Interesse an einer sofortigen und wirksa-

men Anwendung der Massnahmen (Art. III.10 Abs. 4 AnlSchG-IP-LuftVA). Dies

sind die üblichen Kriterien, wenn eine gerichtliche Behörde prüft, ob vorläufige Mas-

snahmen ergriffen werden müssen. Bei der Prüfung dieser Kriterien muss das SchG

nicht nur die Interessen der Schweiz und der EU als solche berücksichtigen, sondern

auch die Interessen von Privatpersonen und Wirtschaftsakteuren (Art. III.10 Abs. 8

AnlSchG-IP-LuftVA).

86 / 931

Das beschriebene Verfahren führt dazu, dass die Partei, die von den Ausgleichsmass-

nahmen betroffen ist, immer noch das SchG anrufen kann, um einen ersten Entscheid

desselben über die Verlängerung der aufschiebenden Wirkung der Massnahmen zu

erwirken, bevor diese in Kraft treten. Dabei gilt zu beachten, dass der Antrag auf auf-

schiebende Wirkung zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens gestellt werden kann

(Art. III.10 Abs. 1 AnlSchG-IP-LuftVA).

Das SchG muss seinen endgültigen Entscheid über die Verhältnismässigkeit der Aus-

gleichsmassnahmen innerhalb von sechs Monaten seit der Notifikation der Massnah-

men treffen (Art. III.8 Abs. 4 AnlSchG-IP-LuftVA). Diese Frist könnte ausgesetzt

werden, falls das SchG dem EuGH eine Frage unterbreitet (Art. III.9 Abs. 2, Unterabs.

2, AnlSchG-IP-LuftVA). Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass das SchG eine solche

Frage stellt, weil kaum je EU-Rechtsbegriffe betroffen sein werden. Insbesondere die

Frage der Verhältnismässigkeit von Ausgleichsmassnahmen ist nicht dem EU-Recht

eigen, sondern gehört zum Völkerrecht. Gemäss Völkerrecht bedeutet die Verhältnis-

mässigkeit einen rationalen und vernünftigen Mitteleinsatz zur Erreichung eines zu-

lässigen Ziels, ohne dass unnötig in die geschützten Rechte des Einzelnen oder eines

anderen Staates eingegriffen wird. Die Verhältnismässigkeit bezieht sich also haupt-

sächlich auf das Verhältnis zwischen den Mitteln und dem Ziel einer Massnahme. Da

die in den Abkommen vorgesehenen Ausgleichsmassnahmen den Zweck haben, das

Gleichgewicht zwischen den Rechten und Pflichten der Parteien im Rahmen ihrer

Teilnahme am Binnenmarkt wiederherzustellen, müssen verhältnismässige Aus-

gleichsmassnahmen dieser wirtschaftlichen Logik der Teilnahme am Binnenmarkt

entsprechen.

2.1.5.4.4

Zusammenarbeit zwischen Gerichten

Das Bundesgericht und der EuGH richten einen Dialog ein, um die einheitliche Aus-

legung des Rechts im Zusammenhang mit den Binnenmarktabkommen zu fördern.

Sie müssen die Modalitäten dieses Dialogs gemeinsam festlegen (Art. 12 Abs. 1 IP-

LuftVA).

Beim Dialog handelt es sich um einen Austausch «auf Augenhöhe», ohne dass eine

hierarchische Beziehung zwischen Bundesgericht und EuGH besteht. Das Bundesge-

richt ist insbesondere weder verpflichtet noch befugt, dem EuGH Auslegungsfragen

zur Vorabentscheidung zu unterbreiten (im Gegensatz zu den Gerichten der EU-

Mitgliedstaaten).

2.1.5.4.5

Einreichung von Schriftsätzen und Stellungnahmen

Dagegen kann die Schweiz beim EuGH Schriftsätze einreichen oder schriftliche Stel-

lungnahmen abgeben, wenn ein Gericht eines Mitgliedstaats der EU dem EuGH eine

Frage zur Auslegung des Abkommens oder einer darin aufgeführten Bestimmung ei-

nes Rechtsakts der EU zur Vorabentscheidung vorlegt (Art. 12 Abs. 2 IP-LuftVA).

Damit verfügt die Schweiz über ein wirksames Instrument, um die Rechtsprechung

des EuGH in den für sie relevanten Bereichen zu beeinflussen. Dieses Instrument lässt

sich mit dem Mitspracherecht (

Decision Shaping

) bei der dynamischen Rechtsüber-

nahme vergleichen. Die Schweiz verfügt bereits im Bereich der Schengen/Dublin-

Assoziierung über ein solches Instrument.

87 / 931

2.1.5.4.6

Umsetzung der Verfahren zur Streitbeilegung und zur

Einreichung von Schriftsätzen und Stellungnahmen

Die oben beschriebenen Verfahren zur Streitbeilegung und zur Einreichung von

Schriftsätzen und Stellungnahmen werden gemäss den geltenden Kompetenzregelun-

gen innerhalb der Bundesverwaltung umgesetzt. Die Zusammensetzung der GA wird

nicht geändert. Zuständig für die Vertretung der Schweiz und die Festlegung deren

Position im Rahmen des Schiedsverfahrens und der Einreichung von Schriftsätzen

und Stellungnahmen beim EuGH sind die für den Fachbereich des betreffenden Ab-

kommens verantwortlichen Departemente und das EDA. Das EJPD wird eng mitein-

bezogen und ist dafür verantwortlich, für die Kohärenz mit dem innerstaatlichen

Recht zu sorgen und die rechtliche Begleitung der zuständigen Departemente bei der

Ausarbeitung der rechtlichen Aspekte der Stellungnahmen zuhanden des EuGH si-

cherzustellen. Die verschiedenen involvierten Ämter vereinbaren zu einem späteren

Zeitpunkt und unter Berücksichtigung der jeweiligen Zuständigkeiten die Hauptver-

antwortung für das Verfassen und Einreichen solcher Stellungnahmen. Das SECO

(WBF) wird bei beihilferechtlichen Fragestellungen von den für die jeweils betroffe-

nen Abkommen zuständigen Ämtern beigezogen. Die Kantone werden regelmässig

informiert und eng einbezogen, wenn die Streitbeilegungsverfahren und die Einrei-

chung von Schriftstücken und Stellungnahmen im Rahmen von Vorabentscheidungs-

verfahren ihre Zuständigkeitsbereiche berühren (s. Ziff. 2.1.7.2).

2.1.5.5

Weitere Bestimmungen

2.1.5.5.1

Finanzbeitrag

Die Schweiz kann dank den Binnenmarktabkommen an verschiedenen Agenturen, In-

formationssystemen und anderen Aktivitäten der EU teilnehmen. Es ist daher nur lo-

gisch, dass sich die Schweiz an deren Finanzierung beteiligt.

Diese Beteiligung setzt sich aus einem operativen Beitrag und einer Teilnahmegebühr

zusammen (Art. 13 IP-LuftVA). Die Modalitäten des Finanzbeitrags sind in einem

Anhang präzisiert (Anhang betreffend die Anwendung von Artikel13 des Protokolls

[AFB-IP-LuftVA]). Die entsprechenden Beträge werden jedes Jahr auf der Grundlage

eines Beitragsschlüssels berechnet, der auf dem Bruttoinlandsprodukt der Schweiz

und der EU basiert (Art. 13 Abs. 3 bis 7 IP-LuftVA). Falls die Schweiz sich nur an

einigen Aktivitäten einer Agentur beteiligt, kann der operative Beitrag entsprechend

angepasst werden. In diesem Fall muss ausdrücklich festgehalten werden, an welchem

Teil des Agenturbudgets sich die Schweiz beteiligt (Art. 13 Abs. 6 IP-LuftVA und

Art. 1 AFB-IP-LuftVA). Der GA überprüft die Teilnahmebedingungen und insbeson-

dere die Teilbeiträge an das Budget der Agenturen alle drei Jahre, um sicherzustellen,

dass sie der effektiven Beteiligung der Schweiz entsprechen (Art. 13 Abs. 12 IP-

LuftVA). Auf Wunsch der Schweiz werden geltende Vereinbarungen, die Finanzbei-

träge der Schweiz an Agenturen, Informationssysteme und andere Aktivitäten der EU

vorsehen, nicht angepasst (Art. 4 AFB-IP-LuftVA).

88 / 931

2.1.5.5.2

Bezugnahmen auf Gebiete und Staatsangehörige sowie

Bestimmungen zum Inkrafttreten und zur Durchführung

und zu den Adressaten in den EU-Rechtsakten

Da die Rechtsakte der EU nicht so abgefasst sind, dass sie die Schweiz einschliessen,

müssen sie im bilateralen Kontext Schweiz–EU mit gewissen standardisierten Anpas-

sungen gelesen werden. So sind Bezugnahmen auf das Gebiet der EU, des gemeinsa-

men Markts und des Binnenmarkts sowie auf Staatsangehörige der EU-

Mitgliedstaaten als Bezugnahmen auf das Gebiet und die Staatsangehörigen der

Schweiz zu verstehen (Art. 14 und 15 IP-LuftVA). Ebenso sind die Bestimmungen

der EU-Rechtsakte über deren Inkrafttreten und Durchführung im Rahmen der Bin-

nenmarktabkommen nicht anwendbar, da diese Fragen in den Bestimmungen über die

dynamische Rechtsübernahme (Art. 5 Abs. 8 und Art. 6 Abs. 5 IP-LuftVA) speziell

geregelt werden und die Parteien diesbezüglich spezifische Vereinbarungen im GA

beschliessen können (Art. 16 IP-LuftVA). Auch die Bestimmungen in EU-

Rechtsakten, die ausdrücklich festhalten, dass der in Frage stehende Rechtsakte an die

Mitgliedstaaten der EU gerichtet ist, finden im bilateralen Kontext Schweiz–EU keine

Anwendung (Art. 17 IP-LuftVA).

2.1.5.6

Schlussbestimmungen

Die institutionellen Bestimmungen umfassen zudem die üblichen Umsetzungs-, Än-

derungs- und Kündigungsbestimmungen (Art. 18 und 20 IP-LuftVA). Insbesondere

können die institutionellen Protokolle zu den bestehenden Binnenmarktabkommen

nicht getrennt von den Abkommen selbst gekündigt werden.

Die Bestimmungen zum Inkrafttreten wurden von der Verhandlungsgruppe «Institu-

tionelle Bestimmungen und andere Fragen» für alle Instrumente des Pakets Schweiz–

EU transversal verhandelt. Das Paket umfasst dabei zwei Teile: einen Stabilisie-

rungsteil und einen Weiterentwicklungsteil. Zum Stabilisierungsteil gehören die In-

strumente betreffend die bestehenden Binnenmarktabkommen (Änderungsprotokolle,

institutionelle Protokolle und Protokolle über staatliche Beihilfen), das Beitragsab-

kommen, das Programmabkommen und das EUSPA-Abkommen. Der Weiterent-

wicklungsteil umfasst das Stromabkommen, das Gesundheitsabkommen und das Pro-

tokoll zur Lebensmittelsicherheit. Die Instrumente des Stabilisierungsteils sind

miteinander verknüpft und müssen gleichzeitig in Kraft treten (Art. 19 IP-LuftVA).

Wenn eines nicht in Kraft gesetzt werden kann, können auch die anderen nicht in Kraft

treten. Die Instrumente des Weiterentwicklungsteils sind dagegen nicht miteinander

verknüpft. Jedes dieser Instrumente kann unabhängig von den anderen in Kraft treten,

sofern die Instrumente des Stabilisierungsteils in Kraft gesetzt werden können

(Art. 50 Stromabkommen, Art. 33 Protokoll zur Lebensmittelsicherheit und Art. 26

Gesundheitsabkommen). Der Stabilisierungsteil des Pakets kann hingegen auch dann

in Kraft treten, wenn ein oder mehrere Abkommen des Weiterentwicklungsteils des

Pakets abgelehnt werden.

89 / 931

2.1.5.7

Bestimmungen über den GA, den räumlichen

Geltungsbereich, die Rechte und Pflichten der

Mitgliedstaaten sowie die Vorrechte und Befreiungen

Die Verhandlungsgruppe «Institutionelle Bestimmungen und andere Fragen» verhan-

delte auch über weitere Bestimmungen, die nicht direkt zu den institutionellen Ele-

menten gehören. Ziel ist es, diese Bestimmungen übergreifend für die Instrumente des

Pakets Schweiz—EU zu aktualisieren und zu vereinheitlichen, wo dies sinnvoll ist.

Die Bestimmung betreffend den GA wurde vereinheitlicht (Art. 1 Abs. 1 Bst. d ÄP-

LuftVA). Die Bestimmung betreffend den räumlichen Geltungsbereich der Abkom-

men wurde aktualisiert, wobei die Verweise auf den Vertrag zur Gründung der Euro-

päischen Gemeinschaft durch Verweise auf den Vertrag über die Europäische Union

und den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ersetzt wur-

den (Art. 1 Abs. 1 Bst. f ÄP-LuftVA). Die Bestimmungen betreffend die Vorrechte

und Befreiungen wurden aktualisiert, um dem Protokoll Nr. 7 zum AEUV materiell

Rechnung zu tragen, jedoch in einer Weise, die den bilateralen Beziehungen zwischen

der Schweiz und der EU entspricht (Art. 1 Abs. 2 Bst. c Punkt (ii) ÄP-LuftVA sowie

Anlage zum ÄP-LuftVA). Für den Fall, dass das Protokoll Nr. 7 in Zukunft geändert

werden sollte, verpflichten sich die Parteien, die Bestimmungen betreffend die Vor-

rechte und Befreiungen zu aktualisieren.

Schliesslich ist auch vorgesehen, dass die Rechte und Pflichten, die in den in den An-

hängen der Binnenmarktabkommen integrierten Rechtsakten der EU für die Mitglied-

staaten vorgesehen sind, so zu verstehen sind, dass sie auch für die Schweiz vorgese-

hen sind, sofern der GA in den technischen Anpassungen nichts anderes bestimmt hat.

Dabei sind jedoch die Regeln des institutionellen Protokolls zu beachten (Art. 1

Abs. 2 Bst. a ÄP-LuftVA). Diese Bestimmung soll die Anwendung von EU-

Rechtsakten im Kontext der bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der

EU erleichtern, hat aber keinen Vorrang vor den institutionellen Bestimmungen, ins-

besondere Art. 8 IP-LuftVA. Die Beziehung zwischen der Bestimmung über die

Rechte und Pflichten und Artikel 8 IP-LuftVA wird grundsätzlich in den technischen

Anpassungen geregelt. Werden keine technischen Anpassungen vorgenommen oder

regeln diese das Verhältnis nicht, so gilt die Regel von Artikel 8 IP-LuftVA, das

heisst, jede Partei ist für die Überwachung und Durchsetzung in ihrem eigenen Ho-

heitsgebiet zuständig. Bei der künftigen Integration von EU-Rechtsakten muss der

GA technische Anpassungen beschliessen, um die Beziehung zwischen der Bestim-

mung über die Rechte und Pflichten und dem institutionellen Protokoll, insbesondere

Artikel 8 IP-LuftVA, zu regeln.

2.1.6

Umsetzungserlass

Es ist kein Umsetzungserlass für die institutionellen Elemente vorgesehen

(s. Ziff. 2.1.8.2 zum Einbezug der Kantone).

2.1.7

Auswirkungen des Paketelements

Die institutionellen Elemente sollen in erster Linie die sektorielle Teilnahme der

Schweiz am EU-Binnenmarkt sicherstellen. Mit Bezug auf die Weiterentwicklung des

90 / 931

Rechts sollen sie verhindern, dass die jeweiligen Rechtsordnungen divergieren. Ins-

besondere die Regeln zur dynamischen Rechtsübernahme und zur einheitlichen Aus-

legung verstärken die Rechtssicherheit. Der Streitbeilegungsmechanismus mit Aus-

gleichsmassnahmen ermöglicht einen geordneten Prozess zur Lösung von

Differenzen zwischen den Parteien und schützt die Schweiz vor willkürlichen Retor-

sionsmassnahmen. Durch das

Decision Shaping

und die Einreichung von Schriftsät-

zen und Stellungnahmen beim EuGH kann die Schweiz Einfluss auf die Rechtset-

zungs- und Rechtsprechungsprozesse der EU nehmen.

Die institutionellen Elemente wahren die Bundesverfassung

67

(BV), die politischen

Rechte und den Föderalismus. Das Verfahren für die dynamische Rechtsübernahme

steht im Einklang mit den bestehenden innerstaatlichen Verfahren. Die Schweiz kennt

übrigens bereits im Bereich der Schengen/Dublin-Assoziierung eine dynamische

Rechtsübernahme. Was den Streitbeilegungsmechanismus betrifft, so kann der EuGH

nicht von sich aus in ein Verfahren eingreifen. Er kann nur auf Ersuchen des SchG

tätig werden, ist lediglich zuständig für die Auslegung des EU-Rechts und entscheidet

nicht in der Hauptsache selbst. Es ist immer das SchG, welches diesen Entscheid fällt.

Ausserdem ist eine Implikation des EuGH im Bereich der bilateralen Abkommen

nichts Neues. So ist sie insbesondere im LuftVA bei Fragen des Wettbewerbsrechts

vorgesehen. Die Rechtsprechung des EuGH spielt zudem bereits im Rahmen der As-

soziierung an Schengen/Dublin eine zentrale Rolle, mit potenziell einschneidenden

Folgen bei diesbezüglicher Uneinigkeit (automatischer Wegfall der Schengen-Asso-

ziierung der Schweiz, sofern nichts anderes vereinbart). Auch Ausgleichsmassnah-

men sind kein völlig neues Konzept. Ähnliche und sogar einschneidendere Instru-

mente gibt es bereits in den bestehenden bilateralen Abkommen zwischen der

Schweiz und der EU, z. B. im LandVA, im LuftVA, im MRA oder im Bereich der

Schengen/Dublin-Assoziierung. Diese Instrumente haben bisher nie zu Problemen ge-

führt, im Gegensatz zu den Retorsionsmassnahmen, die ausserhalb eines Rechtsrah-

mens erfolgen, wie sie zwischen der Schweiz und der EU im Bereich des MRA oder

der Börsenäquivalenz ergriffen wurden. Mit den institutionellen Elementen sollen ge-

rade solche willkürlichen Retorsionsmassnahmen verhindert werden.

Alles in allem stehen die institutionellen Elemente im Einklang mit den in den bilate-

ralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU bereits bestehenden Lösungen.

Es handelt sich um keine grundlegende Änderung dieser Beziehungen. Die institutio-

nellen Elemente haben also keinen verfassungsrechtlichen Charakter. Sie dienen der

Umsetzung des Ziels des Bundesrates, die Beziehungen zwischen der Schweiz und

der EU zu stabilisieren und weiterzuentwickeln.

Die konkreten Auswirkungen der institutionellen Elemente werden vor allem in den

Abschnitten des erläuternden Berichts beschrieben, die sich auf die Abkommen be-

ziehen, in die sie integriert werden. Im Folgenden werden lediglich die Auswirkungen

der transversalen institutionellen Elemente erläutert, die nicht mit einem spezifischen

Abkommen verknüpft werden können.

67

SR

101

91 / 931

2.1.7.1

Auswirkungen auf den Bund

Die institutionellen Elemente sehen Instrumente vor, die es der Schweiz ermöglichen,

ihre Interessen im Rahmen der Rechtsetzungs- und Rechtsprechungsprozesse der EU

besser zu verteidigen, vor allem

(i)

das Mitspracherecht (

Decision Shaping

) im Rah-

men der dynamischen Rechtsübernahme (s. Ziff. 2.1.5.2.1) und

(ii)

die Möglichkeit

der Schweiz, beim EuGH Schriftsätze einzureichen oder schriftliche Stellungnahmen

abzugeben, wenn ein Gericht eines Mitgliedstaats der EU dem EuGH eine Frage zur

Auslegung der Binnenmarktabkommen und des Gesundheitsabkommen oder einer

Bestimmung dieser Abkommen zur Vorabentscheidung vorlegt (s. Ziff. 2.1.5.4.5).

Die institutionellen Elemente umfassen zudem einen Streitbeilegungsmechanismus,

der es den Parteien erlaubt, ein SchG anzurufen, falls im Rahmen des GA keine poli-

tische Lösung für einen Streitfall gefunden werden kann.

Die vorerwähnten Instrumente und der Streitbeilegungsmechanismus sind neue Ele-

mente, die sich aus der Aufnahme der institutionellen Elemente in das Binnenmarkt-

abkommen und das Gesundheitsabkommen ergeben. Sie ziehen daher zusätzliche

Aufgaben nach sich. Damit die Schweiz ihre Interessen mit diesen Instrumenten und

dem Streitbeilegungsmechanismus optimal einbringen und verteidigen kann, müssen

die Kohärenz, Einheitlichkeit und Gesamtqualität ihrer Positionen aus politischer und

rechtlicher Sicht gewährleistet werden. Dafür ist das EDA verantwortlich, gemeinsam

mit den anderen sechs Departementen, die für die Themenbereiche zuständig sind, die

von den Binnenmarktabkommen und dem Gesundheitsabkommen abgedeckt werden

(s. Ziff. 2.1.5.2.3 und 2.1.5.4.6). Dies erfordert zwei bis vier Vollzeitstellen in der Ab-

teilung Europa des Staatssekretariats EDA –für das

Decision Shaping

, für die Einrei-

chung von Schriftstücken und Stellungnahmen beim EuGH und für die Streitbeile-

gung. Ohne diese zusätzlichen personellen Ressourcen ist es nicht möglich, die

Kohärenz, Einheitlichkeit und Gesamtqualität der Positionen der Schweiz sicherzu-

stellen. Der Einfluss der Schweiz auf den Rechtsetzungs- und Rechtsprechungspro-

zess der EU und die Verteidigung ihrer Interessen im Rahmen der Streitbeilegung

würden geschwächt. Im BJ (EJPD) werden zwei Vollzeitstellen benötigt, um die

Rechtsetzungsbegleitung im Rahmen des D

ecision Shaping

und der dynamischen

Rechtsübernahme sicherzustellen. In diesem Rahmen wird eine präventive Rechts-

kontrolle künftiger zu übernehmender Rechtsakte vor deren Verabschiedung und No-

tifikation an die Schweiz im GA sowie eine verstärkte Unterstützung der federführen-

den Ämter bei bereichsübergreifenden Rechtsfragen notwendig sein, vor allem in den

von den neuen Abkommen abgedeckten Bereichen, damit sichergestellt werden kann,

dass die dynamische Rechtsübernahme im Einklang mit den verfassungsrechtlichen

und gesetzlichen Bestimmungen der Schweiz und den in den Abkommen vorgesehe-

nen Verfahren erfolgt. Der Bundesrat wird den ausgewiesenen Ressourcenbedarf zu

gegebener Zeit überprüfen und darauf achten, dass ein allfälliger Mehrbedarf an Per-

sonalaufwand innerhalb des Eigenbereichs des Bundes kompensiert wird. Die Parla-

mentsdienste gehen davon aus, dass sie für mögliche neue Aufgaben im Zusammen-

hang mit dem

Decision Shaping

1,5 Vollzeitstellen benötigen (s. Ziff. 2.1.7.7). Für

die Auswirkungen auf die übrigen sechs Departemente, die für die von den Binnen-

marktabkommen und dem Gesundheitsabkommen abgedeckten Bereiche zuständig

sind, wird auf die Ausführungen zu den jeweiligen Abkommen verwiesen.

92 / 931

2.1.7.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf

urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

Die Kantone werden regelmässig informiert und eng einbezogen, wenn das

Decision

Shaping

, die Streitbeilegungsverfahren und die Einreichung von Schriftstücken und

Stellungnahmen beim EuGH ihre Zuständigkeitsbereiche berühren, was bei ihnen zu

einem erhöhten Bedarf an personellen Ressourcen führen dürfte. Die Modalitäten die-

ser Information und Beteiligung werden in einem späteren Abkommen geregelt, bei-

spielsweise durch eine Vereinbarung zwischen Bund und Kantonen, wie sie im Be-

reich der Schengen/Dublin-Assoziierung besteht.

68

Die institutionellen Elemente haben keine spezifischen Auswirkungen auf Gemein-

den, urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete.

2.1.7.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Die institutionellen Elemente stehen in einem direkten Zusammenhang mit der Teil-

nahme der Schweiz am Binnenmarkt der EU via die entsprechenden Abkommen. Als

solche haben sie daher keine spezifischen Auswirkungen auf die Wirtschaft. Aller-

dings ergeben sich die wirtschaftlichen Auswirkungen der Binnenmarktabkommen,

insbesondere des MRA und des Gesundheitsabkommens, auch aus den institutionel-

len Elementen. Sie werden daher in den Abschnitten des erläuternden Berichts zu die-

sen Abkommen erläutert.

2.1.7.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Die institutionellen Elemente haben keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Ge-

sellschaft.

2.1.7.5

Auswirkungen auf die Umwelt

Die institutionellen Elemente haben keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Um-

welt.

2.1.7.6

Auswirkungen auf das Initiativ- und Referendumsrecht

Für den Bundesrat war es bereits bei der Vorbereitung des Verhandlungsmandats

wichtig zu betonen, dass die Schweiz kein Ergebnis akzeptieren könne, welches zu

Abstrichen an den verfassungsmässigen Rechten und Kompetenzen führen würde

(s. Ziff. 2.1.3.3). Dieses Verhandlungsziel wurde erreicht.

Die durch die Bundesverfassung garantierten Initiativ- und Referendumsrechte

(Art. 136 Abs. 2 BV

69

) sind weiterhin in vollem Umfang gewährleistet. Weder die

einzelnen Abkommen noch die darin enthaltenen institutionellen Elemente verhin-

dern, dass eine Volksinitiative lanciert werden kann, die sich gegen die Übernahme

einer relevanten Weiterentwicklung des EU-Rechts in das betroffene Abkommen

richtet, sofern sie die bekannten verfassungsrechtlichen Gültigkeitsvoraussetzungen

68

Vereinbarung vom 20. März 2009 zwischen Bund und Kantonen betreffend Umsetzung,

Anwendung und Entwicklung des Schengen/Dublin-Besitzstands (SR 362.1)

69

SR

101

93 / 931

erfüllt. Ebenso wird gegen eine solche Rechtsübernahme bzw. ein in diesem Zusam-

menhang erforderliches neues Gesetz oder eine erforderliche Gesetzesanpassung wie

bisher das Referendum ergriffen werden können. Die verfassungsrechtlichen Quoren

und Fristen, die für die Ausübung dieser Rechte vorgesehen sind – 100 000 Stimmbe-

rechtigte, die innert 18 Monaten eine Initiative unterzeichnen müssen, bzw.

50 000 Stimmberechtigte, die innert 100 Tagen ihre Unterstützung für ein Referen-

dum bekunden können –, bleiben ebenfalls unverändert.

Die vorgesehenen Fristen für die Integration eines neuen EU-Rechtsakts in ein be-

troffenes Abkommen (s. Ziff. 2.1.6.2.2) sind so bemessen, dass im Falle einer Geneh-

migung durch das Parlament und gegebenenfalls durch das Volk die üblichen Verfah-

ren durchgeführt und das Referendumsrecht auch wirksam und rechtzeitig

wahrgenommen werden kann. Bei der Schengen/Dublin-Assoziierung, wo bereits

heute die dynamische Rechtsübernahme gilt und vergleichsweise häufig eine Weiter-

entwicklung des Schengen/Dublin-Besitzstandes vom Parlament genehmigt werden

muss und deshalb dem fakultativen Referendum unterstellt ist, funktioniert dies prob-

lemlos.

70

Die im Rahmen des Pakets diesbezüglich ausgehandelten Fristen sind sogar

noch länger als diejenigen, die im Bereich der Schengen/Dublin-Assoziierung gelten.

Die Schweiz wird durch die Mitwirkung am Rechtsetzungsverfahren innerhalb der

Europäischen Kommission

71

zudem frühzeitig erkennen können, ob der geplante neue

EU-Rechtsakt für die Schweiz heikle rechtssetzende Regelungen enthalten könnte und

allenfalls grössere gesetzgeberische Anpassungen erforderlich machen dürfte, was mit

einem erheblichen Referendumsrisiko verbunden wäre. Damit lässt sich auch für die

interessierten politischen Akteure die Zeit bis zur Verabschiedung der neuen EU-

Vorschriften so nutzen, dass ein Referendum gegen den Übernahmebeschluss rasch

ergriffen werden könnte.

Die institutionellen Elemente sind – neben der analogen Anwendung im Gesundheits-

abkommen – nur für Binnenmarktabkommen vorgesehen, mit deren Umsetzung, An-

wendung und Weiterentwicklung die Schweiz seit vielen Jahren vertraut ist. Auch

wenn diese Abkommen bisher statischer Natur waren, wurden die relevanten EU-

Rechtsentwicklungen dennoch regelmässig darin übernommen. Die betroffenen Ver-

waltungen und die politischen Akteure kennen die Vorgehensweisen und Handlungs-

möglichkeiten daher grundsätzlich. Am auf ausgewählte Sachgebiete beschränkten

Rahmen (sektorieller Ansatz) ändert sich zudem nichts. Der Bundesrat befürchtet da-

her keine nachteiligen Auswirkungen auf die Art und Weise, wie die Initiativ- und

Referendumsrechte wahrgenommen und zur Geltung gebracht werden können. Ob

und welche administrativen Anpassungen für die politische Praxis sinnvoll sein könn-

ten – wie etwa für den Informationsaustausch mit der Bundesversammlung oder bei

der Planung und Durchführung von Vernehmlassungen – wird sich noch zeigen müs-

sen.

70

Siehe bereits Botschaft über die Teilnahme der Schweiz an der Europäischen Agentur für

Flugsicherheit EASA, BBl

2005

3857. Zum Schengen-Besitzstand siehe Übernahme und

Umsetzung der Änderungen des Schengener Grenzkodex, worüber der Bundesrat am

26. Juni 2024 die Vernehmlassung eröffnet hatte.

71

Dass die Schweiz, anders als bei Schengen, sich nicht in den Debatten im Rat der EU be-

teiligen kann (s. Ziff. 2.1.6.2.1), stellt mit Blick auf die Initiativ- und Referendumsrechte

keinen Nachteil dar.

94 / 931

Am Recht der Kantone, Standesinitiativen einzureichen oder ein Kantonsreferendum

zu ergreifen, das acht Kantone gegen Bundesgesetze und bestimmte Bundesbe-

schlüsse erwirken können, ändern die institutionellen Elemente ebenfalls nichts. Die

Kantone können auch weiterhin von diesen verfassungsrechtlichen Möglichkeiten

Gebrauch machen, wenn sie gegen die Übernahme eines neuen EU-Rechtsakt in ein

betroffenes Abkommen bzw. allfällige damit zusammenhängende neue bundesgesetz-

liche Regelungen vorgehen wollen. Der Bund wird die Kooperation mit den Kantonen

ohnehin verstärken und analog zum Vorgehen bei der Schengen/Dublin-Assoziierung

institutionell absichern (s. Ziffer 2.1.7.2).

Die Neuerungen bei der Streitbeilegung inkl. Möglichkeit von Ausgleichsmassnah-

men haben schliesslich keine Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Initiativ- und

Referendumsrechte.

2.1.7.7

Andere Auswirkungen: Rolle des Parlaments

2.1.7.7.1

Allgemeine Erwägungen

Wie in Ziffer 2.1.7.2 in Bezug auf die Kantone dargelegt, sind die Verfahren im Zu-

sammenhang mit der dynamischen Rechtsübernahme und vor allem die Einführung

eines Instruments, das es der Schweiz erlaubt, ihre Interessen im Rahmen des Recht-

setzungsprozesses der EU (

Decision Shaping

) verstärkt einzubringen, auch eine Ge-

legenheit zu prüfen, wie das Parlament in diesem Kontext einbezogen werden kann.

Wie in Ziffer 1.5 erwähnt, wurden mehrere Motionen und Postulate eingereicht, in

denen der Bundesrat aufgefordert wird, das Parlament stärker in die Europapolitik

einzubinden. Die Motion 10.3005 der Aussenpolitischen Kommission (APK) des

Ständerats verlangt Massnahmen zur frühzeitigen Information des Parlaments über

relevante europäische Rechtsetzungsentwürfe. Im Zusammenhang mit dem Entwurf

des institutionellen Rahmenabkommens wurde der Bundesrat durch das Postu-

lat 18.3059 Nussbaumer beauftragt, einen Bericht über die Möglichkeiten einer ver-

stärkten Mitwirkung und Information des Parlaments in europapolitischen Angele-

genheiten vorzulegen. Die Motion 19.3170 Lombardi/Rieder forderte eine gesetzliche

Grundlage in Ergänzung zum institutionellen Rahmenabkommen, welche die Befug-

nisse des Parlaments bei der dynamischen Rechtsübernahme regelt. Diese Vorstösse

sind trotz der gescheiterten Verhandlungen über den Entwurf des institutionellen Rah-

menabkommens nach wie vor relevant.

Der Prozess der dynamischen Rechtsübernahme und insbesondere des

Decision

Shaping

der Schweiz wird in Ziffer 2.1.5.2 erläutert. Jetzt, wo die Verhandlungser-

gebnisse in Bezug auf die institutionellen Elemente vorliegen, kann der Bundesrat

eine Reihe von Massnahmen vorschlagen, um die Information und die Mitwirkung

des Parlaments in diesem Bereich zu verstärken und damit die Anliegen der drei vor-

erwähnten parlamentarischen Vorstösse zu erfüllen.

2.1.7.7.2

Mitwirkungsmöglichkeiten des Parlaments bei der

dynamischen Rechtsübernahme

Wie in Ziffer 2.1.5.2.1 zum

Decision Shaping

ausgeführt, kann die Schweiz bei

Rechtsetzungsarbeiten der EU mitwirken, die in die Zuständigkeit der Europäischen

Kommission fallen. Die Mitwirkung erfolgt durch die Einbindung der Schweiz in die

95 / 931

Ausarbeitung der Entwürfe für Rechtsakte der Europäischen Kommission, die Kon-

sultation von Sachverständigen der Schweiz analog zu jenen der EU-Mitgliedstaaten

sowie durch den Austausch zwischen der Schweiz und der EU im GA. Die Fristen,

innerhalb deren die Schweiz zu den Entwürfen der EU Stellung nehmen bzw. darauf

reagieren muss, sind schwer abzuschätzen und könnten stark variieren (von einigen

Tagen bis zu mehreren Monaten). Über das

Decision Shaping

hinaus kann die

Schweiz auch über Direktkontakte mit einzelnen Mitgliedstaaten oder dem Europäi-

schen Parlament Einfluss auf die Debatte in den Organen der EU nehmen.

Im Folgenden wird daher auf die zu prüfenden Möglichkeiten für eine verstärkte In-

formation bzw. Mitwirkung des Parlaments eingegangen. Betroffen sind die Bereiche,

auf welche die in diesem Kapitel erläuterten neuen institutionellen Elemente Anwen-

dung finden (bestehende und künftige Binnenmarktabkommen sowie Gesundheitsab-

kommen) und – innerhalb dieser Bereiche – die EU-Rechtsakte, deren Übernahme im

Rahmen des jeweiligen bilateralen Abkommens auch vom Parlament genehmigt wer-

den müsste. Zur Erinnerung: Die Mitwirkung des Parlaments im Bereich der Aussen-

politik ist vor allem in Artikel 152 Parlamentsgesetz (ParlG)

72

geregelt.

Mündliche Information

Die Traktandenliste der APK sieht standardmässig die Information der Kommissio-

nen über die «europapolitischen Aktivitäten» vor, wobei eine Delegation des EDA

und allfälliger anderer betroffener Departemente anwesend ist. Der Bundesrat will die

APK auch weiterhin regelmässig über aktuelle Entwicklungen in der Europapolitik

der Schweiz und über die Entwicklungen innerhalb der EU informieren, die für die

Schweiz relevant sind. Er ist bereit, einen stärkeren Fokus auf eine vorausschauende

Information über geplante Rechtsakte der EU zu legen, die die Schweiz im Rahmen

eines bilateralen Abkommens übernehmen müsste. Falls die Kommissionen dies wün-

schen, ist er auch bereit, punktuell über spezifische Rechtsakte zu informieren. Neben

den mit den APK etablierten Prozessen ist auch der Einbezug anderer thematischer

Kommissionen zu prüfen, die sich mit sektoriellen Themen im Zusammenhang mit

dem Paket befassen, bzw. diese könnten weiterhin Informationen von den zuständigen

Departementen über Entwicklungen des EU-Rechts anfordern, die für die Umsetzung

der spezifischen Abkommen relevant sind.

Schriftliche Information

Das EDA erstellt eine Informationstabelle zu den europapolitischen Entwicklungen

im Hinblick auf die Behandlung des Traktandums «Europapolitische Aktivitäten» an

den Sitzungen der APK. Es schlägt vor, in dieser Tabelle eine neue Rubrik mit den

für die Schweiz relevanten «künftigen» Rechtsakten der EU mit ihrem jeweiligen

Stand im Erarbeitungsprozess vorzusehen. Die Rechtsakte würden also in den ver-

schiedenen Phasen vom Vorentwurf bis zur endgültigen Verabschiedung in der Infor-

mationstabelle aufgeführt (z. B.: Vorschlag der Europäischen Kommission, Vor-

schlag des Rates und des Europäischen Parlaments, Einleitung des Trilogs, Einigung,

Verabschiedung). Diese Praxis besteht bereits im Bereich der Schengen/Dublin-As-

soziierung. Die Tabelle wird zudem weiterhin Informationen über Entwicklungen in

der EU enthalten, die keine direkten Auswirkungen auf die Schweiz haben (nicht von

72

SR

171.10

96 / 931

der dynamischen Rechtsübernahme betroffen sind), aber trotzdem in einem relevanten

europäischen Kontext stehen, etwa im Rahmen des «autonomen Nachvollzugs» von

EU-Recht.

Ständige Subkommission für Europafragen

Die APK des Nationalrats hat eine ständige Subkommission für Europafragen einge-

setzt, die den Auftrag hat, die Rechtsentwicklungen in der EU im Rahmen der bilate-

ralen Binnenmarktabkommen, der Assoziierungsabkommen wie Schengen/Dublin

sowie der Beteiligung der Schweiz an den Agenturen der EU und den Förderprogram-

men der EU zu verfolgen. Der Bundesrat ist bereit, die Zusammenarbeit mit der Sub-

kommission zu verstärken, wenn diese darum ersucht (mündliche Präsentation der für

die Schweiz direkt relevanten Rechtsakte der EU zuhanden der Subkommissionsmit-

glieder). Die Subkommission könnte sich auch über allfällige EU-Rechtsakte infor-

mieren, die die Schweiz bei der eigenen Rechtsetzung berücksichtigen möchte, auch

wenn sie nicht verpflichtet ist, diese im Rahmen eines bilateralen Abkommens zu

übernehmen («autonomer Nachvollzug» von EU-Recht, s. Postulat 11.3916 Nord-

mann und dazugehörige Stellungnahme des Bundesrates), um eine gezielte Informa-

tionspolitik zum Thema «autonomer Nachvollzug» zu entwickeln. Falls gewünscht,

könnten dieselben Informationen übrigens auch der APK des Ständerats in einem For-

mat ihrer Wahl zur Verfügung gestellt werden.

Entsendung einer Mitarbeiterin oder eines Mitarbeiters der Parlamentsdienste

Die Entsendung einer Mitarbeiterin oder eines Mitarbeiters der Parlamentsdienste

nach Brüssel wäre eine wirksame Möglichkeit, um eine direkte und frühzeitige Infor-

mation über die für die Schweiz relevanten Entwicklungen des EU-Rechts sicherzu-

stellen. Die entsendete Person könnte über Verfahren und Entwicklungen in der EU

Bericht erstatten, die für das Parlament von besonderem Interesse sind. Dabei kom-

men zwei Möglichkeiten infrage. Das Parlament könnte einerseits eine Person direkt

an das Europäische Parlament entsenden, wie es beispielsweise die norwegischen und

britischen Parlamentsdienste machen. Aufgrund ihrer Präsenz vor Ort hätte diese Per-

son einen privilegierten Zugang zum Europäischen Parlament und dessen Mitgliedern

und befände sich im Herzen des EU-Rechtsetzungsprozesses. Andererseits könnte das

Parlament eine Person in die Mission der Schweiz bei der EU entsenden. Damit

könnte ein privilegierter Kanal zwischen der Mission und dem Parlament etabliert

werden. Die entsendete Person wäre der Chefin/des Chefs der Mission unterstellt und

hätte materiell kein Mitbestimmungsrecht. Diese Lösung bedingt, dass die Gewalten-

trennung eingehalten wird und das Parlament die notwendige Finanzierung im Rah-

men seiner Kompetenzen sicherstellt. Die Modalitäten einer solchen Entsendung wür-

den von den Parlamentsdiensten und dem EP bzw. dem EDA unter Berücksichtigung

dieser Bedingungen geregelt, zum Beispiel in Form einer Vereinbarung oder eines

Vertrags.

Informationsreisen

Die jährlichen Informationsreisen der APK liegen in der Eigenkompetenz des Parla-

ments und müssen vom zuständigen Ratsbüro genehmigt werden. Eine oder mehrere

Informationsreisen nach Brüssel könnten die Information der APK-Mitglieder über

die in Vorbereitung befindlichen EU-Rechtsakte, die für die Schweiz relevant sind,

97 / 931

und allgemein über den Rechtsetzungsprozess in der EU fördern. Der Bundesrat ist

bereit, die Organisation solcher Informationsreisen zu unterstützen.

Parlamentarische Zusammenarbeit Schweiz–EU

Im Rahmen des Pakets Schweiz–EU ist eine verstärkte parlamentarische Zusammen-

arbeit zwischen der Schweiz und der EU in Form eines gemischten parlamentarischen

Ausschusses geplant (s. Ziff. 2.15). Dieser Ausschuss kann ebenfalls dazu beitragen,

die Information und Beteiligung des Parlaments in europapolitischen Angelegenhei-

ten zu fördern. Er würde privilegierte Kontakte zwischen Parlamentsmitgliedern und

einen direkten Austausch über Rechtsetzungsvorhaben der EU ermöglichen, die für

Schweizer Parlamentsmitglieder von Interesse sind. So könnten diese beantragen,

dass ein Traktandum zu den geplanten oder laufenden Rechtsentwicklungen in der EU

auf die Tagesordnung gesetzt wird, und Informationen direkt vom Europäischen Par-

lament erhalten. Der gemischte parlamentarische Ausschuss könnte sich zu Bereichen

des Pakets Schweiz–EU äussern, etwa durch die Annahme von Resolutionen zuhan-

den des hochrangigen Dialogs, der im Rahmen dieses Pakets eingerichtet wird

(s. Ziff. 2.14). Auf diese Weise könnten die Schweizer Parlamentsmitglieder auch zu

Rechtsakten Stellung nehmen, die in der EU ausgearbeitet werden. Die konkreten Mo-

dalitäten für die Arbeit des Gemischten Parlamentarischen Ausschusses über den all-

gemeinen Rahmen des ausgehandelten Protokolls gemäss Ziffer 2.15 hinaus sind von

den Mitgliedern des Ausschusses selbst festzulegen. Das Parlament verfügt also über

einen Handlungsspielraum, um dieses neue Instrument in der von ihm gewünschten

Weise zu nutzen.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Möglichkeiten zur Information

und Konsultation der Bundesversammlung im Rahmen des künftigen

Decision

Shaping

mit der EU durch eine Reihe von Massnahmen wie hier skizziert gestärkt

werden könnte. Einerseits bleiben die bisherigen Formate und Prozesse zur Einbin-

dung des Parlaments in die Europapolitik bestehen, in erster Linie durch die enge Zu-

sammenarbeit mit den APK. Der Bundesrat ist bereit, einen stärkeren Fokus auf eine

vorausschauende Information über geplante Rechtsakte der EU zu legen, die für die

Schweiz relevant sind. Zudem könnten neue Möglichkeiten zur noch stärkeren Ein-

bindung des Parlaments geprüft werden: Die Entsendung einer Mitarbeiterin oder ei-

nes Mitarbeiters der Parlamentsdienste nach Brüssel wäre zum Beispiel eine wirk-

same Möglichkeit, um eine direkte und frühzeitige Information über die für die

Schweiz relevanten Entwicklungen des EU-Rechts sicherzustellen. Durch die Aus-

handlung eines Gemischten Parlamentarischen Ausschusses Schweiz–EU schafft der

Bundesrat des Weiteren die Grundlage für eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen

der Bundesversammlung und dem Europäischen Parlament. Dies dient auch der Sen-

sibilisierung des Parlaments für künftige Entwicklungen des EU-Rechts, die für die

Schweiz relevant sind (s. Ziff. 2.15).

2.1.8

Rechtliche Aspekte des Paketelements

2.1.8.1

Verfassungsmässigkeit der institutionellen Elemente

Die institutionellen Elemente werden durch Protokolle in die bestehenden Abkommen

integriert und in die neuen Abkommen direkt eingefügt. Die Aufnahme der instituti-

98 / 931

onellen Elemente in diese Abkommen erfordert keine Änderung der Bundesverfas-

sung (BV). Die Verfassungsmässigkeit der neuen Abkommen und der Änderungspro-

tokolle wird in den entsprechenden Kapiteln des erläuternden Berichts behandelt. Die

institutionellen Protokolle stützen sich auf Artikel 54 Absatz 1 BV, wonach der Bund

für die auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV ermäch-

tigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu ratifizieren.

Die Bundesversammlung ist nach Artikel 166 Absatz 2 BV für die Genehmigung völ-

kerrechtlicher Verträge zuständig, sofern für deren Abschluss nicht aufgrund eines

Gesetzes oder völkerrechtlichen Vertrags der Bundesrat allein zuständig ist (s. auch

Art. 24 Abs. 2 ParlG und Art. 7

a

Abs. 1 Regierungs- und Verwaltungsorganisations-

gesetz [RVOG]

73

). Die institutionellen Protokolle sind keine völkerrechtlichen Ver-

träge, die der Bundesrat aufgrund eines Gesetzes oder eines von der Bundesversamm-

lung genehmigten völkerrechtlichen Vertrags in eigener Kompetenz abschliessen

kann. Es handelt sich auch nicht um völkerrechtliche Verträge von beschränkter Trag-

weite gemäss Artikel 7

a

Absatz 2 RVOG. Daher müssen die institutionellen Proto-

kolle der Bundesversammlung zur Genehmigung unterbreitet werden.

2.1.8.2

Verfassungsmässigkeit der Umsetzungsgesetzgebung und

Begleitmassnahmen

Die institutionellen Protokolle erfordern weder eine Ausführungsgesetzgebung noch

Begleitmassnahmen (s. Ziff. 2.1.7.2 zum Einbezug der Kantone).

2.1.8.3

Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen

der Schweiz

Die institutionellen Protokolle sind mit den internationalen Verpflichtungen der

Schweiz vereinbar.

2.1.8.4

Erlassform

Die Frage der Erlassform wird in den Abschnitten des erläuternden Berichts über die

Abkommen behandelt, die institutionelle Elemente umfassen.

2.1.8.5

Vorläufige Anwendung

Eine vorläufige Anwendung der institutionellen Elemente ist nicht vorgesehen.

2.1.8.6

Datenschutz

Zum Thema Datenschutz ist Folgendes zu beachten:

Die Schiedssprüche des SchG werden veröffentlicht (Art. IV.2 Abs. 4 Un-

terabs. 1 AnlSchG-IP-LuftVA). Es ist vorgesehen, dass der GA vor dem In-

krafttreten des Pakets Schweiz–EU, Vorschriften über den Schutz perso-

nenbezogener Daten, das Berufsgeheimnis und die berechtigten Interessen

der Vertraulichkeit erlässt, die bei der Veröffentlichung der Schiedssprüche

zu berücksichtigen sind (Art. IV.2 Abs. 4 Unterabs. 2 und 3 AnlSchG-IP-

73

SR

172.010

99 / 931

LuftVA). Bei der Ausarbeitung dieser Vorschriften wird sichergestellt, dass

der Schweizer Rechtsrahmen eingehalten wird.

Das SchG ist gehalten, geeignete Massnahmen zu ergreifen, um allfällige

Fragen in Bezug auf den Schutz personenbezogener Daten, das Berufsge-

heimnis und die berechtigten Interessen der Vertraulichkeit zu klären, die

die Parteien im Zusammenhang mit der Behandlung der Beweismittel im

Schiedsverfahren stellen könnten (Art. III.11 Abs. 5 AnlSchG-IP-LuftVA).

Im Zusammenhang mit dem Finanzbeitrag der Schweiz an Agenturen, In-

formationssysteme und andere Aktivitäten der EU ist vorgesehen, dass die

Europäische Kommission der Schweiz angemessene Angaben zur Berech-

nung ihres Finanzbeitrags bereitstellt (Art. 13 Abs. 8 IP-LuftVA). Diese

Angaben werden unter gebührender Beachtung der Vertraulichkeits- und

Datenschutzbestimmungen der EU übermittelt. Die Schweiz verarbeitet die

übermittelten Informationen im Einklang mit ihren eigenen Rechtsvor-

schriften.

100 / 931

2.2

Staatliche Beihilfen

2.2.1

Zusammenfassung

Die völkerrechtlichen Beihilfebestimmungen, die sich aus dem Paket Schweiz–EU

ergeben, (folgend auch: völkerrechtliche Beihilfebestimmungen) umfassen die Zu-

satzprotokolle über staatliche Beihilfen zum LuftVA- und LandVA (folgend auch:

Beihilfeprotokolle) sowie den Beihilfeteil des Stromabkommens. Sie befassen sich

mit staatlichen Beihilfen (folgend auch: Beihilfen), die im Hoheitsgebiet der Vertrags-

parteien an Unternehmen gewährt werden, die im Geltungsbereich dieser Abkommen

tätig sind.

Die Schaffung einer mit derjenigen der EU gleichwertigen Beihilfeüberwachung ist

Voraussetzung für die Aktualisierung gewisser Binnenmarktabkommen mit der EU.

Diese Abkommen gehen mit grossen Vorteilen für die Schweizer Unternehmen ein-

her. Die Schweiz hat aber auch ein grundsätzliches Interesse an einer Überwachung

staatlicher Beihilfen. Denn sie ermöglicht es, Wettbewerbsverzerrungen zu verringern

und sorgt für gleich lange Spiesse zwischen Schweizer und EU-Unternehmen.

Die Schweiz wird die materiellrechtlichen Bestimmungen des Beihilferechts der EU

in die Beihilfeprotokolle sowie im Beihilfeteil des Stromabkommens übernehmen.

Die Überwachung der schweizerischen Beihilfen wird jedoch im Rahmen eines eige-

nen, gleichwertigen Verfahrens durch eine schweizerische Überwachungsbehörde

und durch die zuständigen schweizerischen Gerichte gewährleistet (Zwei-Pfeiler-An-

satz). Das Verfahren wird unter Einhaltung der schweizerischen Verfassungsordnung

sowie der Kompetenzen der Kantone, der Bundesversammlung und des Bundesrates

im Rahmen des Beihilfeüberwachungsgesetzes geregelt.

Im Rahmen des Verfahrens kann sich der Beihilfegeber insbesondere bei rechtlichen

Unklarheiten während der Ausarbeitung der Beihilfe durch die Überwachungsbe-

hörde beraten lassen. Der Beihilfegeber muss seine geplante Beihilfe anmelden, so-

bald sie genügend definiert ist, um eine Prüfung durch die Überwachungsbehörde zu

ermöglichen. Diese prüft die Beihilfe auf ihre Vereinbarkeit mit den völkerrechtlichen

Beihilfebestimmungen in einer einfachen Prüfung innerhalb von zwei Monaten. Bei

Bedenken eröffnet sie eine vertiefte Prüfung von bis zu zwölf Monaten. Sie schliesst

die Prüfung mit einer unverbindlichen Stellungnahme ab. Der finale Akt, mit welchem

die Beihilfe gewährt wird, ist der Überwachungsbehörde mitzuteilen. Beurteilt die

Überwachungsbehörde die mitgeteilte Beihilfe als unzulässig, erhebt sie Beschwerde

vor der zuständigen Instanz. Nur ein schweizerisches Gericht oder eine schweizeri-

sche Verwaltungsbehörde als Rechtsmittelinstanz kann verbindlich entscheiden, dass

die Beihilfe unzulässig ist und allenfalls eine Rückforderung verlangen. Auch weitere

Beschwerdeberechtigte (z. B. Konkurrenten) können eine Beschwerde einreichen.

Die Beihilfen sowie die wichtigsten Verfahrensschritte werden in einer Datenbank

durch die Überwachungsbehörde veröffentlicht.

Aufgrund des beschränkten Geltungsbereichs sowie Ausnahmen von der Anmelde-

und Mitteilungspflicht werden langfristig fünf einfache Prüfungen sowie eine vertiefte

Prüfung pro Jahr erwartet.

Für die Einführung des schweizerischen Überwachungsverfahrens ist eine Über-

gangsfrist von fünf Jahren ab Inkrafttreten der Beihilfeprotokolle respektive des

101 / 931

Stromabkommens vorgesehen. Für die bestehenden Beihilferegelungen wird die

Überwachungsbehörde ein weiteres Jahr Zeit haben, um sich einen Überblick zu ver-

schaffen, bevor sie ein allfälliges Prüfungsverfahren nach Artikel 47 VE-BHÜG er-

öffnet. Zudem wurden weitere sektorspezifische Absicherungen im Stromabkommen

festgehalten (s. Ziff. 2.10).

Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt. Er beantragt

im Rahmen des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU die Genehmigung der

Beihilfeprotokolle und der dazugehörenden Umsetzungsgesetzgebung. Zur Genehmi-

gung des Stromabkommens siehe Ziffer 2.11.1.

2.2.2

Ausgangslage und Vorverfahren

Die Überwachung staatlicher Beihilfen in der Schweiz war ursprünglich eines der

Themen, die der Bundesrat im Rahmen des institutionellen Rahmenabkommens mit

der EU klären wollte. Dessen Entwurf sah Beihilferegeln im Geltungsbereich des

LuftVA vom 21. Juni 1999

74

vor, welche auch den Rahmen für Regeln über staatliche

Beihilfen in neuen Binnenmarktabkommen dargestellt hätten. Dabei sollte der Grund-

satz aus dem EU-Recht in die Binnenmarktabkommen übernommen werden, wonach

staatliche Beihilfen unzulässig sind, wenn sie durch die Begünstigung bestimmter Un-

ternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen und den Handel zwi-

schen den Vertragsparteien im Geltungsbereich der Binnenmarktabkommen beein-

trächtigen können. Aus dem EU-Recht sollten auch die diversen Ausnahmen

beziehungsweise Freistellungen von der grundsätzlichen Unvereinbarkeit von Beihil-

fen übernommen werden. Darüber hinaus sah der Entwurf für ein institutionelles Rah-

menabkommen vor, dass die Schweiz gemäss ihrer verfassungsmässigen Kompeten-

zordnung eine ständige Überwachung der Konformität staatlicher Beihilfen mit dem

übernommenen Beihilferecht durch eine unabhängige Behörde sicherstellt. Schliess-

lich hätte die Schweiz gemäss dem Entwurf für ein Transparenzregime sorgen müs-

sen, welches mit demjenigen der EU gleichwertig ist: Insbesondere hätten Entscheide

über staatliche Beihilfen, die unter die betroffenen Abkommen fallen, veröffentlicht

werden müssen.

Nach der Entscheidung des Bundesrates, ein institutionelles Rahmenabkommen nicht

zu unterzeichnen, beauftragte er im Juni 2021 das Eidgenössische Departement für

Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF), in Zusammenarbeit mit dem Eidgenössi-

schen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) und dem Eidgenössischen Departement

für auswärtige Angelegenheiten (EDA) zu prüfen, ob eine autonome Angleichung an

das EU-Beihilferecht im Interesse der Schweiz wäre. Die Analyse des Bundes zeigte,

dass eine autonome Angleichung des Schweizer Rechts im Bereich der staatlichen

Beihilfen im Interesse der Schweiz liegen könnte: Eine Regelung staatlicher Beihilfen

könnte die auf marktwirtschaftlichen Prinzipien beruhende Wirtschaftsordnung der

Schweiz sinnvoll ergänzen, den Wettbewerb stärken und faire Bedingungen für die

Unternehmen schaffen. Darüber hinaus nahm im Februar 2022 eine technische Ar-

beitsgruppe, in der Experten des Bundes und der Kantone vertreten waren, im Auftrag

des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) und der Konferenz der Kantonsregierun-

gen (KdK) ihre Arbeit auf. Diese technische Arbeitsgruppe kam zum Schluss, dass

74

SR

0.748.127.192.68

102 / 931

eine solche Angleichung technisch möglich wäre. Die Regelung von staatlichen Bei-

hilfen in der Schweiz sollte jedoch vor dem Hintergrund des prioritären Ziels des er-

leichterten Zugangs zum EU-Binnenmarkt nicht autonom, sondern nur aufgrund aus-

gehandelter völkerrechtlicher Vereinbarungen und nur in den Bereichen in Frage

kommen, in denen der Zugang zum EU-Binnenmarkt für die Schweiz vertraglich vor-

gesehen ist. Hierfür wäre ein eigenes, gleichwertiges Überwachungsverfahren am

sinnvollsten und die Wettbewerbskommission (WEKO) am geeignetsten für die Rolle

der schweizerischen Überwachungsbehörde (s. dazu Erläuterungen zu Art. 3 VE-

BHÜG in Ziff. 2.2.7). Dieses Verständnis war auch Grundlage für die exploratori-

schen Gespräche zwischen der Schweiz und der EU.

Parallel zu den Arbeiten in der technischen Arbeitsgruppe wurden exploratorische

Gespräche mit der EU geführt, um die möglichen Landezonen allfälliger Verhandlun-

gen zu klären. Die Ergebnisse der exploratorischen Gespräche wurden in einer Ge-

meinsamen Verständigung (

Common Understanding

;

CU

) vom 27. Oktober 2023

festgehalten: Vorschriften über staatliche Beihilfen sollten in das Luftverkehrs-,

Landverkehrs- und das Stromabkommen aufgenommen werden. Die Überprüfung

staatlicher Beihilfen sollte, innerhalb des Geltungsbereichs dieser Abkommen, auf

materiell- und verfahrensrechtlichen Vorschriften beruhen, die mit denjenigen in der

EU gleichwertig sind. Zu diesem Zweck würde die Schweiz ihr eigenes Überwa-

chungsverfahren einführen (Zwei-Pfeiler-Ansatz, s. Ziff. 17

CU

).

2.2.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

Im Bereich der staatlichen Beihilfen hat der Bundesrat einen sektoriellen Ansatz ver-

folgt. Gemäss dem am 8. März 2024 verabschiedeten Verhandlungsmandat sollten die

Beihilferegeln in die zwei bestehenden Binnenmarktabkommen, namentlich das

LuftVA und das LandVA von 21. Juni 1999, sowie im neuen Stromabkommen auf-

genommen werden. Die Regeln über staatliche Beihilfen sollten grundsätzlich gleich-

wertig mit denjenigen sein, die in der EU gelten und gewährleisten, dass Unternehmen

in der Schweiz (d. h. mit Sitz oder Niederlassung in der Schweiz) einen gesicherten

und gleichberechtigten Zugang zum Binnenmarkt der EU haben, wo dieser vertraglich

geregelt ist. Im Rahmen der Verhandlungen sollten Lösungen oder Übergangsperio-

den und ein Mechanismus zur Sicherstellung der Berücksichtigung essenzieller Inte-

ressen der Schweiz angestrebt werden. Zudem sollte das Verhandlungsergebnis die

Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen sowie die Gewaltenteilung, in-

klusive Artikel 190 BV, respektieren. Konkret sollte die Schweiz die materiellen Bei-

hilfevorschriften dieser Abkommen mit eigenen Verfahren und Behörden überwachen

(Zwei-Pfeiler-Modell). Basierend auf der Gemeinsamen Verständigung vom Oktober

2023 wurden die Verhandlungen mit der EU über ein Paket Schweiz–EU Mitte März

2024 aufgenommen. Die Verhandlungen im Bereich der Beihilfen konnten nach

15 Treffen im Juli 2024 materiell in vollständiger Erfüllung des Verhandlungsman-

dats vom 8. März 2024 abgeschlossen werden. In der Folge wurden formelle und ju-

ristische Bereinigungen vorgenommen sowie sektorielle Sonderregeln ausgehandelt

(s. Ziff. 2.5.6.4, 2.6.9.3. sowie Ziff. 2.11.6.9). Aufgrund der Möglichkeit, dass Regeln

für staatliche Beihilfen für zukünftige Abkommen in binnenmarktrelevanten Berei-

chen vereinbart werden könnten, kommt diesen Vertragsregelungen ein Modellcha-

rakter zu.

103 / 931

Parallel zu den Verhandlungen über die völkerrechtlichen Bestimmungen musste eine

nationale Rechtsgrundlage ausgearbeitet werden. Damit sollen die mit der EU ausge-

handelten völkerrechtlichen Bestimmungen über staatliche Beihilfen umgesetzt wer-

den soll. Konkret ist damit die Verpflichtung der Schweiz gemeint, für die Zwecke

gleicher Wettbewerbsbedingungen zwischen Schweizer und EU-Unternehmen in den

Bereichen des Binnenmarktes, in denen die Schweiz auf der Grundlage dieser Ab-

kommen teilnimmt, ein gleichwertiges schweizerisches Beihilfeüberwachungssystem

zu schaffen. Diese Umsetzung soll in Form eines Bundesgesetzes, dem Beihilfeüber-

wachungsgesetz (BHÜG), ergehen, welches grundsätzlich nur die Verfahrensfragen

regelt. Das materielle Recht wird im jeweiligen Beihilfeprotokoll sowie in einem ei-

genen Beihilfeteil des Stromabkommens dem EU-Recht entsprechend und unmittel-

bar anwendbar geregelt. Das Verfahren wahrt die verfassungsmässige Kompetenzor-

dnung zwischen Bund und Kantonen einschliesslich der Organisations- und

Verfahrensautonomie der Kantone sowie die Gewaltenteilung. Entsprechend den Bei-

hilfeprotokollen beziehungsweise dem Beihilfeteil der drei betroffenen Binnenmarkt-

abkommen sollen Beihilfen an Unternehmen, welche im Geltungsbereich der jewei-

ligen Binnenmarktabkommen tätig sind, von einer unabhängigen Schweizer

Überwachungsbehörde kontrolliert werden. Bei der Ausarbeitung des VE-BHÜG

legte der Bundesrat Wert darauf, ein möglichst effizient ausgestaltetes Verfahren be-

reitzustellen und den administrativen Aufwand für Behörden und Unternehmen auf

das absolut Notwendige zu beschränken. Für das Parlament wäre es ohne gleichzeitige

Vorlage der innerstaatlichen Umsetzung schwieriger einzuschätzen, was die völker-

rechtlichen Beihilfebestimmungen genau bedeuten. Ausserdem vermeidet der Bun-

desrat damit, dass die Schweiz sich völkerrechtlich zu einem bestimmten Vorgehen

im Beihilfebereich verpflichtet, diese Verpflichtung aber nicht erfüllen kann, weil die

innerstaatliche Umsetzung im Parlament oder einer allfälligen Volksabstimmung

scheitert.

2.2.4

Materielle Grundzüge des EU-Beihilferechts

In der EU besteht ein Regelwerk mit detaillierten Vorschriften zu staatlichen Beihilfen

von EU-Mitgliedstaaten, um eine einheitliche Wettbewerbsordnung (

Level Playing

Field

) im EU-Binnenmarkt zu gewährleisten. Der Begriff der staatlichen Beihilfe wird

in Artikel 107 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

(AEUV)

75

definiert. Demzufolge sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte

Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen

oder Produktionszweige den Wettbewerb im EU-Binnenmarkt verfälschen oder zu

verfälschen drohen, mit dem EU-Binnenmarkt unvereinbar, soweit sie den Handel

zwischen EU-Mitgliedstaaten beeinträchtigen (s. Ziff. 2.2.5.3 und Erläuterungen zu

Art. 1 VE-BHÜG in Ziff. 2.2.7).

Staatlichen Beihilfen liegen in der Regel öffentliche Interessen zugrunde, beispiels-

weise die Unterstützung von Innovation oder die Förderung umweltfreundlicher

Technologien. Sie können aber oftmals auch zu einer Ungleichbehandlung von Wirt-

schaftsteilnehmenden und damit zu einer Wettbewerbsverfälschung in einem Markt

75

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (konsolidierte Fassung), ABl. C

202 vom 7. Juni 2016, S. 47.

104 / 931

führen. Das ist in einer Marktwirtschaft aus ökonomischen Gründen sehr problema-

tisch: Der verfälschte Wettbewerb führt zu ineffizientem Ressourceneinsatz und damit

langfristig zur Schädigung der Wettbewerbsfähigkeit und des Wohlstandes einer

Volkswirtschaft. Deshalb sind positive und negative Effekte staatlicher Beihilfen ge-

geneinander abzuwiegen. In der EU gilt dementsprechend ein grundsätzliches Beihil-

feverbot mit zahlreichen Ausnahmen und Freistellungen von der grundsätzlichen Un-

vereinbarkeit von Beihilfen (s. Art. 8 VE-BHÜG).

Die EU-Regeln zu staatlichen Beihilfen finden sich im Primärrecht, insbesondere im

AEUV, und im Sekundär- und Tertiärrecht, das heisst in Rechtsakten, die von den

europäischen Institutionen verabschiedet werden. Die Rechtsprechung (EuGH und

EU-Gerichtshof) spielt ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Auslegung des EU-

Beihilferechts. Die relevanten beihilferechtlichen Akte enthalten meist sowohl mate-

rielle als auch verfahrensrechtliche Teile.

Die wichtigsten Bestimmungen sind:

Artikel 93, 106 sowie 107 AEUV: Artikel 107 AEUV führt den Begriff der

staatlichen Beihilfe ein und weist gleichzeitig darauf hin, dass solche Bei-

hilfen nicht mit dem EU-Binnenmarkt vereinbar sind. In dieser Bestimmung

werden auch Beihilfen aufgeführt, die mit dem EU-Binnenmarkt vereinbar

sind (Abfederung von Naturkatastrophen, Sozialhilfen usw.), sowie Beihil-

fen, die von der Europäischen Kommission als mit dem EU-Binnenmarkt

vereinbar angesehen werden können (Regionalbeihilfen bzw. Beihilfen zur

Entwicklung wirtschaftlich benachteiligter Regionen innerhalb der EU,

usw.). Artikel 106 AEUV setzt den Überwachungsrahmen für Staatsunter-

nehmen und den Bereich

Service Public

, während Artikel 93 AEUV Beihil-

fen zur Verkehrskoordination erlaubt.

Allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung (AGVO)

76

:

Die AGVO stellt

bestimmte Gruppen von Beihilfen von der Anmeldepflicht frei. Sie enthält

eine umfangreiche Liste an staatlichen Beihilfen, von denen die Europäi-

sche Kommission annimmt, dass sie den freien Wettbewerb auf dem EU-

Binnenmarkt nicht beeinträchtigen. Diese Kategorien von Beihilfen werden

als vereinbar vermutet und sind daher nicht anmeldepflichtig. Unter ande-

rem sollen sich damit Prüfungsverfahren auf Beihilfen mit besonders gros-

sen Auswirkungen auf den EU-Binnenmarkt konzentrieren.

76

Verordnung (EU) Nr. 651/2014 der Kommission vom 17. Juni 2014 zur Feststellung der

Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Binnenmarkt in Anwendung der

Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, ABl. L

187 vom 26.6.2014, S. 1, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2023/1315 der Kom-

mission vom 23. Juni 2023 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 651/2014 zur Feststel-

lung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Binnenmarkt in An-

wendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen

Union und der Verordnung (EU) 2022/2473 zur Feststellung der Vereinbarkeit bestimmter

Gruppen von Beihilfen zugunsten von in der Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung

von Erzeugnissen der Fischerei und der Aquakultur tätigen Unternehmen mit dem Binnen-

markt in Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Eu-

ropäischen Union, ABl. L 167 vom 30.6.2023, S. 1.

105 / 931

Freistellung geringfügiger Beihilfebeträge von der Anmeldepflicht (De-mi-

nimis-Verordnung)

77

: Gegenstand der Verordnung sind geringfügige Un-

terstützungsmassnahmen, die von der Beihilfeüberwachung ausgenommen

sind («De-minimis-Beihilfen»). Es wird davon ausgegangen, dass sie keine

Auswirkungen auf den Wettbewerb und den zwischenstaatlichen Handel im

EU-Binnenmarkt haben. Somit erfüllen diese Beihilfen nicht alle Kriterien

des Artikels 107 Absatz 1 AEUV und sind daher vom Anmeldeverfahren

ausgenommen. Aktuell beträgt der Schwellenwert 300 000 Euro pro Unter-

nehmen über drei Jahre, wobei in gewissen Sektoren die Schwellenwerte

abweichen. Ein weiterer, zusätzlicher Schwellenwert von 750 000 Euro pro

Unternehmen über drei Jahre ist für DAWI-Beihilfen vorgesehen (s.

Ziff. 2.2.5).

Anwendung der Beihilfevorschriften auf Dienstleistungen von allgemeinem

wirtschaftlichem Interesse (DAWI)

78

: Dienstleistungen von allgemeinem

wirtschaftlichem Interesse sind wirtschaftliche Tätigkeiten, wie Verkehrs-

netze und Sozialdienste, die als besonders wichtig für die Bürger angesehen

werden und die ohne staatliche Intervention nicht (oder unter anderen Be-

dingungen) erbracht würden. DAWI stellen damit einen unionsrechtlichen

Begriff dar, welcher der schweizerischen Grundversorgung sehr ähnlich ist.

Weitere Auslegungshilfen sind die Leitlinien und Mitteilungen der Europäischen

Kommission.

79

Zudem bestehen zeitlich beschränkte Praxisfestlegungen wie der Be-

fristete Rahmen für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft infolge des An-

griffs Russlands auf die Ukraine, Krisenbewältigung und Gestaltung des Wandels

80

.

Diese Praxisfestlegungen sind jedoch nur für die Kommission selbst verbindlich und

haben keinen positivrechtlichen Charakter.

Exkurs: Drittstaatensubventionsverordnung

Das EU-Beihilferecht, welches in der EU auf Beihilfen der EU-Mitgliedstaaten ange-

wendet wird, wird seit dem 12. Januar 2023 flankiert von der sogenannten Drittstaa-

tensubventionsverordnung

81

. Ziel der Drittstaatensubventionsverordnung ist es, Wett-

bewerbsverzerrungen im EU-Binnenmarkt zu beseitigen, die durch Subventionen von

77

Verordnung (EU) 2023/2831 der Kommission vom 13. Dezember 2023 über die Anwen-

dung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

auf De-minimis-Beihilfen, ABl. L, 2023/2831, vom 15.12.2023.

78

Artikel 106 Absatz 2 AEUV; Beschluss der Kommission vom 20. Dezember 2011 über die

Anwendung von Artikel 106 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäi-

schen Union auf staatliche Beihilfen in Form von Ausgleichsleistungen zugunsten be-

stimmter Unternehmen, die mit der Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem

wirtschaftlichem Interesse betraut sind (Bekanntgegeben unter Aktenzeichen K(2011)

9380), ABl. L 7 vom 11.1.2012, S. 3.

79

S. etwa Mitteilung der Kommission 2022/C 80/01 betreffend Leitlinien für staatliche

Klima-, Umweltschutz- und Energiebeihilfen 2022, ABl. C 80 vom 18.2.2022, S. 1.

80

S. etwa Mitteilung der Kommission C/2024/3113 betreffend Zweite Änderung des Befris-

teten Rahmens für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft infolge des Angriffs

Russlands auf die Ukraine – Krisenbewältigung und Gestaltung des Wandels, ABl. C 101

vom 17.3.2023, S. 3.

81

Verordnung (EU) 2022/2560 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Dezem-

ber 2022 über den Binnenmarkt verzerrende drittstaatliche Subventionen, ABl. L 330 vom

23.12.2022, S. 1.

106 / 931

Nicht-EU-Ländern («drittstaatliche Subventionen») an in der EU tätige Unternehmen

verursacht werden. Mit der Drittstaatensubventionsverordnung soll eine Lücke im

EU-Wettbewerbsrecht geschlossen werden, um gleiche Wettbewerbsbedingungen

(

Level Playing Field

) zu erreichen: Während die durch EU-Mitgliedstaaten gewährten

finanziellen Zuwendungen an Unternehmen den EU-Beihilfevorschriften unterliegen,

entziehen sich die drittstaatlichen Subventionen, die sich auf den EU-Binnenmarkt

auswirken, dem EU-Beihilferecht und der damit einhergehenden Kontrolle durch die

EU, sofern diese nicht besonderen staatsvertraglichen Beihilferegeln unterstehen

(z. B. im Rahmen des LuftVA, wie es die EU mit der Schweiz abgeschlossen hat).

Die Drittstaatensubventionsverordnung räumt der Europäischen Kommission eine

weitreichende Prüfbefugnis ein, ob in der EU tätige Unternehmen durch drittstaatliche

Subventionen bevorteilt werden und ob diese den Wettbewerb im EU-Binnenmarkt

verzerren. Dafür sind im Wesentlichen eine vorgängige Notifikationspflicht (mit re-

lativ hohen Schwellenwerten) für Unternehmenszusammenschlüsse und für die Be-

teiligung an öffentlichen Vergabeverfahren sowie ein allgemeines Prüfinstrument

(ohne Schwellenwerte) für alle anderen Marktsituationen und für Zusammenschlüsse

und öffentliche Vergabeverfahren vorgesehen. Die Europäische Kommission verfügt

schliesslich über weitreichende Möglichkeiten, Abhilfemassnahmen zu ergreifen.

Zum Verhältnis der Drittstaatensubventionsverordnung zu den mit der EU verhandel-

ten Beihilfebestimmungen siehe Ziffer 2.2.5.4 Überwachungssysteme (Zwei-Pfeiler-

Ansatz).

2.2.5

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der völkerrechtlichen

Beihilfebestimmungen

Die völkerrechtlichen Beihilfebestimmungen regeln einerseits das direkt anwendbare

materielle Beihilfeverbot mit diversen ebenfalls direkt anwendbaren Ausnahmen, an-

dererseits die Grundpfeiler des Überwachungsverfahrens. Zudem sehen die Bestim-

mungen einen speziellen Konsultationsmechanismus für Entwicklungen, die wichtige

Interessen betreffen, sowie für die EU-Industriepolitik vor. Soweit die Beihilfebestim-

mungen nichts Spezielles vorsehen, sind die institutionellen Bestimmungen (s. Ziff.

2.1.6) im Grundsatz auch auf die völkerrechtlichen Beihilfebestimmungen anwend-

bar. Hinsichtlich der Streitbeilegung liegt insoweit eine Besonderheit vor, als die völ-

kerrechtlichen Beihilfebestimmungen spezifische Anforderungen an die jeweiligen

Überwachungssysteme stellen. Dies hat zur Konsequenz, dass – solange die Beihilfe-

überwachungssysteme nach Artikel 4 der Beihilfeprotokolle respektive Artikel 14 des

Stromabkommens ein gleichwertiges Überwachungs- und Anwendungsniveau sicher-

stellen – eine konkrete Beihilfe nicht im Rahmen des institutionellen Streitbeilegungs-

mechanismus überprüft werden kann. Ein allfälliger Schiedsspruch hat zudem keine

Auswirkung auf das Urteil eines schweizerischen Gerichtes bezüglich der Zulässig-

keit einer in der Schweiz gewährten Beihilfe.

2.2.5.1

Zielsetzung und allgemeine Grundsätze der

völkerrechtlichen Beihilfebestimmungen

Präambel: Die völkerrechtlichen Beihilferegeln zielen darauf ab, die Beteiligung der

Schweiz und ihrer Unternehmen in den Bereichen des Binnenmarktes der Europäi-

schen Union, in denen die Schweiz auf der Grundlage des jeweiligen Abkommens

teilnimmt, weiter zu stärken und zu vertiefen. Die Vertragsparteien anerkennen, dass

107 / 931

das ordnungsgemässe Funktionieren und die Homogenität des Binnenmarktes in den

durch das jeweilige Abkommen erfassten Bereichen einheitliche Wettbewerbsbedin-

gungen zwischen Unternehmen aus der Schweiz und der EU erfordern. Um einheitli-

che Wettbewerbsbedingungen innerhalb des Binnenmarktes zu gewährleisten, sollen

staatliche Beihilfen auf der Grundlage von materiell- und verfahrensrechtlichen Vor-

schriften geregelt werden, die im Hinblick auf diese Zielsetzungen mit denjenigen

Beihilfevorschriften gleichwertig sind, die die EU auf der Grundlage der Artikel 93,

106, 107 und 108 AEUV anwendet (Gleichwertigkeit). Die Autonomie der Vertrags-

parteien sowie die Rolle und Zuständigkeiten ihrer Institutionen bleiben zu achten.

Insbesondere sind auch die Grundsätze, die sich aus der schweizerischen Verfassungs-

ordnung ergeben, zu respektieren. Diese umfassen neben den ausdrücklich erwähnten

Grundsätzen der direkten Demokratie, der Gewaltenteilung und des Föderalismus

auch Grundsätze der Gleichbehandlung und der schweizerischen Wirtschaftsverfas-

sung.

Artikel 1 der beiden Beihilfeprotokolle respektive Artikel 12 des Stromabkommens

hält die Zielsetzung der völkerrechtlichen Beihilfebestimmungen fest, einheitliche

Wettbewerbsbedingungen zwischen Unternehmen aus der Schweiz und der EU in den

unter die Abkommen fallenden Bereichen des Binnenmarktes und das ordnungsge-

mässe Funktionieren des Binnenmarktes durch die Festlegung materiell- und verfah-

rensrechtlicher Vorschriften über staatliche Beihilfen zu gewährleisten.

2.2.5.2

Verhältnis zu den bestehenden Abkommen

Artikel 2 der beiden Beihilfeprotokolle regelt das Verhältnis der Beihilfebestimmun-

gen in den Beihilfeprotokollen zu den bestehenden LandVA und LuftVA. Genau wie

die jeweiligen institutionellen Zusatzprotokolle bilden die Beihilfeprotokolle einen

integralen Bestandteil des jeweiligen Abkommens. Sie lassen den Geltungsbereich

und die Zielbestimmungen der bestehenden Abkommen unberührt. Das Verhältnis

des Beihilfeteils zum Stromabkommen wird dem entsprechend in Absatz 2 des Arti-

kels 12 des Stromabkommens festgehalten: Auch hier berühren die Beihilfebestim-

mungen den Geltungsbereich und die Zielbestimmungen des Stromabkommens nicht.

Im LuftVA werden die bestehenden Beihilfebestimmungen in den Artikeln 13 und 14

durch das Beihilfeprotokoll aufgehoben (s. auch Ziff. 2.2.8.4). Artikel 12 Absatz 2

des LuftVA findet auf das Beihilfeprotokoll-LuftVA keine Anwendung, weil eine ent-

sprechende Ausnahme im Artikel 3 Absatz 5 des Protokolls vorgesehen ist. Die insti-

tutionellen Elemente (s. Ziff. 2.1) sind auch auf die Beihilfeprotokolle und auf den

Beihilfeteil im Stromabkommen anwendbar, soweit nichts anderes geregelt ist.

2.2.5.3

Beihilfedefinition, Grundsatz und Ausnahmeregeln

Artikel 3 der beiden Beihilfeprotokolle respektive Artikel 13 des Stromabkommens

entsprechen weitgehend dem Artikel 107 AEUV. Der jeweilige Absatz 1 enthält die

Beihilfedefinition und das grundsätzliche Beihilfeverbot. Gemäss dieser Bestimmung

sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen der Schweiz oder eines

EU-Mitgliedstaates mit dem ordnungsgemässen Funktionieren des Binnenmarktes

unvereinbar, wenn sie durch die Begünstigung von bestimmten Unternehmen oder

Produktionszweigen den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen und den

Handel zwischen den Vertragsparteien im Geltungsbereich des jeweiligen Abkom-

mens beeinträchtigen können. Abweichend von Artikel 107 Absatz 1 AEUV (s.

108 / 931

Ziff. 2.2.4) erfordert der Tatbestand einer staatlichen Beihilfe eine mögliche Beein-

trächtigung des Handels zwischen den Vertragsparteien im Geltungsbereich des je-

weiligen Abkommens. Aufgrund des sektoriellen Ansatzes der Binnenmarktabkom-

men sind die Voraussetzungen in Artikel 3 Absatz 1 – im Unterschied zu Artikel 107

Absatz 1 AEUV – auf den Wettbewerb zwischen Unternehmen und deren Tätigkeiten

zu reduzieren, die vom Geltungsbereich der jeweiligen Abkommen erfasst sind. Diese

engere Auslegung steht im Einklang mit der allgemeinen Zielsetzung der völkerrecht-

lichen Beihilfebestimmungen, die insbesondere in der Präambel und in Artikel 1 der

beiden Beihilfeprotokolle respektive des Artikels 12 des Stromabkommens zum Aus-

druck gebracht wird. Diese zielen darauf ab, einheitliche Wettbewerbsbedingungen

zwischen Unternehmen aus der Schweiz und der EU in den durch das jeweilige Ab-

kommen erfassten Bereichen des Binnenmarkts zu gewährleisten, mithin die Teil-

nahme der Schweiz und ihrer Unternehmen am Binnenmarkt der EU zu stärken und

zu vertiefen. Diese Auslegung wird im Kontext weiterer Bestimmungen, insbesondere

der Artikel 3 Absatz 6 der Beihilfeprotokolle respektive des Artikels 13 Absatz 6 des

Stromabkommens, nochmals bekräftigt. Demnach finden die völkerrechtlichen Bei-

hilfebestimmungen keine Anwendung, sofern der gewährte Beihilfebetrag an ein ein-

zelnes Unternehmen für Tätigkeiten im Geltungsbereich der jeweiligen Abkommen

die De-minimis-Schwelle nicht übersteigt. Vorbehalten bleiben gemäss Absatz 1 wei-

tere abweichende Regelungen der jeweiligen Abkommen.

Die Absätze 2 und 3 enthalten sodann die Ausnahmen zum Grundsatz des Beihilfe-

verbots. Die Ausnahmebestimmungen entsprechen weitgehend den in den Absätzen 2

und 3 des Artikels 107 AEUV vorgesehenen Regelungen. Unter den im Absatz 2 vor-

gesehenen Ausnahmen gelten Beihilfen von Gesetzes wegen als mit dem ordnungs-

gemässen Funktionieren des Binnenmarktes vereinbar, wenn es sich um Beihilfen so-

zialer Art an einzelne Verbraucher handelt. Dies, sofern sie ohne Diskriminierung

nach der Herkunft der Waren gewährt werden. Desgleichen sind Beihilfen zur Besei-

tigung von Schäden, die durch Naturkatastrophen oder sonstige aussergewöhnliche

Ereignisse entstanden sind, mit dem ordnungsgemässen Funktionieren des Binnen-

marktes vereinbar. Im Beihilfeprotokoll-LandVA ist zudem eine für den Landver-

kehrsbereich besondere gesetzliche Ausnahme vorgesehen, die – dem Artikel 93

AEUV entsprechend – Beihilfen erfasst, die den Erfordernissen der Koordinierung

des Verkehrs oder der Abgeltung bestimmter mit dem Begriff des öffentlichen Diens-

tes zusammenhängender Leistungen dienen.

Gemäss den in Absatz 3 vorgesehenen Ermessensausnahmen, kann die zuständige

Überwachungsbehörde weitere Kategorien staatlicher Beihilfen als vereinbar mit dem

ordnungsgemässen Funktionieren des Binnenmarktes ansehen. Das Ermessen liegt bei

der gemäss Artikel 4 der Beihilfeprotokolle respektive Artikel 14 des Stromabkom-

mens zuständigen Überwachungsbehörde der jeweiligen Partei. Zwar sind die Stel-

lungnahmen der Schweizer Überwachungsbehörde unverbindlich, jedoch wird die

Einschätzung der Fachbehörde einen Einfluss auf die Entscheidung des Beihilfege-

bers haben. Zudem hat die Überwachungsbehörde, wo nötig, in der Folge ihre Auf-

fassung mit Beschwerde durchzusetzen beziehungsweise der gerichtlichen Prüfung zu

unterziehen. Die Ausnahmen erfassen Beihilfen, die der Förderung der wirtschaftli-

chen Entwicklung von Gebieten dienen, in denen die Lebenshaltung aussergewöhn-

lich niedrig ist oder eine erhebliche Unterbeschäftigung herrscht. Ebenso können Bei-

hilfen, die wichtige Vorhaben fördern, die von gemeinsamem europäischem Interesse

109 / 931

oder von gemeinsamem Interesse der Vertragsparteien sind, sowie Beihilfen zur Be-

hebung einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftsleben der Schweiz oder eines EU-

Mitgliedstaats als mit dem ordnungsgemässen Funktionieren des Binnenmarkts ver-

einbar angesehen werden. Eine Ermessenausnahme ist weiter für Beihilfen vorgese-

hen, welche die Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige oder Wirtschaftsgebiete

fördern, soweit sie die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern, die dem

gemeinsamen Interesse der Vertragsparteien zuwiderläuft. Ebenso können Beihilfen

zur Förderung der Kultur und der Erhaltung des kulturellen Erbes gerechtfertigt wer-

den, soweit sie die Handels- und Wettbewerbsbedingungen nicht in einem Mass be-

einträchtigen, das dem gemeinsamen Interesse der Vertragsparteien zuwiderläuft.

Die Vertragsparteien können weitere Beihilfen oder Beihilfekategorien bestimmen,

die unter die jeweilige Legal- respektive Ermessensausnahme fallen. Abschnitt A des

jeweiligen Anhangs I der beiden Beihilfeprotokolle respektive des Anhangs III des

Stromabkommens führt diesbezüglich sektorspezifische Massnahmen, die im Sinne

des Absatzes 2 mit dem ordnungsgemässen Funktionieren des Binnenmarktes verein-

bar sind (Legalausnahmen). Abschnitt B des Anhangs I der beiden Beihilfeprotokolle

respektive des Anhangs III des Stromabkommens führt die Liste von Beihilfearten,

die im Sinne des Absatzes 3 als mit dem ordnungsgemässen Funktionieren des Bin-

nenmarkts vereinbar angesehen werden können (Ermessensausnahmen). Absatz 7

sieht vor, dass der Gemischte Ausschuss die Abschnitte A und B des jeweiligen An-

hangs anpassen kann. Das bedeutet, der Gemischte Ausschuss kann abweichend von

den übrigen vorgesehenen Ausnahmen und auch abweichend vom EU-Recht weitere

Legal- und Ermessensausnahmen in den Anhang aufnehmen. Diese Bestimmung bil-

det nicht zuletzt das Pendant zu Artikel 108 Absatz 2 Unterabsatz 3 AEUV, der es

dem Rat der EU ermöglicht, vom übrigen Beihilferecht abweichend Beihilfen als mit

dem Binnenmarkt vereinbar zu beschliessen.

Absatz 4 hält fest, dass Beihilfen, welche die materiellrechtlichen Bedingungen der

im Abschnitt C des Anhangs I der beiden Beihilfeprotokolle respektive des An-

hangs III des Stromabkommens aufgeführten Bestimmungen erfüllen, mit dem ord-

nungsgemässen Funktionieren des Binnenmarktes vereinbar vermutet werden und

von der im jeweiligen Beihilfeprotokoll respektive Beihilfeabschnitt vorgesehenen

Anmeldepflicht befreit sind. Demgegenüber sind die im Abschnitt C des jeweiligen

Anhangs enthaltenen verfahrensrechtlichen Bedingungen, die auf die Überwachung

und Durchsetzung der Beihilfevorschriften abzielen, nach Massgabe des schweizeri-

schen Überwachungssystems im Sinne der Artikel 4 Absätze 1 und 3, Artikel 5, Arti-

kel 6 Absatz 1 und Artikel 7 des Protokolls festgelegten Vorschriften und Verfahren

zu erfüllen. Aus diesem Grund beziehen sich die Verweise unter Abschnitt C lediglich

auf die Kapitel I und III der AGVO, im Anhang I des Beihilfeprotokolls-LuftVA und

im Anhang III des Stromabkommens auf Artikel 1 bis 6 des Beschlusses der Europä-

ischen Kommission über die Anwendung von Artikel 106 AEUV

82

sowie im An-

hang I des Beihilfeprotokolls-LandVA auf Artikel 9 der Verordnung (EG)

82

Beschluss der Kommission vom 20. Dezember 2011 über die Anwendung von Artikel 106

Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf staatliche Beihil-

fen in Form von Ausgleichsleistungen zugunsten bestimmter Unternehmen, die mit der Er-

bringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind

(Bekanntgegeben unter Aktenzeichen K(2011) 9380), ABl. L 7 vom 11.1.2012, S. 3.

110 / 931

Nr. 1370/2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Strasse

83

.

Den verfahrensrechtlichen Bedingungen in diesen EU-Rechtsakten wird Rechnung

getragen, indem sie gemäss Anhang II der beiden Beihilfeprotokolle respektive An-

hang IV des Stromabkommens Teil des „Massstabs“ für eine gleichwertige Umset-

zung sind. Die Vermutung der Vereinbarkeit einer Beihilfe erlaubt es den Überwa-

chungsbehörden (der Schweiz und der EU) die Anwendung dieser Rechtsakte und die

Einhaltung der darin vorgesehenen Voraussetzungen weiterhin zu überprüfen und –

falls erforderlich – auch nachträglich ein besonderes Verfahren einzuleiten. Sind die

Voraussetzungen der jeweiligen EU-Rechtsakte nicht erfüllt, hätte die Beihilfe ange-

meldet und mitgeteilt werden müssen, womit die Voraussetzungen für ein besonderes

Verfahren erfüllt sind. In der Praxis bedeutet dies, dass die Beihilfe zwar von der unter

Artikel 4 Absatz 3 der beiden Beihilfeprotokolle respektive Artikel 14 Absatz 3 des

Stromabkommens vorgesehenen Anmeldepflicht, dem Durchführungsverbot auf

Bundesebene sowie von der Mitteilungspflicht befreit ist. Die Beihilfe wurde jedoch

nicht bereits als mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt, was nur durch eine Prüfung

der zuständigen Überwachungsbehörde und Gerichte erfolgen kann. Wenn eine Bei-

hilfe, welche die Voraussetzungen der im Abschnitt C Anhang I der beiden Beihilfe-

protokolle respektive des Anhangs III des Stromabkommens aufgeführten Rechtsakte

erfüllt, dennoch bei der Überwachungsbehörde angemeldet wird, ist diese grundsätz-

lich verpflichtet, die Zulässigkeit der Beihilfe zu bestätigen. Die hier vorgesehene

Vereinbarkeitsvermutung spiegelt die Rechtslage im EU-System, in der die AGVO

nicht die gleiche Wirkung entfalten kann wie ein Beschluss der Kommission zur Ge-

nehmigung einer Beihilfe. Weil die Kommission ihrerseits die in den EU-Verträgen

verankerte ausschliessliche Zuständigkeit für die Feststellung der Vereinbarkeit staat-

licher Beihilfen nicht an die EU-Mitgliedstaaten delegieren kann, bleibt auch sie wei-

terhin in der Lage, die Anwendung der AGVO durch die Mitgliedstaaten zu überprü-

fen und – falls erforderlich – eine eigene Entscheidung hinsichtlich der Vereinbarkeit

solcher Beihilfen zu treffen.

Absatz 5 enthält eine Ausnahme für Beihilfen an Unternehmen, die mit Dienstleistun-

gen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind oder den Charakter eines

Finanzmonopols haben. Die Vorschriften der jeweiligen Abkommen mitunter der bei-

den Beihilfeprotokolle respektive des Beihilfeteils gelten nur, soweit deren Anwen-

dung nicht die Erfüllung der diesen Unternehmen übertragenen besonderen Aufgabe

rechtlich oder tatsächlich verhindert. Die Ausnahmeregelung setzt voraus, dass die

Entwicklung des Handelsverkehrs nicht in einem Ausmass beeinträchtigt wird, das

den Interessen der Vertragsparteien zuwiderläuft.

Absatz 6 sieht einen Anwendungsausschluss des jeweiligen Beihilfeprotokolls res-

pektive des Beihilfeteils vor, wonach diese Bestimmungen nicht für Beihilfen gelten,

die unterhalb der im Abschnitt D des Anhangs I der beiden Beihilfeprotokolle respek-

tive des Anhangs III des Stromabkommens definierten Schwellenwerte liegen. Der

83

Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Ok-

tober 2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße und zur Auf-

hebung der Verordnungen (EWG) Nr. 1191/69 und (EWG) Nr. 1107/70 des Rates, ABl. L

315 vom 3.12.2007, S. 1, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2016/2338 des Europäi-

schen Parlaments und des Rates vom 14. Dezember 2016 zur Änderung der Verordnung

(EG) Nr. 1370/2007 hinsichtlich der Öffnung des Marktes für inländische Schienenperso-

nenverkehrsdienste, ABl. L 354 vom 23.12.2016, S. 22.

111 / 931

jeweilige Abschnitt D verweist auf die De-minimis-Definition der De-minimis Ver-

ordnung der Europäischen Union. Der gewährte Betrag bemisst sich unter den Ver-

tragsregelungen jedoch nach dem Betrag, der für Tätigkeiten im Geltungsbereich des

jeweiligen Abkommens für ein einzelnes Unternehmen gewährt wird. Wenn ein Un-

ternehmen sowohl in einem vom Geltungsbereich der Abkommen erfassten Bereich

als auch in einem oder mehreren anderen Bereichen tätig ist, so sind für die Berech-

nung des De-minimis-Betrages nur Beihilfen einzubeziehen, soweit diese für erstere

Tätigkeiten gewährt wurden. Dies setzt voraus, dass durch geeignete Mittel wie die

Trennung der Tätigkeiten oder der Buchführung sichergestellt wird, dass die Tätig-

keiten in den von den Abkommen erfassten Bereichen nicht durch Beihilfen an Tätig-

keiten unterstützt werden, die nicht vom Geltungsbereich der Abkommen erfasst sind.

Beihilfen, welche die Voraussetzungen des Artikel 3 Absatz 6 in Verbindung mit Ab-

schnitt D des Anhangs I der Beihilfeprotokolle respektive Artikel 13 Absatz 6 in Ver-

bindung mit Abschnitt D des Anhangs III des Stromabkommens erfüllen, sind auch

als Beihilfen anzusehen, die nicht sämtliche Voraussetzungen des Artikels 3 Absatz 1

der Beihilfeprotokolle respektive Artikel 13 Absatz 1 des Stromabkommens erfüllen.

2.2.5.4

Überwachungssysteme (Zwei-Pfeiler-Ansatz)

Artikel 4 der beiden Beihilfeprotokolle respektive Artikel 14 des Stromabkommens

enthalten die Bestimmungen über die Überwachungssysteme der Vertragsparteien.

Absatz 1 stellt die Verpflichtung an die Vertragsparteien auf, die Anwendung der völ-

kerrechtlichen Vorschriften über staatliche Beihilfen in ihrem jeweiligen Hoheitsge-

biet für die im einleitenden Artikel niedergelegten Zwecke zu überwachen. Für die

Schweiz hat diese Überwachung im Einklang mit den verfassungsmässigen Zustän-

digkeitsordnungen zu erfolgen (s. Ziff. 2.2.11.1 f.).

Absatz 2 sieht vor, dass die EU ihre Vertragspflichten umsetzt, indem sie ihr beste-

hendes Beihilfeüberwachungssystem gemäss den Artikeln 93, 106, 107 und 108

AEUV, sowie den allgemeinen und sektorspezifischen, materiellen und verfahrens-

rechtlichen Beihilfevorschriften, beibehält und anwendet. Die jeweilige Ziffer 1 im

Abschnitt A des Anhangs II der beiden Beihilfeprotokolle respektive des Anhangs IV

des Stromabkommens führen die Listen der Unionsrechtsakte im Bereich der staatli-

chen Beihilfen sowie weitere Unionsrechtsakte über staatliche Beihilfen, die den je-

weiligen Sektor betreffen.

Absatz 3 sieht vor, dass die Schweiz ihrerseits ihre Vertragspflichten umsetzt, indem

sie innerhalb einer Frist von fünf Jahren nach Inkrafttreten des jeweiligen Beihilfe-

protokolls respektive des Stromabkommens ein System zur Überwachung staatlicher

Beihilfen schafft und unterhält, welches für die Zwecke einheitlicher Wettbewerbsbe-

dingungen in den vom jeweiligen Abkommen erfassten Bereichen des Binnenmarkts

jederzeit ein Mass an Überwachung und Durchsetzung gewährleistet, das dem in der

Europäischen Union gemäss Absatz 2 angewandten System gleichwertig ist.

Das Beihilfeüberwachungssystem umfasst die innerstaatlich umzusetzenden Beihilfe-

überwachungsverfahren und Transparenzvorschriften, die für die Überwachung zu-

ständigen innerstaatlichen Überwachungs- und Justizbehörden, sowie die unmittelbar

anwendbaren materiellrechtlichen Beihilfebestimmungen (insb. Art. 3 Beihilfeproto-

kolle und Art. 13 Stromabkommen). Die jeweilige Ziffer 2, Abschnitt A des An-

112 / 931

hangs II der beiden Beihilfeprotokolle respektive des Anhangs IV des Stromabkom-

mens, wiederholen das Erfordernis der Gleichwertigkeit in Bezug auf die dort aufge-

führten Unionsrechtsakte und dem in Artikel 4 Absatz 2 aufgeführten EU-

Primärrecht. Diese Gleichwertigkeitsanforderung ist daher auch im Lichte von An-

hang II zu betrachten, der in Abschnitt A Punkt 2 vorsieht, dass die Schweiz ein Über-

wachungssystem einführt und aufrechterhält, das dem von der EU gemäss den in Ab-

schnitt A Punkt 1 genannten Rechtsakten vorgesehenen System gleichwertig ist. Die

Gleichwertigkeit ist daher so zu verstehen, dass die Schweiz verpflichtet ist, in ihrem

innerstaatlichen Recht ein Beihilfeüberwachungsverfahren einzuführen, mit dem die

gleichen Ergebnisse erzielt werden wie in der EU durch das in Absatz 2 genannte

Primärrecht und die in Anhang II Abschnitt A Punkt 1 genannten Rechtsakte. Gemäss

Abschnitt B des Anhangs II der beiden Beihilfeprotokolle respektive des Anhangs IV

des Stromabkommens berücksichtigen die Überwachungs- und die zuständigen Jus-

tizbehörden der Schweiz zudem die relevanten Leitlinien und Mitteilungen, die für

die Europäischen Kommission in ihrem Überwachungssystem verbindlich sind, sowie

deren Entscheidungspraxis gebührend. Vorbehaltlich der Vertragsbestimmungen be-

folgen sie die Leitlinien und Mitteilungen in der Einzelfallbeurteilung so weit wie

möglich, um ein gleichwertiges Überwachungs- und Durchsetzungsniveau im Sinne

des Artikel 4 Absatz 3 der Beihilfeprotokolle respektive Absatz 3 des Artikels 14 des

Stromabkommens, zu gewährleisten. Die Europäische Kommission hat dem Ge-

mischten Ausschuss die Leitlinien und Mitteilungen mitzuteilen, die sie im Rahmen

des jeweiligen Abkommens als relevant erachtet. Die Relevanz dieser Leitlinien und

Mitteilungen unterliegt gemäss Artikel 7 Absatz 2 Buchstabe a der beiden Beihilfe-

protokolle respektive Artikel 17 Absatz 2 Buchstabe a des Stromabkommens der

Konsultation zwischen den Vertragsparteien. Die Überwachungsbehörden veröffent-

lichen die von ihnen angewandten Leitlinien und Mitteilungen (s. Art. 6 Abs. 2

Bst. d).

Die Buchstaben a und b zu Absatz 3 präzisieren institutionelle und verfahrensrechtli-

che Anforderungen an ein gleichwertiges schweizerisches Überwachungssystem. So

werden die Errichtung und Unterhaltung einer unabhängigen Überwachungsbehörde

vorausgesetzt (Bst. a). Gemäss Buchstabe b sind innerstaatliche Verfahren vorzuse-

hen, die gewährleisten, dass die schweizerische Überwachungsbehörde die Verein-

barkeit der Beihilfen mit dem ordnungsgemässen Funktionieren des Binnenmarktes

überprüft. Diese Überprüfung umfasst:

eine vorherige Anmeldung von geplanten Beihilfen bei der Überwachungs-

behörde (Unterabsatz i; s. Art. 6 ff. VE-BHÜG);

die Prüfung der angemeldeten Beihilfen sowie die Befugnis zur Prüfung

nicht angemeldeter Beihilfen durch die Überwachungsbehörde (Unterab-

satz ii; s. 3. und 4. Kapitel VE-BHÜG);

die Anfechtung von Beihilfen, welche die Überwachungsbehörde als mit

dem ordnungsgemässen Funktionieren des Binnenmarktes als unvereinbar

ansieht, vor der zuständigen Justizbehörde (s. 5. Kapitel VE-BHÜG);

113 / 931

ab dem Zeitpunkt der Anfechtbarkeit der betroffenen Beihilfemassnahme

die Sicherstellung der aufschiebenden Wirkung (Unterabsatz iii; s. Art. 39

Abs. 1 VE-BHÜG); und

die Rückforderung, einschliesslich Zinsen, von gewährten Beihilfen, die mit

dem ordnungsgemässen Funktionieren des Binnenmarktes als unvereinbar

befunden wurden (Unterabsatz iv; s. 6. Kapitel VE-BHÜG).

Absatz 4 klärt sodann, dass die Unterabsätze iii (Anfechtung) und iv (Rückerstattung)

von Absatz 3 Buchstabe b im Einklang mit der verfassungsmässigen Kompetenzord-

nung der Schweiz nicht für Akte der Schweizer Bundesversammlung oder des

Schweizerischen Bundesrates gelten (s. Ziff. 2.2.11.2 und Art. 39 Abs. 2 VE-BHÜG).

Absatz 5 hält jedoch fest, dass in Fällen, in denen die schweizerische Überwachungs-

behörde eine Beihilfe der Bundesversammlung oder des Bundesrates aufgrund ihrer

verfassungsmässig begrenzten Kompetenzen nicht selbst anfechten kann, sie die An-

wendung dieser Beihilfe durch andere Behörden in jedem konkreten Fall anfechten

muss. Das bedeutet, dass die Überwachungsbehörde der Schweiz gegen Umsetzungs-

beihilfen, die gestützt auf von ihr als unzulässig beurteilten Beihilferegelungen der

Bundesversammlung oder des Bundesrates gewährt werden, Beschwerde erheben

muss. Im Rahmen dieser Beschwerdeverfahren soll dann vorfrageweise auch die Bei-

hilferegelung der Bundesversammlung oder des Bundesrates überprüft werden (kon-

krete Normenkontrolle; s. Art. 37 Abs. 2 VE-BHÜG). Diese Pflicht einer (dezentra-

len) Verwaltungsbehörde zur Herbeiführung einer konkreten Normkontrolle von

Erlassen, die von der Bundesversammlung oder dem Bundesrat ausgearbeitet wurden,

stellt ein Novum in der Schweizer Rechtsordnung dar. Stellt die zuständige Beschwer-

deinstanz in solchen Fällen fest, dass die Beihilfe mit dem ordnungsgemässen Funk-

tionieren des Binnenmarktes unvereinbar ist, so berücksichtigen die zuständigen

schweizerischen Justiz- und Verwaltungsbehörden diesen Entscheid bei der Beurtei-

lung von bei ihnen anhängigen Fällen. Diese Pflicht geht nicht über die in der Schweiz

übliche Berücksichtigung von Präjudizien hinaus.

Der in Artikel 4 vorgesehene Zwei-Pfeiler-Ansatz und die entsprechenden verfahrens-

rechtlichen Eckpfeiler, die jede Partei auf ihrem Territorium umsetzen muss, führen

dazu, dass bereits beihilferechtlich geprüfte Sachverhalte nicht erneut durch die an-

dere Vertragspartei überprüft werden dürfen. Dies wird beispielsweise auch aus den

Begleitmaterialien zur Drittstaatensubventionsverordnung deutlich.

84

2.2.5.5

Bestehende Beihilfen

Artikel 5 der beiden Beihilfeprotokolle respektive Artikel 15 des Stromabkommens

sehen ein separates Verfahren für bestehende Beihilfen vor (s. Erläuterungen zu Art.

44 ff. und 56 des VE-BHÜG in Ziff. 2.2.7). Bestehende Beihilfen unterliegen nicht

dem in Absatz 3 Buchstabe b der jeweiligen Artikel 4 der Beihilfeprotokolle respek-

tive des Artikels 14 des Stromabkommens vorgesehenen Überwachungsverfahren

84

Commission Staff Working Document Initial clarifications on the application of Article

4(1), Article 6 and Article 27(1) of Regulation (EU) 2022/2560 on foreign subsidies dis-

torting the internal market, SWD(2024) 201 final, 26.7.2024: «More generally, where cer-

tain positive effects on the internal market have been acknowledged under the EU State aid

rules, such positive effects would likely be taken into account in the assessment under

Regulation (EU) 2022/2560».

114 / 931

(Abs. 1). Zu den bestehenden Beihilfen zählen bestehende Beihilferegelungen, Um-

setzungsbeihilfen und Ad-hoc-Beihilfen, die vor und innerhalb von fünf Jahren nach

Inkrafttreten des jeweiligen Protokolls respektive des Stromabkommens gewährt wer-

den (Abs. 2) und auch nach deren Inkrafttreten noch anwendbar sind. Änderungen

bestehender Beihilferegelungen, die Auswirkungen auf die Vereinbarkeit der Beihilfe

mit dem ordnungsgemässen Funktionieren des Binnenmarktes haben, gelten als neue

Beihilfe und unterliegen dem in Artikel 4 Absatz 3 Buchstabe b der jeweiligen Bei-

hilfeprotokolle respektive dem Artikel 14 Absatz 3 Buchstabe b des Stromabkom-

mens vorgesehenen Beihilfeüberwachungsverfahren. Das bedeutet, bis zur Errichtung

des Beihilfeüberwachungssystems besteht noch keine Möglichkeit, die Zulässigkeit

von Beihilfen zu überprüfen.

Absatz 3 sieht vor, dass die schweizerische Überwachungsbehörde sich innerhalb von

zwölf Monaten nach der Einführung des Überwachungssystems einen Überblick über

bestehende Beihilfen verschaffen wird, die im Geltungsbereich der jeweiligen Ab-

kommen gewährt wurden und noch in Kraft sind. Sie nimmt eine vorläufige Einschät-

zung der Beihilferegelungen («

prima facie assessment

») anhand der in Artikel 3 der

Beihilfeprotokolle respektive Artikel 13 des Stromabkommens vorgesehenen Krite-

rien vor. In den Verhandlungen wurde explizit kommuniziert, dass der erstellte Über-

blick nicht mit der Europäischen Kommission zu teilen ist, um die Unabhängigkeit

der schweizerischen Beihilfeüberwachung (Zwei-Pfeiler-Ansatz) zu gewährleisten.

Es können einzig die Folgen von Rechtsentwicklungen oder anderen sich verändern-

den Umständen für die fortlaufende Prüfung bestehender Beihilferegelungen bespro-

chen werden (s. Ziff. 2.2.5.7).

Absatz 4 sieht vor, dass alle bestehenden Beihilferegelungen in der Schweiz von der

Überwachungsbehörde nach Massgabe der in den Absätzen 5-7 vorgesehenen Best-

immungen fortlaufend auf ihre Vereinbarkeit mit dem ordnungsgemässen Funktionie-

ren des Binnenmarktes überprüft werden. Ist die Überwachungsbehörde der Auffas-

sung, dass eine im Geltungsbereich der jeweiligen Abkommen bestehende

Beihilferegelung nicht oder nicht mehr mit dem ordnungsgemässen Funktionieren des

Binnenmarkts vereinbar ist, so informiert sie die zuständigen Behörden (Beihilfege-

ber) über die Verpflichtung zur Einhaltung des entsprechenden Protokolls respektive

des Beihilfeteils im Stromabkommen (Abs. 5). Die zuständigen Behörden informie-

ren die Überwachungsbehörde ihrerseits über jede Änderung oder die Aufhebung ei-

ner solchen Beihilferegelung. Erachtet die Überwachungsbehörde die Änderungen der

zuständigen Behörden als geeignet, um die Vereinbarkeit der Beihilferegelung mit

dem ordnungsgemässen Funktionieren des Binnenmarktes zu gewährleisten, so ver-

öffentlicht sie die vorgeschlagenen Massnahmen (Abs. 6). Wenn die Überwachungs-

behörde zur Auffassung gelangt, dass die Beihilferegelung weiterhin mit dem ord-

nungsgemässen Funktionieren des Binnenmarkts unvereinbar ist, so veröffentlicht die

Überwachungsbehörde ihre Stellungnahme und erhebt Beschwerde gegen die Anwen-

dung dieser Beihilferegelung im Einzelfall gemäss Artikel 4 Absatz 3 Buchstabe b

Ziffer iii und Artikel 4 Absatz 5 der jeweiligen Beihilfeprotokolle respektive gemäss

Artikel 14 Absatz 3 Buchstabe b Ziffer iii und Artikel 14 Absatz 5 des Stromabkom-

mens (konkrete Normenkontrolle).

115 / 931

2.2.5.6

Transparenz

Artikel 6 Absatz 1 der beiden Beihilfeprotokolle respektive Absatz 1 des Artikels 16

des Stromabkommens enthalten Vorgaben an die Transparenz hinsichtlich Beihilfen,

die im Gebiet der jeweiligen Vertragspartei gewährt werden. Dies auf der Grundlage

von materiell- und verfahrensrechtlichen Vorschriften, die den in der EU für staatliche

Beihilfen im Geltungsbereich des Abkommens geltenden Vorschriften gleichwertig

sind. Absatz 2 präzisiert den Massstab für gleichwertige Transparenzvorschriften.

Konkret haben die Vertragsparteien die Veröffentlichung folgender Angaben zu ge-

währleisten: a) gewährte Beihilfen; b) Stellungnahmen oder Entscheidungen ihrer

Überwachungsbehörden; c) Entscheidungen ihrer zuständigen Justizbehörden betref-

fend die Vereinbarkeit der Beihilfen mit dem ordnungsgemässen Funktionieren des

Binnenmarktes; und d) die von ihren jeweiligen Überwachungsbehörden gemäss Ar-

tikel 7 Absatz 2 Buchstabe a der jeweiligen Beihilfeprotokolle respektive Artikel 17

Absatz 2 Buchstabe a des Stromabkommens angewandten Leitlinien und Mitteilun-

gen.

2.2.5.7

Modalitäten der Zusammenarbeit und Konsultationen

Artikel 7 der beiden Beihilfeprotokolle respektive Artikel 17 des Stromabkommens

sehen vor, dass die Vertragsparteien im Bereich der staatlichen Beihilfen zusammen-

arbeiten und dazu Informationen austauschen, soweit ihr internes Recht und die ver-

fügbaren Mittel dies zulassen (Abs. 1). Zum Zweck einer einheitlichen Umsetzung,

Anwendung und Auslegung der materiellen Regeln über staatliche Beihilfen und einer

harmonischen Fortentwicklung dieser Regeln arbeiten die Vertragsparteien zusam-

men und konsultieren einander in Bezug auf die relevanten Leitlinien und Mitteilun-

gen, auf die in Abschnitt B des Anhangs II der beiden Beihilfeprotokolle respektive

des Anhangs IV des Stromabkommens Bezug genommen wird (Abs. 2 Bst. a). Die

Überwachungsbehörden der Vertragsparteien treffen zudem Vereinbarungen über ei-

nen regelmässigen Informationsaustausch, inklusive Informationen, die für die Beur-

teilung bestehender Beihilfen von Bedeutung sind. Dies dürfte insbesondere sich ver-

ändernde Umstände betreffen, was für die laufende Beurteilung der Vereinbarkeit

bestehender Beihilferegelungen relevant sein könnte.

Artikel 8 der beiden Beihilfeprotokolle respektive Artikel 18 des Stromabkommens

regeln die Konsultation zwischen den Vertragsparteien im jeweiligen Gemischten

Ausschuss im Zusammenhang mit der Umsetzung der jeweiligen Beihilfeprotokolle-

LandVA und -LuftVA respektive des Beihilfeteils im Stromabkommen (Abs. 1). Im

Falle von Entwicklungen, die wesentliche Interessen einer Vertragspartei betreffen

und sich auf die Funktionsweise des jeweiligen Protokolls respektive des Beihilfeteils

auswirken können, sieht Absatz 2 vor, dass der Gemischte Ausschuss auf Verlangen

einer Vertragspartei innerhalb von 30 Tagen auf geeigneter hochrangiger Ebene zu-

sammentritt, um über die Angelegenheit zu beraten.

Eine gemeinsame Erklärung hält weiter fest, dass die Schweiz Konsultationen bean-

tragen kann, wenn die Europäische Kommission selbst eine finanzielle Unterstützung

gewährt, die den Wettbewerb durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder

der Produktion bestimmter Güter verfälscht oder zu verfälschen droht und den Handel

zwischen den Vertragsparteien im Rahmen des Abkommens beeinträchtigt. Diese Er-

116 / 931

klärung bezweckt, der Schweiz einen Anknüpfungspunkt zu geben, allfällige indust-

riepolitische Massnahmen der EU zu adressieren, welche ihrerseits nicht unter die

völkerrechtlichen Beihilfebestimmungen fallen.

2.2.5.8

Integration von EU-Rechtsakten in die Beihilfeanhänge

Artikel 9 der beiden Beihilfeprotokolle respektive Artikel 19 des Stromabkommens

enthalten eine spezifische Bestimmung betreffend die Integration von neuen EU-

Rechtsakten im Bereich der Beihilfebestimmungen. Konkret erfolgt die Integration

neuer EU-Rechtsakte in diesem Bereich gemäss einem speziellen Äquivalenzmecha-

nismus (vgl. Art. 3 Abs. 4 und 6 und Art. 4 Abs. 2 und 3 Beihilfeprotokoll respektive

Art. 13 Abs. 4 und 6 und Art. 14 Abs. 2 und 3 Stromabkommen), und nicht gemäss

Artikel 5 der institutionellen Zusatzprotokolle respektive Artikel 27 des Stromabkom-

mens. Dass das schweizerische Beihilfeüberwachungssystem teilweise umgesetzt

wird und teilweise aus unmittelbar anwendbaren völkerrechtlichen Beihilfebestim-

mungen besteht, ist mitunter der Grund dafür, dass eine besondere Übernahmeme-

thode für Rechtsakte im Bereich staatlicher Beihilfen vorgesehen wird. Der Umfang

und die rechtliche Einbettung der Verweise auf EU-Rechtsakte werden jeweils spezi-

fisch in den Bestimmungen geklärt, auf die in Artikel 9 Absatz 1 der beiden Beihilfe-

protokolle respektive in Artikel 19 des Stromabkommens verwiesen wird. Das kon-

krete Integrationsverfahren via den Gemischten Ausschuss bleibt unverändert (s.

Ziffer 2.1).

2.2.5.9

Schlussbestimmungen

Das Inkrafttreten der beiden Beihilfeprotokolle ist an das Inkrafttreten des Stabilisie-

rungsteils des Pakets Schweiz–EU geknüpft. Dies wird in Artikel 10 der beiden Bei-

hilfeprotokolle festgehalten. Artikel 11 der beiden Beihilfeprotokolle, der Bestim-

mungen zur Anpassung und Beendigung der beiden Beihilfeprotokolle enthält, ist

wortgleich mit den entsprechenden Bestimmungen der beiden institutionellen Zusatz-

protokolle zu diesen Abkommen. Es wird auf die dortigen Ausführungen verwiesen

(s. Ziff. 2.1.6.6).

2.2.6

Grundzüge des Beihilfeüberwachungsgesetzes

2.2.6.1

Beihilfeüberwachungsgesetz

Das VE-BHÜG setzt die Verpflichtungen der Schweiz aus den Protokollen über staat-

liche Beihilfen zum LuftVA und LandVA sowie dem Beihilfeteil des Stromabkom-

mens um. Konkret soll es das Verfahren zur Überwachung staatlicher Beihilfen des

Bundes, der Kantone und der Gemeinden im Rahmen der relevanten Binnenmarktab-

kommen regeln. Es handelt sich mithin um ein Gesetz mit detaillierten verfahrens-

rechtlichen Bestimmungen in Anlehnung an die entsprechenden Verfahrensregeln der

EU.

Der VE-BHÜG soll wichtige und grundlegende Vorschriften im Sinne von Arti-

kel 164 Absatz 1 BV enthalten. Sie sind auf eine Vielzahl von Situationen anwendbar,

haben erhebliche finanzielle Auswirkungen und sind für die Organisation der Behör-

den ausschlaggebend (s. Ziff. 2.2.10.1 und 2.2.10.2). Für die Kantone werden diese

117 / 931

Bestimmungen neue Aufgaben im Zusammenhang mit der Umsetzung einer Beihil-

fenüberwachung sowie neue Verpflichtungen bei der Umsetzung des Bundesrechts

einführen. Zu diesen neuen Verpflichtungen gehören die Anmeldung von geplanten

Beihilfen sowie die Mitteilung von beihilfegewährenden Entscheiden und Erlassen an

die Überwachungsbehörde, als auch die Transparenzvorschriften bezüglich der von

ihnen gewährten Beihilfen. Folglich muss ein solcher normativer Akt in Form eines

Bundesgesetzes erlassen werden.

Der VE-BHÜG ist in zehn Kapitel strukturiert, die jeweils einen wichtigen Baustein

des schweizerischen Beihilfeüberwachungssystems abbilden (s. auch Ziff. 2.2.7):

Verhältnis zum Stabilisierungs- und Weiterentwicklungsteil des Pakes Schweiz

EU

Es besteht die Möglichkeit, dass das BHÜG nur für die Bereiche Land- und Luftver-

kehr in Kraft treten wird; und zwar falls der Stabilisierungsteil des Pakets Schweiz–

EU angenommen, aber das Stromabkommen als Teil des Weiterentwicklungsteils ab-

gelehnt wird. Die umgekehrte Situation ist nicht möglich. Dies wird voraussichtlich

mittels Koordinationsbestimmungen zu lösen sein. Für die Zwecke der Vernehmlas-

sung werden die das Stromabkommen betreffenden Teile der Bestimmungen im VE-

BHÜG in eckigen Klammern dargestellt.

2.2.6.2

Verworfene Alternativen

Als Alternativen zu einem neuen Bundesgesetz wurden Anpassungen im Subventi-

onsgesetz vom 5. Oktober 1990

85

(SuG) sowie im Binnenmarktgesetz vom 6. Oktober

1995

86

(BGBM) erwogen und verworfen.

Das SuG regelt geldwerte Vorteile, die Empfängern ausserhalb der Bundesverwaltung

gewährt werden, um die Erfüllung einer vom Empfänger gewählten Aufgabe zu för-

dern oder zu erhalten (Finanzhilfen) sowie Leistungen an Empfänger ausserhalb der

Bundesverwaltung zur Milderung oder zum Ausgleich von finanziellen Lasten, die

85

SR

616.1

86

SR

943.02

118 / 931

sich aus der Erfüllung von bundesrechtlich vorgeschriebenen Aufgaben oder öffent-

lich-rechtlichen Aufgaben ergeben (Abgeltungen). Finanzhilfen und Abgeltungen im

Sinne des SuG sind jedoch nicht notwendigerweise staatliche Beihilfen. Denn das

SuG gilt für alle im Bundesrecht vorgesehenen Finanzhilfen und Abgeltungen, ohne

ihre Auswirkungen auf den Wettbewerb zu berücksichtigen. Im Gegensatz zur Rege-

lung von staatlichen Beihilfen hat das SuG auch keinen wettbewerbspolitischen Hin-

tergrund, sondern stellt eine haushaltsrechtliche bzw. finanzpolitische Rahmenrege-

lung dar. Aus diesen Gründen ist das SuG für die Aufnahme von Regeln für staatliche

Beihilfen nicht der geeignete Erlass.

Das BGBM garantiert wiederum allen Personen mit Sitz oder Niederlassung in der

Schweiz einen freien und diskriminierungsfreien Marktzugang, damit sie in der gan-

zen Schweiz eine Erwerbstätigkeit ausüben können. Auf Ebene der Kantone ent-

spricht das BGBM im Grundsatz der Idee der Personen- und Dienstleistungsfreizü-

gigkeit des EU-Rechts zwischen den EU-Mitgliedsstaaten. Ebenso wie im EU-Recht

bedarf die Einführung einer solchen Freizügigkeit – zumindest aus ökonomischer

Sicht – zugleich einer Kontrolle staatlicher Beihilfen, um diese Rechte auch effektiv

wahrnehmen zu können. Daher hielt bereits die Botschaft zum BGBM von 1994

87

fest, dass «in Reaktion auf die Schaffung des Binnenmarktes Schweiz kein Rückgriff

auf vermehrte Subventionen und auf exzessive Steuererleichterungen eintreten darf».

Damals wurde jedoch aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken (allenfalls fehlende

Bundeskompetenz) auf eine Regulierung staatlicher Beihilfen der Kantone verzichtet.

Zwischenzeitlich wurde die Bundesverfassung totalrevidiert.

88

Jedenfalls die aktuelle

Bundesverfassung steht einer Regulierung der kantonalen Beihilfen durch den Bund

grundsätzlich nicht entgegen (s. Ziff. 2.2.11.2.2). In der Teilrevision des BGBM von

2005

89

wurde dennoch darauf verzichtet, eine Kontrollmöglichkeit für wettbewerbs-

verzerrende kantonale und kommunale Beihilfen einzuführen. Auch das VE-BHÜG

sieht keine sektorübergreifende Überwachung der Beihilfen der Kantone vor, sondern

erfasst nur die Sektoren Luftverkehr, Landverkehr und Strom. Die vorgesehene Bei-

hilfeüberwachung ist sodann primär auf den Schutz einheitlicher Wettbewerbsbedin-

gungen zwischen den Unternehmen der EU und der Schweiz in diesen Sektoren aus-

gerichtet, auch wenn sie auch einen Beitrag zu einem einheitlichen schweizerischen

Wirtschaftsraum leistet (s. Ziff. 2.2.11.2.2). Schliesslich erfordert diese Ausrichtung

auch eine Überwachung der Beihilfen auf Bundesebene, das BGBM ist aber bisher

primär auf Beschränkungen des freien und gleichberechtigten Marktzugangs durch

die Kantone ausgerichtet.

Es wurde auch eine Anpassung der Bundesverfassung erwogen. Dies könnte den

Handlungsspielraum des Bundes für das VE-BHÜG erweitern: Wenn beispielsweise

dem Bund, ähnlich wie im Kartellrecht, für die Beihilfeüberwachung eine umfassende

Bundeskompetenz eingeräumt würde, wären dem Bund weitergehende Eingriffe in

die kantonale Organisations- und Verfahrensautonomie möglich. Damit könnte das

Beihilfeüberwachungsverfahren näher an dem der EU ausgestaltet werden. Es könnte

etwa für kantonale Beihilfen vorgesehen werden, dass diese nur mit der Zustimmung

87

BBl

1995

I 1213, S. 1281

88

Vgl. Botschaft vom 20. Nov. 1996 über eine neue Bundesverfassung. BBl 1997 I 1.

89

BBl

2005

465, S. 477

119 / 931

(rechtlich verbindlicher Entscheid) der Überwachungsbehörde gewährt werden dür-

fen. Bis zum Entscheid der Überwachungsbehörde könnte auch für kantonale Beihil-

fen ein Durchführungsverbot vorgesehen werden. Zudem könnte gegen die Ent-

scheide der Überwachungsbehörde ein direkter Rechtsmittelweg an ein Gericht des

Bundes vorgesehen werden. Weil die Entscheide der Überwachungsbehörde lediglich

in Anwendung von Bundesrecht ergehen würden (Vereinbarkeit der geplanten Bei-

hilfe mit dem Beihilferecht), würde es genügen, wenn die Rechtsmittelinstanz die

Verletzung von Bundesrecht prüfen könnte. Im VE-BHÜG kann die Überwachungs-

behörde dagegen nur rechtlich unverbindliche Stellungnahmen abgeben. Gegen die

Stellungnahme kann somit auch kein Rechtsmittel erhoben werden. Anfechtungsob-

jekt ist vielmehr die kantonale Beihilfe, welche auch in Anwendung von kantonalem

Recht ergeht (insb. die Rechtsgrundlage für die Gewährung der Beihilfe wird i. d. R.

kantonalrechtlich sein). Dementsprechend muss die Rechtsmittelinstanz auch die Ver-

letzung von kantonalem Recht prüfen können, was einen direkten Rechtsmittelweg an

ein Gericht des Bundes bei kantonalen Beihilfen verunmöglicht.

Die Anpassung der Bundesverfassung wurde jedoch verworfen. Der Bundesrat hat in

seinem Mandat zu den Verhandlungen mit der EU vom 8. März 2024 ausdrücklich

vorgegeben, dass die Regeln zu Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen

sowie die Gewaltenteilung, inklusive Artikel 190 BV, zu respektieren sind. Eine An-

passung der Bundesverfassung würde auch einen Eingriff in die kantonale Organisa-

tions- und Verfahrensautonomie konstituieren, welcher nicht absolut zwingend not-

wendig ist, um den Zweck des Gesetzes und der Beihilfeprotokolle sowie des

Beihilfeteils des Stromabkommens zu erreichen. Deshalb soll ein Beihilfeüberwa-

chungssystem in der Schweiz innerhalb bestehender verfassungsrechtlicher Schran-

ken eingeführt werden.

Exkurs: Rechtsmittel ans Bundesverwaltungsgericht bei kantonalen Beihilfen

Ein einheitliches direktes Beschwerderecht an das Bundesverwaltungsgericht auch für

kantonale Beihilfen war ursprünglich ein Anliegen der Kantone. Damit sollte ein auf-

wändiger Kompetenzaufbau im Beihilferecht vermieden werden und das Verfahren

möglichst schlank gehalten werden. Schliesslich wurde diese Option aber aus den fol-

genden Gründen verworfen:

Der Rechtsmittelweg bei Beschwerden gegen kantonale Akte richtet sich nach dem

kantonalen Recht. Der Bund kann den Kantonen keinen bestimmten Beschwerdeweg

vorschreiben oder gar eine direkte Beschwerde an ein Bundesgericht vorsehen und

somit die kantonale Verwaltungsrechtspflege und Verwaltungsgerichtsbarkeit aus-

schliessen. Zwar könnte der Bund den Kantonen den direkten Rechtsmittelweg an das

Bundesverwaltungsgericht auf freiwilliger Basis ermöglichen. Dies stösst aber auf

schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken. Gemäss Artikel 191

b

Absatz 1 BV

sind die Kantone verpflichtet, für die Beurteilung von öffentlich-rechtlichen Streitig-

keiten richterliche Behörden zu bestellen. Diese Verpflichtung gilt in allen Bereichen,

in welchen die Kantone für die Rechtsanwendung zuständig sind. Ein Verzicht der

Kantone auf ihre Gerichtsbarkeit ist somit aus verfassungsrechtlicher Sicht grundsätz-

lich problematisch.

120 / 931

Zudem können auch weitere Beschwerdeberechtigte (bspw. Konkurrenten) Be-

schwerde gegen Beihilfen erheben. Diese müssen, im Gegensatz zur Überwachungs-

behörde, alle Rechtsverletzungen geltend machen können, so insbesondere auch Ver-

letzungen des kantonalen Rechts. In Frage kommen insbesondere die Verletzung der

Rechtsgrundlage für die Beihilfe (insb. der Voraussetzungen und Modalitäten der Bei-

hilfegewährung), sodann die Verletzung der kantonalen Querschnittsregelungen für

Beihilfen (analog zum SuG auf Bundesebene). Die Rechtsmittelinstanz muss somit

kantonale Beihilfen nicht nur auf ihre Vereinbarkeit mit dem Bundesrecht, sondern

auch auf ihre Vereinbarkeit mit dem kantonalen Recht prüfen können (Rechtswegga-

rantie, Art. 29

a

BV). Wenn ein direkter Rechtsmittelweg an das Bundesverwaltungs-

gericht bestünde, hätte dies deshalb zwingend eine der folgenden beiden Varianten

zur Folge. (1) Die Beschwerdegründe vor dem Bundesverwaltungsgericht (Art. 49

VwVG

90

in Verbindung mit Art. 37 VGG

91

) müssten auf die Verletzung von kanto-

nalem Recht ausgedehnt werden. (2) Es müsste eine Spaltung des Rechtsmittelwegs

nach den Beschwerdegründen vorgesehen werden: Die Verletzung von kantonalem

Recht müsste im kantonalen Rechtsmittelsystem, die Verletzung des Beihilferechts

vor dem Bundesverwaltungsgericht geltend gemacht werden.

Eine Erweiterung der Beschwerdegründe vor dem Bundesverwaltungsgericht auf die

Verletzung von kantonalem Recht wäre kaum mit der Autonomie der Kantone

(Art. 47 BV) vereinbar. Die Anwendung und Auslegung kantonalen Rechts sind

grundsätzlich Sache der Kantone.

92

Die Erweiterung der Beschwerdegründe würde

auch grosse praktische Probleme mit sich bringen. So wäre das Bundesverwaltungs-

gericht beispielsweise verpflichtet, die Einhaltung der 26 verschiedenen kantonalen

Rechtsordnungen zu prüfen. Diese Variante ist daher abzulehnen.

Eine Spaltung des Rechtsmittelwegs ist aus Sicht eines effektiven Rechtsschutzes und

aufgrund zahlreicher, schwer zu lösender Probleme in der Umsetzung ebenfalls nicht

erstrebenswert. Für die Rechtsunterworfenen ist eine Spaltung mit einer erhöhten Ge-

fahr des Rechtsverlusts (Anrufung der falschen Rechtsmittelinstanz mit unterschied-

lichen Beschwerdefristen, Vorbringen und Begründung der Beschwerdegründe im

falschen Rechtsmittelverfahren) und bei Beschreitung des Rechtsweges mit einem er-

höhten Aufwand verbunden. Ein schlankes Verfahren kann damit nicht erreicht wer-

den.

Schliesslich wäre bei einem direkten Rechtsmittelweg an das Bundesverwaltungsge-

richt zu beachten, dass dieser lediglich eine freiwillige Möglichkeit für die Kantone

darstellen kann. Dementsprechend müsste ein kohärentes Rechtsmittelsystem sowohl

auf Kantone, welche von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, als auch auf Kantone,

welche dies nicht tun, ausgerichtet sein. Das Funktionieren und die Kohärenz des

Rechtsmittelsystems wären schliesslich in erheblichem Umfang von der Ausgestal-

tung im kantonalen Recht abhängig. Entsprechend hat der Bundesrat im VE-BHÜG

90

SR

172.021

91

SR

173.32

92

Vgl. dazu sowie zu den Ausnahmen Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege

vom 28. Feb. 2001, BBl 2001 4202, hier 4335.

121 / 931

den üblichen Rechtsweg über die kantonalen Gerichte vorgesehen. Nicht ausgeschlos-

sen ist dabei, dass sich die Kantone über ein Konkordat auf ein gemeinsames Gericht

einigen.

2.2.6.3

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

Der Schutz des Wettbewerbs vor Verzerrungen durch Beihilfen erfordert eine Form

der Überwachung, die durch eine unabhängige Behörde analog zur EU sichergestellt

werden muss. Um die Verhältnismässigkeit der Überwachung sicherzustellen, sollen

sich oft wiederholende oder kleinere Fälle, welche den Wettbewerb kaum signifikant

verzerren sollten, in einem geringeren Rahmen überwacht werden. Dies wird jeweils

durch Gruppenfreistellungs- beziehungsweise die De-minimis-Regulierung (s.

Ziff. 2.2.4 und 2.2.5.3) sichergestellt.

Die (unverbindliche) Aufsichtsrolle soll durch eine Überwachungsbehörde auf Bun-

desebene erfüllt werden, um die Verfahrenseffizienz sicherzustellen. Theoretisch

könnten die Aufgaben je nach Kanton und für den Bund durch 27 verschiedene Be-

hörden erfüllt werden. Angesichts der geringen Anzahl erwarteter Fälle (s.

Ziff. 2.2.10) und zur Bildung einer einheitlichen Praxis wäre eine solche Lösung sehr

ineffizient, da die Fachexpertise sowie administrative Unterstützung jeweils separat

aufgebaut werden müssten.

Auch eine Trennung der Überwachungsbehörde für die drei Sektoren wäre ineffizient.

Es kann auch nicht sichergestellt werden, dass in jedem relevanten Sektor (etwa Luft-

fahrt) eine zuständige Regulierungsbehörde besteht. Zudem wäre die einheitliche An-

wendung des Beihilferechts und somit die Rechtssicherheit gefährdet.

Zudem soll die Überwachungsbehörde unabhängig sein, weshalb diese öffentliche

Aufgabe weder durch die Zentralverwaltung erfüllt noch an eine Organisation oder

Person des privaten Rechts übertragen werden kann. Wichtig ist insbesondere die Un-

abhängigkeit der Überwachungsbehörde vom Bundesrat, der Bundesverwaltung und

den Kantonen, da sie jeweils auch ein Interesse an der Zulässigkeit ihrer Beihilfen

haben (s. Erläuterungen zu Art. 3 VE-BHÜG in Ziff. 2.2.7).

2.2.6.4

Umsetzungsfragen

Das vorliegende Gesetz sieht verschiedene Pflichten im Zusammenhang mit der Bei-

hilfeüberwachung vor, welche auch die kantonalen Behörden betrifft, die Beihilfen

gewähren möchten. Sie werden zukünftig einer Anmeldepflicht, einer Mitteilungs-

pflicht sowie Zustellungs- und Berichterstattungspflichten unterliegen.

Die Kantone können Vorprüfstellen einrichten, welche die Anmeldung der Vorhaben

von kantonalen Behörden übernehmen und unter Umständen auch für weitere Pflich-

ten zumindest eine koordinierende Funktion haben könnten.

Das Beschwerdeverfahren gegen kantonale Beihilfen richtet sich grundsätzlich nach

dem kantonalen Verwaltungsverfahrensrecht, jedoch sind zusätzlich die Verfahrens-

bestimmungen des VE-BHÜG zu beachten. Vorgesehen ist beispielsweise eine ein-

heitliche Beschwerdefrist für die Überwachungsbehörde von 30 Tagen oder eine aus-

drückliche Regelung der Wirksamkeit und aufschiebenden Wirkung.

122 / 931

2.2.6.5

Verordnungen sowie Publikationen der

Überwachungsbehörde

Die technischen Fragen im Zusammenhang mit der Beihilfeüberwachung werden auf

Verordnungsstufe (z. B. Organisationsverordnung vom 14. Juni 1999

93

für das Eid-

genössische Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung) geregelt.

Auf Stufe Departementsverordnung des Eidgenössischen Departement für Wirtschaft,

Bildung und Forschung (WBF) werden folgende Elemente geregelt:

Modalitäten bei signifikanten Änderungen,

Modalitäten zum Anmeldungsverfahren,

Das Formular für Konkurrenten im Rahmen von Art. 21 VE-BHÜG,

Festlegung eines Zinssatzes im Zusammenhang mit Rückforderungen,

Modalitäten zur summarischen Berichterstattung,

Modalitäten zur Veröffentlichung der Beihilfen und Stellungnahmen inner-

halb einer Datenbank.

Auf Stufe des Bundesrates wird das folgende Element geregelt:

Die Festsetzung der Gebühren für die Beratung.

Als Beispiel für eine ähnliche Verfahrensverordnung kann die kartellrechtlichen Ver-

ordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen dienen (s. Verord-

nung vom 17. Juni 1996

94

über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen).

Der Überwachungsbehörde beziehungsweise den Wettbewerbsbehörden wird grund-

sätzlich Autonomie bei der detaillierten Gestaltung ihrer internen Organisation sowie

gewissen Veröffentlichungen eingeräumt (Ausnahme nach Art. 3 Absätze 1–3 VE-

BHÜG). Dazu werden Formulare und Merkblätter gehören, zum Beispiel für die An-

meldung und Beurteilung von Beihilfen, oder Erläuterungen und Bekanntmachungen

zu formalen Fragen. In jedem Fall wird das Geschäftsreglement zumindest vom Bun-

desrat genehmigt, wie dies heute bei der WEKO der Fall ist.

Im Vergleich dazu kann die Europäische Kommission im EU-Recht

95

Durchführungs-

vorschriften (vergleichbar zu Verordnungen) zu folgenden Punkten erlassen: (1)

Form, Inhalt und andere Einzelheiten von Anmeldungen, (2) Form, Inhalt und andere

Einzelheiten von Jahresberichten, (3) Form, Inhalt und andere Einzelheiten zu Be-

schwerden Dritter und deren Würdigung durch die Europäischen Kommission, (4)

Einzelheiten zu den Fristen und zur Festlegung der Fristen und (5) die Zinssätze (s.

dazu auch die Ausführungen zu Art. 41 Abs. 2 VE-BHÜG).

93

SR

172.216.1

94

SR

251.4

95

Vgl. Art. 22 der EU-Verordnung (EU) 2015/1589.

123 / 931

2.2.7

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des

Beihilfeüberwachungsgesetzes

Ingress

Der Bund kann sich beim Erlass des VE-BHÜG für die Überwachung von Beihilfen

des Bundes auf die inhärente Organisationskompetenz des Bundes (Art. 173 Abs. 2

BV) sowie für die Überwachung von Beihilfen der Kantone auf die Artikel 95 Ab-

satz 2 Satz 1, 54 Absatz 1, 101 Absatz 1 BV und ergänzend auf die sektorspezifischen

Bundeskompetenzen gemäss den Artikeln 87 und 92 Absatz 1 BV stützen. Die detail-

lierten Ausführungen zur Verfassungsgrundlage befinden sich in Ziffer 2.2.11.1.

Mit diesem Gesetz werden die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz aus

den beiden Beihilfeprotokollen respektive dem Beihilfeteil des Stromabkommens um-

gesetzt (s. Ziff. 2.2.5). Folglich muss im vorliegenden Gesetz das Beihilfeüberwa-

chungsverfahren geregelt werden. Mit der Umsetzung der Beihilfeüberwachung in

den von den völkerrechtlichen Verpflichtungen im Bereich des Beihilferechts umfass-

ten Sektoren behalten beziehungsweise erhalten die Schweizer Unternehmen Zugang

zu den Bereichen des Binnenmarkts, an denen die Schweiz teilnimmt. Zudem soll der

VE-BHÜG einen Beitrag zu einem einheitlichen schweizerischen Wirtschaftsrahmen

und zum Schutz des Wettbewerbs leisten. Im Gegensatz zum Kartellgesetz vom

6. Oktober 1995

96

(KG) fokussiert es sich dabei konkret auf die Verhinderung der

schädlichen Auswirkungen von staatlichen Beihilfen.

1. Kapitel: Allgemeine Bestimmungen

Art. 1

Gegenstand und Geltungsbereich

Abs. 1

Der sachliche Geltungsbereich des Vorentwurfs ist auf Beihilfen an Unternehmen,

welche im Geltungsbereich der drei bilateralen Binnenmarktabkommen der Schweiz

mit der EU tätig sind, beschränkt (s. Ziff. 2.2.5.3). Die drei Binnenmarktabkommen

umfassen die Bereiche Land- und Luftverkehr sowie Strom. Konkret setzt der VE-

BHÜG die Verpflichtung in Artikel 4 der beiden Beihilfeprotokolle zu diesen Ab-

kommen sowie in Artikel 14 des Stromabkommens um.

97

Dabei wird der sogenannte

«Zwei-Pfeiler-Ansatz» für das Schweizer Beihilfeüberwachungssystem umgesetzt:

Die direkt anwendbaren materiell-rechtlichen Vorgaben der völkerrechtlichen Beihil-

febestimmungen entsprechen weitgehend dem Beihilferecht der EU

98

. Die Schweiz

führt aber ihr eigenes, gleichwertiges Beihilfeüberwachungssystem ein. Sie legt die

verwendeten EU-Rechtsbegriffe einheitlich aus und wendet diese einheitlich an, so-

weit die völkerrechtlichen Bestimmungen nicht vom EU-Recht abweichen (s.

Ziff. 2.2.5.3).

96

SR

251

97

Art. 4 Abs. 1 und 3 i.V.m Art. 1 der beiden Beihilfeprotokolle respektive Art. 14 Abs. 1

und 3 i.V.m. Art. 11 des Stromabkommens.

98

Insbesondere Art. 93, 106 Absatz 2, 107, 108 und 109 AEUV und die Unionsrechtsakte im

Bereich der staatlichen Beihilfen sowie weitere Unionsrechtsakte über staatliche Beihilfen,

die den jeweiligen Sektor betreffen.

124 / 931

Das Überwachungssystem wird einheitliche Wettbewerbsbedingungen zwischen

Schweizer und EU-Unternehmen gewährleisten, die im Geltungsbereich der Abkom-

men tätig sind. Durch die VE-BHÜG geregelte Beihilfeüberwachung beschränkt sich

auf den Wettbewerb zwischen Unternehmen, die in der Schweiz und/oder in der EU

tätig sind. Die Beihilfedefinition in den Beihilfeprotokollen respektive dem Stromab-

kommen setzt unter anderem eine Verzerrung des Wettbewerbs sowie eine Beein-

trächtigung des Handels zwischen der Schweiz und der EU im Geltungsbereich der

betreffenden Abkommen voraus (s. Ziff. 2.2.5.3). Im Lichte der EuGH-Rechtspre-

chung können diese Voraussetzungen auch dann erfüllt sein, wenn Beihilfen an aus-

schliesslich in der Schweiz tätige Unternehmen gewährt werden, die sich potenziell

(jedoch nicht rein hypothetisch) auf den zwischenparteilichen Handel und den Wett-

bewerb in den erfassten Bereichen des Binnenmarkts auswirken. Grundsätzlich kön-

nen demnach auch Beihilfen, die den Wettbewerb im Binnenmarkt der Schweiz ver-

zerren, Gegenstand der Beihilfeüberwachung sein, sofern die Beihilfen an

Unternehmen für Tätigkeiten gewährt werden, die unter den Geltungsbereich der Ab-

kommen fallen

(s. Ziff. 2.2.11.1).

Der Geltungsbereich des VE-BHÜG umfasst somit ausschliesslich Beihilfen, die den

Handel zwischen der Schweiz und der EU im Geltungsbereich der Abkommen beein-

trächtigen. Dies umfasst auch allfällige Beihilfen von Schweizer Beihilfegebern an

EU-Unternehmen, soweit diese den Handel zwischen der Schweiz und der EU im

Geltungsbereich der Abkommen beeinträchtigen. Beihilfen von Schweizer Beihilfe-

gebern an Unternehmen, welche den Handel zwischen der Schweiz und der EU im

Geltungsbereich der Abkommen nicht beeinträchtigen (z. B. im Rahmen einer Ex-

portrisikoversicherung für Tätigkeiten ausserhalb der EU), unterstehen nicht der

Schweizer Beihilfeüberwachung. Denn der allfällige beeinträchtigte Handel wäre

nicht vom Geltungsbereich der Abkommen erfasst.

Abs. 2

Allgemeiner Teil

Die Merkmale einer Beihilfe werden im vorliegenden Gesetz aus dem Artikel 3 der

Beihilfeprotokolle respektive Artikel 13 des Stromabkommens übernommen (s.

Ziff. 2.2.5.3). Die in diesen Artikeln verwendeten Definitionen entsprechen weitest-

gehend der Beihilfedefinition im EU-Recht im Sinne von Artikel 107 AEUV.

Der VE-BHÜG gilt für Beihilfen, welche aus staatlichen Mitteln gleich welcher Art

gewährt werden und den Wettbewerb verfälschen beziehungsweise zu verfälschen

drohen, indem bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige begünstigt werden,

sofern sie den Handel zwischen der Schweiz und der EU innerhalb des Geltungsbe-

reiches der Abkommen nach Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG beeinträchtigen.

Aus der Beihilfedefinition ergeben sich mehrere Voraussetzungen: Staatliche Her-

kunft der Mittel, Unternehmen als Empfänger, Begünstigung, Selektivität, die Verfäl-

schung des Wettbewerbs und die Beeinträchtigung des Handels. Diese werden im Fol-

genden einzeln erläutert. Wenn sämtliche dieser Voraussetzungen erfüllt sind, sind sie

mit dem ordnungsgemässen Funktionieren des Binnenmarktes grundsätzlich unver-

einbar. Die beihilferechtlichen Bestimmungen der völkerrechtlichen Verträge enthal-

ten aber eine Vielzahl an Rechtfertigungsmöglichkeiten, die das grundsätzliche Ver-

bot in der Praxis stark relativieren (s. Ziff. 2.2.5.3).

125 / 931

Staatliche Herkunft der Mittel

Eine Beihilfe muss dem Staat zugerechnet werden können, das heisst von staatlichen

Organen beziehungsweise Trägern von öffentlichen Aufgaben gewährt werden. Sie

muss zudem unmittelbar oder mittelbar aus staatlichen Mitteln gewährt werden. Wäh-

rend unmittelbar aus staatlichen Mitteln gewährte Vorteile aus öffentlichen Mitteln

beziehungsweise Mitteln des öffentlichen Sektors oder sonstigen öffentlichen Ein-

richtungen stammen, kann der Staat bei mittelbar aus staatlichen Mitteln gewährten

Vorteilen auf diese zugreifen beziehungsweise diese kontrollieren. Die Übertragung

staatlicher Mittel kann verschiedene Formen annehmen, wie zum Beispiel direkte Zu-

schüsse, Darlehen, Garantien, Beteiligungen am Kapital von Unternehmen, Sachleis-

tungen, steuerlichen Beihilfen sowie Schuldenerlasse.

Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG unterscheidet wie die Artikel 3 der Beihilfeprotokolle

respektive Artikel 13 des Stromabkommens zwischen «staatliche[n] oder aus staatli-

chen Mitteln gewährte Beihilfen». Es ist in der Praxis und Rechtsprechung der EU

jedoch anerkannt, dass das «oder» als «und» zu lesen ist. Es handelt sich also um zwei

kumulative Voraussetzungen. Zwar umfasst das Wort «staatlich» im schweizerischen

Recht grundsätzlich bereits alle Träger von öffentlichen beziehungsweise staatlichen

Verwaltungsaufgaben. Neben der klassischen Verwaltung fallen also beispielsweise

auch Private, welche öffentliche (oder staatliche) Aufgaben wahrnehmen, unter den

Begriff «staatlich» (s. dazu auch Art. 2 Abs. 4 des Regierungs- und Verwaltungsor-

ganisationsgesetzes vom 21. März 1997

99

[RVOG] bzw. die Ausführungen zu Art. 2

Bst. a VE-BHÜG). Wird eine staatliche Aufgabe an Private ausgelagert, bleibt sie eine

staatliche Aufgabe, für deren richtige und grundrechtskonforme Erfüllung der Staat

weiterhin Verantwortung trägt. Organisationsform und Natur des Aufgabenträgers

sind somit nicht entscheidend. Es wurden dennoch beide Begriffselemente aufgenom-

men, um sicherzustellen, dass jegliche Konstellation erfasst bleibt und jegliche Ab-

weichungen von den materiellrechtlichen Bestimmungen vermieden wird.

Geldwerte Vorteile, wie nichtrückzahlbare Geldleistungen, Vorzugsbedingungen bei

Darlehen, unentgeltliche oder verbilligte Dienst- und Sachleistungen sowie Abgeltun-

gen zur Milderung oder zum Ausgleich von finanziellen Lasten im Sinne des SuG

können eine Beihilfe darstellen. Der Vorteil, den eine Beihilfe bewirkt, umfasst jegli-

che Art der Belastungsminderung und ist deshalb noch breiter zu verstehen.

100

Eine

Beihilfe kann zudem, wie die Subvention, die Erfüllung einer vom Empfänger ge-

wählten Aufgabe fördern oder Lasten, die sich aus öffentlich Aufgaben ergeben, aus-

gleichen. Dies ist aber im Gegensatz zur Subvention kein Wesensmerkmal der Bei-

hilfe. Bei einer Qualifikation als Subvention spielen hingegen die (potenziellen)

Wirkungen auf den Wettbewerb keine Rolle.

Unternehmen als Empfänger der staatlichen Beihilfe

99

SR

172.010

100

Vgl. bspw. Stephan Breitenmoser/Alain Bai, 2. Teil Abhandlungen / Europarechtlicher

Rahmen für schweizerische Subventionen, in: Schweizerisches Jahrbuch für Europarecht,

2023, S. 395-415, 400 f. sowie Urteil vom 15. März 1994 C-387/92 Banco de Crédito In-

dustrial SA / Ayuntamiento de Valencia, Rn. 12 ff.

126 / 931

Als Beihilfeempfänger kommen nur Unternehmen infrage (s. Erläuterungen zu Art. 2

Bst. b VE-BHÜG). Nach der Rechtsprechung des EuGH umfasst der Begriff des Un-

ternehmens jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ih-

rer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung. Eine wirtschaftliche Tätigkeit liegt

grundsätzlich vor, wenn die Einheit eine Ware oder Dienstleistung auf einem Markt

anbietet. Dabei gilt im europäischen Wettbewerbsrecht ein einheitlicher Unterneh-

mensbegriff. Somit kann in beihilferechtlichen Sachverhalten

tel quel

auf die Praxis

zum kartellrechtlichen Unternehmensbegriff des EU-Rechts zurückgegriffen werden.

Die Legaldefinition des kartellrechtlichen Unternehmensbegriffs gemäss Artikel 2

Absatz 1

bis

KG orientierte sich sehr eng am europäischen Recht. Allerdings ist seit

dem jüngeren Entscheid des EuGH in Sachen

Sumal

101

unklar, inwieweit diese Vor-

bildfunktion in Bezug auf den Schweizer Unternehmensbegriff weiterhin besteht. Un-

ter Produktionszweig ist eine Branche zu verstehen, wobei hier sowohl Waren als

auch Dienstleistungen erfasst werden.

Begünstigung

Durch die Beihilfe muss dem Unternehmen ein wirtschaftlicher Vorteil entstehen, den

es unter normalen Marktbedingungen, das heisst ohne staatliche Intervention, nicht

erhalten hätte. Dabei ist nur die Auswirkung der staatlichen Handlung auf das Unter-

nehmen relevant, nicht jedoch der Grund oder das Ziel der staatlichen Intervention.

Um das Vorliegen eines Vorteils zu beurteilen, muss die finanzielle Situation des Un-

ternehmens nach Gewährung der Beihilfe mit der finanziellen Situation verglichen

werden, die es ohne diese gehabt hätte.

Selektivität

Das Selektivitätskriterium im Rahmen der Beihilfedefinition bezieht sich auf die

Frage ob, eine staatliche Massnahme bestimmte Unternehmen oder Produktions-

zweige bevorzugt und ihnen einen wirtschaftlichen Vorteil verschafft. Eine Mass-

nahme wird als selektiv angesehen, wenn sie nur einzelnen oder einer bestimmten

Gruppe von Unternehmen zugutekommt und damit den Wettbewerb verzerrt. Um als

staatliche Beihilfe zu gelten, muss diese selektive Förderung den Wettbewerb inner-

halb des Geltungsbereichs der Abkommen nach Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG ver-

fälschen oder zu verfälschen drohen (s. Ziff. 2.2.5.3).

Wettbewerbsverfälschung und Beeinträchtigung des Handels

Finanzielle Zuwendungen, die vom Staat gewährt werden, gelten als den Wettbewerb

verfälschend oder dazu drohend, wenn sie den Beihilfeempfänger gegenüber seinen

Wettbewerbern wirtschaftlich besserstellen, das heisst ihm einen Wettbewerbsvorteil

verschaffen können (s. Ziff. 2.2.5.3).

Schliesslich müssen die gewährten Beihilfen den Handel zwischen der Schweiz und

der EU und den Wettbewerb innerhalb des Geltungsbereichs der Abkommen nach

Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG beeinträchtigen respektive verzerren können (s.

Ziff. 2.2.5.3).

Abs. 3

101

EuGH

, ECLI:EU:C:2021:800 –

Sumal

(ECLI:EU:C:2021:800).

127 / 931

Artikel 3 Absatz 6 der Beihilfeprotokolle respektive Artikel 13 Absatz 6 des Strom-

abkommens sehen einen Anwendungsausschluss vor. Danach gelten die Vertragsbe-

stimmungen nicht für Beihilfen, die unter dem sogenannten De-minimis-Schwellen-

wert gewährt wurden.

102

Die EU-Verordnungen

103

zur Freistellung geringfügiger

Beihilfebeträge betreffen Unterstützungsmassnahmen, die von der Beihilfeüberwa-

chung ausgenommen sind («De-minimis-Beihilfen»). Aufgrund ihrer geringen Höhe

wird davon ausgegangen, dass sie keine Auswirkungen auf den Wettbewerb oder den

zwischenstaatlichen Handel haben. Diese Massnahmen erfüllen folglich auch nicht

alle Kriterien des Beihilfebegriffs (Art. 3 Abs. 1 der Beihilfeprotokolle respektive

Art. 13 Abs. 1 des Stromabkommens). Artikel 3 Absatz 6 der Beihilfeprotokolle res-

pektive Artikel 13 Absatz 6 des Stromabkommens schliessen De-minimis-Beihilfen

aber vollständig vom Geltungsbereich der Beihilfeprotokolle respektive des Beihilfe-

teils des Stromabkommens aus. Dementsprechend werden sie auch durch den vorlie-

genden Absatz vom Geltungsbereich des VE-BHÜG ausgeschlossen. Der Schwellen-

wert für solche Beihilfen liegt derzeit

104

bei 300 000 Euro pro Unternehmen über drei

Jahre, wobei in einigen Sektoren abweichende Schwellenwerte gelten können. Der

gewährte Betrag bemisst sich gemäss den Beihilfeprotokollen respektive dem Beihil-

feteil des Stromabkommens nach dem Betrag, der für Tätigkeiten im Geltungsbereich

des jeweiligen Abkommens für ein einzelnes Unternehmen gewährt wird (s.

Ziff. 2.2.5.3). Zur Prüfung, ob der Schwellenwert überschritten wurde, ist der in

Schweizer Franken gewährte Betrag in Euro zu konvertieren. Es gilt der Wechselkurs

am Tag der Beihilfegewährung.

Art. 2

Begriffe

Die aufgelisteten Begriffsdefinitionen dienen dem besseren Verständnis des Gesetzes.

Einige Definitionen wurden unverändert aus dem EU-Recht übernommen, für andere

wurde davon abgewichen, um an der üblichen rechtlichen Terminologie der Schweiz

anzuknüpfen und damit eine bessere Eingliederung in die Schweizer Rechtsordnung

sicherzustellen oder um dem von der EU abweichenden Verfahren der Beihilfeüber-

wachung Rechnung zu tragen. Eine Abweichung vom materiellen Beihilferecht ist

damit nicht verbunden, zumal das VE-BHÜG nur das Verfahren der Beihilfeüberwa-

chung regelt. Bei der Auslegung der einzelnen Begriffe ist im Hinblick auf die Ver-

pflichtung der Schweiz, ein äquivalentes Beihilfeüberwachungssystem zu schaffen,

neben dem materiellen Beihilferecht auch die Rechtsprechung und Praxis der EU zu

berücksichtigen.

102

s. Artikel 3 Absatz 6 i.V.m. Anhang I Abschnitt C des Protokolls respektive Artikel 13

Absatz 6 i.V. m. Anhang III Abschnitt C des Stromabkommens, sowie Ziff. 2.2.5.3 und

2.2.4.

103

Verordnung (EU) Nr. 2023/2831 der Kommission vom 13. Dezember 2023 über die An-

wendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen

Union auf De-minimis-Beihilfen; Verordnung (EU) 2023/2832 der Kommission vom

13. Dezember 2023 über die Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die

Arbeitsweise der Europäischen Union auf De-minimis-Beihilfen an Unternehmen, die

Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erbringen.

104

Neue Verordnung (EU) 2023/2831 der Kommission vom 13. Dezember 2023 über die An-

wendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen

Union auf De-minimis-Beihilfen, in Kraft seit dem 1. Januar 2024.

128 / 931

In der folgenden Tabelle sind die wichtigsten Abweichungen von der EU-

Terminologie dargestellt:

Tabelle 2.2.7 (1): Abweichungen im VE-BHÜG von der beihilferechtlichen Ter-

minologie der EU

Begriff im VE-BHÜG

Begriff im EU-Beihilferecht

Nicht angemeldete bzw. mitgeteilte

Beihilfe

Rechtswidrige Beihilfe

Umsetzungsbeihilfe

Anwendung einer Beihilferege-

lung / Einzelbeihilfe

Einfache Prüfung

Vorläufige Prüfung

Vertiefte Prüfung

Formelles Prüfungsverfahren

Anzeige nach Art. 28 VE-BHÜG

Beschwerde nach Art. 24 Abs. 2

der Verordnung (EU) 2015/1589

Änderungen nach Art. 47 Abs. 1

VE-BHÜG

Zweckdienliche Massnahmen

Bst. a

Als

Beihilfegeber

gilt jede Behörde, welche die Gewährung einer Beihilfe vorbereitet,

eine Beihilfe gewährt, eine Beihilferegelung ausarbeitet oder erlässt. Der Begriff ist

folglich weit und umfasst nicht nur die Behörden, welche am Schluss des Verfahrens

die Beihilfe gewähren. Vielmehr werden alle Behörden erfasst, die für einen Teil des

Erarbeitungs- und Gewährungsprozesses einer Beihilfe verantwortlich sind. Das be-

deutet, dass beispielsweise beim Erlass einer neuen Beihilferegelung oder einer Ad-

hoc-Beihilfe in der Form eines Erlasses unter Umständen mehrere staatliche Stellen

(je nach geltender Organisation) gleichzeitig oder nacheinander unter den Begriff des

Beihilfegebers fallen. So könnte ein entsprechender Erlass zuerst von der Verwaltung

ausgearbeitet und anschliessend vom Parlament verabschiedet werden. Dies bedeutet,

dass die Anmeldepflicht durch die Verwaltung zu erfüllen ist, die Mitteilungspflicht

aber grundsätzlich durch die zuständige Stelle des Parlamentes.

Der Geltungsbereich des BHÜG erstreckt sich in persönlicher Hinsicht auf alle Be-

hörden beziehungsweise Verwaltungseinheiten, die eine Beihilfe im Sinne von Arti-

kel 1 Absatz 2 VE-BHÜG ausarbeiten, gewähren oder erlassen. Da nur staatliche oder

aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen vom Geltungsbereich erfasst sind, kommen

als Beihilfegeber nur staatliche Behörden infrage. Dazu gehören alle Behörden des

Bundes, der Kantone und der Gemeinden. Das BHÜG gilt dabei auch für dezentrale

Behörden sämtlicher Staatsebenen sowie Personen oder Organisationen, denen öffent-

liche Aufgaben anvertraut worden sind (s. für den Bund Art. 2 RVOG). Die Behörde

im Sinne von Artikel 2 Buchstabe a des VE-BHÜG ist folglich – ähnlich wie der Ver-

waltungsbegriff des Verwaltungsverfahrensgesetzes vom 20. Dezember 1968

(VwVG) – funktional zu verstehen (vgl. Art. 1 Abs. 2 VwVG).

129 / 931

Nicht als Beihilfegeber gelten Volk und Stände, die theoretisch im Rahmen einer

Volksinitiative eine Beihilfe gewähren könnten. Entsprechende Beihilfen sind in der

Praxis ohnehin kaum vorstellbar.

Bst. b

Beihilfeempfänger

können ein oder mehrere Unternehmen sein, denen eine Beihilfe

gewährt wird oder gewährt werden soll. Der Marktbezug ist regelmässig dann zu be-

jahen, wenn die Tätigkeit keine rein hoheitliche Aufgabenerfüllung darstellt und

grundsätzlich auch von einem privaten Unternehmen erbracht wird. Indizien hierfür

sind unter anderem die Entgeltlichkeit der Tätigkeit sowie eine Gewinnerzielungs-

möglichkeit; beides ist aber nicht zwingend.

105

Auch Einheiten ohne eigene Rechtspersönlichkeit (bspw. einfache Gesellschaften) so-

wie öffentliche Körperschaften und Einrichtungen (s. für den Bund Art. 6 Abs. 2 und

Abs. 3 der Regierungs- und Verwaltungsorganisationsverordnung vom 25. November

1998

106

[RVOV])) und ihre Regiebetriebe können im beihilferechtlichen Sinne ein

Unternehmen darstellen, wenn sie wirtschaftlich tätig sind.

Bst. c

Beihilferegelungen

sind ein Instrument, das die Beihilfeüberwachung sowohl für Bei-

hilfegeber als auch für die Überwachungsbehörde vereinfachen kann. Indem die Vo-

raussetzungen für die Beihilfegewährung sehr klar und in generell-abstrakter Weise

in einer Beihilferegelung festgelegt werden, muss in der Folge nicht jeder einzelne

darauf gestützte Rechts- oder ausnahmsweise Realakt (Umsetzungsbeihilfen) separat

angemeldet und geprüft werden.

Die Beihilferegelungen bilden das Gegenstück zu den Einzelbeihilfen, zu denen Ad-

hoc-Beihilfen und Umsetzungsbeihilfen gehören (vgl. Erläuterungen zu Art. 2 Bst. d

VE-BHÜG). Es gibt zwei unterschiedliche Kategorien von Beihilferegelungen, die

durch die beiden Ziffern ausgedrückt werden.

Generelle Beihilferegelung (Ziff. 1)

Generelle Beihilferegelungen sind Erlasse, gestützt auf welche ein Beihilfegeber Um-

setzungsbeihilfen gewähren kann, und für die folgenden drei Merkmale zutreffen:

107

Es ist eine (gesetzliche) Bestimmung notwendig, die die wesentlichen Ele-

mente der Beihilfe festlegt und gestützt auf welche die Gewährung von ein-

zelnen Umsetzungsbeihilfen möglich ist.

Die Gewährung der Umsetzungsbeihilfe erfolgt ohne Entscheidungsspiel-

raum des Beihilfegebers. Dieser folgt lediglich den Kriterien der Beihilfe-

regelung.

105

EuGH, Urteil vom 18.06.1998, Rs. C-35/96, Kommission/Italien, Rn. 36; EuG, Urteil vom

04.03.2003, Rs. T-319/99, FENIN, Rn. 36; MüKo WettbR/Arhold, 4. Aufl. 2022 AEUV

Art. 107 Rn. 498.

106

SR

172.010.1

107

Vgl. z. B. EuG, Urteil vom 14. Februar 2019 Belgien / Kommission, T-131, Rn. 86 ff.

130 / 931

Die Beihilfeempfänger sind in der Beihilferegelung generell-abstrakt defi-

niert.

Das bedeutet, dass die Beihilferegelung dem anwendenden Beihilfegeber klare Krite-

rien für die Gewährung vorgeben muss, insbesondere in Bezug auf Höhe, Merkmale

und Bedingungen der Beihilfe. Bei der darauffolgenden Gewährung von Umsetzungs-

beihilfen verfügt der Beihilfegeber mit Bezug auf die wesentlichen Elemente der Bei-

hilfe über keinen Entscheidungsspielraum mehr. In der EU wird der fehlende Ent-

scheidungsspielraum mit dem Ausdruck «ohne nähere Durchführungsmassnahmen»

beschrieben (s. Art. 1 Bst. d Verordnung 2015/1589 der EU). Vielmehr braucht er nur

noch die Beihilferegelung zu vollziehen. In einer generellen Beihilferegelung ist je-

doch noch nicht geregelt, welchen konkreten Unternehmen die Beihilfe gewährt wer-

den soll; diese sind nur generell-abstrakt umschrieben.

Die Gewährung einer Umsetzungsbeihilfe ist eine technische Anwendung eines

Rechtsaktes.

108

Für die Frage, ob ein Entscheidungsspielraum vorliegt oder nicht,

wird die Praxis und Rechtsprechung der EU entscheidend sein. Grundsätzlich können

aber darunter sowohl die Ausübung von Ermessen als auch auslegebedürftige unbe-

stimmte Rechtsbegriffe fallen. Nicht jedes Ermessen oder jeder unbestimmte Rechts-

begriff bedeutet aber sofort einen Entscheidungsspielraum im Sinne dieser Bestim-

mung.

Nicht jede gesetzliche Grundlage für eine Beihilfegewährung ist deshalb eine Beihil-

feregelung. Erlasse stellen keine Beihilferegelung dar, wenn der Beihilfegeber in der

Folge Ermessenspielraum bei der Entscheidung hat, ob im Einzelfall eine Beihilfe

gewährt wird oder hinsichtlich Höhe, Merkmale oder Bedingungen der Beihilfe. Ob

ein Erlass im Einzelfall eine Beihilferegelung darstellt, wird von der Überwachungs-

behörde oder im Falle eines Rechtsmittelverfahrens vom Gericht zu beurteilen sein.

Individuelle Beihilferegelung für bestimmte Unternehmen (Ziff. 2)

Für die Kategorie der individuellen Beihilferegelung gelten grundsätzlich ebenfalls

drei Voraussetzungen:

Es ist eine (gesetzliche) Bestimmung notwendig, gestützt auf welche einem

oder mehreren konkret bezeichneten Beihilfeempfängern (Unternehmen)

Umsetzungsbeihilfen gewährt werden können.

Die Beihilferegelung darf nicht nur ein bestimmtes Projekt betreffen.

109

Die Beihilfe muss für eine unbestimmte Dauer oder für eine unbestimmte

Höhe gewährt werden.

108

Vgl. z. B. Urteil vom 16. September 2021, Commission / Belgique et Magnetrol Internati-

onal, C 337/19 P, ECLI:EU:C:2021:741, Rz. 105: «das Vorliegen näherer Durchführungs-

maßnahmen [impliziert] die Ausübung eines Ermessens seitens der die in Rede stehenden

Massnahmen erlassenden Steuerbehörde, durch das sie die Höhe der Beihilfe, ihre Merk-

male oder die Bedingungen für ihre Gewährung beeinflussen kann. Dagegen stellt die

blosse technische Anwendung der Rechtsakte zur Gewährung der betreffenden Beihilfen

keine „nähere Durchführungsmassnahme“ im Sinne von Art. 1 Buchst. d der Verordnung

2015/1589 dar.».

109

Vgl. z. B. EuG, Urteil vom 19. September 2018, HH Feries et. Al. / Kommission, T-68/15,

Rn. 80 ff.

131 / 931

Im Unterschied zur generellen Beihilferegelung sind die Beihilfeempfänger folglich

nicht generell-abstrakt, sondern konkret bezeichnet. Im Unterschied zur ersten Kate-

gorie schafft eine individuelle Beihilferegelung die rechtliche Grundlage für eine Bei-

hilfegewährung an bestimmte Unternehmen, erfordert jedoch bei der Anwendung eine

Präzisierung hinsichtlich der Dauer oder der Höhe in Form einer Umsetzungsbeihilfe.

Dieser Präzisierungsbedarf unterscheidet die individuelle Beihilferegelung von einer

Ad-hoc-Beihilfe in der Form eines Erlasses. Letztere wird zudem ausschliesslich ein-

mal gewährt.

Beihilfegeber müssen bei dieser Form der Beihilferegelung berücksichtigen, dass Ein-

zelfallgesetze grundsätzlich ausgeschlossen sind. Es ist allerdings möglich, dass ge-

nerell-abstrakte Gesetze auch Bestimmungen mit individuell-konkreter Tragweite

enthalten.

110

Ob diese Form der Beihilferegelung im Schweizer System regelmässig

genutzt wird, wird sich zeigen.

Bst. d

Eine

Einzelbeihilfe

ist eine Beihilfe, die an einen bestimmten Beihilfeempfänger ge-

währt wird. Einzelbeihilfen können in Form einer Umsetzungsbeihilfe oder einer Ad-

hoc-Beihilfe erfolgen. Der Begriff der Einzelbeihilfe ist daher ein Oberbegriff. Er

dient insbesondere der Abgrenzung zu den Beihilferegelungen. Wo eine Differenzie-

rung zwischen den beiden Unterformen nötig ist, ist im Gesetz konkret von Umset-

zungsbeihilfen und Ad-hoc-Beihilfen die Rede.

Die Begriffsbestimmung im Schweizer Recht weicht leicht von derjenigen in Arti-

kel 1 Buchstabe e Verordnung (EU) 2015/1589 ab, welche nur anmeldungspflichtige

(anstatt sämtliche) Beihilfen erfasst, die gestützt auf eine Beihilferegelung gewährt

werden. Die Begriffsbestimmung entspricht jedoch inhaltlich derjenigen in Artikel 2

Absatz 14 Verordnung (EU) 651/2014. Diese breitere Definition ist für die Zwecke

des vorliegenden Gesetzesentwurfs sinnvoller, da somit alle relevanten Beihilfekate-

gorien im Rahmen des VE-BHÜG einheitlich erfasst werden.

Bst. e

Der Begriff der

Umsetzungsbeihilfe

ist ein spezifischer Begriff für das Schweizer Bei-

hilfeüberwachungsverfahren. Das EU-Recht verwendet lediglich den Begriff «Bei-

hilfe»

111

, um diese Kategorie zu definieren. Der Begriff Umsetzungsbeihilfe dient der

Unterscheidung zu Beihilferegelungen und Ad-hoc-Beihilfen. Es handelt sich um eine

Einzelbeihilfe, die gestützt auf eine Beihilferegelung durch einen Rechts- oder aus-

nahmsweise einen Realakt an bestimmte Beihilfeempfänger gewährt wird. Als

Rechtsakt kommt dabei eine Verfügung oder ein öffentlich-rechtlicher Vertrag in-

frage. Umsetzungsbeihilfen müssen nicht mehr angemeldet werden, wenn die Beihil-

feregelung, auf welche sie gestützt sind, bereits beurteilt worden ist (s. Art. 7 Bst. a

VE-BHÜG).

Bst. f

110

Vgl. dazu Bundesamt für Justiz, Gesetzgebungsleitfaden, 5. Aufl., Bern 2025, Rz. 565.

111

Verordnung (EU) Nr. 651/2014 der Kommission vom 17. Juni 2014 zur Feststellung der

Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Binnenmarkt in Anwendung der

Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Art. 2,

Ziff. 14, ii.

132 / 931

Ad-hoc-Beihilfen

sind Einzelbeihilfen, die nicht auf einer Beihilferegelung basieren.

Sie sind individuell-konkret. Sie können grundsätzlich in Form von Verfügungen, öf-

fentlich-rechtlichen Verträgen oder ausnahmsweise als Realakte gewährt werden. In

diesen Fällen haben sie ihre Grundlage in einem Erlass, der dem Beihilfegeber Spiel-

raum bei der Gewährung der Beihilfen gibt und deshalb keine Beihilferegelung dar-

stellt. Eine direkte Abstützung auf verfassungsrechtliche Kompetenzen in ausserge-

wöhnlichen Situationen ist ebenfalls möglich (s. für den Bund etwa Art. 184 Abs. 3

und Art. 185 Abs. 3 BV).

Der Unterschied zwischen einer Umsetzungsbeihilfe und einer Ad-hoc-Beihilfe in der

Form der Verfügung liegt in den jeweiligen rechtlichen Grundlagen: Wenn diese so

ausgestaltet sind, dass der Beihilfegeber keinen Entscheidungsspielraum hinsichtlich

der Höhe, der Merkmale oder der Bedingungen der Beihilfe hat, handelt es sich um

eine Beihilferegelung. In diesem Fall sind die darauf basierenden Einzelbeihilfen als

Umsetzungsbeihilfen zu qualifizieren. Möglich sind allerdings auch individuelle Bei-

hilferegelungen, die an einen oder mehrere Beihilfeempfänger für unbestimmte Zeit

oder in unbestimmter Höhe zu gewährt wird, ohne dass die Beihilfen an ein bestimm-

tes Projekt gebunden sind. Erfüllt die rechtliche Grundlage für eine Beihilfe die Vo-

raussetzungen einer Beihilferegelung nicht, sind die darauf basierenden Einzelbeihil-

fen als Ad-hoc-Beihilfen (in der Regel in der Form der Verfügung) zu betrachten.

Schliesslich ist es nicht absolut ausgeschlossen, dass Ad-hoc-Beihilfen auch in der

Form eines Erlasses gewährt werden. Dies wird jedoch die Ausnahme sein. Der Un-

terschied einer Ad-hoc-Beihilfe in der Form eines Erlasses zu einer individuellen Bei-

hilferegelung liegt darin, dass mit der Ad-hoc-Beihilfe die Beihilfe an ein (oder meh-

rere) Unternehmen gewährt wird, während die Beihilferegelung nur die gesetzliche

Grundlage für die Gewährung darstellt und selber keine Beihilfe gewährt. Bei den Ad-

hoc-Beihilfen in der Form des Erlasses handelt es sich aber ebenfalls um Bestimmun-

gen mit individuell-konkreter Tragweite. Die Grenze zwischen den beiden Beihilfe-

formen ist fliessend. Ein Beispiel für eine solche Ad-hoc-Beihilfe könnte ein Erlass

sein, der einmalige Steuer- oder Schulderlasse beziehungsweise Befreiungen für kon-

krete Beihilfeempfänger regelt. Sowohl die Ad-Hoc Beihilfe in der Form eines Erlas-

ses als auch die individuelle Beihilferegelung werden in der Schweiz selten vorkom-

men, da dies nicht der üblichen Gesetzgebungspraxis entspricht.

Bst. g

Die

beihilferechtlichen Bestimmungen der völkerrechtlichen Verträge

beziehen sich

auf die drei Abkommen, die in Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG zitiert werden. Dazu

gehören die Bestimmungen des Beihilfeprotokolls-LuftVA, des Beihilfeprotokolls-

LandVA [sowie von Teil III des Stromabkommens].

Bst. h

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei der vorliegenden Begriffsdefinition

nicht um eine materielle Bestimmung handelt. Ob eine Beihilfe zulässig oder unzu-

lässig ist, wird in den Beihilfeprotokollen geregelt. Dort wird dafür die Formulierung

«(Un-)Vereinbar mit dem ordnungsgemässen Funktionieren des Binnenmarkts» ver-

wendet. Vorliegend handelt es sich nur um den Verweis auf die entsprechenden Re-

gelungen in den Beihilfeprotokollen sowie dem Stromabkommen und die Einführung

133 / 931

des Kurzbegriffs «zulässig», welche für das vorliegende Gesetz anstelle dieser um-

ständlichen Formulierung verwendet werden kann.

Eine Beihilfe ist

zulässig

, wenn sie mit den beihilferechtlichen Bestimmungen der

völkerrechtlichen Verträge nach Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG zu vereinbaren ist. Ist

die Beihilfe mit diesen Bestimmungen nicht zu vereinbaren, ist sie unzulässig. Das

vorliegende Gesetz nimmt damit das bereits aus dem Kartellgesetz bekannte Begriffs-

paar zulässig/unzulässig auf (s. Art. 5 und 7 KG). Dies erscheint sinnvoll, da die Auf-

gaben der Überwachungsbehörde von den Wettbewerbsbehörden wahrgenommen

werden (s. Art. 3 VE-BHÜG).

2. Kapitel: Überwachungsbehörde

Art. 3

Grundsätze

Abs. 1 bis 3

Die Überwachungsbehörde wird innerhalb der Wettbewerbsbehörden nach dem

1. Abschnitt des 4. Kapitels KG organisiert. Bereits in den exploratorischen Gesprä-

chen hat die Europäische Kommission kommuniziert, dass sie die Voraussetzungen –

insbesondere bezüglich Unabhängigkeit der Institution – bei der WEKO als erfüllt

erachtet, um von einer äquivalenten Überwachung ausgehen zu können.

Zur Überwachung wird eine neue Beihilfekammer innerhalb der Wettbewerbskom-

mission vorgeschrieben. Diese Beihilfekammer behandelt ausschliesslich beihilfe-

rechtliche Fälle. Ihre unverbindliche Stellungnahmen nach den Artikeln 15, 17 Ab-

satz 1, 30 Absatz 2 und 47 Absatz 3 VE-BHÜG sind in dem Sinne endgültig, dass ein

Weiterzug innerhalb der WEKO oder ein anderer Einbezug der WEKO in die beihil-

ferechtlichen Fälle ausgeschlossen ist. Die Beihilfekammer befasst sich somit nicht

mit kartellrechtlichen oder binnenmarktrechtlichen Fällen, für die die WEKO heute

ebenfalls zuständig ist.

Konkret besteht die Beihilfekammer aus drei WEKO-Mitgliedern. Alle drei Kammer-

mitglieder sind unabhängige Sachverständige. Eines der drei Mitglieder gehört gleich-

zeitig dem Präsidium der WEKO an. Der Bundesrat bestimmt alle Mitglieder der Bei-

hilfekammer, die dem WEKO-Präsidium nicht angehören. Mit der Ausnahme des

Präsidiumsmitglieds, welches den Vorsitz in der Beihilfekammer hat (s. Art. 12 des

Geschäftsreglements der WEKO; GR-WEKO

112

), nehmen die Mitglieder der Beihil-

fekammer an den anderen Sitzungen der WEKO nicht teil. Ihre Tätigkeit beschränkt

sich somit auf die Aufgaben der Überwachungsbehörde nach dem VE-BHÜG. Bei der

Auswahl der Mitglieder der Beihilfekammer ist darauf zu achten, dass diese über bei-

hilferechtliche Kenntnisse verfügen. Darüber hinaus sollten die Mitglieder mit kanto-

nalen und kommunalen Gepflogenheiten möglichst gut vertraut sein, da ein beträcht-

licher Teil der zu behandelnden Fälle kantonale Beihilfen betreffen dürfte. Unter

Einbezug der Kantone soll das Prozedere zur Einsetzung der Findungskommission

ausgearbeitet werden, in welcher die Kantone eine Vertretung erhalten sollen. Die

Findungskommission wird zuhanden des WBF eine Vorauswahl derjenigen Mitglie-

der und Vertretungsmitglieder der Beihilfekammer treffen, welche nicht dem WEKO-

112

SR

251.1

134 / 931

Präsidium angehören. Die Mitglieder und Ersatzmitglieder erfüllen dabei die nötigen

Anforderungen bezüglich Qualifikation und Unabhängigkeit. Das WBF wiederum

wird gestützt auf den Vorschlag der Findungskommission dem Bundesrat einen Vor-

schlag unterbreiten. Der Bundesrat bestimmt die Mitglieder der Beihilfekammer in-

klusive Vertretungsmitglieder. Die Wahrung der Unabhängigkeit der WEKO bleibt

dabei das oberste Ziel.

Damit die Beihilfekammer beschlussfähig ist, müssen alle drei Mitglieder anwesend

sein (Art. 21 Abs. 1 KG; vgl. Art. 15 Abs. 1 GR-WEKO). Für den Fall, dass ein Mit-

glied der Beihilfekammer in den Ausstand zu treten hat (vgl. Art. 22 KG in Verbin-

dung mit Art. 10 VwVG) oder dass ein Mitglied zum Beispiel krankheitsbedingt aus-

fällt, übernimmt das vom Bundesrat bestimmte Vertretungsmitglied dessen Aufgaben.

Dies stellt eine Übersteuerung von Artikel 11 Absatz 3 GR-WEKO dar, wonach die

WEKO in solchen Fällen die Vertretung des ausfallenden Mitglieds bestimmt. Der

Preisüberwacher nimmt an den Sitzungen der Beihilfekammer nicht teil.

113

Hinsichtlich der Organisation der Überwachungsbehörde wurden mehrere Optionen

geprüft. So wäre denkbar, der WEKO keinerlei Vorgaben zu machen, wie sie sich zu

organisieren hat. Unter dem heutigen Status Quo wäre es möglich, der WEKO die

Beihilfeüberwachung zu übertragen, ohne in deren Organisationsautonomie einzu-

greifen. Um eine effiziente Überwachung der staatlichen Beihilfen sicherzustellen,

erscheint die Vorschreibung einer eigenen Kammer aber verhältnismässig.

Weiter wurde erwogen, eine eigenständige Beihilfekommission (allenfalls mit geteil-

tem Sekretariat der WEKO) zu schaffen. Die Schaffung einer neuen Aufsichtsbehörde

würde mit einem administrativen sowie finanziellen Mehraufwand einhergehen. Die

Anzahl erwarteter Fälle, welche die Kommission zu prüfen hat, wird aus heutiger

Sicht aber gering sein (s. Ziff. 2.2.10). Zudem kann die Beihilfeüberwachung in be-

stehende Strukturen eingebettet werden.

Schliesslich wäre denkbar, dass die Kantone ein Konkordat errichten, um kantonale

und kommunale Beihilfen zu überwachen. Dabei müsste auch die kantonale Beihilfe-

überwachung die Gleichwertigkeit mit der Beihilfeüberwachung der Europäischen

Union sicherstellen, insbesondere bezüglich der Unabhängigkeit der Überwachungs-

behörde, der Transparenzvorschriften, der abschliessenden Beurteilung vor einer Bei-

hilfegewährung sowie der Rückforderungspflicht. Die Kostenfolgen für den Bund wä-

ren bei dieser Lösung deutlich geringer und das im VE-BHÜG geregelte Verfahren

könnte vereinfacht werden. Insgesamt wäre das Beihilfeüberwachungssystem für die

Schweiz jedoch komplexer.

Zu beachten bleibt, dass der Bundesrat dem WBF den Auftrag erteilt hat, eine Ver-

nehmlassungsvorlage zu einer Reform der Wettbewerbsbehörden auszuarbeiten. Ge-

mäss dem Richtungsentscheid des Bundesrates vom 15. März 2024

114

strebt er dabei

eine Professionalisierung und stärkere Unabhängigkeit der WEKO an. Es soll zudem

eine stärkere Trennung zwischen der WEKO und deren Sekretariat erfolgen. Mit der

113

Vgl. revidierten Art. 5 Abs. 2 VE-PüG im Anhang des VE-BHÜG.

114

Abrufbar unter: https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilun-

gen.msg-id-100426.html.

135 / 931

Ausnahme der Anpassungen von Artikel 18 Absatz 2 VE-KG (s. Ziff. 2.2.8) beein-

flussen sich die beiden Vorlagen nicht gegenseitig und können somit weitgehend un-

abhängig voneinander vorgelegt werden.

Abs. 4

Das Kartellgesetz ist nur im Rahmen dieses Verweises auf die Verfahren der Über-

wachungsbehörde anwendbar. Da die WEKO die Aufgaben der Überwachungsbe-

hörde übernehmen wird, sind die organisationsrechtlichen Bestimmungen zu den

Wettbewerbsbehörden gemäss den Artikeln 18–25 KG für die Überwachungsbehörde

anwendbar. Auch für die Amtshilfe (Art. 41 KG) wird die Bestimmung des Kartell-

gesetzes zur Anwendung kommen. Ferner untersteht die Überwachungsbehörde den

Informationspflichten nach Artikel 49 KG, soweit diese nicht bereits mit den Trans-

parenzvorschriften des VE-BHÜG erfüllt werden.

Die Verweise auf das KG gelten nur, soweit das VE-BHÜG keine Abweichungen

davon vorsieht. So stellt beispielsweise der Absatz 1 eine Ausnahme zur Organisati-

onsautonomie der WEKO gemäss Artikel 19 Absatz 1 KG dar, wonach sie selbst

Kammern bestimmt.

Art. 4

Aufgaben der Überwachungsbehörde

Die Aufgaben der Überwachungsbehörde werden in diesem Artikel zusammenfas-

send aufgezählt, welcher einen Überblick über die Aufgaben der Überwachungsbe-

hörde gibt. Die einzelnen Aufgaben sind in den konkreten Artikeln geregelt:

Beratung

: Die Überwachungsbehörde berät die Beihilfegeber informell vor

Beginn eines Prüfungsverfahrens im Sinne der Artikel 13 ff. VE-BHÜG.

Diese Beratung dient dazu, frühzeitig Klarheit über die beabsichtigte Bei-

hilfengewährung zu schaffen (s. Art. 5 VE-BHÜG). Durch die Beratung

wird zudem sichergestellt werden, dass die Überwachungsbehörde dem

Beihilfegeber möglichst früh rechtliche Fragen beantworten kann. Dies er-

leichtert dem Beihilfegeber die Ausarbeitung von Beihilfen, womit ein un-

nötiger bürokratischer Leerlauf verhindert werden kann.

Prüfung der Zulässigkeit von Beihilfen und Abgabe von Stellungnahmen

:

Die Überwachungsbehörde ist verpflichtet, alle Beihilfen sämtlicher staat-

licher Ebenen (Bund, Kantone und Gemeinden) auf ihre Zulässigkeit zu

überprüfen. Dabei prüft sie, ob die geplanten Beihilfen die Merkmale einer

Beihilfe erfüllen und ob sie zulässig sind. Die Überwachungsbehörde gibt

nach dem Abschluss der Prüfung eine unverbindliche Stellungnahme ab.

Erhebung

von Beschwerden

: Beurteilt die Überwachungsbehörde eine Ver-

fügung oder einen Erlass eines Beihilfegebers als unzulässig, ist sie grund-

sätzlich verpflichtet, dagegen Beschwerde zu erheben. Diese Pflicht stellt

sicher, dass die Überwachungsbehörde aktiv gegen mutmasslich unzuläs-

sige Beihilfen vorgehen und die Einhaltung der beihilferechtlichen Bestim-

mungen einfordern kann. Um die durch die völkerrechtlichen Verträge ge-

forderte Gleichwertigkeit des Überwachungssystems zu erreichen, ist es

136 / 931

notwendig, dass die Überwachungsbehörde auch gegen unzulässige Beihil-

fen anderer Verwaltungseinheiten des Bundes Beschwerde erhebt.

Führung von besonderen Verfahren

: Verletzt ein Beihilfegeber die An-

melde- oder die Mitteilungspflicht und erlangt die Überwachungsbehörde

Kenntnis davon, kann sie im Rahmen eines besonderen Verfahrens nach

dem 4. Kapitel die betroffene Beihilfe prüfen und – wo nötig – eine Be-

schwerde erheben.

Fortlaufende Prüfung bestehender Beihilferegelungen

: Die Überwachungs-

behörde kann bestehende Beihilferegelungen fortlaufend prüfen. Beurteilt

sie eine bestehende Beihilferegelung als unzulässig, schlägt sie dem Beihil-

fegeber Änderungen, welche die Zulässigkeit herstellen sollen, oder allen-

falls die Aufhebung vor. Bleibt die bestehende Beihilferegelung aus Sicht

der Überwachungsbehörde unzulässig, erhebt die Überwachungsbehörde

Beschwerde gegen zukünftig gestützt darauf gewährte Umsetzungsbeihil-

fen.

Veröffentlichung

: Die Überwachungsbehörde veröffentlicht die Informatio-

nen zu gewährten Beihilfen, Stellungnahmen sowie relevante Leitlinien in

einer Datenbank (s. Art. 51 VE-BHÜG). Diese Veröffentlichung dient der

Verwirklichung von grösstmöglicher Transparenz über Beihilfen in den be-

troffenen Sektoren (s. Ziff. 2.2.5.6).

Die WEKO regelt grundsätzlich die Verteilung ihrer Aufgaben in ihrem Geschäfts-

reglement nach Artikel 3 Absatz 4 VE-BHÜG in Verbindung mit Artikel 20 KG. Dies

ist grundsätzlich Sache der internen Organisation der WEKO. Dazu gehört etwa die

Aufgabenteilung zwischen dem Sekretariat und der Beihilfekammer.

137 / 931

3. Kapitel: Ordentliches Verfahren vor der Überwachungsbehörde

1. Abschnitt: Beratung und Anmeldung

Art. 5

Beratung

Um das Risiko von unnötigen (vertieften) Prüfungen oder Beschwerden zu vermin-

dern, wird eine informelle Erörterung der rechtlichen und wirtschaftlichen Aspekte

der geplanten Beihilfen durch die Überwachungsbehörde ermöglicht. In der Beratung

kann die Überwachungsbehörde insbesondere auf die Anforderungen an eine Anmel-

dung sowie auf die wichtigsten Elemente hinweisen, anhand derer die geplante Bei-

hilfe beurteilt werden kann. Der Beihilfegeber kann im Rahmen der Beratung auch

die geplante Anmeldung der Beihilfe konsultieren lassen. Teil der Beratung kann be-

reits darin bestehen, aufzuzeigen, welche Art von Beihilfen mögliche Handlungsfor-

men zur Zielerreichung darstellen können sowie deren allfällige Vor- und Nachteile:

Ob dies eine Beihilferegelung ist, welche zukünftige Umsetzungsbeihilfen erlaubt

138 / 931

oder ob doch besser in Einzelfällen Ad-hoc-Beihilfen angemeldet und gewährt wer-

den sollen. Die Überwachungsbehörde kann im Rahmen ihrer Beratung auch eine

Ersteinschätzung abliefern, ob die geplante Beihilfe in aktueller Version vermutlich

zulässig oder unzulässig wäre.

Im Überwachungsverfahren der EU ist ebenfalls eine Beratungsmöglichkeit durch die

Europäische Kommission als Überwachungsbehörde vorgesehen. Die Beratung ist je-

doch nicht positiv rechtlich geregelt, um der Europäischen Kommission einen maxi-

malen Handlungsspielraum zu ermöglichen. Im schweizerischen System wird hinge-

gen mit der vorliegenden Bestimmung Rechtssicherheit für allfällige Beihilfegeber,

insbesondere auf kantonaler Ebene, geschaffen.

Die Beratung ist unverbindlich und findet auf Anfrage des Beihilfegebers unter Be-

rücksichtigung der verfügbaren Ressourcen der Überwachungsbehörde statt. Die Be-

ratung ist insofern unverbindlich, als sie die Überwachungsbehörde in keiner Weise

in ihrer Prüfung nach der formellen Anmeldung der geplanten Beihilfen einschränkt.

Der Umstand, dass bereits vor der Anmeldung ein Austausch zwischen der Überwa-

chungsbehörde und dem Beihilfegeber stattgefunden hat, bedeutet nicht, dass die

Überwachungsbehörde im Anschluss an die Anmeldung nicht zusätzliche Informati-

onen verlangen kann (s. Art. 22 VE-BHÜG). Die genaue Funktionsweise der Bera-

tung soll durch die Überwachungsbehörde eigenständig geregelt werden. Die Dauer

und Form dieser informellen Beratungsphase hängen weitgehend von der Komplexi-

tät des Einzelfalls ab.

Die Beratung durch die Überwachungsbehörde ist für die Beihilfegeber gebühren-

pflichtig. Es handelt sich dabei grundsätzlich um eine Dienstleistung im Sinne von

Artikel 46

a

RVOG, die aber, obwohl sie gegenüber Behörden erfolgt, in Rechnung

gestellt werden soll. Dies dient der Finanzierung des Beratungsaufwandes. Ausserdem

soll dadurch die Überlastung der Behörde vermieden werden. Sollte der Beratungs-

aufwand langfristig höher beziehungsweise tiefer als geplant ausfallen, kann so der

nötige Stellenbedarf flexibel und sachgerecht angepasst werden. Schliesslich soll auch

verhindert werden, dass die Beratung zu beihilferechtlichen Fragestellungen durch

private Unternehmen aus dem Markt verdrängt wird beziehungsweise kein Markt ent-

stehen kann. Die Stellungnahme oder andere amtliche Verrichtungen der Überwa-

chungsbehörde sind hingegen nicht gebührenpflichtig.

115

Kantonalen Stellen werden die Kosten über Gebühren in Rechnung gestellt. Die Höhe

der Gebühren bemisst sich nach dem Zeitaufwand. Der Bundesrat legt die Gebührens-

ätze analog zur Gebührenverordnung KG vom 25. Februar 1998

116

(GebV-KG) fest.

Im Gegensatz zu Artikel 3 Absatz 1 GebV-KG werden jedoch beim Beratungsauf-

wand Behörden der Kantone, Gemeinden und interkantonale Organe von den Gebüh-

ren nicht befreit. Die Beratung ist auf diese Behörden als Beihilfegeber ausgerichtet.

Bundesintern werden keine Gebühren erhoben, sondern die Kosten werden über Kre-

ditverschiebung der einzelnen Verwaltungseinheiten, die die Beratung in Anspruch

nehmen, an die WEKO verrechnet.

115

S. auch Botschaft zum Entlastungsprogramm 2003 für den Bundeshaushalt (EP 03) vom 2.

Jul. 2003; BBl 2003 5615, hier 5761; Thomas Sägesser, Regierungs- und Verwaltungsor-

ganisationsgesetz, 2. A., Bern 2022, Art. 46a N 17.

116

SR

251.2

139 / 931

Art. 6

Anmeldepflicht

Abs. 1

Grundsätzlich sind alle geplanten Beihilfen, welche die Merkmale einer Beihilfe er-

füllen könnten, vor ihrer Gewährung bei der Überwachungsbehörde anzumelden.

117

Die genauen Voraussetzungen, damit eine Massnahme als Beihilfe qualifiziert wird,

ergeben sich aus Artikel 3 der Beihilfeprotokolle respektive Artikel 13 des Stromab-

kommens, beziehungsweise aus Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG. Die Anmeldepflicht

ist in der Schweiz, wie in der EU, ein zentraler Pfeiler des Überwachungssystems. So

erfährt die Überwachungsbehörde im Regelfall, dass ein Beihilfegeber eine Beihilfe

ausgearbeitet hat. Durch die Anmeldepflicht wird weiter sichergestellt, dass die Über-

wachungsbehörde ihr Prüfungsverfahren vor der Gewährung der Beihilfe einleiten

kann.

Auch die Bundesversammlung und der Bundesrat müssen ihre Vorhaben anmelden,

damit die Überwachungsbehörde Gelegenheit zur Stellungnahme hat. Sie kann jedoch

in der Folge nicht Beschwerde führen, wenn ihre Stellungnahme nicht berücksichtigt

werden sollte (s. Art. 36 Abs. 2 VE-BHÜG). Dieses Vorgehen stellt sicher, dass das

Fachwissen der Überwachungsbehörde einfliesst und ihre Schlussfolgerungen öffent-

lich sind. Gleichzeitig werden auf diese Weise die verfassungsrechtlichen Vorgaben

zur Organisation und Gewaltenteilung respektiert (s. dazu auch Art. 4 Abs. 4 der Bei-

hilfeprotokolle respektive Art. 14 Abs. 4 des Stromabkommens). Konkret wird die

Anmeldepflicht von der federführenden Verwaltungseinheit des Bundes oder den Par-

lamentsdiensten wahrgenommen werden (s. Ausführungen zu Art. 10 VE-BHÜG).

Es ist den Kantonen und Gemeinden überlassen, wie sie die Anmeldung ihrer Vorha-

ben ausgestalten. Sie können, wie gewisse Mitgliedsstaaten der EU im unionsrechtli-

chen Verfahren, eine eigene Vorprüfstelle errichten. Je nach der konkreten Ausgestal-

tung des kantonalen Organisationsrechts kann diese Vorprüfstelle auch die

Anmeldung an die Überwachungsbehörde übernehmen. Gegenüber der Überwa-

chungsbehörde bleiben aber letztendlich die Beihilfegeber verantwortlich.

Abs. 2

Die Beihilfegeber haben der Überwachungsbehörde die nach der Anmeldung vorge-

nommenen Änderungen am Beihilfevorhaben mitzuteilen, damit sie diese in ihre Prü-

fung miteinbeziehen kann. Sind die vorgenommenen Änderungen des Beihilfevorha-

bens so erheblich, dass es sich faktisch um eine neue Beihilfe handelt, kann die

Überwachungsbehörde eine neue Anmeldung verlangen. In diesen Fällen wäre die

Fortsetzung der bisherigen Prüfung zwecklos. Die Überwachungsbehörde entschei-

det, ob sie die gemeldete signifikante Änderung im Rahmen der laufenden Prüfung

berücksichtigen kann oder ob eine erneute Anmeldung notwendig ist.

Abs. 3

Wann eine Änderung signifikant ist, ist in den Grundzügen in Absatz 3 geregelt. Die

Einzelheiten, wie zum Beispiel ab wann von einem deutlichen Anstieg der Beihilfe

ausgegangen werden kann, wird vom WBF auf Verordnungsstufe geregelt werden.

Eine Regelung durch das WBF und nicht durch den Bundesrat ist angezeigt, damit

117

S. Art. 2 der Verordnung 2015/1589.

140 / 931

rasch auf Entwicklungen in der europäischen Praxis reagiert werden kann. Zudem

handelt es sich hier um ein technisches Detail.

Wenn eine Beihilfe zunächst umweltrechtlich motiviert war und schliesslich aber zur

Wettbewerbsförderung verwendet wird, ist dies als Änderung der Zielsetzung relevant

für die Beurteilung der Zulässigkeit der Beihilfe. Die Rechtsnatur der Beihilfe kann

sodann beispielsweise ändern, wenn gesetzliche Grundlagen für Ad-Hoc-Beihilfen

neu als Beihilferegelung dienen sollen. Vorstellbar ist auch, dass eine ursprünglich als

Bürgschaft ausgestaltete Beihilfe schliesslich in Form eines Darlehens gewährt wer-

den soll oder eine direkte Begünstigung plötzlich in die Form eines Steuererlasses

umgewandelt werden soll.

Eine signifikante Änderung kann zu verschiedenen Zeitpunkten des Beihilfeüberwa-

chungsverfahrens stattfinden und hat dementsprechend unterschiedliche Konsequen-

zen:

(1) Änderung der geplanten Beihilfe

vor

der Anmeldung: Dies hat keine

weitgehenden Konsequenzen. Möglich ist aber, dass eine allfällig bereits

erfolgte Beratung nicht mehr passend ist;

(2) Änderung der geplanten Beihilfe

während

der Prüfung: Die Änderung

muss der Überwachungsbehörde gemeldet werden. Diese entscheidet, ob

sie die Änderung in der laufenden Prüfung berücksichtigen kann. Allenfalls

ist eine Neuanmeldung nötig, welche die Fristen neu auslöst;

(3) Änderung der Beihilfe

nach

der Stellungnahme der Überwachungsbe-

hörde aber

vor

der Gewährung: Auch in diesen Fällen muss die Änderung

der Überwachungsbehörde gemeldet werden. Sie entscheidet, ob eine neue

Prüfung nötig ist oder nicht. Hält sie eine neue Prüfung für nötig und wartet

der Beihilfegeber diese jedoch nicht ab, sondern gewährt die geänderte Bei-

hilfe, ist die Überwachungsbehörde bei ihrem Entscheid, Beschwerde zu

erheben, nicht mehr an die Stellungnahme gebunden. Die Beschwerde-

pflicht kann jedoch entfallen, wenn die Überwachungsbehörde zum Schluss

kommt, dass sie die Beihilfe aufgrund der Anpassung in einer neuen Prü-

fung nicht mehr als unzulässig beurteilen würde;

(4) (Geplante) Änderung einer bereits bestehenden Beihilfe: Dies stellt eine

neue Beihilfe dar (vgl. Art. 45 VE-BHÜG).

Art. 7

Ausnahmen von der Anmeldepflicht

Von der Anmeldepflicht sind Umsetzungsbeihilfen befreit, die sich auf eine bereits

beurteilte Beihilferegelung stützen. Als Beurteilung gilt die Stellungnahme der Über-

wachungsbehörde oder ein Entscheid einer Rechtsmittelinstanz. Dabei spielt es keine

Rolle, ob die Beihilferegelung als zulässig oder unzulässig beurteilt wurde, sondern

nur, ob bereits eine Prüfung durch die Überwachungsbehörde oder allenfalls ein Ge-

richt stattgefunden hat. Die Anmeldepflicht entfällt insbesondere auch für Umset-

zungsbeihilfen, welche gestützt auf als unzulässig beurteilte Beihilferegelungen in

Form von Erlassen der Bundesversammlung oder des Bundesrates gewährt werden.

141 / 931

Da die zugrundeliegende Beihilferegelung bereits von der Überwachungsbehörde ge-

prüft wurde, sind diese Fälle nur der Mitteilungspflicht (Eröffnung bzw. Publikation)

nach Artikel 24 VE-BHÜG unterstellt.

Die Anmeldepflicht besteht hingegen für Umsetzungsbeihilfen, die im Rahmen einer

Beihilferegelung gewährt werden, welche (noch) nicht beurteilt wurde. Dies trifft ins-

besondere in folgenden Fällen zu: (1) nicht angemeldete Beihilferegelungen; sowie

(2) Beihilferegelungen, die ohne vorgängige Prüfung durch die Überwachungsbe-

hörde Gegenstand eines Rechtsmittelverfahrens sind, in welchem die aufschiebende

Wirkung entzogen wurde.

Es ist dem Beihilfegeber überlassen, ob er zuerst eine Beihilferegelung erlässt, welche

von der Überwachungsbehörde beurteilt wird, und anschliessend gestützt auf diese

Beihilferegelung Umsetzungsbeihilfen gewährt werden oder ob er mit Ad-hoc-Bei-

hilfen arbeitet.

Umsetzungsbeihilfen, welche gestützt auf bestehende Beihilfen gemäss Artikel 44

VE-BHÜG gewährt werden, müssen nicht angemeldet werden. Eine Prüfung der be-

stehenden Beihilferegelung kann im Rahmen der fortlaufenden Prüfung erfolgen (s.

Art. 47 VE-BHÜG).

Die Anmeldepflicht entfällt auch, wenn die geplante Beihilfe gemäss Artikel 3 Ab-

satz 4 der beiden Beihilfeprotokolle respektive Artikel 13 Absatz 4 des Stromabkom-

mens als mit dem Binnenmarkt vereinbar vermutet wird. Hierbei handelt sich um die

Gruppenfreistellungen gemäss Abschnitt C des Anhangs I der Beihilfeprotokolle res-

pektive Abschnitt C des Anhangs III des Stromabkommens; nämlich Beihilfen, die

die Voraussetzungen in den Kapiteln I und III der Verordnung (EU) 651/2014, in den

Artikeln 1–6 des Beschlusses der Kommission 2012/21/EU

118

vom 20. Dezember

2011 oder im Artikel 9 der Verordnung (EG) 1370/2007 erfüllen (s. Ziff. 2.2.5.3).

Art. 8

Durchführungsverbot

Abs. 1

Ein zentraler Aspekt der Beihilfeüberwachung auf Bundesebene ist das Durchfüh-

rungsverbot

119

: Anmeldungspflichtige Beihilfen

des Bundes dürfen nicht umgesetzt

werden, bevor die Überwachungsbehörde diese geprüft und dem Beihilfegeber eine

Stellungnahme abgegeben hat.

Aufgrund der Verfahrens- und Organisationsautonomie der Kantone (s. Art. 3 und 47

BV) kann der Bund im VE-BHÜG den Kantonen kein Durchführungsverbot auferle-

gen (s. Ziff. 2.2.11.1). Mit Blick auf die völkerrechtlichen Verpflichtungen kann es

aber für die Kantone sinnvoll sein ein solches eigenständig zu regeln, beispielsweise

um Beschwerdeverfahren möglichst zu vermeiden.

118

2012/21/EU: Beschluss der Kommission vom 20. Dezember 2011 über die Anwendung

von Artikel 106 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf

staatliche Beihilfen in Form von Ausgleichsleistungen zugunsten bestimmter Unterneh-

men, die mit der Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Inte-

resse betraut sind, ABl. L 7 vom 11.1.2012, p. 3–10.

119

Vgl. Art. 3 EU-Verordnung 2015/1589.

142 / 931

Um dennoch eine mit einem Durchführungsverbot vergleichbare Rechtslage für kan-

tonale Beihilfen zu erreichen, werden alle Beihilfen grundsätzlich erst nach Ablauf

der Beschwerdefrist wirksam und der Beschwerde der Überwachungsbehörde kommt

aufschiebende Wirkung zu (s. Art. 39 VE-BHÜG). Die Überwachungsbehörde kann

somit Beschwerde mit aufschiebender Wirkung erheben, wodurch im Normalfall –

das heisst in Fällen, in denen sich die Beihilfegeber an ihre gesetzliche Anmelde- und

Mitteilungspflicht halten – sichergestellt wird, dass eine Beihilfe erst nach dem Urteil

der zuständigen Rechtsmittelinstanz wirksam wird.

Abs. 2

Wenn die Überwachungsbehörde dem Beihilfegeber die Veröffentlichung ihrer Stel-

lungnahme nicht innerhalb der Fristen nach Artikel 20 VE-BHÜG mitteilt, wird das

Durchführungsverbot auf Bundesebene von Gesetzes wegen aufgehoben. Der Beihil-

fegeber des Bundes kann die Beihilfe folglich gewähren. Er muss sie jedoch weiterhin

mitteilen und trägt deshalb das Risiko, dass die Überwachungsbehörde in der Folge

eine Beschwerde erheben kann. Die Beschwerdemöglichkeit und -pflicht der Über-

wachungsbehörde bleiben weiterhin bestehen.

Art.9

Inhalt und Form der Anmeldung

Abs. 1

Bei der Anmeldung hat der Beihilfegeber sicherzustellen, dass alle für die Prüfung

der geplanten Beihilfe notwendigen Informationen an die Überwachungsbehörde

übermittelt werden.

Abs. 2

Welche Vorgaben der Inhalt und die Form einer Anmeldung im Einzelnen erfüllen

müssen, wird durch das WBF in einer Verordnung definiert. Eine Regelung durch das

WBF ist gerechtfertigt, da es sich dabei um technische Details von untergeordneter

Bedeutung handelt.

Art. 10

Zeitpunkt der Anmeldung

Der Beihilfegeber muss eine geplante Beihilfe anmelden, sobald sie genügend defi-

niert ist und keine signifikanten Änderungen mehr erwartet werden, um eine Prüfung

durch die Überwachungsbehörde zu ermöglichen. Auch für kantonale Beihilfen ist es

sinnvoll, dass die Anmeldung zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu dem die geplante Bei-

hilfe noch an mögliche Rückmeldungen aus dem Prüfungsverfahren der Überwa-

chungsbehörde angepasst werden kann. Mit dem frühen Zeitpunkt wird sichergestellt,

dass die Prüfung den Gesetzgebungs- beziehungsweise Entscheidungsprozess mög-

lichst nicht verlangsamt. Insbesondere auf Bundesebene liegt aufgrund des Durchfüh-

rungsverbots (s. Art. 8 VE-BHÜG) eine möglichst frühe Anmeldung im Interesse des

Beihilfegebers.

Verfügungen können der Überwachungsbehörde als früher Entwurf zugestellt wer-

den, der jedoch bereits die wichtigsten Merkmale enthalten muss. Je früher die An-

meldung erfolgt, desto besser kann die Stellungnahme der Überwachungsbehörde in

den Entwurf aufgenommen werden. Dies birgt allerdings das Risiko, dass es danach

143 / 931

noch zu signifikanten Änderungen kommt und somit eine Neuanmeldung nach Arti-

kel 6 Absatz 2 VE-BHÜG notwendig wird. Auch Beihilfen in der Form von öffent-

lich-rechtlichen Verträgen oder Realakten sollen zu einem geeigneten Zeitpunkt an-

gemeldet werden, bei dem die wichtigsten Merkmale zwar bereits definiert sind, aber

noch Spielraum für mögliche Änderungen besteht. Die Wahl des Zeitpunktes obliegt

grundsätzlich dem Beihilfegeber, jedoch muss er sich an der Vorgabe orientieren, dass

die wichtigsten Merkmale der Beihilfe festgelegt sind, sie aber noch nicht gewährt

wurde.

Die Anmeldung für Erlasse findet spätestens mit der Eröffnung des jeweils ersten an-

wendbaren Konsultationsverfahrens statt. Auf Bundesebene bedeutet dies jeweils fol-

genden Zeitpunkt:

Bundesgesetz: erste Ämterkonsultation;

Verordnung des Bundesrates: (erste) Ämterkonsultation;

Verordnung eines Departements oder Amtes: (erste) Ämterkonsultation

oder departementsinterne Konsultation;

Bundesgesetz, welches im Rahmen einer parlamentarischen Initiative oder

einer Standesinitiative ausgearbeitet wird, oder Verordnung der Bundesver-

sammlung: spätestens zum Zeitpunkt der Einladung des Bundesrates zur

Stellungnahme.

120

Die Kantone haben ihre Beihilfevorhaben in der Form von Erlassen zu einem ver-

gleichbaren Zeitpunkt in ihrem jeweiligen Gesetzgebungsverfahren anzumelden.

Falls ein Kanton ein Konsultationsverfahren vorsieht, erfolgt die Anmeldung zu die-

sem Zeitpunkt. Die Anmeldung muss jedenfalls zwingend vor Verabschiedung statt-

finden. Andernfalls bedeutet dies eine Verletzung der Anmeldepflicht.

Art. 11

Bestätigung der Anmeldung

Abs. 1

Die Bestätigung des Eingangs der Anmeldung innert fünf Arbeitstagen verschafft dem

Beihilfegeber Sicherheit, dass er seine Anmeldepflicht eingehalten hat.

Abs. 2

Eine unvollständige Anmeldung erfüllt die Anmeldepflicht jedoch nicht. Im Fall von

unvollständigen Informationen fordert die Überwachungsbehörde ergänzende Aus-

künfte innerhalb einer angemessenen Frist nach. Ist die Anmeldung weiterhin unvoll-

ständig und erachtet es die Überwachungsbehörde als sinnvoll, kann sie die fehlenden

Informationen erneut anfordern.

121

Der Verweis auf das VwVG in Artikel 53 VE-BHÜG für die Berechnung der Fristen

gilt insbesondere für eine allfällige Fristansetzung nach dem vorliegenden Absatz. Die

120

Vgl. Art. 111 Abs. 3 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dez. 2002, ParlG, SR

171.10

.

121

Vgl. auch die vergleichbare Regelung in Art. 52 Abs. 2 und 3 VwVG sowie Art. 5 Abs. 2

EU-Verordnung 2015/1589.

144 / 931

Frist muss angemessen sein, das heisst, der Beihilfegeber hat genügend Zeit die not-

wendigen Unterlagen zusammenzustellen oder – wo nötig – zu beschaffen. Die Über-

wachungsbehörde kann Fristen gemäss Artikel 22 Absatz 2 VwVG auf Gesuch hin

erstrecken.

Art. 12

Rückzug der Anmeldung

Abs. 1

Der Beihilfegeber, der die Beihilfe angemeldet hat, kann eine Anmeldung wieder zu-

rückzuziehen.

122

Dies kann beispielsweise das Ergebnis einer signifikanten Änderung

sein. Ein Rückzug ist ferner möglich, wenn der Beihilfegeber nicht mehr die Absicht

hat, die Beihilfe zu gewähren. Die Überwachungsbehörde kann das Prüfungsverfah-

ren entsprechend einstellen.

Falls eine Benachrichtigung über die Einleitung einer vertieften Prüfung veröffent-

licht wurde, kann der Rückzug der Anmeldung beim entsprechenden Eintrag in der

Datenbank festgehalten werden (s. Art. 51 Abs. 2 Bst. b VE-BHÜG). Dies ermöglicht

auch Transparenz über abgebrochene Vorhaben. Die Einzelheiten werden auf Verord-

nungsstufe geregelt.

Abs. 2

Dieser Absatz regelt die Folgen für das Verpassen der Frist nach Artikel 11 Absatz 2

VE-BHÜG. Wenn die eingeforderten Informationen vom Beihilfegeber nicht inner-

halb der Frist nachgereicht wurden, gilt die Anmeldung ebenfalls als zurückgezogen.

Es sei denn, der Beihilfegeber teilt der Überwachungsbehörde vor Ablauf der festge-

setzten Frist mit, dass er die Anmeldung als vollständig betrachtet, weil die angefor-

derten ergänzenden Informationen nicht verfügbar oder bereits übermittelt worden

sind.

123

In diesem Fall ersetzt das Schreiben des Beihilfegebers die Nachreichung der

eingeforderten Informationen. Gilt die Anmeldung als zurückgezogen, ist die Prüfung

ohne Stellungnahme beendet. Will der Beihilfegeber die Beihilfe dennoch gewähren,

muss er eine neue Anmeldung vornehmen. Dies ist grundsätzlich jederzeit möglich.

Die Fristen nach Artikel 20 VE-BHÜG beginnen dann neu zu laufen.

2. Abschnitt: Prüfungen

Art. 13

Gegenstand der Prüfungen

Die Überwachungsbehörde ist verpflichtet, angemeldete Beihilfen auf ihre Zulässig-

keit beziehungsweise ihre Vereinbarkeit mit dem materiellen Beihilfenrecht hin zu

überprüfen. Sie kann grundsätzlich nicht prüfen, ob eine geplante Beihilfe mit weite-

ren Vorgaben des Bundesrechts sowie des kantonalen Rechts (bspw. Bestimmungen

aus dem Subventions- oder Steuerrecht) zu vereinbaren ist. Diese Aspekte können

allenfalls von Konkurrenten des Beihilfeempfängers oder anderen Parteien im Ver-

waltungsverfahren zur Gewährung der Beihilfe beziehungsweise im anschliessenden

Rechtsmittelverfahren gerügt werden.

122

Vgl. Art. 10 EU-Verordnung 2015/1589.

123

Vgl. Art. 5 Abs. 3 EU-Verordnung 2015/1589.

145 / 931

Die Anmeldung nach Artikel 6 VE-BHÜG ist Voraussetzung für die ordentliche Prü-

fung der geplanten Beihilfe durch die Überwachungsbehörde.

Art. 14

Einfache Prüfung

Abs. 1

Die Überwachungsbehörde prüft die geplante Beihilfe auf ihre Zulässigkeit hin. Die

Prüfung ist wie jene der kartellrechtlichen Zusammenschlusskontrolle

124

in zwei Pha-

sen gegliedert. Die Überwachungsbehörde beginnt mit einer einfachen Prüfung, so-

bald sie die Anmeldung nach Artikel 11 VE-BHÜG bestätigt hat. Für die einfache

sowie die unter Umständen darauffolgende vertiefte Prüfung gelten die allgemeinen

Verfahrensbestimmungen nach dem 9. Kapitel VE-BHÜG.

Abs. 2

Die Überwachungsbehörde kann die einfache Prüfung sistieren. Dies wird insbeson-

dere dann geschehen, wenn der Beihilfegeber eine Sistierung beantragt, um die ge-

plante Beihilfe an die beihilferechtlichen Bestimmungen der völkerrechtlichen Ver-

träge anzupassen. Sollte sich in der Folge herausstellen, dass es sich um eine

signifikante Änderung handelt, kann eine erneute Anmeldung notwendig werden (s.

Art. 6 Abs. 2 VE-BHÜG). Eine Sistierung hat zur Folge, dass die Frist nach Artikel 20

Absatz 1 VE-BHÜG stillsteht. Wenn der Beihilfegeber bis zum Ende der Sistierung

keine vollständige (neue) Anmeldung vorlegt, nimmt die Überwachungsbehörde das

Verfahren an dem Punkt wieder auf, an dem es unterbrochen wurde.

125

Art. 15

Abschluss der einfachen Prüfung

Die einfache Prüfung wird entweder mit einer Stellungnahme der Überwachungsbe-

hörde abgeschlossen oder mit der Einleitung einer vertieften Prüfung. Die Überwa-

chungsbehörde schliesst die einfache Prüfung mit einer Stellungnahme ab, wenn die

Prüfung ergeben hat, dass die geplante Beihilfe zulässig ist, das heisst mit dem mate-

riellen Beihilferecht zu vereinbaren ist, oder dass sie die Merkmale einer Beihilfe

nicht erfüllt. In der ersten Konstellation teilt die Überwachungsbehörde mit, welche

Ausnahmebestimmung der Beihilfeprotokolle respektive des Stromabkommens zur

Anwendung kommen.

126

Hat die Überwachungsbehörde am Ende der einfachen Prüfung hingegen Bedenken

bezüglich der Zulässigkeit der Massnahme oder sie ist unsicher, ob die geplante Bei-

hilfe tatsächlich die Merkmale einer Beihilfe erfüllt, leitet sie eine vertiefte Prüfung

nach Artikel 16 Absatz 1 VE-BHÜG ein.

Art. 16

Vertiefte Prüfung

Abs. 1

124

Vgl. Art. 32–38. KG.

125

Vgl. Pt. 5.2 der Verhaltenskodex für die Durchführung von Beihilfeverfahren, ABl. C 253

vom 19.7.2018, S. 14.

126

Vgl. Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EU-Verordnung 2015/1589.

146 / 931

Wenn die Überwachungsbehörde Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit einer ge-

planten Beihilfe mit der einfachen Prüfung nicht ausräumen kann oder sie unsicher

ist, ob die geplante Beihilfe tatsächlich die Merkmale einer Beihilfe erfüllt, muss sie

eine vertiefte Prüfung einleiten. Die Einleitung der vertieften Prüfung erfolgt nicht

mittels Stellungnahme oder Verfügung. Es handelt sich um eine einfache Mitteilung.

Die Überwachungsbehörde teilt die Veröffentlichung der Mitteilung dem Beihilfege-

ber mit.

Abs. 2

In der Mitteilung fasst die Überwachungsbehörde die wesentlichen Sach- und Rechts-

fragen zusammen, nimmt eine vorläufige Würdigung der geplanten Beihilfe vor und

erklärt ihre Bedenken zu dieser. Die Mitteilung ist wie die Stellungnahme unverbind-

lich und hat den Charakter eines behördlichen Informationsschreibens. Die Mitteilung

wird in der öffentlich zugänglichen Datenbank der Überwachungsbehörde publiziert

(s. Art. 51 Abs. 2 Bst. b VE-BHÜG). Die Überwachungsbehörde kann bereits zusam-

men mit der Mitteilung über die Einleitung einer vertieften Prüfung den Konkurrenten

sowie dem Beihilfegeber und dem Beihilfeempfänger eine Frist nach Artikel 21 Ab-

satz 1 und Artikel 22 Absatz 1 VE-BHÜG setzen, innerhalb welcher sie sich zu der

geplanten Beihilfe äussern können. Ein solches Vorgehen ermöglicht es den Konkur-

renten sowie dem Beihilfegeber und dem Beihilfeempfänger, dass sie sich gleich zu

Beginn der vertieften Prüfung äussern können. Die Überwachungsbehörde ist – falls

sie dies aus sachlichen Gründen für sinnvoll erachtet – jedoch auch berechtigt, nach

der Einleitung einer vertieften Prüfung zuerst weitere Abklärungen zu treffen, bevor

sie den Konkurrenten sowie dem Beihilfegeber und den Beihilfeempfänger eine Frist

zur schriftlichen Äusserung setzt.

Art. 17

Abschluss der vertieften Prüfung

Abs. 1

Die vertiefte Prüfung endet mit einer unverbindlichen Stellungnahme der Überwa-

chungsbehörde. Die Stellungnahme wird nach Artikel 51 VE-BHÜG in der Daten-

bank der Überwachungsbehörde veröffentlicht. Die Überwachungsbehörde teilt dem

Beihilfegeber die Veröffentlichung der Stellungnahme mit.

Abs. 2

Die Überwachungsbehörde führt in ihrer Stellungnahme aus, zu welchem Ergebnis

sie im Rahmen der vertieften Prüfung gelangt ist. Die Überwachungsbehörde kann

zum Schluss gelangen, dass die angemeldete Beihilfe keine Beihilfe darstellt. Stellt

das angemeldete Beihilfevorhaben eine Beihilfe dar, hat die Überwachungsbehörde

weiter zu beurteilen, ob die Beihilfe zulässig oder unzulässig ist.

Abs. 3

Die Überwachungsbehörde kann in ihrer Stellungnahme Änderungen der geplanten

Beihilfe vorschlagen, welche die Zulässigkeit bewirken würden. Sind grössere bezie-

hungsweise signifikanten Änderungen notwendig, kann die Überwachungsbehörde

auch eine neue Anmeldung verlangen. Im Gegensatz zum Verfahren in der EU kann

sie aufgrund der Unverbindlichkeit der Stellungnahme keine Bedingungen, Auflagen

147 / 931

oder Überwachungsmassnahmen anordnen.

127

Aufgrund der Mitteilungspflicht (s.

Art. 24 VE-BHÜG) erfährt die Überwachungsbehörde, ob ihren Vorschlägen entspro-

chen wurde. Hat der Beihilfegeber die Änderungsvorschläge nicht befolgt, muss die

Überwachungsbehörde bei unzulässigen Beihilfen Beschwerde erheben (s. Art. 37

Abs. 1 VE-BHÜG).

Art. 18

Wirkung der Stellungnahmen der Überwachungsbehörde

Die Stellungnahme der Überwachungsbehörde ist unverbindlich. Es handelt sich nicht

um eine Verfügung, weshalb die vertiefte Prüfung kein klassisches Verwaltungsver-

fahren darstellt. Das VwVG ist somit nicht direkt anwendbar.

Die Stellungnahme kann nicht angefochten werden. Sollte der Beihilfegeber nicht ein-

verstanden sein, kann er dies im beihilfegewährenden Akt zum Ausdruck bringen und

eine gegenteilige Entscheidung treffen. Die Überwachungsbehörde ist zur Be-

schwerde verpflichtet, wenn sie eine Beihilfe als unzulässig beurteilt (s. Art. 37 VE-

BHÜG).

Die rechtliche Wirkung der Stellungnahme liegt einzig darin, dass der Beihilfegeber

sie bei der Begründung der Beihilfe berücksichtigen muss. Dies bedingt, dass er sich

in seinem Entscheid auf nachvollziehbare Art und Weise mit der Stellungnahme aus-

einandersetzt. Aus dem Entscheid muss hervorgehen, inwiefern und aus welchen

Gründen der Beihilfegeber mit der Stellungnahme der Überwachungsbehörde nicht

einverstanden ist. Dies ergibt sich in der Regel bereits aus dem Anspruch auf rechtli-

ches Gehör der Parteien im Verfahren vor dem Beihilfegeber. Bei einer Beihilferege-

lung beziehungsweise einer Ad-Hoc Beihilfe in der Form eines Erlasses ist dies in den

das Gesetzesprojekt begleitenden Dokumenten (erläuternder Bericht, Botschaft, Wei-

sungen, etc.) auszuführen.

Art. 19

Widerruf einer Stellungnahme

Abs. 1

Die Überwachungsbehörde kann eine Stellungnahme widerrufen, wenn sich diese als

fehlerhaft erweist und ihre Berichtigung für die zukünftige Rechtsanwendung von Be-

deutung ist. Dies ist der Fall, wenn es um Grundsatzfragen geht oder viele ähnliche

Sachverhalte zu erwarten sind. Eine Stellungnahme kann insbesondere dann fehler-

haft sein, wenn sich nachträglich herausstellt, dass sie auf einer falschen oder unvoll-

ständigen Sachverhaltsfeststellung oder einer fehlerhaften Rechtsanwendung beruht.

Ein Widerruf ist hingegen grundsätzlich nicht nötig, wenn sich die Sach- oder Rechts-

lage geändert hat, da die Stellungnahme keine Rechte oder Pflichten schafft. Eine Än-

derung der Sach- oder Rechtslage kann sich jedoch auf die Beschwerdepflicht der

Überwachungsbehörde auswirken.

Die Überwachungsbehörde wird dabei eine Interessensabwägung vornehmen müssen,

wie sie für den Widerruf einer Verfügung üblich ist.

128

Ein Widerruf ist nur möglich,

wenn das Interesse an der richtigen Anwendung des objektiven Rechts das Interesse

127

Vgl. Art. 9 Abs. 4 EU-Verordnung 2015/1589.

128

Vgl. bspw. BGE 143 II 1 E. 5; 141 IV 55 E. 3.4.2; 137 I 69 E. 2.3.

148 / 931

an der Rechtssicherheit und dem Vertrauensschutz überwiegt. Beruht die Fehlerhaf-

tigkeit der Stellungnahme auf unrichtigen Informationen des Beihilfegebers oder des

Beihilfeempfängers über den beihilferechtlichen Sachverhalt, wird ein Widerruf in

der Regel möglich sein. Es ist dabei zu beachten, dass die Stellungnahme zwar unver-

bindlich ist, jedoch einen Einfluss auf die Entscheidung des Beihilfegebers hat.

Hat sich die Stellungnahme im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens betreffend die

in der Stellungnahme beurteilte Beihilfe als fehlerhaft herausgestellt, ist ein Widerruf

unnötig, da die unverbindliche Stellungnahme der Überwachungsbehörde durch das

entsprechende verbindliche Urteil übersteuert wird. Dieses Urteil wird zudem in der

Datenbank nach Artikel 51 VE-BHÜG veröffentlicht, womit auch Transparenz her-

gestellt wird. Die Überwachungsbehörde ist verpflichtet, sicherzustellen, dass ihre

Datenbank auf dem aktuellen Stand ist, und muss inhaltlich einem Urteil widerspre-

chende Stellungnahmen entsprechend kennzeichnen, indem sie diese beispielsweise

mit einem Verweis auf das Urteil versieht.

Abs. 2

Bevor die Überwachungsbehörde eine Stellungnahme nach Artikel 15 VE-BHÜG wi-

derrufen kann, muss sie zunächst eine vertiefte Prüfung einleiten.

129

In ihrer Stellung-

nahme nach einer einfachen Prüfung kann die Überwachungsbehörde nur zum

Schluss gelangen, dass ein Beihilfevorhaben keine Beihilfe darstellt oder dass sie zu-

lässig ist

.

Gelangt die Überwachungsbehörde in der vertieften Prüfung erneut zum

Schluss, dass keine Beihilfe vorliegt oder die Beihilfe zulässig ist, ersetzt die Stel-

lungnahme, die aus der vertieften Prüfung ergeht, diejenige aus der einfachen Prü-

fung. Da die Stellungnahme aus der einfachen Prüfung im Ergebnis jedoch bestätigt

wird, liegt kein Widerruf vor. Gelangt die Überwachungsbehörde in der vertieften

Prüfung jedoch zum Schluss, dass die Beihilfe unzulässig ist, so widerruft sie die ur-

sprüngliche Stellungnahme und veröffentlicht dafür die neue Stellungnahme, welche

aus der vertieften Prüfung ergangen ist.

Abs. 3

Bevor die Überwachungsbehörde eine Stellungnahme widerruft, hat sie dem Beihil-

fegeber und dem Beihilfeempfänger die Möglichkeit zur Äusserung zu geben. Wurde

vor dem Widerruf nach Artikel 19 Absatz 2 VE-BHÜG eine vertiefte Prüfung einlei-

tet, während welcher sich der Beihilfegeber und der Beihilfeempfänger nach Arti-

kel 22 Absatz 2 VE-BHÜG geäussert haben, kann darauf verzichtet werden.

Art. 20

Fristen

Abs. 1

Die einfache Prüfung wird innerhalb einer Frist von zwei Monaten abgeschlossen. Die

Frist beginnt, sobald die Überwachungsbehörde die Anmeldung nach Artikel 11 VE-

BHÜG bestätigt hat. Für die Berechnung der Prüfungsfristen ist Artikel 53 VE-BHÜG

zu beachten.

Abs. 2

129

Vgl. Art. 11 EU-Verordnung 2015/1589.

149 / 931

Die vertiefte Prüfung wird innerhalb einer Frist von zwölf Monaten abgeschlossen.

Diese kürzere Frist im Vergleich zur EU (18 Monate) erklärt sich dadurch, dass nach

der vertieften Prüfung in der Schweiz unter Umständen ein Gerichtsverfahren folgt,

wodurch die Gesamtdauer bis zu einer Entscheidung länger ausfallen kann.

Abs. 3

Die Dauer der einfachen und vertieften Prüfungsfristen von zwei beziehungsweise

zwölf Monaten kann im Einvernehmen mit dem Beihilfegeber, welcher die Beihilfe

anmeldete, verlängert werden. Eine Verlängerung kann im Interesse der Beihilfegeber

sein, falls dadurch ein allfälliges Beschwerdeverfahren vermieden werden kann.

Art. 21

Rechte der Konkurrenten

Da die Überwachungsbehörde keine Verfügung erlässt, sondern eine unverbindliche

Stellungnahme abgibt, handelt es sich beim Beihilfeüberwachungsverfahren nicht um

ein Verfahren auf Erlass einer Verfügung. Dies bedeutet, dass Konkurrenten (oder

andere Dritte) nicht Partei im Sinne von Artikel 6 VwVG sind. Damit gelangen auch

die üblichen Parteirechte von Dritten, insbesondere der Anspruch auf rechtliches Ge-

hör, nicht zur Anwendung. Die Verfahrensrechte der Konkurrenten im Prüfungsver-

fahren ergeben sich folglich allein aus dem VE-BHÜG. Nach dem VE-BHÜG können

sich Dritte am Prüfungsverfahren grundsätzlich nicht beteiligen. Sie haben insbeson-

dere keine Parteistellung und haben folglich auch kein Akteneinsichtsrecht. Dies ist

darauf zurückzuführen, dass die Beteiligung von Dritten zur Klärung des Sachverhal-

tes im Rahmen eines Prüfungsverfahren in vielen Fällen weniger zentral als in anderen

Rechtsbereichen ist, da sich die Überwachungsbehörde bei der Erstellung des Sach-

verhaltes zu grossen Teilen auf die Vorarbeiten des Beihilfegebers stützen kann. Die

Ausnahme von diesem Grundsatz bilden die Konkurrenten eines Beihilfeempfängers.

Sie haben das Recht sich im Prüfungsverfahren vor der Überwachungsbehörde

schriftlich zu äussern.

Unter Konkurrenten im Sinne von Artikel 21 VE-BHÜG sind grundsätzlich alle An-

bieter zu verstehen, die mit ihren Gütern und Dienstleistungen gegenüber den Nach-

fragern im Wettbewerb zu anderen Anbietern (die Beihilfen empfangen sollen) ste-

hen.

130

Der Umstand, dass sich Konkurrenten am Prüfungsverfahren vor der Überwachungs-

behörde beteiligen können, bedeutet nicht, dass sie die gleiche verfahrensrechtliche

Stellung wie der Beihilfegeber oder -empfänger erlangen können. Die Konkurrenten

haben im VE-BHÜG immerhin das Recht, sich nach Einleitung der vertieften Prüfung

schriftlich zu äussern. Sie können sich dabei sowohl zu rechtlichen Fragen als auch

zum Sachverhalt im Zusammenhang mit der zu prüfenden Beihilfe äussern.

Unter

anderem zu diesem Zweck wird die Mitteilung über die Einleitung des vertieften Ver-

fahrens publiziert. Die Publikation enthält eine Zusammenfassung der wesentlichen

Sach- und Rechtsfragen sowie eine vorläufige Würdigung der Überwachungsbehörde

(s. Art. 16 Abs. 2 VE-BHÜG). Diese Angaben erlauben es den Konkurrenten, eine

substantiierte Äusserung zu machen. Dazu wird den Konkurrenten ein Formular zur

130

S. Bernhard Waldmann, in: Niggli Marcel Alexander et al. (Hrsg.), Bundesgerichtsgesetz,

Basler Kommentar, 3. Aufl., Basel 2018, Art. 89 N. 23 Fn. 171.

150 / 931

Verfügung gestellt, wie es im europäischen Beihilferecht üblich ist. Die Einzelheiten

dieses Formulars werden durch das WBF auf Verordnungsstufe geregelt.

Zudem kann die Überwachungsbehörde die Konkurrenten zu einem weiteren Schrif-

tenwechsel einladen und ihnen zum Beispiel die Möglichkeit geben, sich zu den Ein-

gaben der Beihilfegeber und des Beihilfeempfängers zu äussern. Der Entscheid, ob

ein weiterer Schriftenwechsel sinnvoll ist, liegt im Ermessen der Überwachungsbe-

hörde. Die Überwachungsbehörde setzt für jede schriftliche Äusserung eine angemes-

sene Frist, innerhalb derer sie zu erfolgen hat.

Unter gewissen Umständen haben Konkurrenten neben diesem spezialgesetzlichen

Äusserungsrecht weitere Rechte. Sie können in den Verfahren vor dem Beihilfegeber

und einem allfälligen Rechtsmittelverfahren weitere im jeweils anwendbaren Verfah-

rensrecht vorgesehene Rechte wahrnehmen. Insbesondere können sie allenfalls vom

Beihilfegeber verlangen, dass er ihnen eine beihilfegewährende Verfügung eröffnet,

damit sie anschliessend Beschwerde bei der zuständigen Rechtsmittelinstanz erheben

können. Das Recht sich am Verfahren zu beteiligen beziehungsweise die Eröffnung

eines Entscheides zu verlangen leitet sich aus dem anwendbaren Verfahrensrecht (s.

für den Bund Art. 6 i. V. m. Art. 48 VwVG) oder im Sinne einer Minimalgarantie aus

Artikel 89 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 111 Absatz 1 des Bundesgerichtsge-

setzes vom 17. Juni 2005

131

(BGG) ab. Für die dafür erforderliche Parteistellung kann

auf die Ausführungen zum Beschwerderecht der Konkurrenten in den Erläuterungen

zu Artikel 39 VE-BHÜG verwiesen werden.

Art. 22

Rechte und Pflichten der Beihilfegeber und Beihilfeempfänger

Alle Beihilfegeber und die Beihilfeempfänger müssen der Überwachungsbehörde alle

Auskünfte, Informationen und Unterlagen zur Verfügung stellen, die diese benötigt,

um die Massnahme auf ihre Vereinbarkeit mit den beihilferechtlichen Bestimmungen

zu beurteilen.

132

Zwar ist die Überwachungsbehörde verpflichtet den Sachverhalt von

Amtes wegen abzuklären, sie ist jedoch auf die Mitwirkung des Beihilfegebers und

unter Umständen auch des Beihilfeempfängers angewiesen. Die Beihilfegeber haben

zusätzlich Anmelde- und Mitteilungspflichten, die neben der hier beschriebenen Mit-

wirkungspflicht bestehen.

Die Beihilfegeber und Beihilfeempfänger haben kein Recht zur Verweigerung der

Auskunft. Umgekehrt stehen der Überwachungsbehörde jedoch keine direkten

Zwangsmittel zur Durchsetzung der Mitwirkungspflicht zur Verfügung. Kommen der

Beihilfegeber oder -empfänger ihren Pflichten nicht nach, erhöhen sie das Risiko, dass

die Überwachungsbehörde in ihrer Stellungnahme zum Schluss kommen wird, dass

die Massnahme unzulässig ist.

Da die Überwachungsbehörde keine Verfügung erlässt, sondern eine unverbindliche

Stellungnahme abgibt, handelt es sich nicht um ein Verfahren auf Erlass einer Verfü-

gung. Weder der Beihilfegeber noch der Beihilfeempfänger sind daher Parteien im

Sinne von Artikel 6 VwVG. Die üblichen Parteirechte, insbesondere der Anspruch

auf rechtliches Gehör, sind grundsätzlich nicht anwendbar. Der Beihilfeempfänger

131

SR

173.110

132

Vgl. Art. 7 EU-Verordnung 2015/1589.

151 / 931

muss seine Rechte im Verfahren vor dem Beihilfegeber oder in einem allfälligen Be-

schwerdeverfahren wahren. Grundsätzlich wird der Beihilfeempfänger vor der zustän-

digen Beschwerdeinstanz auch die falsche Anwendung der beihilferechtlichen Best-

immungen der völkerrechtlichen Verträge nach Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG rügen

können. Dies hängt aber einerseits von der Ausgestaltung der konkreten kantonalen

oder bundesrechtlichen Rechtsgrundlage für die Beihilfe

133

ab sowie andererseits vom

anwendbaren Verfahrensrecht.

134

Der Beihilfegeber und der Beihilfeempfänger haben jedoch das Recht sich schriftlich

zur Einleitung einer vertieften Prüfung zu äussern. Die Einleitung der vertieften Prü-

fung ist ein Zeitpunkt, in welchem neue Elemente bezüglich des Sachverhalts oder

der einschlägigen Rechtslage aufgeworfen werden könnten. Entsprechend dürfen sich

die Beihilfegeber oder der Beihilfeempfänger dann äussern. Zudem kann die Überwa-

chungsbehörde die Beihilfegeber und Beihilfeempfänger zu einem weiteren Schrif-

tenwechsel einladen und ihnen zum Beispiel die Möglichkeit geben, sich zu den Ein-

gaben von Konkurrenten zu äussern. Der Entscheid, ob ein weiterer Schriftenwechsel

sinnvoll ist, liegt im Ermessen der Überwachungsbehörde. Die Überwachungsbe-

hörde setzt für jede schriftliche Äusserung eine angemessene Frist.

Art. 23

Vereinfachte Verfahren

Die Überwachungsbehörde kann Erleichterungen für ihre Verfahren vorsehen. Solche

Erleichterungen sind für Beihilfen sinnvoll, die nach Ansicht der Überwachungsbe-

hörde ein geringes Risiko einer Wettbewerbsverzerrung mit sich bringen. Die Erleich-

terungen haben das Ziel, ein schnelles und weniger aufwändiges Prüfungsverfahren

für solche Beihilfen zu schaffen. Die Überwachungsbehörde kann insbesondere eine

erleichterte Anmeldung vorsehen. Die Details dieser Bestimmung werden noch ge-

prüft und während der Vernehmlassung sowie anhand allfälliger Vernehmlassungs-

antworten ausgearbeitet.

Analog zum EU-Überwachungsverfahren sollen aber die Beihilfegeber nicht ver-

pflichtet werden, nach diesen Richtlinien vorzugehen. Vielmehr können die Beihilfe-

geber jeweils auch nach dem ordentlichen Prüfungsverfahren vorgehen, wenn sie dies

vorziehen.

3. Abschnitt: Mitteilungspflicht und Verfahren auf Erlass einer Verfügung

Art. 24

Mitteilungspflicht des Beihilfegebers

Die Mitteilungspflicht ist ein weiterer wichtiger Pfeiler des Beihilfeüberwachungs-

verfahrens. Eine Überwachung der Beihilfen und vor allem die Erhebung einer Be-

schwerde gegen eine als unzulässig eingeschätzte Beihilfe ist nur möglich, wenn die

Überwachungsbehörde Kenntnis der gewährten Beihilfen erhält. Dies wird durch die

Mitteilungspflicht sichergestellt. Dabei handelt sich nicht um eine typische verwal-

tungsrechtliche Pflicht. Einerseits, weil Behörden verpflichtet werden, andererseits,

weil die Mitteilungspflicht nicht im eigentlichen Sinne durchgesetzt beziehungsweise

ihre Verletzung sanktioniert werden kann.

133

Danach beurteilt sich, ob ein Rechtsanspruch besteht.

134

Vgl. dazu insb. die Änderung in Art. 83 Bst. k VE-BGG.

152 / 931

Im Idealfall gewährt der Beihilfegeber die Beihilfe erst nach Abschluss des Prüfungs-

verfahrens mit einer positiven Stellungnahme durch die Überwachungsbehörde. In

solchen Fällen kommt der Mitteilungspflicht nur noch geringe Bedeutung zu. Sie

dient in diesen Fällen dazu, dass die Überwachungsbehörde überprüfen kann, dass die

Beihilfe tatsächlich so verabschiedet wurde, wie sie auch zur Prüfung unterbreitet

worden ist. Dabei kann die Überwachungsbehörde auch sicherstellen, dass die Bei-

hilfe ohne ihr Wissen nicht signifikant geändert wurde. Ob eine relevante Änderung

erfolgt ist, kann nur die Überwachungsbehörde und nicht der Beihilfegeber entschei-

den.

Wartet der Beihilfegeber jedoch die Stellungnahme nicht ab oder handelt entgegen

einer Stellungnahme, die die Beihilfe als unzulässig erklärt, ist die Mitteilungspflicht

von grosser Bedeutung. In diesen Fällen muss die Überwachungsbehörde Beschwerde

erheben (s. Art. 37 ff. VE-BHÜG). Dies ist jedoch nur möglich, wenn die Überwa-

chungsbehörde von der Beihilfe Kenntnis hat. Weder die Anmeldung der geplanten

Beihilfen noch die nachträgliche Veröffentlichung in der Datenbank sind für diesen

Zweck ausreichend. Auf Bundesebene verhindert das Durchführungsverbot nach Ar-

tikel 8 VE-BHÜG eine Beihilferegelung ohne Abwarten der Stellungnahme, weshalb

die Mitteilungspflicht vor allem für die Überwachung von kantonalen Beihilfen wich-

tig ist.

Mitteilungspflicht als Mitwirkungspflicht des Beihilfegebers

Die Mitteilungspflicht ist eine zentrale Mitwirkungspflicht der Beihilfegeber. Ihre

Verletzung wird zwar nicht direkt sanktioniert, hat jedoch erhebliche rechtliche Kon-

sequenzen für den Beihilfegeber. Die Überwachungsbehörde kann während eines

Zeitraums von zehn Jahren im Sinne eines Sicherungsnetzes ein besonderes Verfahren

einleiten, wenn sie von einer nicht (korrekt) mitgeteilten Beihilfe Kenntnis erhält

(s.

Art. 27 ff. VE-BHÜG).

Zeitpunkt der Mitteilung

Unabhängig davon, ob das ordentliche Verfahren korrekt durchlaufen wurde, muss

jeder Beihilfegeber der Überwachungsbehörde die (anstehende) Gewährung einer

Beihilfe mitteilen. Sinnvollerweise erfolgt die Mitteilung so früh vor dem Inkrafttre-

ten beziehungsweise dem Eintritt der Rechtskraft, damit die Überwachungsbehörde

noch genügend Zeit hat, um angemessen reagieren zu können. In diesem Sinne stellt

die Mitteilungspflicht sicher, dass die Überwachungsbehörde Beschwerde gegen eine

Beihilfe erheben kann, wenn sie diese für unzulässig hält und damit, wo möglich, die

Gewährung aufschiebt.

Dabei gilt eine Beihilfe grundsätzlich als gewährt, sobald der Beihilfeempfänger ein

Recht auf die Beihilfe erhält. Das bedeutet, dass Umsetzungsbeihilfen oder Ad-hoc-

Beihilfen in der Form von Verfügungen als gewährt gelten, sobald die Verfügung

rechtskräftig ist und vollstreckt werden kann. Beihilfen in der Form von Realakten

sind in der Regel sofort gewährt. Bei öffentlich-rechtlichen Verträgen kommt es auf

die konkrete Ausgestaltung des Vertrages an. In der Regel wird die Gewährung dem

Vertragsabschluss entsprechen. Ad-hoc-Beihilfen in der Form von Erlassen gelten im

Zeitpunkt des Inkrafttretens als gewährt. Nicht ausschlaggebend sind in der Regel die

effektiven Auszahlungen, die grundsätzlich erst nach der Gewährung erfolgen sollten.

153 / 931

Beihilferegelungen gewähren zwar grundsätzlich keine Beihilfen, sondern erst die da-

rauf gestützten Umsetzungsbeihilfen. Dennoch gilt die Mitteilungspflicht auch für

Beihilferegelungen, und zwar mit deren Publikation nach dem massgebenden Recht.

Mitzuteilende Rechtsakte

Die Mitteilungspflicht gilt für Ad-hoc-Beihilfen und Umsetzungsbeihilfen in der

Form von Verfügungen, öffentlich-rechtlichen Verträgen und Realakten (s. Bst. b und

c). Sollte ausnahmsweise eine Beihilfe in Form eines Realakts gewährt werden,

müsste dieser Realakt in geeigneter Form, beispielsweise in einem Schreiben an die

Überwachungsbehörde mit einer Beschreibung des geplanten Realaktes, mitgeteilt

werden. Dies erfolgt vor der geplanten Vornahme des Realaktes. Andernfalls riskiert

der Beihilfegeber, dass er die per Realakt gewährte Beihilfe zurückverlangen muss.

Die Mitteilung der Umsetzungsbeihilfen ermöglicht es der Überwachungsbehörde,

durch eine Beschwerde eine konkrete Normenkontrolle der betreffenden Beihilfere-

gelung durch ein Gericht zu erwirken (s. Art. 37 Abs. 2 VE-BHÜG). Dies setzt für

Umsetzungsbeihilfen gestützt auf Beihilferegelungen der Bundesversammlung und

des Bundesrates voraus, dass eine andere Verwaltungsbehörde die Umsetzungsbei-

hilfe gewährt hat.

Aus Praktikabilitätsgründen umfasst die Mitteilungspflicht auch Erlasse. Zwar wer-

den Erlasse unabhängig von einer Mitteilungspflicht publiziert, wodurch eine Kennt-

nisnahme der Überwachungsbehörde grundsätzlich möglich wäre. Dies setzt jedoch

eine kontinuierliche Beobachtung der publizierten Erlasse sämtlicher Kantone und

Gemeinden voraus. Dieser Aufwand soll vermieden werden. Die Beschwerdefrist für

eine allfällige abstrakte Normenkontrolle läuft dennoch ab dem massgebenden Zeit-

punkt der Veröffentlichung nach dem anwendbaren Recht (s. Art. 38 VE-BHÜG).

Analog zur Anmeldepflicht sind Umsetzungsbeihilfen, welche gestützt auf eine be-

reits als zulässig beurteilte Beihilferegelung gewährt werden, auch von der Mittei-

lungspflicht befreit (Bst. c). Während bei der Anmeldepflicht der Fokus auf der Tat-

sache liegt, ob bereits eine Prüfung stattgefunden hat, ist bei der Mitteilungspflicht

entscheidend, ob die Zulässigkeit bereits abschliessend festgestellt wurde. Die Aus-

nahme von der Mitteilungspflicht dürfte die meisten Umsetzungsbeihilfen betreffen.

Die Mitteilungspflicht gilt jedoch insbesondere für Umsetzungsbeihilfen, die gestützt

auf als unzulässig beurteilten Beihilferegelungen gewährt werden. Diese Umsetzungs-

beihilfen sind nur von der Anmeldepflicht befreit, da eine erneute Prüfung nicht sinn-

voll, hingegen die Beschwerde gerade notwendig ist. Dabei ist zu beachten, dass ein

Beschwerdeentscheid, welcher die Beihilferegelung als zulässig beurteilt, eine Stel-

lungnahme der Überwachungsbehörde, welche sie zuvor als unzulässig beurteilte,

übersteuert. Dies gilt auch umgekehrt.

Umsetzungsbeihilfen, welche auf bestehenden Beihilferegelungen beruhen, müssen

grundsätzlich nicht mitgeteilt werden. Eine Mitteilungspflicht entsteht erst, wenn die

Überwachungsbehörde die Beihilferegelung in ihrer Stellungnahme nach Artikel 47

Absatz 3 VE-BHÜG als unzulässig beurteilt (Bst. d Ziff. 2). Die Mitteilungspflicht

für Umsetzungsbeihilfen bleibt bestehen, wenn die Stellungnahme der Überwa-

chungsbehörde in einem darauffolgenden Beschwerdeentscheid eines Gerichts bestä-

tigt wird (Bst. d Ziff. 1). Kommt das Gericht hingegen zum Schluss, dass die Beihil-

feregelung

zulässig

ist,

unterstehen

die

gestützt

darauf

gewährten

154 / 931

Umsetzungsbeihilfen nicht mehr der Mitteilungspflicht (s. auch Art. 48 Abs. 2 VE-

BHÜG).

Abs. 2

In Absatz 2 wird der Zeitpunkt und die Form der Mitteilungspflicht für Umsetzungs-

beihilfen oder Ad-hoc-Beihilfen in der Form von Verfügungen geregelt. Diese müssen

der Überwachungsbehörde grundsätzlich gleichzeitig mit den Verfügungsadressaten

eröffnet werden.

135

Die Beschwerdefrist für die Überwachungsbehörde knüpft auch

an der Eröffnung an (s. Art. 38 VE-BHÜG). Die Pflicht zur Eröffnung der Verfügung

an die Überwachungsbehörde macht diese jedoch nicht direkt zur Partei im Verfahren

vor Beihilfegeber, stellt aber sicher, dass die Beihilfe erst mit Ablauf der Beschwer-

defrist für die Überwachungsbehörde rechtskräftig werden kann. Allfällige aus Arti-

kel 111 Absatz 2 BGG in Verbindung mit Artikel 36 VE-BHÜG abgeleitete Rechte

der Überwachungsbehörde bleiben vorbehalten.

Abs. 3

Im Fall von Verträgen muss der Beihilfegeber der Überwachungsbehörde den Vertrag

vor Beginn von dessen Erfüllung mitteilen. Besteht die Beihilfe aus einer Bürgschaft,

Garantie oder einem ähnlichen Sicherungsvertrag zu Gunsten eines Dritten, ist für den

Erfüllungszeitpunkt auf die (gesicherte) Hauptleistung abzustellen. Ob die Sicherung

schliesslich in Anspruch genommen wird oder nicht, wird zu diesem Zeitpunkt in der

Regel noch offen sein. Der Beihilfeempfänger ist aber bei Sicherungsverträgen unter

Umständen bereits mit dem Vertragsschluss begünstigt durch die Wirkungen des Si-

cherungsversprechens. Dies rechtfertigt es, für Sicherungsverträge nicht den Erfül-

lungszeitpunkt der subsidiären oder bedingten Sicherungszahlung als ausschlagge-

bend zu erachten, sondern bereits denjenigen der gesicherten Hauptleistungen. Damit

kann zwar nicht verhindert werden, dass der Beihilfeempfänger bereits begünstigt

wird. Die Überwachungsbehörde erhält jedoch die Möglichkeit bereits vor Beginn der

Erfüllung der Hauptleistung das Verfahren auf Erlass einer Verfügung (Art. 26 VE-

BHÜG) einzuleiten. Indem die Überwachungsbehörde in einem entsprechenden Ge-

such mittels vorsorglicher Massnahme, soweit nach dem anwendbaren Recht mög-

lich,

136

die vorläufige Einstellung der Hauptleistung verlangt, kann sie die entstehende

Begünstigung des Beihilfeempfängers und eine je nach Ausgang des Gerichtsverfah-

rens nötige Rückerstattung auf ein Minimum beschränken. Wollen Beihilfegeber und

Beihilfeempfänger ein allfälliges Rückerstattungsverfahren ganz vermeiden, kann es

sinnvoll sein, zwischen der Mitteilung des öffentlich-rechtlichen Vertrags an die

Überwachungsbehörde und der Erfüllung der Hauptleistung genügend Zeit einzupla-

nen.

Bei Erlassen muss die Veröffentlichung mitgeteilt werden (Abs. 1 Bst. a), um sicher-

zustellen, dass die Überwachungsbehörde davon erfährt. Für Umsetzungsbeihilfen in

der Form von Realakten wird der Zeitpunkt der Mitteilung aufgrund ihrer Formvielfalt

und Seltenheit nicht spezifisch geregelt.

135

Vgl. für den Bund Art. 34 ff. VwVG.

136

Vgl. Regina Kiener, in: VwVG-Kommentar, 2. A., Zürich/St. Gallen 2019, Art. 56 N. 18;

für den Bereich des Kartellrechts BGE 130 II 149 E. 2.1.

155 / 931

Um das Zusammenspiel der Beihilfeüberwachung mit dem SuG sicherzustellen, wird

klargestellt, dass die Eröffnung eines Antrages nach Artikel 19 Absatz 2 SuG an die

Überwachungsbehörde die Mitteilungspflicht ebenfalls erfüllt. Der Beihilfegeber

muss den öffentlich-rechtlichen Vertrag der Überwachungsbehörde nicht zusätzlich

zu einem späteren Zeitpunkt mitteilen. Die Überwachungsbehörde ihrerseits kann so-

dann direkt gegen diesen ihr eröffneten Antrag vorgehen und innert 30 Tagen eine

anfechtbare Verfügung verlangen (vgl. Art. 26 Abs. 2 VE-BHÜG).

Art. 25.

Ausnahmen von der Mitteilungspflicht

Abs. 1

Die Ausnahme für Beihilfen, die in Übereinstimmung mit den genannten völkerrecht-

lichen Verträgen gewährt werden, gilt auch für die Mitteilungspflicht (s. Erläuterun-

gen zu Art. 7 VE-BHÜG).

Abs. 2

Die Bundesversammlung und der Bundesrat unterstehen der Mitteilungspflicht nicht,

da die Überwachungsbehörde gegen von diesen gewährte Beihilfen keine Beschwerde

erheben kann (Art. 36 Abs. 2 VE-BHÜG). Die Zustellungs- und Berichterstattungs-

pflicht ist hingegen, gleich wie die Anmeldungspflicht, anwendbar und stellt sicher,

dass die Überwachungsbehörde Kenntnis aller von der Bundesversammlung und vom

Bundesrat gewährten Beihilfen hat (s. Art. 49 VE-BHÜG).

Art. 26

Verfahren auf Erlass einer Verfügung

Beihilfen können nicht nur in Form einer Verfügung oder eines Erlasses, sondern auch

durch öffentlich-rechtliche Verträge oder Realakte gewährt werden. Im Schweizer

Verwaltungsverfahren sind mit wenigen Ausnahmen weder Realakte noch öffentlich-

rechtliche Verträge zulässige Anfechtungsobjekte in Beschwerdeverfahren.

137

Aus

diesem Grund ist im VE-BHÜG ein Artikel 25

a

VwVG nachgebildetes Vorgehen für

die Überwachungsbehörde vorgesehen. Entsprechend kann für die Auslegung auch

die zu diesem Artikel bestehende Praxis beigezogen werden. Somit ist in jedem Fall

eine gerichtliche Beurteilung durch das zuständige Gericht möglich. Es ist jedoch da-

rauf hinzuweisen, dass die Gewährung einer Beihilfe durch einen Realakt nur die Aus-

nahme sein kann. Grundsätzlich ist für die Gewährung von Beihilfen eine gesetzliche

Grundlage notwendig. Eine Gewährung nur durch Realakte verstösst gegen das Le-

galitätsprinzip.

Ein Vorgehen nach diesem Artikel ist nur erforderlich, wenn sonst kein zulässiges

Anfechtungsobjekt – sprich keine anfechtbare Verfügung – vorliegt. So ist etwa die

Gewährung von Beihilfen mittels Realakte nur möglich, wenn die verwaltungsrecht-

lichen Rechte und Pflichten des Beihilfeempfängers bereits im Gesetz hinreichend

konkret geregelt sind, entsprechend müssen sie vor der Gewährung nicht noch zusätz-

lich mittels Verfügung konkretisiert werden. Geldüberweisungen oder das Überlassen

von Infrastruktur oder Gegenständen zum Gebrauch stellen zwar Realakte dar, grund-

sätzlich stellen sie jedoch die Folge einer Verfügung dar und stellen deshalb in der

137

Vgl. für den Bund Art. 44 VwVG oder Art. 31 VGG.

156 / 931

Regel nicht die Gewährung der Beihilfe, sondern nur noch deren Ausführung dar.

Schlussendlich kommt es jeweils auf die genaue Ausgestaltung der Beihilfe an.

Eine Einschränkung des Geltungsbereichs von Artikel 26 VE-BHÜG besteht auch für

die öffentlich-rechtlichen Verträge. Soweit der Beihilfegeber vor Vertragsschluss eine

Verfügung erlässt (bspw. gemäss Art. 19 Abs. 3 SuG oder für den Zuschlag im öf-

fentlichen Beschaffungsrecht gemäss Art. 41 des Bundesgesetzes vom 21. Juni 2019

über das öffentliche Beschaffungswesen

138

), kann die Überwachungsbehörde bereits

gegen diese Verfügung Beschwerde erheben und muss nicht nach dem vorliegenden

Artikel vorgehen. Für Realakte kommt Artikel 26 VE-BHÜG sodann nur zum Zug,

wenn die Überwachungsbehörde den streitgegenständlichen Realakt nicht bereits ge-

stützt auf das kantonale Verfahrensrecht direkt anfechten kann.

139

Ist nach dem an-

wendbaren kantonalen Verfahrensrecht aber eine unmittelbare Anfechtung des Re-

alaktes möglich, muss die Überwachungsbehörde nicht zuerst nach dem vorliegenden

Artikel eine Verfügung verlangen. Der vorliegende Artikel stellt vielmehr sicher, dass

in jedem Fall ein Anfechtungsobjekt erwirkt werden kann.

Die Überwachungsbehörde kann den Beihilfegeber ersuchen, dass er vom geprüften

öffentlich-rechtlichen Vertrag zurücktritt oder dass er ihn auflöst oder anpasst. Ebenso

kann sie beantragen, dass bereits durch Realakte gewährte Beihilfen vom Beihilfe-

empfänger zurückgefordert werden. Wenn der Beihilfegeber mit der Einschätzung der

Überwachungsbehörde einverstanden ist, wird er den Rücktritt, die Auflösung oder

die Änderungen vornehmen. Beharrt er auf seiner eigenen Einschätzung, entscheidet

er durch Verfügung (Abs. 4). Gegen diese ablehnende Verfügung kann die Überwa-

chungsbehörde in der Folge eine Beschwerde an das zuständige Gericht erheben. Ent-

spricht der Beihilfegeber dem Gesuch der Überwachungsbehörde, wird der Beihilfe-

empfänger gestützt auf das anwendbare Verfahrensrecht beziehungsweise die

Rechtsweggarantie (Art. 29

a

BV) ebenfalls eine Verfügung verlangen können. So-

wohl die Überwachungsbehörde als auch der Beihilfeempfänger können somit eine

gerichtliche Beurteilung erwirken.

Für Realakte sieht Absatz 3 ein ähnliches Vorgehen vor. In diesem Fall kann die Über-

wachungsbehörde den Beihilfegeber ersuchen, dass er die Beihilfegewährung unter-

lässt, einstellt oder widerruft. Auch hier kann sie zudem die Rückerstattung der Bei-

hilfe beantragen. Die Überwachungsbehörde wird dem Beihilfegeber ein Gesuch mit

den entsprechenden Anträgen stellen. Ist der Beihilfegeber mit den Anträgen einver-

standen, entspricht er dem Gesuch. Ist er nicht einverstanden, erlässt er eine ableh-

nende Verfügung (Abs. 4).

Wenn der Beihilfegeber längere Zeit nicht auf das Ersuchen der Überwachungsbe-

hörde reagiert, kann diese auch eine Rechtsverweigerungsbeschwerde beim zuständi-

gen Gericht einreichen, um eine gerichtliche Beurteilung zu erwirken. Dem Bund ste-

hen zudem die weiteren Mittel der Bundesaufsicht zur Verfügung (Art. 49 BV), falls

ein kantonaler Beihilfegeber eine Rückforderung verzögern sollte.

Die Überwachungsbehörde muss gleichzeitig den Beihilfegeber ersuchen, die Rück-

erstattung von allfälligen bereits ausbezahlten Vorteilen beim Beihilfeempfänger zu

138

SR

172.056.1

139

Vgl. beispielsweise Art. 28 Abs. 4 des Gesetzes vom 31. August 2006 des Kantons Grau-

bünden über die Verwaltungsrechtspflege (BR 370.100).

157 / 931

verlangen. Nur so kann sichergestellt werden, dass keine unzulässigen Beihilfen be-

stehen bleiben. Auch hier muss der Beihilfegeber mit Verfügung entscheiden, falls er

die Rückerstattung nicht vornehmen möchte, und das zuständige Gericht wird auf Be-

schwerde der Überwachungsbehörde hin auch über diesen Punkt entscheiden müssen.

Gegen allfällige öffentlich-rechtliche Verträge oder Realakte der Bundesversamm-

lung oder des Bundesrates kann die Überwachungsbehörde nicht vorgehen, da ihr

diesfalls auch das Beschwerderecht fehlt (s. Art. 37 Abs. 4 VE-BHÜG). Möglich sind

Beschwerden von Dritten (vgl. Ausführungen zu Art. 82 VE-BGG). Grundsätzlich

müssen aber sowohl der Bundesrat als auch die Bundesversammlung auf die Gewäh-

rung von Beihilfen in diesen Formen verzichten aufgrund des Beihilfeverbots in Ar-

tikel 3 der Beihilfeprotokolle respektive Artikel 13 des Stromabkommens verzichten.

Andernfalls riskiert die Schweiz ein Streitbeilegungsverfahren über die Frage der Ver-

einbarkeit mit den völkerrechtlichen Verträgen der in dieser Form gewährten Beihil-

fen.

Solche Konstellationen sind in der Praxis aber ohnehin kaum denkbar.

140

4. Kapitel: Besondere Verfahren bei Verletzung der Anmelde- oder Mitteilungs-

pflicht

1. Abschnitt: Grundsätze

Art. 27

Eröffnung von besonderen Verfahren

Im Fokus der besonderen Verfahren steht die Verletzung der Mitteilungspflicht. Denn

wurde die Mitteilungspflicht verletzt, konnte kein Beschwerdeverfahren geführt wer-

140

S. aber die Beispiele in Fn. 121.

158 / 931

den. Das Beschwerdeverfahren stellt sicher, dass keine unzulässigen Beihilfen ge-

währt werden. Es übernimmt grundsätzlich die Funktion, welche innerhalb der EU

dem Durchführungsverbot zukommt. Die besonderen Verfahren sollen deshalb in ers-

ter Linie den Mangel korrigieren, dass das Beschwerdeverfahren umgangen wurde (s.

auch Art. 38 VE-BHÜG).

Die Überwachungsbehörde kann besondere Verfahren von Amtes wegen einleiten.

Sie ist nicht auf Anzeigen von Dritten angewiesen, auch wenn entsprechende Hin-

weise häufig der Auslöser sein können (s. Art. 28 VE-BHÜG). Die Eröffnung eines

besonderen Verfahrens von Amtes wegen ermöglicht es der Überwachungsbehörde,

auf der Grundlage unterschiedlicher Informationen, unabhängig von ihrer Herkunft,

ein Verfahren zu führen.

Die Überwachungsbehörde wird von Amtes wegen ein besonderes Verfahrens einlei-

ten müssen, wenn sie eine Verletzung der Anmelde- oder Mitteilungspflicht festge-

stellt hat. In diesen Fällen besteht nämlich die Möglichkeit, dass eine unzulässige Bei-

hilfe gewährt wurde, ohne dass diese von der Überwachungsbehörde überprüft wurde.

Es ist zu erwarten, dass nicht angemeldete Beihilfen häufig auch nicht mitgeteilt wer-

den, weil beispielsweise der Beihilfegeber davon ausgeht, dass es sich nicht um eine

Beihilfe handelt oder weil er seine Pflichten übersehen hat.

Die Überwachungsbehörde muss jedoch nicht jeder (unglaubwürdigen) Information

nachgehen, sondern hat einen gewissen Ermessensspielraum, ob sie ein besonderes

Verfahren eröffnen möchte oder nicht.

Als besondere Verfahren kommen die Nachmeldung mit anschliessender Prüfung

(Art. 29 ff. VE-BHÜG), die direkte Beschwerde gegen nicht (rechtzeitig) angemel-

dete, aber mitgeteilte Massnahmen (Art. 34 VE-BHÜG) sowie die direkte Be-

schwerde gegen nicht mitgeteilte Massnahmen (Art. 35 VE-BHÜG) in Betracht.

Art. 28

Anzeigerecht

Es ist jeglichen Dritten jederzeit möglich, der Überwachungsbehörde einen möglichen

Verstoss gegen die beihilferechtlichen Bestimmungen der völkerrechtlichen Verträge

nach Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG sowie gegen die Bestimmungen dieses Gesetzes

anzuzeigen. Dieses Anzeigerecht ist der Aufsichtsbeschwerde in Artikel 71 VwVG,

die sich grundsätzlich auf Bundesbehörden bezieht, oder vergleichbaren kantonalen

Rechtsbehelfen nachgebildet. Die angezeigten Verstösse können sowohl von Bundes-

behörden als auch von kantonalen Behörden ausgehen. Der Regelung kommt dekla-

ratorische Bedeutung zu, da das Anzeigerecht der Verwirklichung von verfassungs-

rechtlichen Geboten

141

und der Verwaltungskontrolle dient.

142

Die anzeigende Person erhält durch die Anzeige keine Parteistellung in einem allfäl-

ligen Prüfungsverfahren. Es entspricht jedoch der Praxis zu Artikel 71 Absatz 2

141

Vgl. insb. Art. 5, Art. 33 BV, Art. 49 Abs. 2 oder Art. 178 BV.

142

Vgl. Stefan Vogel, in: VwVG-Kommentar, 2. A., Zürich/St. Gallen 2019, Art. 71 N 2 und

14 m.w.H.

159 / 931

VwVG, dass eine Behörde eine kurze Antwort auf die Anzeige gibt, in der sie ihr etwa

mitteilt, wie mit der Anzeige verfahren wurde.

143

Das Anzeigerecht steht in einem gewissen Zusammenhang mit den Bestimmungen

über die besonderen Verfahren. Nach Artikel 27 VE-BHÜG kann die Überwachungs-

behörde besondere Verfahren von Amtes wegen einleiten, wenn sie eine Verletzung

der Anmelde- oder Mitteilungspflicht festgestellt hat. Dies könnte zum Beispiel durch

eine Anzeige einer Drittperson geschehen.

Schliesslich liegt es im Ermessen der Überwachungsbehörde festzustellen, ob der an-

gezeigte Sachverhalt eine einfache Prüfung rechtfertigt (Opportunitätsprinzip).

2. Abschnitt: Nachmeldung und Prüfung im besonderen Verfahren

Art. 29

Nachmeldung

Die Mitteilungspflicht ist zentral für das ordnungsgemässe Funktionieren des Beihil-

feüberwachungssystems, da die Überwachungsbehörde nur gegen Beihilfen Be-

schwerde erheben kann, von denen sie Kenntnis hat. Das VE-BHÜG regelt deshalb

ausdrücklich, wie die Überwachungsbehörde bei einer Verletzung dieser Pflicht vor-

gehen soll, wenn sie nicht direkt nach Artikel 35 VE-BHÜG eine Beschwerde erheben

kann.

Erhält die Überwachungsbehörde Kenntnis von einer nicht mitgeteilten Beihilfe, kann

sie innert 30 Tagen eine Nachmeldung aller für ein Prüfungsverfahren notwendigen

Informationen verlangen. Kenntnis kann die Überwachungsbehörde beispielsweise

durch eine Anzeige oder durch eigene Nachforschungen erhalten. Dabei reicht in der

Regel nicht ein einfacher Verdacht aus, sondern es ist die Kenntnisnahme des Rechts-

oder Realakts, durch den die Beihilfe gewährt wurde, notwendig.

Der Beihilfegeber und der Beihilfeempfänger müssen in der Folge alle für die Prüfung

erforderlichen Auskünfte erteilen. Häufig werden nicht mitgeteilte Beihilfen auch

nicht angemeldet, womit beide Pflichten verletzt wären. Ob die Beihilfe ursprünglich

angemeldet worden ist, spielt aber für die Anwendung von Artikel 31–35 VE-BHÜG

(2. und 3. Abschnitt) nur insofern eine Rolle, als dass unter Umständen keine Nach-

meldung mehr nötig ist. Ein Beihilfegeber kann beispielsweise auch das Beihilfevor-

haben anmelden, die Beihilfe dann aber in der Folge anders und somit auf unzulässige

Weise gewähren, ohne sie mitzuteilen.

Die Überwachungsbehörde kann folglich von einer Nachmeldung absehen, wenn be-

reits ein Prüfungsverfahren durchlaufen wurde. Der Ermessensspielraum der Überwa-

chungsbehörde ist dabei allerdings gering. Ein Verzicht auf ein Prüfungsverfahren

kann zum Beispiel dann sinnvoll sein, wenn kurz zuvor eine ähnliche Beihilfe geprüft

und als zulässig beurteilt worden ist. Ist sich die Überwachungsbehörde hingegen si-

cher, dass die Beihilfe unzulässig ist, kann sie auch nach Artikel 35 VE-BHÜG direkt

Beschwerde beim zuständigen Gericht erheben, ohne zuvor eine Nachmeldung zu ver-

langen.

143

Vgl. Bundesrat, Entscheid vom 28. Mär. 1979, VPB 43 (1979) Nr. 82, E. II.2; Stefan Vo-

gel, in: VwVG-Kommentar, 2. A., Zürich/St. Gallen, 2019, Art. 71 N. 37 ff.; Oliver Zi-

bung, in: VwVG-Praxiskommentar, 3. A., Zürich 2023, Art. 71 N. 32 ff.

160 / 931

Da die Beihilfe unter Umständen bereits seit langem gewährt worden ist, rechtfertigt

es sich, der Überwachungsbehörde, wo nötig und sinnvoll, Zeit wie für ein ordentli-

ches Verfahren zu geben. Damit ist sichergestellt, dass sie anschliessend nur Be-

schwerden gegen Beihilfen führt, bei denen sich die Bedenken betreffend Zulässigkeit

bestätigt haben.

Erhält die Überwachungsbehörde Kenntnis von einer Beihilferegelung, die nicht mit-

geteilt worden ist, und hat Anlass zu Bedenken über die Zulässigkeit, so kann sie be-

reits während des besonderen Verfahrens gegen darauf gestützte neu gewährte Um-

setzungsbeihilfen Beschwerde erheben oder nach Artikel 26 VE-BHÜG vorgehen.

Eine Nachmeldung ist nicht zielführend, solange das besondere Verfahren betreffend

die Beihilferegelung nicht abgeschlossen ist. Mit der Beschwerde kann die Überwa-

chungsbehörde verhindern, dass eine neue Umsetzungsbeihilfe rechtskräftig gewährt

wird. Die Gewährung von neuen Umsetzungsbeihilfen zu verhindern ist je nach Be-

deutung der betroffenen Beihilfen angezeigt. Möglich ist aber auch, dass die Überwa-

chungsbehörde abwartet, bis feststeht, ob die Beihilferegelung unzulässig ist, um un-

nötige Verfahren zu vermeiden.

Kommt die Überwachungsbehörde in der Prüfung im besonderen Verfahren zum

Schluss, dass es sich um eine unzulässige Beihilferegelung handelt beziehungsweise

wenn sie bereits eine negative Stellungnahme abgegeben hat, richtet sich das Vorge-

hen nach Artikel 31 VE-BHÜG. Ab diesem Zeitpunkt muss sie Beschwerde gegen

darauf gestützte Umsetzungsbeihilfen erheben, um die Gewährung neuer Beihilfen zu

verhindern.

Im Beschwerdeverfahren gegen die Umsetzungsbeihilfe kann das Gericht auch vor-

frageweise die Beihilferegelung überprüfen (konkrete Normenkontrolle). Ob in einer

solchen Konstellation das gerichtliche Verfahren sistiert werden sollte, bis die Prü-

fung der Beihilferegelung durch die Überwachungsbehörde abgeschlossen ist, wird

das zuständige Gericht anhand des anwendbaren Verfahrensrechts im konkreten Fall

entscheiden müssen.

Art.30

Prüfung im besonderen Verfahren

Das Prüfungsverfahren im besonderen Verfahren läuft nach der Nachmeldung grund-

sätzlich gleich ab wie das Prüfungsverfahren bei einer ordentlichen Anmeldung. In

Absatz 1 ist deshalb ein Verweis auf den Artikel 11 (Bestätigung der Anmeldung) und

den 2. Abschnitt des 3. Kapitels (Prüfungen) VE-BHÜG vorgesehen. Es gelten die

allgemeinen Verfahrensbestimmungen nach dem 9. Kapitel VE-BHÜG.

Die Überwachungsbehörde bestätigt dem Beihilfegeber den Eingang der Nachmel-

dung oder verlangt, falls erforderlich, ergänzende Informationen. Sie schliesst die Prü-

fung im Rahmen des besonderen Verfahrens mit einer Stellungnahme ab, der die

Rechtwirkungen nach Artikel 18 VE-BHÜG zukommen.

Die Überwachungsbehörde kann zwar ein besonderes Verfahren betreffend Beihilfen

der Bundesversammlung oder des Bundesrates einleiten, jedoch nur bis zur Stellung-

nahme. Es ist keine Beschwerde möglich (s. die Ausführungen zu Art. 36 Abs. 2 VE-

BHÜG). Zulässig und notwendig ist hingegen die Beschwerde nach Artikel 36 ff. VE-

BHÜG gegen Umsetzungsbeihilfen einer anderen Verwaltungseinheit des Bundes

161 / 931

oder eines Kantons gestützt auf Beihilferegelungen der Bundesversammlung oder des

Bundesrates.

3. Abschnitt: Verfahren zur Beseitigung unzulässiger Beihilfen und deren Rück-

forderung

Art.31

Verfahren bei als unzulässig beurteilten Einzelbeihilfen

Die Überwachungsbehörde kann Verfügungen oder andere Rechts- oder Realakte von

Beihilfegebern nicht aufheben. Dies können nur die Beihilfegebe oder das zuständige

Gericht. Damit ein entsprechendes Verfahren eingeleitet werden kann, ersucht die

Überwachungsbehörde bei Umsetzungsbeihilfen oder Ad-hoc-Beihilfen in der Form

einer Verfügung den Beihilfegeber, die als unzulässig beurteilte Verfügung innert an-

gemessener Frist zu widerrufen und die Rückerstattung allfälliger Vorteile des Bei-

hilfeempfängers zu verlangen. Wenn der Beihilfegeber mit der Stellungnahme bezie-

hungsweise den Anträgen der Überwachungsbehörde einverstanden ist, kann er

entweder seine ursprüngliche Verfügung widerrufen oder entsprechend den Anträgen

der Überwachungsbehörde neu verfügen. Er muss dabei allfällige Vorteile des Beihil-

feempfängers zurückfordern (Abs. 2). Der Beihilfeempfänger kann diese neue Verfü-

gung unter den Voraussetzungen des anwendbaren Verfahrensrechts beim zuständi-

gen Gericht anfechten.

Wenn der Beihilfegeber hingegen nicht mit der Stellungnahme und den Anträgen der

Überwachungsbehörde einverstanden ist, muss er seine Ablehnung verfügen. Gegen

diese Verfügung kann die Überwachungsbehörde beim zuständigen Gericht Be-

schwerde erheben.

Wenn der Beihilfegeber längere Zeit nicht auf das Ersuchen der Überwachungsbe-

hörde reagiert, kann diese auch eine Rechtsverzögerung- oder verweigerungsbe-

schwerde beim zuständigen Gericht einreichen, um eine gerichtliche Beurteilung zu

erwirken. Der unbenutzte Ablauf der von der Überwachungsbehörde angesetzten an-

gemessenen Frist alleine reicht zwar in der Regel noch nicht aus, stellt aber ein starkes

Indiz für eine Rechtsverzögerung oder -verweigerung dar. Dem Bund stehen zudem

die weiteren Mittel der Bundesaufsicht zur Verfügung (s. Art. 49 BV), falls eine kan-

tonaler Beihilfegeber eine Rückforderung verzögern sollte.

Beurteilt die Überwachungsbehörde eine nicht mitgeteilte Umsetzungsbeihilfe in der

Form eines öffentlich-rechtlichen Vertrages als unzulässig, verlangt die Überwa-

chungsbehörde vom Beihilfegeber den Rücktritt vom Vertrag, die Auflösung oder die

Anpassung des Vertrages. Dabei kommt es darauf an, ob die Beihilfe der eigentliche

Hauptgegenstand des Vertrages oder lediglich ein untergeordneter Teil ist. Der Bei-

hilfegeber kann dabei, soweit möglich, nach den Bedingungen des jeweiligen Vertra-

ges vorgehen. Je nach Situation kann aber auch eine ausserordentliche Auflösung not-

wendig werden. In jedem Fall muss der Beihilfegeber (auch) verfügen, damit ein

Anfechtungsobjekt für eine gerichtliche Beurteilung besteht.

Handelt es sich bei der nicht mitgeteilten und von der Überwachungsbehörde als un-

zulässig beurteilten Umsetzungsbeihilfe oder Ad-hoc-Beihilfe ausnahmsweise um ei-

nen Realakt, kann die Überwachungsbehörde vom Beihilfegeber verlangen, dass er

die Handlungen unterlässt, einstellt oder widerruft und dass er die Rückerstattung all-

fälliger Vorteile des Beihilfeempfängers verlangt. Dieses Vorgehen ist an Artikel 25

a

162 / 931

VwVG sowie an die Regelung für mitgeteilte, aber unzulässige Realakte angelehnt (s.

Art. 26 VE-BHÜG). Ist der Beihilfegeber einverstanden mit der Stellungnahme und

den Anträgen der Überwachungsbehörde, folgt er diesen (Unterlassen, Einstellen oder

Widerrufen). Er verlangt zudem die Rückerstattung allfälliger Vorteile (Abs. 2). Der

Beihilfeempfänger wird diesfalls gestützt auf das anwendbare Verfahrensrecht bezie-

hungsweise die Rechtsweggarantie (Art. 29

a

BV) eine Verfügung verlangen und un-

ter den Voraussetzungen des anwendbaren Verfahrensrechts eine gerichtliche Beur-

teilung erwirken können.

Ist der Beihilfegeber nicht einverstanden mit der Stellungnahme und den Anträgen

der Überwachungsbehörde, muss er dies in einer Verfügung entscheiden, welche die

Überwachungsbehörde vor dem zuständigen Gericht anfechten kann.

Der ordentliche Beschwerdeweg nach dem anwendbaren kantonalen Verfahrensrecht

ermöglicht im Falle einer kantonalen Beihilfe eine eigenständige innerkantonale

Überprüfung und, wo nötig, eine Selbstkorrektur. Ein Weiterzug an das Bundesgericht

ist grundsätzlich möglich, wenn die Voraussetzungen des BGG erfüllt sind (vgl. dazu

auch Art. 83 Bst. k und m VE-BGG).

Gibt das Gericht der Überwachungsbehörde recht, muss der Beihilfeempfänger die

gewährte Beihilfe zurückerstatten.

Art. 32

Verfahren bei als unzulässig beurteilten Ad-hoc-Beihilfen in der

Form eines Erlasses

Es ist möglich, dass eine Ad-hoc-Beihilfe (s. die Erläuterungen zu Art. 2 Bst. d VE-

BHÜG) in der Form eines Erlasses gewährt wird. Wurde eine Ad-hoc-Beihilfe in der

Form eines Erlasses nicht mitgeteilt, kommt eine abstrakte Normenkontrolle vor Ge-

richt nicht mehr in Frage, weil die Beschwerdefrist (s. Art. 38 VE-BHÜG) in aller

Regel bereits abgelaufen ist. Falls dies ausnahmsweise nicht der Fall sein soll, muss

die Überwachungsbehörde nach Artikel 35 VE-BHÜG vorgehen. Eine konkrete Nor-

menkontrolle ist im Normalfall ebenfalls ausgeschlossen, da die Beihilfe direkt durch

den Erlass gewährt wurde und keine Umsetzungsbeihilfen mehr notwendig sind, die

von der Überwachungsbehörde angefochten werden könnten. Ein Beispiel für eine

solche Ad-hoc-Beihilfe könnte ein Rechtssatz sein, der einmalige Steuer- oder

Schulderlasse für konkrete Beihilfeempfänger regelt. Diese Beihilfen kennzeichnen

sich dadurch, dass die Begünstigung durch eine negative Leistung beziehungsweise

einen Forderungsverzicht entsteht. Bei entsprechenden Beihilfen ist es vorstellbar,

dass die Beihilfe ex lege gewährt ist. Es wird dabei aber auf die konkrete Ausgestal-

tung des Rechtssatzes ankommen. Sind beispielsweise zusätzlich Veranlagungsverfü-

gungen vorgesehen, kann die Überwachungsbehörde grundsätzlich auch Beschwerde

gegen diese Verfügungen erheben, mit welchen die Entstehung beziehungsweise der

Erlass der Steuerforderung konkretisiert wird.

Die Überwachungsbehörde kann im Falle von Ad-hoc Beihilfen durch Erlass bezie-

hungsweise Rechtssatz beim zuständigen Beihilfegeber beantragen, dass er innert an-

gemessener Frist die Rückerstattung allfälliger Vorteile des Beihilfeempfängers in die

Wege leitet. In der Regel wird dies für den Beihilfegeber jedoch nur möglich sein,

wenn der entsprechende Erlass geändert oder ein neuer Erlass ausgearbeitet wird. Eine

Beihilfe, die durch einen Erlass (bspw. ein kantonales Gesetz) gewährt wurde, kann

163 / 931

grundsätzlich auch nur in dieser Form wieder weggenommen werden. Eine Verfügung

wird dazu in aller Regel nicht genügen. Es kommt jedoch auf die konkrete Ausgestal-

tung des betroffenen Erlasses sowie des anwendbaren Verfahrens- oder Organisati-

onsrechts an. Entsprechend lässt Absatz 2 offen, in welcher Form der Beihilfegeber

entscheiden muss. Entscheidet der Beihilfegeber durch Erlass, ermöglicht dies der

Überwachungsbehörde unter Umständen den Rechtsweg über die abstrakte Normen-

kontrolle gegen die neuen Bestimmungen zu beschreiten und eine gerichtliche Beur-

teilung zu erwirken. Dies jedoch nur, wenn die neuen oder geänderten Bestimmungen

selber wiederum eine Beihilfe darstellen.

144

Wenn der Beihilfegeber in einer Form,

die keine Anfechtung erlaubt, entscheidet oder untätig bleibt, kann der Bund bei kan-

tonalen Beihilfen auf weitere Mittel der Bundesaufsicht

145

zurückgreifen. Dadurch

kann die korrekte Anwendung des BHÜG beziehungsweise der beihilferechtlichen

Bestimmungen der völkerrechtlichen Verträge sichergestellt werden.

Art. 33

Verfahren bei als unzulässig beurteilten Beihilferegelungen

Kommt die Überwachungsbehörde in ihrer Stellungnahme im Rahmen des besonde-

ren Verfahrens zum Schluss, dass eine nicht mitgeteilte Beihilferegelung unzulässig

ist, ist der Beihilfegeber verpflichtet, alle den Erlass anwendenden Beihilfegeber, die

gestützt auf die als unzulässig beurteilte Beihilferegelung Umsetzungsbeihilfen ge-

währen könnten, auf ihre (zukünftige) Mitteilungspflicht hinzuweisen. Es soll nicht

an der Überwachungsbehörde liegen, herauszufinden, welche Beihilfegeber gestützt

auf die unzulässige Beihilferegelung Umsetzungsbeihilfen erlassen könnten. Sobald

ihr jedoch Umsetzungsbeihilfen mitgeteilt werden, ist sie verpflichtet, dagegen vor-

zugehen, das heisst eine Beschwerde beim zuständigen Gericht zu erheben. Diese

Pflicht ergibt sich aus der Beschwerdepflicht.

Neben den Beschwerden gegen neue Umsetzungsbeihilfen muss die Überwachungs-

behörde auch die Rückerstattung bereits gewährter und ausbezahlter Umsetzungsbei-

hilfen, die sich auf die von ihr als unzulässig beurteilte Beihilferegelung stützen, ver-

anlassen. Sie verlangt dazu bei den einzelnen Beihilfegeber deren Widerruf und die

Rückforderung allfälliger Vorteile des Beihilfegebers. Das konkrete Vorgehen richtet

sich nach Artikel 31 VE-BHÜG.

4. Abschnitt: Direkte Beschwerde ohne Nachmeldung

Art. 34

Beschwerdepflicht bei Beihilfen, die vor einer Stellungnahme der

Überwachungsbehörde mitgeteilt werden

Wenn der Beihilfegeber keine Anmeldung durchführt oder die Beihilfe zu einem Zeit-

punkt gewährt, bevor die Stellungnahme der Überwachungsbehörde erfolgen kann,

ist die Überwachungsbehörde verpflichtet, Beschwerde zu erheben. In Bezug auf Bei-

hilfen des Bundes verhindert das Durchführungsverbot ein entsprechendes Vorgehen

des Beihilfegebers.

144

Vgl. bspw. Art. 87 BGG.

145

Vgl. dazu anstatt vieler Giovanni Biaggini, Kommentar BV, 2. A., Zürich 2017, Art. 49

N. 25.

164 / 931

Erhält die Überwachungsbehörde Kenntnis von einer nicht angemeldeten Beihilfe, die

aber noch nicht (rechtskräftig) gewährt wurde, kann sie zunächst den Beihilfegeber

auf die Anmelde- und Mitteilungspflicht hinweisen. Teilt der Beihilfegeber eine Bei-

hilfe gemäss Artikel 24 VE-BHÜG mit, ohne aber zuvor das ordentliche Verfahren

durchlaufen zu haben, muss die Überwachungsbehörde sofort Beschwerde erheben.

Dies bedeutet, dass sie somit innerhalb der Beschwerdefrist handeln muss und nur auf

eine Beschwerde verzichten kann, wenn sie ihre Bedenken innerhalb dieser Frist aus-

räumen kann. In dieser Konstellation kann sie die Gewährung der Beihilfe durch die

Beschwerde und der daraus folgenden aufschiebenden Wirkung verhindern, weshalb

es nicht opportun ist, zunächst ein besonderes Verfahren zu eröffnen. Es erfolgt in

dieser Konstellation keine Prüfung nach dem 2. Abschnitt des 3. Kapitels VE-BHÜG

durch die Überwachungsbehörde.

Handelt es sich bei der nicht mitgeteilten Beihilfe um einen öffentlich-rechtlichen

Vertrag oder ausnahmsweise um einen Realakt, ist in der Regel keine unmittelbare

Beschwerde möglich. Die Überwachungsbehörde muss zunächst nach dem Verfahren

auf Erlass einer Verfügung (s. Art. 26 VE-BHÜG) vorgehen und, wo nötig, vorsorg-

liche Massnahmen beantragen. Sobald jedoch der Beihilfegeber verfügt hat, kann sie

dagegen Beschwerde erheben.

Möglich ist auch, dass der Beihilfegeber die Beihilfe zwar anmeldet, aber sofort da-

nach gewährt und mitteilt. Auch in diesem Fall muss die Überwachungsbehörde Be-

schwerde erheben, um die rechtskräftige Gewährung der nicht geprüften Beihilfe zu

verhindern.

Art. 35

Beschwerde bei Verletzung der Mitteilungspflicht

Wird die Eröffnungspflicht

146

gegenüber einer Bundesbehörde wie der Überwa-

chungsbehörde verletzt, stellt dies einen Eröffnungsmangel dar. Die Mitteilungs-

pflicht nach Artikel 24 VE-BHÜG ist eine entsprechende Eröffnungspflicht. Die

Folge einer mangelhaften Eröffnung ist grundsätzlich, dass die betroffene Verfügung

oder der Entscheid für die Bundesbehörde nicht in Rechtskraft erwächst. Die Bundes-

behörde kann deshalb, sobald sie Kenntnis erhält, die Verfügung oder den Entscheid

auch nachträglich anfechten.

147

Dies jedoch nur innert der 30-tägigen Beschwerde-

frist, die ab Kenntnis der Beihilfegewährung durch die Überwachungsbehörde läuft

(s. Art. 38 VE-BHÜG). Der vorliegende Artikel stellt sicher, dass der Überwachungs-

behörde diese Beschwerdemöglichkeit neben der neu durch das VE-BHÜG spezial-

gesetzlich vorgesehenen Nachmeldung erhalten bleibt und nicht übersteuert wird. Zu

berücksichtigen ist jedoch, dass Erlasse mit Ablauf der Beschwerdefrist wirksam wer-

den. Die fehlende Mitteilung an die Überwachungsbehörde nach Artikel 24 VE-

BHÜG kann den Eintritt der Wirksamkeit nicht verhindern. Die Überwachungsbe-

hörde kann diesfalls nur noch nach Artikel 33 beziehungsweise 32 VE-BHÜG vorge-

hen.

146

Vgl. dazu insb. Verordnung über die Eröffnung letztinstanzlicher kantonaler Entscheide in

öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 8. November 2006, SR

173.110.47

.

147

Vgl. dazu Urteil 1C_238/2021 vom 27. April 2022 E. 1.3.1; Yannick Fuchs/Markus Mül-

ler, Behördenbeschwerde als Mittel der Bundesaufsicht, ZBl 124/2023, S. 459–480, 470.

165 / 931

Eine Beschwerde kommt grundsätzlich in Frage, wenn die Überwachungsbehörde

schnell (während der laufenden Beschwerdefrist) zur Überzeugung gelangt, dass die

Beihilfe unzulässig ist, beispielsweise weil sie bereits einen ähnlichen Fall geprüft hat

und ihr die notwendigen Informationen bereits vorliegen. Dies ist auch der Fall, wenn

die Überwachungsbehörde im Rahmen einer ordentlichen Prüfung eine negative Stel-

lungnahme abgegeben hat, die Gewährung der Beihilfe aber schliesslich nicht mitge-

teilt wurde. In diesem Fall ist eine Nachmeldung nicht mehr erforderlich. In aller Re-

gel wird die Überwachungsbehörde jedoch nicht über genügend Informationen für

eine eindeutige Beurteilung verfügen und ist deshalb auf das Vorgehen nach den Ar-

tikeln 29 und 30 VE-BHÜG angewiesen. Artikel 35 VE-BHÜG wird deshalb voraus-

sichtlich nur in Ausnahmefällen zum Tragen kommen. Es obliegt der Überwachungs-

behörde zu entscheiden, welches Vorgehen zielführender ist.

Handelt es sich bei der nicht mitgeteilten Massnahme um einen öffentlich-rechtlichen

Vertrag oder ausnahmsweise um einen Realakt, ist keine unmittelbare Beschwerde

möglich, weshalb die Überwachungsbehörde zunächst ein Anfechtungsobjekt erwir-

ken muss. Sie kann nach Artikel 26 VE-BHÜG vorgehen. Gegen Beihilfen der Bun-

desversammlung sowie des Bundesrates kann die Überwachungsbehörde keine Be-

schwerde erheben, auch wenn sie nicht mitgeteilt worden sind (s. Art. 37 Abs. 4 VE-

BHÜG bzw. Art. 189 Abs. 4 BV). Grundsätzlich müssen aber sowohl der Bundesrat

als auch die Bundesversammlung auf die Gewährung von Beihilfen in diesen Formen

verzichten aufgrund des Beihilfeverbots in Artikel 3 der Beihilfeprotokolle respektive

Artikel 13 des Stromabkommens verzichten. Andernfalls riskiert die Schweiz ein

Streitbeilegungsverfahren über die Frage der Vereinbarkeit mit den völkerrechtlichen

Verträgen der in dieser Form gewährten Beihilfen. Solche Konstellationen sind in der

Praxis aber ohnehin kaum denkbar.

148

5. Kapitel: Beschwerdeverfahren

Vorbemerkung

Die Beihilfe ist nicht an eine bestimmte Form gebunden und kann in Form einer Ver-

fügung, eines Erlasses, eines öffentlich-rechtlichen Vertrags oder ausnahmsweise ei-

nes Realakts gewährt werden. Um am bestehenden Rechtssystem beziehungsweise

Verfahrensrecht anknüpfen zu können, wird im vorliegenden Kapitel des VE-BHÜG,

wo möglich, jeweils die Rechtsform «Verfügung» oder «Erlass» verwendet, anstatt

der generelle Begriff «Beihilfe». Dies erleichtert auch das Zusammenspiel mit dem

anwendbaren Verwaltungsverfahrensrecht.

Die Bestimmungen des 5. Kapitels gelten für alle kantonalen Rechtsmittelverfahren

(erste und zweite Instanz), die das Beihilferecht betreffen, auch wenn diese im kanto-

nalen Recht nicht als Beschwerdeverfahren bezeichnet werden. In Rechtsmittelver-

fahren betreffend Beihilfen, die von einem Beihilfegeber des Bundes gewährt wurden,

gilt das vorliegende Kapitel für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht.

Für das Verfahren vor dem Bundesgericht gehen die Bestimmungen des BGG vor.

148

S. aber die Beispiele in Fn. 121.

166 / 931

Art. 36

Beschwerdelegitimation der Überwachungsbehörde

Die Bestimmung regelt sowohl die zulässigen Anfechtungsobjekte als auch die Legi-

timation der Überwachungsbehörde für deren Beschwerde.

149

Die Artikel 36 und 37

VE-BHÜG stellen sicher, dass die Überwachungsbehörde auch ohne eigene Rechts-

persönlichkeit gegen Beihilfen anderer Bundesbehörden Beschwerde erheben kann.

Es handelt sich um die notwendige spezialgesetzliche Regelung nach Artikel 37 VGG

in Verbindung mit Artikel 48 Absatz 2 VwVG, Artikel 37

a

Absatz 2 VE-VGG und

Artikel 89 Absatz 2 Buchstabe d BGG.

150

Die Überwachungsbehörde kann Beschwerde gegen Umsetzungsbeihilfen und Ad-

hoc-Beihilfen in der Form von Verfügungen, Verfügungen betreffend Umsetzungs-

beihilfen in der Form von öffentlich-rechtlichen Verträgen oder ausnahmsweise von

Realakten (s. insb. Art. 26 Abs. 3 und Art. 31 Abs. 3 VE-BHÜG) sowie gegen Beihil-

feregelungen und Ad-hoc-Beihilfen in der Form von Erlassen erheben.

Sie kann Beschwerde gegen Beihilfen aller Beihilfegeber mit Ausnahme der Bundes-

versammlung sowie des Bundesrats erheben (Abs. 2). Damit sind Beihilfegeber der

Kantone, Gemeinden und die übrigen Bundesbehörden (Departemente, Ämter oder

andere Verwaltungseinheiten) erfasst.

Der Umstand, dass die Überwachungsbehörde abstrakt gegen Beihilferegelungen und

Ad-hoc-Beihilfen in der Form von Erlassen der übrigen Bundesbehörden (insb. De-

partemente, Ämter, etc.) vorgehen kann, bedingt eine Änderung von Artikel 31 des

Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005

151

(VGG). Aktuell ist eine abstrakte

Normenkontrolle auf Bundesebene nämlich nicht vorgesehen. In Artikel 31 VGG ist

daher neu vorzusehen, dass das Bundesverwaltungsgericht auch für Beschwerden

nach diesem Artikel zuständig ist (s. dazu die Ausführungen zu Art. 31

a

VE-VGG in

Ziff. 2.2.8.2).

Für Fälle, in denen die Überwachungsbehörde nicht verpflichtet ist, Beschwerde zu

erheben (s. Art. 37 VE-BHÜG), statuiert der vorliegende Artikel ein Beschwerderecht

der Überwachungsbehörde. Beispielsweise besteht keine Beschwerdepflicht nach der

ersten gerichtlichen Beurteilung einer Beihilfe. In solchen Fällen kann die Überwa-

chungsbehörde entscheiden, ob sie sich der gerichtlichen Beurteilung anschliesst oder

das Verfahren weiterzieht.

Art. 37

Beschwerdepflicht der Überwachungsbehörde

Die Überwachungsbehörde muss Beschwerde gegen eine Beihilfe erheben, wenn sie

zuvor in ihrer Stellungnahme zum Schluss gekommen ist, dass diese Beihilfe gegen

die beihilferechtlichen Bestimmungen der völkerrechtlichen Verträge verstösst und

sie die Beihilfe somit als unzulässig beurteilt. Hat der Beihilfegeber die Beihilfe nach

der Stellungnahme der Überwachungsbehörde entsprechend angepasst, kann die Be-

schwerdepflicht entfallen. Entscheidend ist in solchen Fällen die Beurteilung der

149

S. für das Beschwerderecht der WEKO auch Artikel 39 Abs. 2 E-KG; BBl 2023 1464, S. 4

sowie BBl 2023 1463, S. 44.

150

S. bspw. Urteil 1C_66/2015 vom 12. November 2015 E. 1.2.4 in fine.

151

SR

173.32

167 / 931

Überwachungsbehörde, ob sie die Beihilfe durch die Änderungen als zulässig erach-

tet.

In ihrer Beschwerde muss die Überwachungsbehörde die Aufhebung der Beihilfe ver-

langen. Im Fall von Umsetzungsbeihilfen ist die Aufhebung nur möglich für die kon-

krete Umsetzungsbeihilfe und nicht gleichzeitig für die Beihilferegelung, auf die sie

gestützt ist. Die Zulässigkeit der Beihilferegelung kann aber im Rahmen des Be-

schwerdeverfahrens gegen die Umsetzungsbeihilfe vorfrageweise geprüft werden

(konkrete Normenkontrolle). Wird die Beschwerde von der zuständigen Rechtsmitte-

linstanz vollständig gutgeheissen, führt dies zur Aufhebung der angefochtenen Bei-

hilfe. Daneben muss die Überwachungsbehörde immer auch die Rückforderung all-

fälliger Vorteile verlangen, um sicherzustellen, dass die rechtswidrige Beihilfe

möglichst geringfügige schädliche Auswirkungen auf den Wettbewerb hat.

Handelt es sich bei der angefochtenen Beihilfe um eine Beihilferegelung, sollte keine

Rückforderung notwendig sein beziehungsweise ist die Rückforderung von allenfalls

bereits gewährten Umsetzungsbeihilfen separat zu erwirken. Auch bei Ad-hoc-Bei-

hilfen in der Form eines Erlasses kann die Rückforderung je nach Ausgestaltung der

Beihilfe nicht Gegenstand der abstrakten Normenkontrolle sein. Gerichte können auf-

grund der Gewaltenteilung einen Erlass grundsätzlich nur aufheben, aber nicht abän-

dern, auch wenn in gewissen Kantonen die Schaffung von Übergangsregelungen mög-

lich ist.

152

In diesem Fall muss der Beihilfegeber die Rückforderung jedoch

nachträglich veranlassen, da der gewährte Vorteil keine gesetzliche Grundlage mehr

hat. Dies wird aber kaum je vorkommen, da im Zeitpunkt der abstrakten Normenkon-

trolle nur in Ausnahmefällen bereits Beihilfen gewährt sein werden.

Die Beschwerdepflicht der Überwachungsbehörde entfällt, sobald ein Gericht (im

Sinne von Art. 29

a

BV) die Beihilfe als zulässig beurteilt hat. In diesen Fällen ist die

Überwachungsbehörde nicht mehr verpflichtet, die Sache an die nächste gerichtliche

Instanz weiterzuziehen. Für Verfahren gegen Beihilfegeber des Bundes bedeutet dies,

dass die Überwachungsbehörde ein erstes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts nicht

zwingend an das Bundesgericht weiterziehen muss. Ob die Beschwerdepflicht der

Überwachungsbehörde gegen kantonale Beihilfegeber ebenfalls bereits nach der ers-

ten Instanz entfällt, hängt davon ab, ob die Kantone eine verwaltungsinterne oder eine

gerichtliche Instanz (z. B. das obere kantonale Gericht im Sinne von Art. 86 Abs. 2

BGG) als erste Instanz vorsehen.

Die Überwachungsbehörde kann Beihilfen der Bundesversammlung sowie des Bun-

desrats nicht direkt anfechten. Sie ist jedoch verpflichtet, gegen Umsetzungsbeihilfen,

welche gestützt auf negativ beurteilte Beihilferegelungen der Bundesversammlung

oder des Bundesrats gewährt werden, Beschwerde zu erheben, soweit sie die Umset-

zungsbeihilfen ebenfalls für unzulässig hält. Die Beschwerde ist möglich, wenn – wie

das üblicherweise der Fall ist – eine andere Bundesstelle (z. B. ein Departement oder

ein Amt) oder eine kantonale Behörde die Umsetzungsbeihilfe gewährt. Diese Pflicht

der Überwachungsbehörde als dezentrale Verwaltungsbehörde zur Herbeiführung ei-

ner konkreten Normkontrolle von Erlassen, die von der Bundesversammlung oder

152

Ralph David Doleschal, Die abstrakte Normenkontrolle in den Kantonen, Diss. ZStöR,

2019, insb. Ziff. V.3.6.

168 / 931

dem Bundesrat ausgearbeitet wurden, stellt ein Novum in der Schweizer Rechtsord-

nung dar. Im Beschwerdeverfahren gegen die Umsetzungsbeihilfe kann das Gericht

vorfrageweise auch die Beihilferegelung überprüfen (konkrete Normenkontrolle). In

Bezug auf Beihilferegelungen in der Form von Bundesgesetzen ist dabei Artikel 190

beziehungsweise Artikel 5 Absatz 4 BV zu berücksichtigen. Ein Gericht muss das Ge-

setz möglichst völkerrechtskonform auslegen, was vorliegend im Einklang mit den

beihilferechtlichen Bestimmungen der völkerrechtlichen Verträge nach Artikel 1 Ab-

satz 2 VE-BHÜG bedeutet. Wo dies nicht möglich ist, geht das Bundesgericht grund-

sätzlich von einem Vorrang des Völkerrechts aus. Vorbehalten bleibt die Schubert-

Praxis, wonach das Bundesgericht allenfalls vom Vorrang des Völkerrechts abweicht,

wenn der Bundesgesetzgeber die Verletzung von völkerrechtlichen Verpflichtungen

bewusst in Kauf genommen hat und dafür die politische Verantwortung über-

nimmt.

153

Die Neuerung beim Streitbeilegungsmechanismus in den Binnenmarktab-

kommen (Einführung eines Schiedsgerichts mit der Möglichkeit von verhältnismäs-

sigen Ausgleichsmassnahmen) wird vom Bundesgericht jedoch zu berücksichtigen

sein und dürfte Auswirkungen auf seine diesbezügliche Rechtsprechung haben.

Die Überwachungsbehörde muss jedoch – trotz negativer Stellungnahme – keine Be-

schwerde erheben, wenn die Beihilfe seit der Stellungnahme geändert wurde und nach

Einschätzung der Überwachungsbehörde nun als zulässig betrachtet werden kann.

Dies soll unnötige Verfahren vermeiden.

Art. 38

Beschwerdefrist

Die Beschwerdepflicht der Überwachungsbehörde knüpft bei Verfügungen an die

Mitteilungspflicht der Beihilfegeber an. Beihilfegeber sind verpflichtet alle Beihilfen,

die sie gewähren, der Überwachungsbehörde mitzuteilen (s. Art. 24 VE-BHÜG).

Die

Beschwerdefrist von 30 Tagen beginnt mit der Eröffnung der Beihilfe in der Form

einer Verfügung an die Überwachungsbehörde. Dies entspricht der Regelung von Ar-

tikel 50 Absatz 1 VwVG. Eine ausdrückliche Regelung im VE-BHÜG ist notwendig,

damit der Fristenlauf für die Überwachungsbehörde auch in kantonalen Verfahren

einheitlich ist. Artikel 38 VE-BHÜG regelt nur die Frist für Beschwerden der Über-

wachungsbehörde. Für alle anderen Beschwerden gelten die im anwendbaren Verfah-

rensrecht festgelegten Fristen (s. Art. 40 VE-BHÜG).

Der Fristenlauf für Beschwerden gegen Erlasse wird aus Überlegungen der Rechtssi-

cherheit nicht an die Mitteilungspflicht geknüpft. Vielmehr ist dafür die Veröffentli-

chung gemäss anwendbarem Publikations- und Verfahrensrecht massgebend.

Die Berechnung der Beschwerdefrist folgt den Regeln des anwendbaren Verfahrens-

rechts und nicht dem Verweis ins VwVG. Damit wird der Eingriff in die Autonomie

der Kantone möglichst klein gehalten.

Art. 39

Aufschiebende Wirkung und Wirksamkeit

Ein Ziel der Beihilfeüberwachung ist sicherzustellen, dass keine unzulässige Beihilfe

gewährt wird. Auch eine nur vorübergehend gewährte Beihilfe kann eine schädliche

153

BGE 99 Ib 39 E. 3; 138 II 524 E. 5.3.1.

169 / 931

Auswirkung auf den Wettbewerb haben. Um dies zu verhindern, ist die aufschiebende

Wirkung der Beschwerden der Überwachungsbehörde ein zentrales Element des

Überwachungsverfahrens.

154

Während des Beschwerdeverfahrens betreffend eine

Verfügung oder einen Erlass sollen die entsprechenden Beihilfen grundsätzlich noch

nicht ausbezahlt werden.

Die Gewährung der aufschiebenden Wirkung für Beschwerden ist jedoch nicht aus-

reichend, um das oben genannte Ziel zu erreichen, da auf Bundesebene und in den

meisten Kantonen die aufschiebende Wirkung erst beginnt, wenn ein (ordentliches)

Rechtsmittel ergriffen wird (s. Art. 55 Abs. 1 VwVG).

155

Neben der Regelung der auf-

schiebenden Wirkung wird im Vorentwurf deshalb auch die Wirksamkeit der Verfü-

gungen und Erlasse geregelt. Um sicherzustellen, dass die Beihilfe während der

Rechtsmittelfrist und des gesamten Beschwerdeverfahrens nicht gewährt wird, regelt

der Vorentwurf ausdrücklich, zu welchem Zeitpunkt die Beihilfe wirksam wird. Eine

Beihilfe kann in drei verschiedenen Zeitpunkten beziehungsweise Konstellationen

wirksam werden, nämlich:

bei unbenutztem Ablauf der Rechtsmittelfrist; oder

mit dem Eintritt der Rechtskraft eines Beschwerdeentscheids; oder

mit dem Entzug der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde.

Die letzte Konstellation stellt sicher, dass der Beihilfegeber oder das zuständige Ge-

richt die Möglichkeit behält, nach dem anwendbaren Verfahrensrecht über einen all-

fälligen Entzug der aufschiebenden Wirkung zu entscheiden. Auf Bundesebene richtet

sich dies nach Artikel 55 VwVG. Ein Entzug kann jedoch nur in Ausnahmefällen ge-

rechtfertigt sein. Es besteht ein erhebliches öffentliches Interesse am Aufschub der

Wirksamkeit, das heisst, dass keine unzulässige Beihilfe gewährt wird, beziehungs-

weise am Schutz des Wettbewerbs. Dies wird in der Interessensabwägung zu berück-

sichtigen sein, wobei die Gründe für eine sofortige Vollstreckbarkeit entsprechend

überzeugend sein müssen.

156

Im Falle von Erlassen muss die zuständige Instanz zu-

sätzlich die generell-abstrakte Wirkung beziehungsweise die Allgemeinverbindlich-

keit berücksichtigen, die gegen eine aufschiebende Wirkung sprechen kann.

157

Um

den Wettbewerbsschutz sicherzustellen, ist die Überwachungsbehörde in der Regel

auch verpflichtet, gegen einen Zwischenentscheid vorzugehen, der die aufschiebende

Wirkung entzieht.

Die Regelung zur Wirksamkeit von Beihilfen im VE-BHÜG hat als «lex specialis»

Vorrang vor anderen gesetzlichen Bestimmungen, die die aufschiebende Wirkung

ausdrücklich entziehen, wenn es um beihilfegewährende Verfügungen oder Erlasse

geht. Regelt ein neues Gesetz nach dem BHÜG die aufschiebende Wirkung in einem

154

Vgl. dazu auch Art. 4 Abs. 3 Bst. b Ziff. III der beiden Beihilfeprotokolle respektive

Art. 14 Abs. 3 Bst. b Ziff. III des Stromabkommens.

155

Vgl. Benjamin Märkli, Die aufschiebende Wirkung im öffentlichen Recht des Bundes und

der Kantone, Diss., 2022, Rz. 490 ff.

156

Vgl. zur Interessensabwägung BGE 110 V 40 E. 5.

157

Vgl. bspw. Urteile 2P.263/2001 vom 5. November 2001 E. 2b.bb; 2C_774/2014;

2C_813/2014; 2C_815/2014; 2C_816/2014 sowie Kaspar Plüss, Aufschiebende Wirkung

im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle, ZBl 115/2014, S. 414-419.

170 / 931

der erfassten Sektoren, muss das Verhältnis zum vorliegenden Artikel ausdrücklich

geklärt werden. Grundsätzlich geht das BHÜG als Spezialgesetz in Bezug auf Beihil-

fen vor.

Bei öffentlich-rechtlichen Verträgen mit beihilfegewährenden Klauseln kann die

Überwachungsbehörde nach Artikel 26 VE-BHÜG vorgehen und wenn nötig beim

Beihilfegeber beziehungsweise beim zuständigen Gericht die notwendigen vorsorgli-

chen Massnahmen beantragen, um eine vorzeitige Gewährung der Beihilfe zu verhin-

dern. Da Beihilfen in der Form von Realakten sofort umgesetzt sind, erübrigt sich für

diese eine Regelung der aufschiebenden Wirkung. In diesem Fall muss die Überwa-

chungsbehörde ebenfalls nach dem Verfahren auf Erlass einer Verfügung vorgehen

und kann, entsprechend den Möglichkeiten des anwendbaren Verfahrensrechts, vor-

sorgliche Massnahmen verlangen.

Art.40

Anwendbares Verfahrensrecht

Grundsätzlich richten sich die Beschwerdeverfahren im Zusammenhang mit der An-

wendung des Gesetzes nach dem anwendbaren Verfahrensrecht. Das vorliegende Ge-

setz sieht lediglich wenige spezialgesetzliche Regeln vor, insbesondere zu den zuläs-

sigen Anfechtungsgegenständen, der Beschwerdelegitimation und -pflicht der

Überwachungsbehörde sowie zur Beschwerdefrist der Überwachungsbehörde. Für

Beschwerden gegen Verfügungen und Erlasse des Bundes richtet sich das Beschwer-

deverfahren daher nach den allgemeinen Bestimmungen der Bundesrechtspflege

(insb. VwVG, VGG, BGG), während bei Verfügungen und Erlassen der Kantone das

jeweils anwendbare kantonale Verfahrensrecht gilt.

Nach dem anwendbaren Verfahrensrecht bestimmen sich insbesondere zunächst die

zulässigen Anfechtungsobjekte für Beschwerden von Dritten (s. insb. auch Art. 82

Bst. b

bis

VE-BGG und Art. 31

a

VE-VGG). Auch die Legitimation von Dritten zur

Erhebung einer Beschwerde gegen Beihilfen richtet sich nach dem anwendbaren Ver-

fahrensrecht: Nach Artikel 89 Absatz 1 BGG ist zur Beschwerde berechtigt, wer unter

anderem durch den angefochtenen Entscheid besonders berührt ist und ein schutzwür-

diges Interesse an dessen Aufhebung oder Änderung hat. Unter welchen Umständen

diese Voraussetzungen bei einem Konkurrenten im Sinne von Artikel 21 VE-BHÜG

erfüllt sind, richtet sich grundsätzlich nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung

wobei zukünftig auch die beihilferechtlichen Bestimmungen der völkerrechtlichen

Verträge sowie die entsprechende EU-Praxis zu berücksichtigen sind. Notwendig ist

eine schutzwürdige besonders enge Beziehungsnähe des Konkurrenten zum Streitge-

genstand beziehungsweise zur in Frage stehenden Beihilfe. Diese Beziehungsnähe

muss sich aus der einschlägigen gesetzlichen Ordnung ergeben. So kann ein schutz-

würdiges Interesse für Konkurrenten vorliegen, wenn sie durch wirtschaftspolitische

oder sonstige Regelungen in eine solche besondere Beziehungsnähe untereinander

versetzt werden. Ein Konkurrent kann zudem beschwerdebefugt sein, soweit er gel-

tend macht, dass andere Konkurrenten privilegiert behandelt würden. Das allgemeine

Interesse an der richtigen Anwendung der für alle geltenden Vorschriften reicht dazu

jedoch nicht aus.

158

158

Vgl. BGE 142 II 80 E. 1.4.2; 139 II 328 E. 3.4 f.; vgl. auch BGE 147 II 144 E. 4.5.

171 / 931

Mit dem durch die völkerrechtlichen Verträge nach Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG

übernommene Beihilferecht sowie dem damit verbundenen Überwachungsverfahren

dürfte eine gesetzliche Ordnung bestehen, welche grundsätzlich eine schutzwürdige

besondere Beziehungsnähe begründet. In dieser Hinsicht ist das Beihilferecht mit dem

Kartellrecht zu vergleichen.

159

So dient das Beihilferecht dem Schutz des Wettbe-

werbs und verhindert insbesondere schädliche Auswirkungen von Beihilfen. Der

Wettbewerb wird durch die Auswirkungen einer Beihilfe verfälscht, wenn sie geeig-

net ist, die Wettbewerbsposition des Beihilfeempfängers gegenüber seinen Wettbe-

werbern zu verbessern. Damit verfolgt das Beihilferecht insbesondere auch das Ziel,

unter Konkurrenten gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. Beteiligt sich ein

Konkurrent an einem Verfahren der Überwachungsbehörde oder einem darauffolgen-

den Rechtsmittelverfahren, setzt er sich für die Gewährleistung eines wirksamen

Wettbewerbs ein, auch wenn er selbst aus «egoistischen» Interessen handelt. Ob es

zudem Konstellationen geben wird, in denen ein Konkurrent geltend machen kann,

dass einer seiner Konkurrenten im Sinne der oben beschriebenen Rechtsprechung pri-

vilegiert behandelt werde, indem er eine unzulässige (und damit wettbewerbsverzer-

rende) Beihilfe erhalte, ist fraglich, da sich in der Praxis kaum Anwendungsfälle die-

ser Fallgruppe finden lassen.

160

Bei der Prüfung, ob die genannten Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind, werden

die rechtsanwendenden Behörden neben der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu-

künftig im Hinblick auf die Verpflichtung der Schweiz, ein gleichwertiges Beihilfe-

überwachungssystem zu schaffen, auch die einschlägige unionsrechtliche Rechtspre-

chung zu berücksichtigen haben.

161

Generell müssen die Schweizer Justizbehörden

bei der Anwendung des BHÜG die einschlägige Rechtsprechung des EuGH berück-

sichtigen, soweit diese Berücksichtigung die Einhaltung der Pflicht der Schweiz ein

gleichwertiges System zu schaffen, sicherstellt.

Daneben sind insbesondere die allgemeinen verfahrensrechtlichen Bestimmungen zu

Beschwerdegründen (s. für die Beschwerdegründe bei Beschwerden gegen Bundes-

erlasse vor dem Bundesverwaltungsgericht den neuen Artikel 37

b

VE-VGG und

Ziff. 2.2.8.2), Formvorschriften, dem rechtlichen Gehör, den zulässigen Vorinstan-

zen, allfälligen Streitwertgrenzen und dem Novenrecht, das heisst insbesondere wann

neue Tatsachen vorgebracht werden können, anwendbar.

Bezüglich der möglichen Beschwerdegründe, die die Überwachungsbehörde in ihrer

Beschwerde vorbringen kann, ist darauf hinzuweisen, dass die Überwachungsbehörde

nach Artikel 4 Buchstaben b, d und e VE-BHÜG die Aufgabe hat sicherzustellen, dass

keine unzulässigen geplanten Beihilfen gewährt werden. Sinn und Zweck der in die-

sem Gesetz speziell geregelten Behördenbeschwerde der Überwachungsbehörde ist

die einheitliche und korrekte Anwendung des Bundesrechts (insb. des BHÜG) und

die Zulässigkeit der Beihilfen zu gewährleisten.

162

Folglich kann die Überwachungs-

behörde in Beschwerdeverfahren gegen kantonale Beihilfegeber keine Verletzung

von kantonalem Recht (bspw. im Bereich der Subventionen) rügen. Hingegen können

159

Vgl. BGE 139 II 328 E. 3.4 f.

160

Vgl. René Wiederkehr/Stefan Eggenschwiler, Die allgemeine Beschwerdebefugnis Dritter,

2. A., Bern 2025, Rz. 129 ff. zur geringen praktischen Bedeutung dieser Praxis.

161

Vgl. etwa Urteil C-224/23 P des Europäischen Gerichtshofs vom 5. September 2024.

162

Vgl. BGE 148 II 369 E. 3.3.7.

172 / 931

allenfalls beschwerdeberechtigte Beihilfeempfänger sowie Dritte alle nach dem an-

wendbaren Verfahrensrecht zulässigen Beschwerdegründe rügen. Dazu gehört auch

die Verletzung der beihilferechtlichen Bestimmungen der völkerrechtlichen Verträge.

So dürfte etwa die Rüge der Unangemessenheit nur in wenigen Verfahrensordnungen

zulässig sein.

6. Kapitel: Rückforderung

Art. 41

Modalitäten der Rückerstattung

Abs. 1

In aller Regel ist eine Rückforderung im normalen Beschwerdeverfahren aufgrund der

aufschiebenden Wirkung der Beschwerde nicht notwendig. Die Frage der Rückforde-

rung stellt sich vor allem bei den besonderen Verfahren wegen einer Verletzung der

Anmelde- beziehungsweise Mitteilungspflicht (s. 4. Kapitel VE-BHÜG). Zu berück-

sichtigen ist dabei, dass für die kantonalen Beihilfegeber kein Durchführungsverbot

gilt. Eine Rückforderung wird notwendig, wenn die Beihilfe bereits gewährt und aus-

bezahlt beziehungsweise zugewandt wurde, bevor die Überwachungsbehörde über-

haupt davon Kenntnis nimmt oder eine Beschwerde erheben konnte. Die Rückforde-

rung ist im vorliegenden Kontext von entscheidender Bedeutung, um die

Wettbewerbsverzerrung möglichst zu beheben, die durch den gewährten Vorteil ver-

ursacht wurde.

Kommt die Überwachungsbehörde in der Prüfung in einem besonderen Verfahren

zum Schluss, dass die geprüfte Beihilfe unzulässig ist, hat sie auch die Rückforderung

der Beihilfe anzustossen. Dafür hat sie im Verfahren zur Beseitigung der unzulässigen

Beihilfen jeweils nicht nur den Widerruf der Beihilfe zu beantragen, sondern auch die

Rückforderung allfälliger Vorteile (s. Art. 31 Abs. 2 und 32 Abs. 1 VE-BHÜG). Dazu

gehören auch allfällige Zinsen, die der Beihilfeempfänger erhalten hat.

163

In der Folge

wird der Beihilfegeber, wenn er mit den Anträgen der Überwachungsbehörde einver-

standen ist, auch die Rückerstattung anordnen. Verfügt der Beihilfegeber die Rücker-

stattung nicht, weil er mit den Anträgen der Überwachungsbehörde nicht einverstan-

den ist, muss die Überwachungsbehörde in der Folge Beschwerde erheben. Wird im

Beschwerdeverfahren die Unzulässigkeit der Beihilfe bestätigt, so muss der unterle-

gene Beihilfegeber die Beihilfe nachträglich zurückfordern.

Weigert sich der Beihilfeempfänger schliesslich, einem Urteil oder einer Verfügung,

welche die Rückerstattung anordnet, nachzukommen, kann und muss der Beihilfege-

ber die üblichen Vollstreckungswege beschreiten.

164

Der Begriff der Rückerstattung muss sodann weit verstanden werden. Besteht die un-

zulässige Beihilfe aus dem Erlass einer Forderung, bedeutet die Rückerstattung, dass

der Beihilfegeber die Forderung wieder geltend machen muss. Auch andere entstan-

dene wirtschaftliche Vorteile (bspw. durch eine Garantie), welche eine unzulässige

Beihilfe darstellen, müssen zurückgefordert werden. Zinsen fallen grundsätzlich für

163

Vgl. Erläuterungen zu Art. 4 Abs. 3 Bst. b Ziff. iv der völkerrechtlichen Bestimmungen zu

staatlichen Beihilfen in Ziff. 2.2.5.

164

Vgl. für den Bund Art. 40 VwVG.

173 / 931

den Zeitraum ab dem Tag, an dem die als unzulässig beurteilte Beihilfe dem Beihil-

feempfänger zur Verfügung stand, bis zur tatsächlichen Rückerstattung an.

165

Vorbehalt des Vertrauensschutzes

Vorbehalten bleibt jedoch der aus Artikel 9 der Bundesverfassung abgeleitete An-

spruch der Beihilfeempfänger auf Schutz ihres Vertrauens auf die Richtigkeit behörd-

lichen Handelns. Unter den in der Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen

können sich die Beihilfeempfänger unter Berufung auf Artikel 9 BV gegen die Rück-

erstattung einer rechtswidrigen Beihilfe wehren, namentlich wenn sie sich auf die

Rechtmässigkeit der Beihilfe verlassen durften.

166

In diesem Fall würde eine Rücker-

stattung nicht erfolgen. In der EU-Rechtsprechung kommt der Vertrauensschutz im

Beihilferecht jedoch äusserst selten zur Anwendung.

Eine erfolgreiche Berufung auf den Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3

und Art. 9 BV) beruht auf vier Voraussetzungen:

1. Vertrauensgrundlage: Potenzielle Vertrauensgrundlagen sind allein jene behördli-

chen Handlungen, die sich auf eine konkrete, den Rechtssuchenden berührende An-

gelegenheit beziehen und von einer Behörde ausgehen, die für die betreffende Hand-

lung zuständig ist oder die der Rechtssuchende aus zureichenden Gründen für

zuständig hält.

2. Berechtigtes Vertrauen: Der Beihilfeempfänger, der sich auf Vertrauensschutz be-

rufen will, muss berechtigterweise auf diese Grundlagen vertrauen dürfen. Das Ver-

trauen ist berechtigt, wenn sich das Verhalten des Beihilfegebers auf eine konkrete

Angelegenheit bezieht. Eine generelle Ansichtsäusserung genügt beispielsweise

nicht. Der Beihilfeempfänger muss bei der Beurteilung der Vertrauensgrundlage die

gebotene Sorgfalt walten lassen. Dabei muss er grundsätzlich nicht die Kenntnisse

und Fähigkeiten von Juristinnen und Juristen anwenden.

3. Eine Vertrauensbetätigung: Der Beihilfeempfänger muss nachteilige Dispositionen

getroffen haben, die er nicht mehr rückgängig machen kann.

4. Interessenabwägung: Die Berufung auf Treu und Glauben scheitert, wenn überwie-

gende öffentliche Interessen gegenüberstehen, insbesondere das Interesse an der rich-

tigen Durchführung des objektiven Rechts. In diesem Zusammenhang ist von den

rechtsanwendenden Behörden auch zu berücksichtigen, dass die Verfahrensregeln des

VE-BHÜG verhindern sollen, dass es zu Wettbewerbsverzerrungen kommt.

In den meisten Fällen wird der Vertrauensschutz einer Rückforderung nicht entgegen-

stehen. Zwar muss der Beihilfeempfänger nicht alle beihilferechtlichen Bestimmun-

gen der völkerrechtlichen Verträge kennen, missachtet er aber eine negative Stellung-

nahme der Überwachungsbehörde, kann kein berechtigtes Vertrauen des

Beihilfeempfängers entstehen.

Zudem muss die rechtswidrig gewährte Beihilfe vom Beihilfeempfänger bereits wei-

terverwendet worden sein, damit eine Vertrauensbetätigung vorliegt. Schliesslich

könnten überwiegende öffentliche Interessen, wie das Interesse an der richtigen

Durchführung des Beihilferechts, einer erfolgreichen Berufung auf den Grundsatz von

165

Vgl. Art. 14 Abs. 2 der EU-Verordnung 2015/1589.

166

Vgl. BGE 148 II 233 E. 5.5.1.

174 / 931

Treu und Glauben entgegenstehen. In diesen Fällen kann möglicherweise ein Vertrau-

ensschaden geschuldet sein, das heisst der Ersatz von nutzlos gewordenen Aufwen-

dungen (negatives Interesse).

167

Abs. 2

Die Rückerstattung muss samt Zinsen erfolgen, da jeglicher Vorteil der vorüberge-

hend zur Verfügung gestandenen Beihilfe rückgängig gemacht werden soll. So decken

Zinsen auch die Opportunitätskosten der Beschaffung der Mittel auf dem privaten

Markt ab.

Der Zinssatz für die allfälligen Zinszahlungen wird vom WBF auf Verordnungsstufe

festgelegt. Eine Regelung durch das WBF rechtfertigt sich dadurch, dass der Zinssatz

durch die Marktbedingungen technisch vorgeschrieben ist und entsprechend regel-

mässig angepasst werden muss. Die Methodik wird sich an Artikel 9 der Verordnung

Nr. 794/2004 der Europäischen Kommission orientieren. Die Höhe des Zinssatzes

wird anhand des Umfangs und der Häufigkeit der Interbankgeschäfte berechnet. Der

sogenannte Interbank-Swap-Satz wird dabei angepasst, um die erhöhten Geschäftsri-

siken ausserhalb des Bankensektors zu berücksichtigen.

168

Abs. 3

Kantone können einen anderen Zinssatz festlegen. Dieser darf jedoch nicht tiefer als

derjenige auf Bundesebene (Abs. 2) liegen. Zudem bleibt der Zinssatz von fünf Pro-

zent nach Artikel 30 Absatz 3 SuG vorbehalten unter der Voraussetzung, dass es sich

bei der Beihilfe auch um eine Finanzhilfe oder Abgeltung handelt und der Beihilfe-

empfänger schuldhaft gehandelt hat. Sollte der Zinssatz nach dem BHÜG höher lie-

gen, gilt dieser.

Art. 42

Verjährung des Rückforderungsrechts bei unzulässigen

Einzelbeihilfen

Abs. 1

Die absolute Verjährungsfrist des Rückforderungsrechts des Beihilfegebers für Um-

setzungsbeihilfen und Ad-hoc-Beihilfen beträgt zehn Jahre. Das entspricht der Ver-

jährungsfrist in der EU.

169

Eine relative Verjährungsfrist ist nicht vorgesehen, da die

Überwachungsbehörde bereits aufgrund der Fristen der besonderen Verfahren han-

deln muss. So hat sie beispielsweise innert 30 Tagen ab Kenntnis einer nicht mitge-

teilten Beihilfe eine Nachmeldung zu verlangen (s. Art. 29 VE-BHÜG). Zudem blei-

ben längere kantonale Verjährungsfristen vorbehalten, was bedeutet, dass in diesen

Fällen die Verjährung erst nach Ablauf der längeren kantonalen Frist eintritt.

Die Bestimmung ist nicht auf Beihilferegelungen anwendbar, da die eigentliche Ge-

währung der Beihilfe durch die Umsetzungsbeihilfe erfolgt. Erst dadurch kann ein

Rückforderungsrecht entstehen (s. Ausführungen zu Art. 44 VE-BHÜG).

167

S. Urteile 2C_960/2013, 2C_968/2014, 2C_973/2014 vom 28. Oktober 2014 E. 3.4.3 ff

und 4.5.4; 2C_97/2023 vom 19. August 2024 E. 6.2.2; Ulrich Häfelin/Georg Müller/Felix

Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 8. A., Zürich/St. Gallen 2020, N 706 ff.

168

S. Erwägung 12 zur Verordnung (EG) Nr. 794/2004 der Kommission.

169

Vgl. Art. 17 Abs. 1 der EU-Verordnung 2015/1589.

175 / 931

Der Beihilfegeber hat nicht nur ein Rückforderungsrecht, sondern auch eine Rückfor-

derungspflicht. Er muss das materielle Recht durchsetzen und dafür sorgen, dass eine

konforme Rechtslage durch die Rückforderung von unzulässigen Vorteilen erreicht

wird. Gleichzeitig muss der Bund mit den Mitteln der Bundesaufsicht sicherstellen,

dass der Beihilfegeber dieser Pflicht nachkommt. Dabei ist die Rückforderung weit

zu verstehen und umfasst auch allfällige Nachforderungen, falls die Beihilfe beispiels-

weise im Erlass einer Schuld oder Steuer bestand (s. auch die Ausführungen zu Art. 41

VE-BHÜG).

Stellt eine Beihilfe auch eine Finanzhilfe oder Abgeltung dar, laufen ab Entstehung

des Rückforderungsanspruchs zusätzlich die Verjährungsfristen nach SuG. Deren Ab-

lauf könnte eine Rückforderung der Beihilfe verhindern. Aufgrund der Handlungs-

fristen in den besonderen Verfahren ist aber davon auszugehen, dass der Beihilfegeber

die Beihilfe innert der dreijährigen subventionsrechtlichen relativen Verjährungsfrist

zurückfordern kann. Da zudem die absolute Verjährungsfrist nach Artikel 32 Absatz 2

SuG erst ab Kenntnis des Rückforderungsanspruchs läuft, sollte auch diese Verjäh-

rungsfrist einer Rückforderung nicht im Wege stehen. Es ist deshalb davon auszuge-

hen, dass die subventionsrechtlichen Verjährungsfristen einer Rückforderung von

Beihilfen nicht vorzeitig verhindern werden.

Abs. 2

Ist das Rückforderungsrecht verjährt, kann der Beihilfegeber die Vorteile nicht mehr

vom Beihilfeempfänger zurückverlangen. Die Überwachungsbehörde kann gegen die

verjährten Beihilfen nicht mehr mit den üblichen Mitteln vorgehen. Sie kann weder

eine Prüfung noch ein Beschwerdeverfahren einleiten, da die Beihilfen bereits ge-

währt wurden und die Anfechtungsfristen für eine ordentliche Beschwerde abgelaufen

sind. Ausdrücklich geregelt wird zudem, dass sie auch kein besonderes Verfahren ge-

mäss 4. Kapitel VE-BHÜG mehr einleiten kann, wozu nach der Logik des VE-BHÜG

auch die direkte Beschwerde innert 30 Tagen nach Kenntnisnahme der geplante Mas-

snahme durch die Überwachungsbehörde nach Artikel 35 VE-BHÜG zählt. Die Über-

wachungsbehörde geht aber bei bestehenden Beihilferegelungen nach Artikel 44 ff.

VE-BHÜG weiterhin vor.

Die Verjährungsfrist beginnt mit der Gewährung der Beihilfe. Umsetzungsbeihilfen

oder Ad-hoc-Beihilfen in der Form von Verfügungen gelten als gewährt, sobald die

Verfügung rechtskräftig ist für den Beihilfeempfänger und vollstreckt werden kann.

Realakte sind in der Regel sofort gewährt und bei öffentlich-rechtlichen Verträgen

kommt es auf die konkrete Ausgestaltung des Vertrages an, jedoch wird in der Regel

auf den Vertragsabschluss abgestellt werden können. Bei Ad-hoc-Beihilfen in der

Form von Erlassen ist das Datum des Inkrafttretens relevant. Es spielt hingegen keine

Rolle, wenn effektive Auszahlungen zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen.

Art. 43

Unterbrechung der Verjährung

Im Gegensatz zur EU wird die Verjährung nicht mit der Ergreifung jeglicher Mass-

nahmen unterbrochen,

170

sondern diese wird zugunsten der Rechtssicherheit auf zwei

170

Vgl. Art. 17 Abs. 2 der EU-Verordnung 2015/1589.

176 / 931

zentrale Handlungen der Überwachungsbehörde beschränkt: Der Einleitung einer ver-

tieften Prüfung und die Erhebung einer Beschwerde. Die Unterbrechung ist für be-

sondere Verfahren gemäss 4. Kapitel VE-BHÜG relevant, denn die Verjährungsfrist

läuft erst ab der Gewährung der Beihilfe. Damit der Überwachungsbehörde möglichst

Zeit für eine vertiefte Prüfung bleibt, soll die Verjährung bereits mit der Einleitung

der vertieften Prüfung unterbrochen werden. Je nach Konstellation würde es zu lange

dauern, bis es zur Beschwerdeerhebung kommt, um die Verjährung noch rechtzeitig

unterbrechen zu können. Die Wirkung der Unterbrechung wird in Absatz 2 geregelt.

Die Verjährungsfrist beginnt von Neuem zu laufen. Dies entspricht der Regelung im

Obligationenrecht

171

(s. Art. 137 OR). Für die Berechnung der Verjährungsfrist kön-

nen deshalb die Bestimmungen des Obligationenrechts sinngemäss angewendet wer-

den. Wird die Verjährung durch eine Beschwerde unterbrochen, beginnt die Verjäh-

rung erst wieder zu laufen, wenn das Beschwerdeverfahren rechtskräftig

abgeschlossen ist. Dies entspricht ebenfalls der aktuellen Rechtslage im Bereich des

Obligationenrechts.

172

Für nicht mitgeteilte Beihilferegelungen gilt die Verjährungsfrist nicht. Stattdessen

gelten diese zehn Jahre nach ihrem Inkrafttreten als bestehende Beihilfen (s. Art. 44

Abs. 1 Bst. b VE-BHÜG).

173

7. Kapitel: Fortlaufende Prüfung von bestehenden Beihilferegelungen

171

SR

220

172

S. Art. 138 OR sowie BGE 147 III 419.

173

Vgl. Art. 17 Abs. 3 der EU-Verordnung 2015/1589.

177 / 931

Bestehende Beihilferegelungen werden von der Überwachungsbehörde fortlaufend

geprüft. Mit der fortlaufenden Prüfung wird sichergestellt, dass bereits von einem Ge-

richt oder von der Überwachungsbehörde beurteilte Beihilferegelungen sowie Beihil-

feregelungen, welche die Überwachungsbehörde aus verschiedenen Gründen nicht

beurteilen konnte, zu einem späteren Zeitpunkt von der Überwachungsbehörde erneut

beziehungsweise erstmals überprüft werden können. Die fortlaufende Prüfung ermög-

licht eine lückenlose Überwachung der Beihilferegelungen, welche in Kraft sind.

Art. 44

Bestehende Beihilferegelungen

Abs. 1

Das VE-BHÜG sieht vier Kategorien von bestehenden Beihilferegelungen vor. Sie

unterscheiden sich durch den «Weg», auf welchem sie zu bestehenden Beihilferege-

lungen werden. Die Rechtsfolgen einer Qualifikation als bestehende Beihilferegelung

sind für alle vier Kategorien dieselben: Es gelangen Artikel 45–47 VE-BHÜG zur

Anwendung und es ist kein besonderes Verfahren (mehr) möglich (Abs. 2).

Die erste Kategorie (Bst. a) von bestehenden Beihilferegelungen bilden Beihilferege-

lungen, die in einem gerichtlichen Beschwerdeentscheid oder, falls keine Beschwerde

178 / 931

erhoben wurde, in einer Stellungnahme der Überwachungsbehörde als zulässig beur-

teilt wurden. Diese Beihilferegelungen werden sofort nach ihrem Inkrafttreten zu be-

stehenden Beihilferegelungen. Von Buchstabe a sind auch Beihilferegelungen erfasst,

die von der Überwachungsbehörde in einem besonderen Verfahren überprüft und als

zulässig beurteilt worden sind. Diese Beihilferegelungen werden, nachdem die Über-

wachungsbehörde in einem besonderen Verfahren ihre positive Stellungnahme abge-

ben konnte, rückwirkend auf ihr Inkrafttreten zu bestehenden Beihilferegelungen.

Buchstabe a ermöglicht, dass die Überwachungsbehörde bereits als zulässig beurteilte

Beihilferegelungen weiterhin fortlaufend überprüfen und reagieren kann, falls sich an

der Zulässigkeit der Beihilferegelung etwas ändern sollte (s. auch Bst. c).

Nach Buchstabe b bilden nicht mitgeteilte Beihilferegelungen die zweite Kategorie

der bestehenden Beihilferegelungen. Für diese Beihilferegelungen gilt eine Frist von

zehn Jahren seit ihrem Inkrafttreten bis sie als bestehende Beihilferegelungen gelten.

Bis zu diesem Zeitpunkt kann gegen eine Beihilferegelung ein besonderes Verfahren

nach den Artikeln 27 ff. VE-BHÜG eingeleitet werden, da sie unter Verletzung der

Mitteilungspflicht (Art. 24 VE-BHÜG) erlassen wurde. Eine nicht mitgeteilte Beihil-

feregelung wird folglich nach zehn Jahren (Bst. b) oder nach Abschluss des besonde-

ren Verfahrens mit einer Stellungnahme, dass sie zulässig ist (Bst. a) zu einer beste-

henden Beihilferegelung. Buchstabe b ist das Pendant zu Artikel 42 VE-BHÜG,

wonach das Rückforderungsrecht innert zehn Jahren nach der Gewährung verjährt

und die Überwachungsbehörde kein besonderes Verfahren mehr gegen (nicht mitge-

teilte) Einzelbeihilfen einleiten kann. Da durch den Erlass einer Beihilferegelung noch

kein geldwerter Vorteil gewährt wird, ist bei Beihilferegelungen auch keine Rückfor-

derung möglich. Somit kann kein Rückforderungsrecht verjähren, weshalb die nicht

mitgeteilten Beihilferegelungen nicht unter Artikel 42 VE-BHÜG fallen. Stattdessen

unterstehen sie nach Ablauf der 10-jährigen Frist einer fortlaufenden Prüfung durch

die Überwachungsbehörde.

Die dritte Kategorie von bestehenden Beihilfen umfasst Bestimmungen in Erlassen,

die zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens keine Beihilferegelungen waren und aufgrund

von Änderungen der sachlichen Gegebenheiten oder der beihilferechtlichen Bestim-

mungen der völkerrechtlichen Verträge eine Beihilferegelung geworden sind (Bst. c).

Diese Bestimmungen erfüllten die Merkmale einer Beihilfe im Zeitpunkt ihres In-

krafttretens folglich nicht und unterstanden auch keiner Prüfung durch die Überwa-

chungsbehörde. Eine Möglichkeit wäre je nach Konstellation, dass eine geförderte

Einheit neu die Merkmale eines Unternehmens beziehungsweise einer marktwirt-

schaftlichen Tätigkeit erfüllt und damit neu als Beihilfeempfänger klassifiziert wird.

Änderungen des materiellen Beihilferechts ergeben sich aus Anpassungen der völker-

rechtlichen Verträge nach Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG, was insbesondere auch im

Rahmen der dynamischen Rechtsübernahme geschehen kann (s. auch Ziff. 2.2.5.8).

Wird eine bereits beurteilte Beihilferegelung aufgrund von Änderungen der beihilfe-

rechtlichen Bestimmungen der völkerrechtlichen Verträge neu unzulässig, ist dies ein

Anwendungsfall von Buchstabe a.

Schliesslich gelten nach Buchstabe d auch die Beihilferegelungen, welche vor dem

Inkrafttreten des BHÜG erlassen werden, als bestehende Beihilferegelungen. Gegen

diese Beihilferegelungen kann die Überwachungsbehörde weder ein ordentliches

noch ein besonderes Verfahren einleiten. Die Überwachungsbehörde ist auch nicht

179 / 931

legitimiert, gegen diese Beihilferegelungen Beschwerde zu erheben. Möglich ist ein-

zig eine Überprüfung im Rahmen der fortlaufenden Prüfung.

Die Überwachungsbehörde beginnt mit der fortlaufenden Prüfung, indem sie in den

zwölf Monaten nach Inkrafttreten des BHÜG zunächst eine Übersicht über die beste-

henden Beihilferegelungen mit einer Einschätzung zur Zulässigkeit erstellt (s. Art. 56

Abs. 2 VE-BHÜG und Ziff. 2.2.5.5). Erst danach kann die Überwachungsbehörde die

fortlaufende Prüfung nach Artikel 46 ff. VE-BHÜG aufnehmen.

Abs. 2

Die Überwachungsbehörde kann kein besonderes Verfahren eröffnen gegen beste-

hende Beihilferegelungen. Dies gilt zwar für alle bestehenden Beihilferegelungen, nur

in Bezug auf die Beihilferegelungen nach Absatz 1 Buchstabe b ist aber eine aus-

drückliche Regelung notwendig. In den Fällen von Buchstaben a, c und d konnte keine

Anmelde- oder Mitteilungspflicht verletzt werden.

Das bedeutet, dass die Beihilfeüberwachungsbehörde gegen nicht mitgeteilte Beihil-

feregelungen nur während zehn Jahren ein besonderes Verfahren einleiten kann. Dies

entspricht grundsätzlich der Rechtslage, wie sie für Einzelbeihilfen gilt (s. Art. 42

Abs. 2 VE-BHÜG). Sobald eine nicht mitgeteilte Beihilferegelung zehn Jahre in Kraft

ist, gilt sie als bestehende Beihilferegelung. Ab diesem Zeitpunkt untersteht sie statt-

dessen der fortlaufenden Prüfung des 7. Kapitels.

Art. 45

Änderung bestehender Beihilferegelungen

Wird eine bestehende Beihilferegelung signifikant geändert, gilt sie als neues Beihil-

fevorhaben.

174

Wann eine Änderung einer bestehenden Beihilferegelung signifikant

ist, bestimmt sich nach Artikel 6 Absatz 3 VE-BHÜG. In diesem Fall untersteht die

Änderung dem ordentlichen Verfahren. Dies bedeutet, dass den Beihilfegeber bezüg-

lich der Änderung dieser Beihilferegelung die Anmeldepflicht nach Artikel 6 VE-

BHÜG trifft, worauf die Überwachungsbehörde eine einfache Prüfung einleitet. Die

Änderung der Beihilfe untersteht in der Folge auch der Mitteilungspflicht, damit die

Überwachungsbehörde gegebenenfalls eine Beschwerde erheben kann.

Art. 46

Fortlaufende Prüfung

Abs. 1

Bestehende Beihilferegelungen werden nach Abschluss einer ordentlichen Prüfung

und eines allfälligen Beschwerdeverfahrens von der Überwachungsbehörde fortlau-

fend auf ihre Vereinbarkeit mit den beihilferechtlichen Bestimmungen der völker-

rechtlichen Verträge geprüft.

Damit die Überwachungsbehörde über die notwendigen Informationen für die fort-

laufende Prüfung verfügt, ist im Vorentwurf vorgesehen, dass die Überwachungsbe-

hörde nach Artikel 22 VE-BHÜG vom Beihilfegeber und -empfänger Auskünfte ver-

langen kann.

174

Vgl. Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 794/2004 über das vereinfachte Anmeldeverfahren

für bestimmte Änderungen bestehender Beihilfen.

180 / 931

Abs. 2

Im Rahmen der fortlaufenden Prüfung kann die Überwachungsbehörde auch einzelne

Wirtschaftszweige untersuchen. Dies trifft beim Verdacht zu, dass im Wirtschafts-

zweig mehrere unzulässige bestehende Beihilferegelungen bestehen.

175

Dieses Instru-

ment ist somit ein Spezialfall der fortlaufenden Prüfung, indem die Überwachungsbe-

hörde systematisch eine Branche anhand der ihr zur Verfügung stehenden Mittel (s.

Art. 22 VE-BHÜG) untersucht. Dies kann beispielsweise sinnvoll sein, wenn zahlrei-

che Anzeigen zu einem Wirtschaftszweig eingereicht wurden oder die sachlichen Ge-

gebenheiten beziehungsweise beihilferechtlichen Bestimmungen der völkerrechtli-

chen Verträge sich für einen konkreten Wirtschaftszweig besonders stark geändert

haben.

Die Details dieser Bestimmung werden noch geprüft und während der Vernehmlas-

sung sowie anhand allfälliger Vernehmlassungsantworten ausgearbeitet.

Art. 47

Prüfung bei bestehenden Beihilferegelungen

Abs. 1

Der erste Schritt der fortlaufenden Prüfung wird im Vorentwurf nicht detailliert gere-

gelt. Der Überwachungsbehörde soll bei der Ausgestaltung ein gewisser Spielraum

zukommen. Das Verfahren muss jedenfalls nicht der einfachen Prüfung, wie sie in

Artikel 14 VE-BHÜG geregelt ist, entsprechen. Folglich kann die Überwachungsbe-

hörde das konkrete Verfahren nach ihrem Ermessen und den vorliegenden Gegeben-

heiten ausgestalten. Hat die Überwachungsbehörde aufgrund der fortlaufenden Prü-

fung Grund zur Annahme, dass eine bestehende Beihilferegelung unzulässig ist, teilt

sie dies dem Beihilfegeber mit. Zusammen mit dieser Mitteilung schlägt sie dem Bei-

hilfegeber Änderungen der Beihilferegelung oder deren Aufhebung vor.

Abs. 2 und 3

Der Beihilfegeber hat sich mit den Vorschlägen der Überwachungsbehörde auseinan-

derzusetzen. In der Folge hat der Beihilfegeber die Überwachungsbehörde über die

vorgenommenen Änderungen oder die Aufhebung der Beihilferegelung zu informie-

ren. Passt der Beihilfegeber die Beihilferegelung entsprechend den Vorschlägen der

Überwachungsbehörde an oder hebt er sie sogar ganz auf, ist die Prüfung für die Über-

wachungsbehörde abgeschlossen, da sie das Ziel einer konformen Rechtslage erreicht

hat. Ist die Beihilferegelung nach Ansicht der Überwachungsbehörde auch nach den

vorgenommenen Änderungen immer noch unzulässig oder weigert sich der Beihilfe-

geber, die Beihilferegelung aufzuheben, obwohl dies nach Ansicht der Überwa-

chungsbehörde der einzige gangbare Weg wäre, leitet die Überwachungsbehörde eine

vertiefte Prüfung nach Artikel 16 VE-BHÜG ein.

Die Überwachungsbehörde schliesst die vertiefte Prüfung einer bestehenden Beihil-

feregelung mit einer Stellungnahme ab. Kommt sie zum Schluss, dass die bestehende

Beihilferegelung unzulässig ist, erhebt sie Beschwerde gegen zukünftig darauf ge-

stützte Umsetzungsbeihilfen (s. Art. 48 Abs. 1VE-BHÜG).

175

Vgl. Art. 25 Abs. 1 der EU-Verordnung 2015/1589.

181 / 931

Art. 48

Verfahren bei als unzulässig beurteilten bestehenden

Beihilferegelungen

Das Verfahren bei als unzulässig beurteilten bestehenden Beihilferegelungen ent-

spricht demjenigen für Beihilferegelungen, die in einem besonderen Verfahren als un-

zulässig beurteilt worden sind (s. Art. 33 VE-BHÜG).

Handelt es sich um eine bestehende Beihilferegelung, kann die Überwachungsbe-

hörde allerdings erst gegen darauf gestützte Umsetzungsbeihilfen Beschwerde erhe-

ben, wenn sie die Stellungnahme veröffentlicht hat, in der sie die Beihilferegelung als

unzulässig beurteilt.

Der Beihilfegeber, der die Beihilferegelung erlassen hat, ist nach Abschluss der Prü-

fung verpflichtet alle Beihilfegeber, welche gestützt auf diese bestehende Beihilfere-

gelung Umsetzungsbeihilfen gewähren können, auf die Stellungnahme und auf ihre

zukünftige Mitteilungspflicht bezüglich neuer Umsetzungsbeihilfen hinzuweisen (s.

Erläuterungen zur Mitteilungspflicht Art. 24 Abs. 1 Bst. d VE-BHÜG). Die neu ent-

stehende Mitteilungspflicht wird es der Überwachungsbehörde ermöglichen, gegen

alle neuen Umsetzungsbeihilfen, die gestützt auf diese unzulässige bestehende Bei-

hilferegelung gewährt werden, Beschwerde zu erheben.

Im Gegensatz zum besonderen Verfahren kann die Überwachungsbehörde nicht ge-

gen Umsetzungsbeihilfen vorgehen, welche vor der Veröffentlichung der Stellung-

nahme zur Unzulässigkeit gewährt wurden. Es bestand keine Mitteilungspflicht, wes-

halb kein besonderes Verfahren eingeleitet werden kann wegen deren Verletzung. Die

Überwachungsbehörde kann nur gegen zukünftige auf die unzulässige bestehende

Beihilferegelung gestützte Umsetzungsbeihilfe (

pro futuro

) vorgehen.

8. Kapitel: Transparenz

Art. 49

Zustellungs- und Berichterstattungspflicht der Beihilfegeber

Der vorliegende Artikel betrifft die bereits geprüften und mitgeteilten Beihilfen, die

veröffentlicht werden sollen. Sobald die Verfügungen und Urteile (Abs. 1) rechtskräf-

tig sind, stellen die Beihilfegeber der Überwachungsbehörde diese nach Schwärzung

der Geschäftsgeheimnisse zu. Sie erstatten zudem Bericht über Erlasse und Verträge

sobald diese in Kraft beziehungsweise abgeschlossen sind, damit auch diese Informa-

tionen veröffentlicht werden können. Dies schafft die notwendige Transparenz über

die gewährten Beihilfen. Damit werden die beihilferechtlichen Bestimmungen zur

Transparenz umgesetzt, zu denen sich die Schweiz verpflichtet hat (s. Art. 6 der Bei-

hilfeprotokolle respektive Art. 16 des Stromabkommens). Zusätzlich wird der Wider-

ruf von Stellungnahmen gekennzeichnet.

Die eigentliche Veröffentlichung erfolgt durch die Überwachungsbehörde, die jedoch

die endgütigen Unterlagen und Informationen von den Beihilfegebern benötigt. Ent-

sprechend ist diese zusätzliche Zustellungs- und Berichterstattungspflicht notwendig.

Es sind grundsätzlich die Beihilfegeber dafür verantwortlich, dass alle Geschäftsge-

heimnisse aus den zu publizierenden Unterlagen entfernt werden (Abs. 3). Für die

Beurteilung, was zu schwärzen ist, ist die vertiefte Kenntnis des Beihilfegebers der

Angelegenheit notwendig. Mit diesem Vorgehen wird sichergestellt, dass keine Ge-

schäftsgeheimnisse publiziert werden.

182 / 931

Die Zustellungs- und Berichterstattungspflicht ist einerseits von der Anmeldepflicht

zu unterscheiden. Dort geht es um geplante Beihilfen, die vor ihrer Gewährung ge-

prüft werden müssen. Andererseits ist sie auch von der Mitteilungspflicht zu unter-

scheiden, wo es darum geht, die gewährte aber noch nicht rechtskräftige Beihilfe mit-

zuteilen, um der Überwachungsbehörde die Ausübung der Beschwerdepflicht zur

ermöglichen. Auch die Bundesversammlung und der Bundesrat müssen der Überwa-

chungsbehörde die von ihnen gewährten Beihilfen nach Eintritt der Rechtskraft be-

ziehungsweise in Kraft treten zustellen. Dies stellt sicher, dass die Überwachungsbe-

hörde Kenntnis aller Beihilfen hat und sie veröffentlichen kann.

Die im vorliegenden Artikel vorgesehenen Pflichten der Beihilfegeber bewirken keine

neue Prüfung der Beihilfen durch die Überwachungsbehörde.

Art. 50

Summarische Berichterstattung

Beihilfen, die von der Anmeldepflicht und der Berichterstattungspflicht ausgenom-

men sind, weil sie in den völkerrechtlichen Verträgen nach Artikel 1 Absatz 2 VE-

BHÜG als vereinbar mit dem Binnenmarkt vermutet werden (Art. 3 Abs. 4 der Bei-

hilfeprotokolle respektive Art. 13 Abs. 4 des Stromabkommens) unterliegen einer

summarischen Berichterstattungspflicht. Die spezifischen Anforderungen dieser sum-

marischen Pflicht werden in einer Verordnung des WBF geregelt, da es sich dabei nur

um formelle Details handelt. Gemäss der Allgemeinen Gruppenfreistellungsverord-

nung der EU (s. Ziff. 2.2.4) umfasst die summarische Berichterstattung mindestens

eine Kurzbeschreibung sowie den Wortlaut der Beihilfe. Bei Umsetzungsbeihilfen

und Ad-hoc-Beihilfen über 500 000 Euro können weitere Informationen verlangt wer-

den.

Art. 51

Veröffentlichung

Die Überwachungsbehörde führt eine Datenbank, um die notwendige Transparenz

über Beihilfen in den von den völkerrechtlichen Verträgen erfassten Bereichen herzu-

stellen (s. dazu Art. 1 Abs. 2 VE-BHÜG). Ebenso erfasst werden die laufenden ver-

tieften Prüfungen durch die Publikation der Einleitung der vertieften Prüfung sowie

die laufenden Beschwerdeverfahren aufgrund einer entsprechenden Information der

Überwachungsbehörde (Bst. d). Kenntnis über Beschwerden der Überwachungsbe-

hörde ist aufgrund der aufschiebenden Wirkung zentral. Die Datenbank ist öffentlich

zugänglich.

Die Beihilfegeber und Beihilfeempfänger werden nicht anonymisiert. Die Überwa-

chungsbehörde stellt sicher, dass ihre eigenen Veröffentlichungen wie Stellungnah-

men (Bst. a), Mitteilungen über die Einleitung von vertieften Prüfungen (Bst. b) oder

Informationen über erhobene Beschwerden (Bst. d) keine Geschäftsgeheimnisse ent-

halten. Soweit die Unterlagen oder Informationen von den Beihilfegebern stammen,

sind diese verantwortlich für die Einhaltung der Geschäftsgeheimnisse (s. Art. 49

Abs. 3 VE-BHÜG). Die Beihilfegeber haben darauf zu achten, dass die Schwärzung

verhältnismässig ist und nicht das gesamte Dokument betrifft. Die Überwachungsbe-

hörde kann soweit notwendig entsprechende Weisungen erlassen.

In Absatz 2 wird aufgelistet, welche Informationen und Unterlagen die Überwa-

chungsbehörde veröffentlichen muss. Die Liste ist nicht abschliessend, da sich aus der

183 / 931

Verordnung weitere (untergeordnete) Veröffentlichungspflichten ergeben können. Im

Gegensatz zu den Transparenzvorschriften in der EU werden auch die beihilfegewäh-

renden Rechtsakte (Bst. a) veröffentlicht. Dies kann aufgrund der Geschäftsgeheim-

nisbereinigung zu Mehraufwand führen, stellt jedoch ein wesentliches Transparenz-

merkmal dar. Denn im Gegensatz zum EU-System kann keine Beschwerde gegen die

(unverbindlichen) Stellungnahmen der Überwachungsbehörde, sondern bloss direkt

gegen die Beihilfe erhoben werden. Folglich ist Kenntnis über die gewährten Beihil-

fen hilfreich, um eine konstante Schweizer Praxis zu entwickeln.

Daneben wird es auch möglich sein, gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz vom

17. Dezember 2004

176

(BGÖ) Einsicht in Dokumente der Überwachungsbehörde zu

erhalten. Das Öffentlichkeitsgesetz wird auf die Überwachungsbehörde anwendbar

sein. Sie muss amtliche Dokumente jedoch nicht zugänglich machen, bevor sie ihre

Stellungnahme veröffentlicht hat (Art. 8 Abs. 2 BGÖ). Der Umgang mit Geschäfts-

geheimnissen richtet sich neben den Transparenzvorschriften (s. Art. 49 ff. VE-

BHÜG) auch nach Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe g BGÖ sowie Artikel 25 KG.

Analog zu Artikel 9 Absatz 2 VE-BHÜG werden die Einzelheiten des Inhalts und die

Form der zu veröffentlichenden Unterlagen und Informationen durch das WBF gere-

gelt. Eine Regelung durch den Bundesrat ist aufgrund der geringen Tragweite und des

hohen Detaillierungsgrads nicht angezeigt.

9. Kapitel: Allgemeine Verfahrensbestimmungen

Art. 52

Feststellung des Sachverhalts

Die Überwachungsbehörde muss den Sachverhalt von Amtes wegen ermitteln. Es

liegt in ihrer Verantwortung die rechtserheblichen Tatsachen festzustellen. Sie trägt

die Beweisführungslast, die jedoch durch Mitwirkungspflichten eingeschränkt wird.

Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Beihilfegeber über besseren Zugang zu den

tatsächlichen Begebenheiten verfügt. Sowohl der Beihilfegeber als auch der Beihilfe-

empfänger haben aufgrund ihrer Nähe zum Sachverhalt beziehungsweise zum in

Frage stehenden Beihilfevorhaben eine Mitwirkungspflicht (s. Art. 22 Abs. 1 VE-

BHÜG). Vor allem die Auskünfte des Beihilfegebers werden zentral sein, denn er will

die Beihilfe gewähren und muss somit über alle notwendigen Informationen verfügen.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Beihilfegeber im Verwaltungsverfahren, wel-

ches zur Gewährung der Beihilfe führt, nach dem anwendbaren Verfahrensrecht eben-

falls verpflichtet ist, den Sachverhalt von Amtes wegen zu erstellen und dazu die not-

wendigen Informationen vom Beihilfeempfänger einzufordern.

In Bezug auf die geltend gemachten Ausnahmen (bzw. Vereinbarkeiten mit dem ord-

nungsgemässen Funktionieren des Binnenmarktes) oder Rechtfertigungsgründe be-

steht eine erhöhte Mitwirkungspflicht. Der Beihilfegeber hat alle für die diesbezügli-

che Beurteilung notwendigen Informationen einzureichen. Unabhängig von der im

Einzelfall angerufenen Rechtsgrundlage für die Vereinbarkeit/Rechtfertigung, obliegt

es dem Beihilfegeber, der Überwachungsbehörde alle notwendigen Informationen

176

SR

152.3

184 / 931

(bspw. bezifferbare Nachweise zum

Funding Gap

) für die Prüfung zu liefern, ob eine

Massnahme unter die Ausnahmetatbestände fällt, beziehungsweise als zulässig beur-

teilt werden kann. Kommt er dieser Pflicht nicht nach (bspw. indem er den

Funding

Gap

nicht nachweisen oder allfällig Inkonsistenzen nicht ausräumen kann), gelten die

Zulässigkeitsvoraussetzungen als nicht erstellt.

Das Prüfungsverfahren wird mehrheitlich schriftlich stattfinden, wie dies in Verwal-

tungsverfahren üblich ist. Die Überwachungsbehörde wird zudem ihre Sachverhalts-

ermittlung in der Regel auf Urkunden stützen. Sie kann aber auch Auskünfte vom

Beihilfegeber oder vom Beihilfeempfänger sowie von Dritten verlangen oder Gutach-

ten von Sachverständigen einholen.

Welche Urkunden notwendig sind, hängt von den konkreten Umständen ab. Meistens

wird die Überwachungsbehörde diese bezeichnen können. Allerdings obliegt auch

hier insbesondere dem Beihilfegeber die Pflicht offenzulegen, was überhaupt für Un-

terlagen vorhanden sind.

Die Überwachungsbehörde hat nicht alle üblicherweise in einem Verwaltungsverfah-

ren vorgesehenen Beweismittel zur Verfügung.

177

Dies soll das Prüfungsverfahren

entlasten und beschleunigen, da es schliesslich nur mit einer unverbindlichen Stel-

lungnahme und nicht mit einer Verfügung endet. Die Überwachungsbehörde kann

deshalb keine Zeugen einvernehmen oder Augenscheine vor Ort vornehmen. Es ist

aber möglich, dass sich die Überwachungsbehörde auf Urkunden (Protokolle) über

bereits durch den Beihilfegeber in seinem Verfahren auf Gewährung der Beihilfe

durchgeführten Zeugeneinvernahme oder Augenscheine abstützt.

Art. 53

Berechnung von Prüfungsfristen

Zur Berechnung der Prüfungsfristen gelten die Artikel 20–24 VwVG. Der Verweis

stellt klar, dass sich die Berechnung der Fristen im Prüfungsverfahren nach den Best-

immungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes richtet. Darunter fallen auch bereits

die Fristen im Rahmen der Anmeldung, so insbesondere die Frist, welche die Über-

wachungsbehörde für ergänzende Auskünfte ansetzen kann (s. Art. 11 Abs. 2 VE-

BHÜG). Es handelt sich bei dieser Nachfrist um eine behördliche Frist, die gemäss

Artikel 22 Absatz 2 VwVG erstreckt werden kann.

Zusätzlich ist das Europäische Übereinkommen vom 16. Mai 1972

178

über die Berech-

nung von Fristen zu berücksichtigen, insbesondere für die Berechnung der in Monaten

angegebenen Dauer der einfachen und vertieften Prüfungsfristen. Das Abkommen ist

auf (besondere) Verwaltungsverfahren unmittelbar anwendbar, ohne dass ein aus-

drücklicher Verweis notwendig ist (s. Art. 1 Abs. 1 des Abkommens vom 16. Mai

1972).

179

177

Vgl. Art. 12 VwVG.

178

SR

0.221.122.3

179

S. auch Botschaft zum Bundesgesetz über die Zustellung von Sendungen an Wochenenden

und Feiertagen vom 12. Februar 2025; BBl 2025 565, S. 32.

185 / 931

Art. 54

Elektronische Kommunikation und Aktenführung

Die Verfahren der Überwachungsbehörde sind besondere Verwaltungsverfahren und

keine Justizverfahren. Aus diesem Grund sieht Artikel 54 VE-BHÜG vor, dass die

Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 2024

180

über die Plattformen

für die elektronische Kommunikation in der Justiz (BEKJ) für die Verfahren der Über-

wachungsbehörde analog zur Regelung in Artikel 6

a

VwVG nur teilweise für an-

wendbar erklärt werden.

181

Absatz 2 bestimmt, dass die Überwachungsbehörde die nach Artikel 6

a

Absatz 2

VwVG zu schaffende Plattform nutzt und statuiert die Pflicht zur elektronischen Ak-

tenführung. Die elektronische Akte gilt als massgeblich. Unter gewissen Umständen

kann es vorkommen, dass nicht von sämtlichen Beweismitteln adäquate elektronische

Kopien angefertigt werden können. Für solche Fälle gilt eine Ausnahmeregelung.

Die Aktenweitergabe erfolgt ebenfalls elektronisch über die Plattform. Dies betrifft

insbesondere die Akten, die der Beihilfegeber der Überwachungsbehörde zustellen

muss oder Akten bei der Weiterleitung wegen Unzuständigkeit sowie auch bei der

Amtshilfe.

Aus Absatz 3 ergibt sich sodann, dass für alle Prüfungsverfahren der Überwachungs-

behörde eine Pflicht zur elektronischen Übermittlung besteht. Damit werden die Prü-

fungen der Überwachungsbehörde möglichst effizient ausgestaltet. Da die Prüfungs-

verfahren vor der Überwachungsbehörde nur von Behörden (Beihilfegeber) und

Unternehmen (Beihilfeempfänger/Konkurrenten) geführt werden, ist es grundsätzlich

möglich, keine Ausnahmen von dieser Pflicht vorzusehen. Sowohl für Behörden als

auch für Unternehmen ist es zumutbar die Plattform zu nutzen. Weiterhin zulässig ist

es aber für Privatpersonen eine Anzeige nach Artikel 28 VE-BHÜG auf anderem

Wege, das heisst nicht über die Plattform, zu machen.

10. Kapitel: Schlussbestimmungen

Art. 55

Änderung anderer Erlasse

Die Einrichtung des Beihilfeüberwachungsverfahrens bedingt die Änderung verschie-

dener Erlasse, die im Anhang aufgeführt sind. Es handelt sich dabei hauptsächlich um

Änderungen des VGG sowie des BGG. Die Änderungen dieser Bestimmungen wer-

den unter Ziffer 2.2.8 erläutert.

Art. 56

Übergangsbestimmungen

Abs. 1

Die Überwachungsbehörde kann gegen Beihilfen, die bis zu fünf Jahre nach Inkraft-

treten des Beihilfeprotokolls-LuftVA, des Beihilfeprotokolls-LandVA und des Strom-

abkommens gewährt wurden, nicht nach den Kapiteln 3 [

Ordentliches Verfahren vor

der Überwachungsbehörde

], 4 [

Besondere Verfahren bei Verletzung der Anmelde-

oder Mitteilungspflicht

] und 5 [

Beschwerdeverfahren

] vorgehen.

180

BBl

2025

19

181

Vgl. BBl

2023

679, S. 42.

186 / 931

Für diese Beihilfen gelten entsprechend auch die Anmelde- und Mitteilungspflicht

nicht. Das Ziel der Übergangsfrist ist es, dass die betroffenen Organe von Bund und

Kantonen ihre Gesetzgebung an die erwähnten völkerrechtlichen Verträge anpassen

und die notwendigen organisatorischen Bestimmungen erlassen können.

Abs. 2

Die Überwachungsbehörde erstellt innert zwölf Monaten nach Aufnahme ihrer Tätig-

keit eine Übersicht der bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes bereits bestehenden Bei-

hilferegelungen. Sie führt dabei eine vorläufige Bewertung durch, ob diese bestehen-

den Beihilfen mit den beihilferechtlichen Bestimmungen der völkerrechtlichen

Verträge zu vereinbaren sind. Die Formulierung «schätzt ein» nimmt dabei Bezug auf

die «

prima facie

»-Formulierung der Beihilfeprotokolle respektive des Stromabkom-

mens (s. Ziff. 2.2.5.5). Diese Einschätzung hat keine Auswirkungen auf die Anmelde-

und Mitteilungspflicht der Beihilfegeber. Sie ist aber für die Priorisierung der Über-

wachungsbehörde im Rahmen der fortlaufenden Prüfung von Bedeutung (Abs. 3).

Abs. 3

Nach Ablauf der Frist von Absatz 2 kann die Überwachungsbehörde die bestehenden

Beihilferegelungen nach Artikel 44 Absatz 1 Buchstabe d VE-BHÜG im Rahmen der

fortlaufenden Prüfung untersuchen. Da es die anderen Kategorien der bestehenden

Beihilferegelungen zu diesem Zeitpunkt noch nicht geben kann, wird nur auf den

Buchstaben d Bezug genommen.

Art. 57

Referendum und Inkrafttreten

Das BHÜG untersteht dem fakultativen Referendum. Der genaue Zeitpunkt des In-

krafttretens wird vom Bundesrat bestimmt. Es tritt aber spätestens fünf Jahre nach

Inkrafttreten des Beihilfeprotokolls-LuftVA, des Beihilfeprotokolls-LandVA [und

des Stromabkommens] in Kraft (s. Ziff. 2.2.5.4).

2.2.8

Änderung anderer Erlasse

2.2.8.1

Bundesgerichtsgesetz vom 17. Juni 2005

182

(BGG)

Art. 82 Bst. b

bis

BGG

Artikel 82 BGG regelt die Zulässigkeit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen An-

gelegenheiten. Vorgesehen sind zwei zulässige Anfechtungsobjekte (Entscheide und

kantonale Erlasse, Bst. a und b) sowie das besondere Rechtsgebiet der politischen

Rechte (Bst. c).

Um zu gewährleisten, dass die Überwachungsbehörde Beihilferegelungen und Ad-

hoc-Beihilfen in der Form von Erlassen von Verwaltungseinheiten des Bundes (bspw.

von Departementen oder Ämtern) auch vor Bundesgericht bringen kann, muss diese

Zulässigkeit breiter gefasst werden. Zwar wird das Bundesverwaltungsgericht als Vo-

rinstanz entscheiden, womit die Überwachungsbehörde formell gegen einen Ent-

182

SR

173.110

187 / 931

scheid des Bundesverwaltungsgerichts vorgehen wird. Jedoch bleibt auch die Be-

schwerde ans Bundesgericht ein Rechtsmittel gegen einen Erlass. Das Bundesgericht

hat dies in Bezug auf Rechtsmittel gegen Entscheide über kantonale Erlasse bereits

ausdrücklich so entschieden.

183

Eine Ad-hoc-Beihilfe in der Form eines Erlasses liegt grundsätzlich vor, wenn der

Vorteil bereits mit dem Inkrafttreten des Erlasses entsteht. Es ist keinerlei Umset-

zungsakt notwendig, das heisst auch keine technische Anwendung im Sinne einer

Umsetzungsbeihilfe (s. die Ausführungen zu Art. 2 Bst. d VE-BHÜG). Vorstellbar ist

die Aufhebung von Steuer- oder anderweitigen Schulden durch einen Rechtsatz, wo-

bei es aber auf die konkrete Ausgestaltung ankommen wird. Zu unterscheiden sind

die Erlasse mit Ad-hoc-Beihilfen von gesetzlichen Grundlagen für Ad-hoc-Beihilfen

in der Form von Verfügungen, öffentlich-rechtlichen Verträgen oder Realakten. Bei

Ersteren handelt es sich grundsätzlich um Erlasse, welche den anwendenden Beihil-

fegebern einen Ermessensspielraum geben (s. dazu auch die Ausführungen zum Be-

griff der Beihilferegelung in Art. 2 Bst. c VE-BHÜG).

Der Vorentwurf sieht deshalb eine Erweiterung der Anfechtungsobjekte mit der

Schaffung eines neuen Buchstaben b

bis

vor. Anfechtbar sind neu auch Erlasse des

Bundes, sofern sie eine Beihilferegelung oder eine Ad-hoc-Beihilfe enthalten. Um

eine mit der EU-Beihilfeüberwachung gleichwertige Überwachung sicherzustellen,

muss es Dritten möglich sein, eine gerichtliche Überprüfung von Beihilfen der Bun-

desversammlung und des Bundesrates auch in Form von Verordnungen zu erwirken,

weshalb diese von Buchstaben b

bis

mitumfasst sind. Es handelt sich dabei um eine

Ausnahme im Sinne von Artikel 189 Absatz 4 BV. Daneben werden insbesondere

auch Verordnungen der Departemente und der Ämter anfechtbar sein. Ausgenommen

bleiben einzig Verfassungsänderungen und Bundesgesetze.

Nicht erfasst von Buchstaben b

bis

sind hingegen Entscheide des Bundesverwaltungs-

gerichtes über Einzelakte der Bundesversammlung, mit welchen Beihilfen gewährt

werden. Diese sind analog zu Entscheiden über Verfügungen des Bundesrates von

Artikel 82 Buchstabe a BGG erfasst. Dementsprechend sollen auf die Einzelakte die

Bestimmungen der Verfügungen sinngemäss angewandt werden (s. dazu Art. 33

Abs. 2 VE-VGG). Es handelt sich deshalb grundsätzlich um Entscheide in einer An-

gelegenheit des öffentlichen Rechts. Ausschlaggebend ist diesbezüglich grundsätz-

lich, was vor dem Bundesverwaltungsgericht angefochten werden kann (s. Art. 31

a

VE-VGG).

184

Die Überwachungsbehörde kann gegen die von Buchstaben b

bis

erfassten Beihilfen

der Bundesversammlung sowie des Bundesrates keine Beschwerde ans Bundesgericht

erheben. Dies ergibt sich ausdrücklich aus Artikel 36 Absatz 2 VE-BHÜG. Eine sol-

che Beschwerde können nur Dritte erheben, wobei es sich in der Regel um Konkur-

renten oder potenzielle Beihilfeempfänger handeln wird (s. die Ausführungen zu Art.

40 VE-BHÜG). Für die Legitimation zu einer solchen abstrakten Normenkontrolle ist

die virtuelle Betroffenheit massgebend (s. die Ausführung zur Art. 37

a

VE-VGG).

183

BGE 149 I 81 E. 4.1; Urteil 2C_694/2021 vom 8. September 2023 E. 1.2 [nicht publiziert

in BGE 150 I 39].

184

S. dazu auch Bernhard Waldmann, in: Waldmann et al., Bundesverfassung Basler Kom-

mentar, Basel 2015, Art. 82 N 7.

188 / 931

Art. 83 Bst. k BGG

Entscheide betreffend Subventionen, auf die kein Anspruch besteht, können nicht vor

Bundesgericht angefochten werden. Ob ein Rechtsanspruch auf die Beihilfe oder nicht

besteht, darf aber keinen Unterschied machen für die Überprüfung beziehungsweise

das Beschwerderecht der Überwachungsbehörde bezüglich ihrer Zulässigkeit bezie-

hungsweise der Vereinbarkeit mit den beihilferechtlichen Bestimmungen der völker-

rechtlichen Verträge. Der Vorentwurf sieht hier deshalb eine Gegenausnahme vor,

damit die Überwachungsbehörde auch die Frage der Zulässigkeit von Beihilfen, auf

die kein Anspruch besteht, wo nötig, bis vor Bundesgericht ziehen kann. Damit wird

sichergestellt, dass das Bundesgericht die einheitliche Anwendung des Beihilferechts

schweizweit sicherstellen kann.

Art. 83 Bst. m BGG

Entscheide über die Stundung oder den Erlass von Abgaben können nach dem gelten-

den Recht nicht vor Bundesgericht angefochten werden. Werden solche Entscheide

im sachlichen Geltungsbereich des VE-BHÜG getroffen, können sie unter Umständen

eine Beihilfe darstellen. Ist dies der Fall, muss die Überwachungsbehörde das Recht

haben, den Entscheid bezüglich seiner Vereinbarkeit mit den beihilferechtlichen Best-

immungen der völkerrechtlichen Verträge nach Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG vor

Bundesgericht anzufechten. Der Vorentwurf sieht hier deshalb eine Gegenausnahme

vor. Nur so kann gewährleistet werden, dass das Bundesgericht die einheitliche An-

wendung des Beihilferechts schweizweit sicherstellt.

Art. 87 BGG

Die Sachüberschrift wird dahingehend präzisiert, dass die Anfechtung von kantonalen

Erlassen geregelt wird. Dies ist notwendig, da neu auch gewisse Erlasse des Bundes

angefochten werden können (s. Art. 82 Bst. b

bis

VE-BGG).

Art. 98a BGG

Für Beschwerden vor dem Bundesgericht gelten grundsätzlich die Rügegründe nach

Artikel 95 BGG. Diese sind jedoch nicht auf die Anfechtung von Erlassen des Bundes

ausgerichtet. Entsprechend wird ein neuer Artikel 98

a

eingefügt, der dieser neuen An-

fechtungsmöglichkeit Rechnung trägt. Handelt es sich um Erlasse eines Departe-

ments, eines Bundesamtes oder einer weiteren Verwaltungseinheit, kann die Verlet-

zung von übergeordnetem Bundesrecht (namentlich von Bundesgesetzen oder der

Verfassung) oder Völkerrecht gerügt werden. Diese Einschränkung ergibt sich grund-

sätzlich bereits aus der Hierarchie der Normen, soll aber ausdrücklich auch für das

bundesgerichtliche Verfahren klargestellt werden (s. dazu auch Art. 37

b

VE-VGG).

Aus dem Geltungsbereich des VE-BHÜG ergibt sich, dass die Überwachungsbehörde

im Rahmen einer Behördenbeschwerde nur eine Verletzung der beihilferechtlichen

Bestimmungen der völkerrechtlichen Verträge rügen kann (s. Ausführungen zu Art. 4

VE-BHÜG).

189 / 931

Handelt es sich um eine Beschwerde von potenziellen Beihilfeempfängern oder von

Dritten, wie zum Beispiel möglichen Konkurrenten, gegen eine Verordnung der Bun-

desversammlung oder des Bundesrates, kann nach Absatz 2 nur die Unzulässigkeit

der Beihilfe gerügt werden. Diese Einschränkung der Rügegründe ist aufgrund der

Gewaltenteilung sinnvoll. Akte der Bundesversammlung oder des Bundesrats sollen

nur in Ausnahmefällen und im notwendigen Umfang vom Bundesgericht überprüft

werden können (Art. 189 Abs. 4 BV).

185

Für die Überwachungsbehörde wird Ab-

satz 2 hingegen nicht zur Anwendung gelangen, da sie Verordnungen der Bundesver-

sammlung und des Bundesrates nicht anfechten kann (s. Art. 36 Abs. 2 VE-BHÜG).

Art. 103 Abs. 2 Bst. e BGG

Im Verfahren vor Bundesgericht gilt der Grundsatz, dass Beschwerden keine auf-

schiebende Wirkung haben (Art. 103 Abs. 1 BGG). Die Beschwerde der Überwa-

chungsbehörde soll hingegen aufschiebende Wirkung haben. Beihilfen in der Form

von Verfügungen und Erlassen sollen grundsätzlich erst wirksam werden, wenn sie in

Rechtskraft erwachsen beziehungsweise in Kraft getreten sind (s. Art. 39 VE-BHÜG).

Entsprechend wird in Artikel 103 Absatz 2 ein neuer Buchstabe e eingefügt. Die auf-

schiebende Wirkung soll auch vor Bundesgericht von Gesetzes wegen gelten in Ver-

fahren, die von der Überwachungsbehörde auf dem Gebiet der Beihilfeüberwachung

geführt werden. Keine aufschiebende Wirkung von Gesetzes wegen haben hingegen

Beschwerden von Beihilfeempfängern oder Konkurrenten. Die aufschiebende Wir-

kung soll die Gewährung von unzulässigen Beihilfen verhindern. Sie ist entsprechend

nicht notwendig, wenn ein Beihilfeempfänger einen Entscheid anficht, der die Bei-

hilfe als unzulässig beurteilt oder wenn die Überwachungsbehörde auf eine Be-

schwerde verzichtet und «nur» ein Konkurrent Beschwerde erhebt.

Die ausdrückliche Regelung im BGG ist angesichts der Wichtigkeit der aufschieben-

den Wirkung für die Beihilfeüberwachung notwendig. Zudem erlaubt dies eine An-

knüpfung am System des BGG. Dem Instruktionsrichter oder der Instruktionsrichterin

soll es möglich sein, nach Artikel 103 Absatz 3 BGG eine andere Anordnung zu tref-

fen, das heisst im Ausnahmefall die aufschiebende Wirkung zu entziehen.

186

2.2.8.2

Verwaltungsgerichtsgesetz vom 17. Juni 2005

187

(VGG)

Art. 31a

Beschwerdeobjekte auf dem Gebiet der Beihilfeüberwachung

In Artikel 31VGG wird geregelt, welche Beschwerden das Bundesverwaltungsgericht

beurteilt. Das aktuelle Recht sieht eine Beschränkung auf Beschwerden gegen Verfü-

gungen nach Artikel 5 VwVG vor. Dies schliesst Beschwerden gegen Erlasse oder

gegen Einzelakte der Bundesversammlung aus. Damit solche Beschwerden in Zu-

kunft möglich sind, muss die Zulässigkeit der Beschwerde erweitert werden. Der Vor-

185

Vgl. dazu Botschaft über eine neue Bundesverfassung vom 20. November 1996, BBl 1997

I 1, hier 532 sowie Johannes Reich in: Ehrenzeller et al. (Hrsg.), Bundesverfassung St.

Galler Kommentar, 4. A., Zürich/St. Gallen 2023, Art. 189 Rz. 44 m.w.H. und Rz. 50.

186

Vgl. dazu Ausführungen zu Art. 42 VE-BHÜG.

187

SR

173.32

190 / 931

entwurf ergänzt deshalb mit Artikel 31

a

VE-VGG die zwei fehlenden Anfechtungs-

objekte: Erlasse des Bundes mit Beihilferegelungen oder Ad-hoc-Beihilfen (Bst. a)

und Einzelakte der Bundesversammlung (Bst. b).

Buchstabe a stellt sicher, dass die Überwachungsbehörde und andere Beschwerdebe-

rechtigte nicht nur gegen Beihilfen in Form von Verfügungen, sondern auch in der

Form von Erlassen vorgehen können. Es muss sich bei Letzteren um Beihilferegelun-

gen oder Ad-hoc-Beihilfen in der Form von Erlassen handeln (s. zum Begriff Art. 2

Bst. d VE-BHÜG sowie die Ausführungen zu Art. 82 Bst. b

bis

VE-BGG). Anfech-

tungsobjekt und damit auch Verfahrensgegenstand ist jeweils nicht der gesamte Er-

lass, sondern nur diejenigen Bestimmungen, welche die Beihilferegelung oder die Ad-

Hoc-Beihilfe darstellen.

Soweit es sich bei den Erlassen um Verordnungen der Bundesversammlung oder des

Bundesrates handelt, wird hiermit eine Ausnahme nach Artikel 189 Absatz 4 BV vor-

gesehen. Davon ausgenommen bleiben Verfassungsänderungen und Bundesgesetze

(s. auch Art. 82 Bst. b

bis

VE-BGG).

Buchstabe b sieht den Einzelakt der Bundesversammlung ausdrücklich als Anfech-

tungsobjekt vor. Die Bundesversammlung kann keine Verfügungen im Sinne von Ar-

tikel 5 VwVG erlassen (s. Art. 1 Abs. 2 Bst. b VwVG e contrario). Sie kennt nur die

Handlungsform des Erlasses oder des Bundesbeschlusses (Art. 163 BV). Die Verfas-

sung erlaubt jedoch, dass ein Bundesgesetz der Bundesversammlung die Entschei-

dung über Einzelakte überträgt (Art. 173 Abs. 1 Bst. h BV). In ausserordentlichen

Umständen ist es zudem möglich, dass die Bundesversammlung individuell-konkrete

Einzelakte in der Form von Bundesbeschlüssen erlässt (Art. 173 Abs. 1 Bst. c BV und

Art. 29 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 2002

188

). Typische Anwendungs-

fälle solcher Einzelakte sind Subventionen, die in ausserordentlichen Situationen aus

Billigkeitsgründen ausgerichtet werden sollen, aber keine gesetzliche Grundlage ha-

ben. Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, dass zukünftig auch eine Beihilfe durch ei-

nen Einzelakt der Bundesversammlung gewährt werden könnte.

189

Entsprechend

muss auch der Rechtsschutz sichergestellt werden, um die Gleichwertigkeit mit dem

Beihilfeüberwachungssystem der EU garantieren zu können. Beschwerde führen kön-

nen allerdings nur Dritte, nicht aber die Überwachungsbehörde (s. Art. 36 Abs. 2 VE-

BHÜG).

Zwar regelt Artikel 40 VE-BHÜG, dass die für die Verfügung geltenden Regeln zur

Anwendung kommen, weshalb es möglich ist, dass Einzelakte der Bundesversamm-

lung bereits unter Artikel 31 VGG fallen. Die Anfechtungsobjekte im VGG werden

dennoch ergänzt, damit auch aus diesem Verfahrenserlass hervorgeht, dass beihilfe-

gewährende Einzelakte der Bundesversammlung anfechtbar sind (s. zudem die Aus-

führungen zu Art. 40 VE-BHÜG).

188

SR

171.10

189

Vgl. bspw. Bundesbeschluss über die finanzielle Beteiligung des Bundes an der Stillle-

gung des Versuchsatomkraftwerks Lucens VD vom 13.12.1991, BBl

1991

1108 oder Bun-

desgesetz über die Sanierung der Compagnie des Chemins de fer fribourgeois (GFM) vom

23.06.2000, AS

2001

132, das heute aufgrund von Art. 22 Abs. 4 ParlG grundsätzlich in

der Form des Bundesbeschlusses erfolgen müsste; vgl. auch zum Ganzen Luzian Oder-

matt/Esther Tophinke, in: Graf/Caroni (Hrsg.); Kommentar zum Parlamentsgesetz, 2. A.,

Basel 2024, Art. 29 N 13 f. m.w.H.

191 / 931

Der Geltungsbereich von Art. 31

a

VE-VGG ist in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt:

Zunächst besteht auf Bundesebene keine abstrakte Beschwerdemöglichkeit, wenn der

Erlass lediglich eine gesetzliche Grundlage für Ad-hoc-Beihilfen in der Form von

Verfügungen, öffentlich-rechtlichen Verträgen oder Realakten schafft. Es handelt sich

diesfalls beim Erlass noch nicht um die eigentliche Beihilfe beziehungsweise diese

wird noch nicht gewährt. Die Abgrenzung kann im Einzelfall zu Schwierigkeiten füh-

ren und muss sich in der Schweizer Rechtspraxis erst etablieren. Weiter sind nur po-

tenzielle Beihilfeempfänger oder Dritte, wie zum Beispiel mögliche Konkurrenten,

legitimiert gegen Beihilfen in der Form von Verordnungen der Bundesversammlung

und des Bundesrates Beschwerde zu erheben (s. die Ausführungen zu Art. 40 VE-

BHÜG). Für die Überwachungsbehörde ist eine entsprechende Beschwerde ausge-

schlossen (s. Art. 36 Abs. 2 VE-BHÜG). Auch für Dritte bleibt eine Beschwerde ge-

gen Bundesgesetze und gegen Verfassungsänderungen ausgeschlossen. Erfasst wer-

den auch hier nur Erlasse mit Beihilferegelungen oder Ad-hoc-Beihilfen und nicht

Erlasse, welche die rechtliche Grundlage für Ad-hoc-Beihilfen schaffen (s. auch die

Ausführungen zu Art. 82 Bst. b

bis

VE-BGG).

Schliesslich können Beihilfen in anderer Form, das heisst öffentlich-rechtliche Ver-

träge oder Realakte, nicht direkt mit Beschwerde angefochten werden. Die Überwa-

chungsbehörde kann nach dem Verfahren auf Erlass einer Verfügung vorgehen (s.

Art. 26 VE-BHÜG).

Zuletzt ist eine Abgrenzung zu kantonalen Beihilfen vorzunehmen. Anfechtungsob-

jekt einer Beschwerde nach Artikel 31

a

VE-VGG sind nur Beihilfen des Bundes. Die

Überwachungsbehörde muss Beihilfen von kantonalen Beihilfegebern nach dem an-

wendbaren kantonalen Verfahrensrecht anfechten und somit auf dem kantonalen

Rechtsweg. Dies entspricht der üblichen Ausgestaltung der Rechtswege und wahrt die

Autonomie der Kantone. Es gibt den Kantonen die Möglichkeit ihre eigene Praxis zu

überprüfen und wo nötig selbst zu korrigieren.

Art. 33

Die Erweiterung der Beschwerdeobjekte führt dazu, dass auch die zulässigen Vo-

rinstanzen in Artikel 33 VGG ergänzt werden müssen. Da es nicht nur um Verfügun-

gen des Bundesrates geht, sondern auch um Verordnungen, das heisst Erlasse, ergänzt

der Vorentwurf den bestehenden Buchstaben b

190

und sieht daneben einen neuen Ab-

satz 2 vor. Dieser hält ausdrücklich fest, dass die Beschwerde zulässig ist gegen Ver-

ordnungen der Vorinstanzen nach Absatz 1, das heisst insbesondere des Bundesrates.

Es handelt sich dabei um eine gesetzliche Ausnahme im Sinne von Artikel 189 Ab-

satz 4 BV.

Zusätzlich wird mit Absatz 2 Buchstabe b sichergestellt, dass auch Einzelakte und

Verordnungen der Bundesversammlung, durch welche Beihilfen gewährt werden, mit

Beschwerde von Dritten angefochten werden können. Ausgenommen bleiben Bun-

desgesetze und Verfassungsänderungen (s. auch Art. 82 Bst. b

bis

VE-BGG sowie

190

Die exakte Formulierung des Buchstabens muss mit der Teilrevision des BGG koordiniert

werden (vgl. Vernehmlassung 2024/36 vom 6. Dez. 2024).

192 / 931

Art. 4 Abs. 3 und 4 der Beihilfeprotokolle und Artikel 14 Abs. 3 und 4 des Stromab-

kommens).

Art. 37 Abs. 2

Der VE-BHÜG sieht vor, dass auch Beihilfen der Bundesversammlung angefochten

werden können. Es handelt sich dabei um eine gesetzliche Ausnahme gemäss Arti-

kel 189 Absatz 4 BV. Ausgenommen sind Verfassungsänderungen und Bundesge-

setze (s. auch Art. 31

a

und 33 Abs. 2 VE-VGG).

Auf das Beschwerdeverfahren gegen Einzelakte sollen die Bestimmungen für Verfü-

gungen sinngemäss angewandt werden, da sie grundsätzlich verfügungsähnlich sind

und ein ähnliches Rechtsschutzbedürfnis wie bei Verfügungen besteht. Das bedeutet

insbesondere die analoge Anwendung von Artikel 47 ff. VwVG. In Bezug auf den

Rügegrund der Unangemessenheit nach Artikel 49 Buchstaben c VwVG werden die

Gerichte berücksichtigen müssen, dass es sich um einen Akt der Bundesversammlung

handelt und sich, soweit es sich um politische Entscheide handelt sowie aus Überle-

gungen der Gewaltenteilung, Zurückhaltung auferlegen.

191

Die Beschwerdefrist für

die Anfechtung von Einzelakten wird folglich sinngemäss nach Artikel 50 VwVG be-

rechnet. Anstelle der Eröffnung der Verfügung wird hier jedoch auf die Publikation

des Einzelakts abzustellen sein. Im Hinblick darauf wird die Bundesversammlung

Bundesbeschlüsse, welche Beihilfen gewähren, in Anwendung von Artikel 2 Buch-

staben f und h des Publikationsgesetzes vom 18. Juni 2004 (PublG)

192

publizieren

müssen. Nach diesen Bestimmungen werden Bundesbeschlüsse bereits heute publi-

ziert, wenn sie dem Referendum unterstehen oder wenn es die Bundesversammlung

so beschliesst (vgl. Art. 2 Bst. f und h PublG). Sollte ein Bundesbeschluss, welcher

eine Beihilfe gewährt, nicht publiziert werden, so stellt dies grundsätzlich einen ver-

fahrensrechtlichen Mangel dar, woraus dem Beschwerdeführer oder der Beschwerde-

führerin keine Nachteile erwachsen dürfen (s. auch Art. 38 VwVG und Art. 49 BGG).

Art. 37a

Beschwerdelegitimation bei Erlassanfechtung auf dem Gebiet der Beihilfe-

überwachung

Die Beschwerdelegitimation für Beschwerden vor dem Bundesverwaltungsgericht ist

in Artikel 48 VwVG in Verbindung mit Artikel 37 VGG geregelt. Daraus ergibt sich

jedoch nur die Legitimation für Beschwerdeverfahren gegen Verfügungen. Eine spe-

zielle Bestimmung zur Legitimation für Beschwerden gegen Erlasse fehlt im VwVG,

welches auf Verfügungen ausgelegt ist. Artikel 37

a

VGG füllt diese Lücke für Bei-

hilferegelungen und Ad-hoc-Beihilfen des Bundes in der Form von Erlassen (Art. 31

a

VE-VGG). Die weiteren Bestimmungen zum Beschwerdeverfahren des VwVG

(Art. 44 ff.) sind aber grundsätzlich auch bei den Beschwerden gegen Bundeserlasse

anwendbar über den Verweis in Artikel 37 VGG beziehungsweise Artikel 40 VE-

BHÜG.

Die Überwachungsbehörde kann sich für ihre Legitimation zur Beschwerde an das

Bundesverwaltungsgericht auf die Artikel 36 oder 37 VE-BHÜG in Verbindung mit

191

S. bspw. in Bezug auf Akte des Bundesrates BGE 147 IV 439 E. 3.3.1; 130 I 26 E. 2.2;

129 II 193 E. 5.1; Urteil A-6086/2010 vom 16. Juni 2011 E. 6.1.

192

SR

170.512

193 / 931

Artikel 37

a

VE-VGG stützen. Artikel 37

a

regelt aber insbesondere auch die Be-

schwerdelegitimation von Dritten, das heisst der potenziellen Beihilfeempfänger und

deren Konkurrenten, soweit sie Erlasse des Bundes anfechten.

Die Legitimation gemäss Artikel 37

a

VE-VGG setzt voraus, dass die Beschwerdefüh-

rerin oder der Beschwerdeführer durch den Erlass besonders berührt ist und ein

schutzwürdiges Interesse an dessen Aufhebung hat. Die Legitimation nach Arti-

kel 37

a

VE-VGG vor dem Bundesverwaltungsgericht soll grundsätzlich derjenigen

vor dem Bundesgericht nach Artikel 89 Absatz 1 Buchstabe b BGG entsprechen.

193

Um besonders berührt zu sein, genügt zwar ein aktuelles oder virtuelles Berührtsein.

Vorausgesetzt ist aber, dass die Beschwerdeführerin oder der Beschwerdeführer von

der angefochtenen Regelung früher oder später einmal mit einer minimalen Wahr-

scheinlichkeit unmittelbar betroffen ist. Dies kann bei Beihilferegelungen oder Ad-

hoc-Beihilfen grundsätzlich nur auf potenzielle Beihilfeempfänger sowie je nach Aus-

gestaltung der Reglung mögliche nicht berücksichtigte Konkurrenten zutreffen. In der

Regel werden nur diese sich darauf berufen können, dass die in Frage stehende Bei-

hilferegelung oder die Ad-hoc-Beihilfe auf sie angewandt werden könnte beziehungs-

weise sie gerade ausschliessen würde (s. dazu auch die Ausführungen zu Art. 21 VE-

BHÜG). Bei der Anfechtung eines Erlasses, so insbesondere bei einer generellen Bei-

hilferegelung, wird häufig noch nicht mit Sicherheit gesagt werden können, ob ein

betroffenes Unternehmen nun Beihilfeempfänger oder ausgeschlossener Konkurrent

sein wird. In beiden Fällen muss aber das Unternehmen eine virtuelle Betroffenheit

geltend machen können.

Art. 37b

Beschwerdegründe bei Erlassanfechtung auf dem Gebiet der

Beihilfeüberwachung

Die Beschwerdegründe für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsge-

richt ergeben sich aus Artikel 49 VwVG in Verbindung mit Artikel 37 VGG. Auch

hier fehlt eine Regelung für Beschwerden gegen Erlasse im Sinne einer abstrakten

Normenkontrolle. Aus diesem Grund wird ein neuer Artikel 37

b

eingefügt, der die

möglichen Rügen festlegt.

Die Überwachungsbehörde oder Konkurrenten können die Verletzung von überge-

ordnetem Bundesrecht und Völkerrecht rügen. Da sich die Beschwerde gegen Ver-

ordnungen von Departementen, Ämtern oder weiteren untergeordneten Verwaltungs-

einheiten richtet, beinhaltet dies grundsätzlich Verordnungen des Bundesrates,

Bundesgesetze, die Bundesverfassung und Völkerrecht. Anders als bei Beschwerden

gegen Verfügungen soll die Unangemessenheit nicht gerügt werden können.

Für die Beschwerde der Überwachungsbehörde ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass

es sich dabei um eine Behördenbeschwerde handelt. Sie wird grundsätzlich nur Rügen

im Zusammenhang mit ihren gesetzlichen Aufgaben vorbringen. Das heisst mit dem

Zweck die einheitliche und korrekte Anwendung des BHÜG und der beihilferechtli-

chen Bestimmungen der völkerrechtlichen Abkommen sicherzustellen.

193

Vgl. BGE 136 I 49 E. 2.1.

194 / 931

Bei Beschwerden Dritter gegen eine Beihilfe in der Form von Verordnungen der Bun-

desversammlung sowie des Bundesrats, sind die Rügegründe eingeschränkt. Sie kön-

nen diesfalls nur die Unvereinbarkeit der Beihilfe mit den beihilferechtlichen Bestim-

mungen der völkerrechtlichen Verträge rügen. Diese Einschränkung ist Folge der

Gewaltenteilung. Akte der Bundesversammlung und des Bundesrates sollen nur in

Ausnahmefällen und im notwendigen Umfang von einem Bundesgericht überprüft

werden können (Art. 189 Abs. 4 BV; s. auch die Ausführungen zur Art. 98

a

VE-

BGG).

194

Dies gilt im Besonderen für die Erlasse. Handelt es sich um Verfügungen

oder Einzelakte der Bundesversammlung, ist es hingegen gerechtfertigt, die Rechts-

weggarantie (Art. 29

a

BV) höher zu gewichten und keine Einschränkung der Rüge-

gründe vorzusehen. Dies entspricht auch der bisherigen Konzeption des VGG, wo für

die bereits anfechtbaren Verfügungen des Bundesrates und der Organe der Bundes-

versammlung (Art. 33 Bst. a und b VGG) keine eingeschränkten Rügegründe vorge-

sehen sind.

Art. 37c

Beschwerdefrist bei Erlassanfechtung auf dem Gebiet der Beihilfeüberwa-

chung

Die Beschwerdefrist nach Artikel 50 Absatz 1 VwVG kann nicht auf die Anfechtung

von Erlassen des Bundes angewendet werden. Artikel 37

c

VE-VGG regelt deshalb

neu den Beginn und die Dauer der Beschwerdefrist für den Fall einer Erlassanfech-

tung. Es wird dabei an die Regelung von Artikel 101 BGG angeknüpft. Die massge-

bende Veröffentlichung richtet sich dabei nach dem Publikationsgesetz. Verordnun-

gen des Bundesrates und der Bundesversammlung sowie Erlasse von weiteren

Verwaltungseinheiten des Bundes werden mindestens fünf Tage vor dem Inkrafttre-

ten veröffentlicht (s. Art. 7 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Bst. c, d und e PublG).

2.2.8.3

Kartellgesetz vom 6. Oktober 1995

195

(KG)

Art. 18 Abs. 2

Mit der Schaffung der separaten Beihilfekammer werden zwei weitere Personen Mit-

glieder der Wettbewerbskommission, die jedoch mit der Ausnahme der Sitzungen der

Beihilfekammer nicht an den restlichen Sitzungen der Wettbewerbskommission teil-

nehmen (s. Erläuterungen zu Art. 3 VE-BHÜG in Ziff. 2.2.7). Entsprechend gilt es

Artikel 18 Absatz 2 anzupassen, sodass diese beiden Mitglieder der Beihilfekammer

zusätzlich zur vorgegebenen Anzahl der Mitglieder gezählt werden. Die vorgegebene

Anzahl wird in Übereinstimmung mit der parallel laufenden Reform der Wettbe-

werbsbehörden auf fünf bis sieben Mitglieder plus die zwei zusätzlichen Mitglieder

der Beihilfekammer festgelegt. Falls die Reform der Wettbewerbsbehörden nicht an-

genommen werden sollte, müsste im vorliegenden Satz die Anzahl Mitglieder von

fünf bis sieben auf den bisherigen Stand von elf bis 15 angepasst werden.

194

Vgl. dazu Botschaft über eine neue Bundesverfassung vom 20. November 1996 I, 1 ff.,

532 sowie Johannes Reich in: Ehrenzeller et al., Bundesverfassung St. Galler Kommentar,

4. A. 2023, Rz. 44 m.w.H. und Rz. 50.

195

SR

251

195 / 931

2.2.8.4

Luftfahrtgesetz vom 21. Dezember 1948

196

Art. 103

Das bisher in Artikel 103 LFG vorgesehene Verfahren für die Überprüfung von Bei-

hilfen im Bereich des Luftverkehrs wird mit dem Abschluss der 5-jährigen Über-

gangsphase neu im VE-BHÜG für alle betroffenen Binnenmarktabkommen und damit

auch für den Bereich Luftverkehr geregelt. Folglich kann Artikel 103 LFG mit dem

Inkrafttreten des BHÜG aufgehoben werden (s. auch Ziff. 2.2.9).

2.2.8.5

Preisüberwachungsgesetz vom 20. Dezember 1985

197

(PüG)

Art. 5 Abs. 2

Beihilfen sind vom Geltungsbereich des PüG nicht erfasst. Wäre die Beihilfeüberwa-

chung einer anderen Aufsichtsbehörde als der Wettbewerbskommission zugeteilt, be-

stünde auch für den Preisüberwacher kein Anspruch auf Sitzungsteilnahme mit bera-

tender Stimme. Deshalb wird der Preisüberwacher an den entsprechenden Sitzungen

der Beihilfekammer nicht teilnehmen.

2.2.9

Zwischenzeitliche Änderung des Luftfahrtgesetzes

Mit dem Inkrafttreten des Pakets Schweiz–EU wird der Artikel 13 des LuftVA aufge-

hoben, welcher als Grundlage für die bisherige Beihilfeüberwachung im Luftver-

kehrsbereich gilt (s. Ziff. 2.6.6.3). Entsprechend soll der dazugehörige Artikel 103

Absatz 1 LFG, welcher sich bislang auf Artikel 13 des LuftVA stützt, neu auf die ma-

teriellrechtlichen Verpflichtungen nach Artikel 3 des Beihilfeprotokolls-LuftVA ver-

weisen. Sobald das neue Überwachungsverfahren innert der fünfjährigen Übergangs-

frist aufgebaut wird, wird die Grundlage für die Überwachung im Luftverkehrsbereich

durch das BHÜG ersetzt und der Artikel 103 LFG wird aufgehoben (vgl.

Ziff. 2.2.8.4).

Diese Anpassung erfolgt in einem separaten Änderungserlass. Ansonsten bleibt Arti-

kel 103 LFG und somit auch das Verfahren der Beihilfeüberwachung bis zum Inkraft-

treten des BHÜG unverändert.

2.2.10

Auswirkungen des Paketelements

Um die Auswirkungen der Einführung der Beihilfeüberwachung für die Schweiz ein-

zuschätzen, muss die erwartete Anzahl an künftigen, neuen Beihilfefällen beziffert

werden. In Anlehnung an die Erfahrungswerte der EU und ihrer Mitgliedsstaaten ist

langfristig im Schweizer Beihilfeüberwachungsverfahren jährlich mit rund fünf anzu-

meldenden Beihilfevorhaben zu rechnen, welche einer einfachen Prüfung nach Arti-

kel 14 VE-BHÜG unterstehen werden. Zudem werden weitere fünf AGVO-Beihilfen

nach Artikel 25 Absatz 1 VE-BHÜG sowie eine vertiefte Prüfung nach Artikel 16

VE-BHÜG erwartet. Diese Zahlen könnten aufgrund des eingeschränkten Geltungs-

bereichs der betroffenen Binnenmarktabkommen niedriger ausfallen. Gleichzeitig

196

SR

748.0

197

SR

942.20

196 / 931

könnte etwa der fragmentierte Schweizer Strommarkt oder die föderalistische Orga-

nisationsstruktur der Schweiz die Anzahl der Fälle erhöhen. Auch die Tatsache, dass

die unverbindliche Beratung im Gegensatz zur EU kostenpflichtig ist, könnte die An-

zahl der Verfahren erhöhen.

Die Schätzungen basieren auf ersten Berechnungen und qualitativen Analysen inklu-

sive einem Quick-Check und werden während der Vernehmlassung weiter geprüft.

Zu Beginn der Systemeinführung könnten vermehrt Prüfungsverfahren stattfinden.

Beispielsweise führte Kroatien zehn Jahre vor ihrem EU-Beitritt bereits eine eigene

Beihilfeüberwachung durch ihre Wettbewerbsbehörde ein. Insbesondere in den ersten

Jahren wurden zahlreiche Beihilfen im Landverkehrsbereich gemeldet (was mit der

parallelen, unabhängig stattfindenden Modernisierung zusammenhing).

198

Zudem

wurden für Kroatien fünf der sieben bisherigen Prüfungen in den drei Sektoren wäh-

rend der ersten vier Jahre seit dem EU-Beitritt im Jahr 2013 durchgeführt. Ein solcher

Ballungseffekt war hingegen für Bulgarien und Rumänien nach ihren Beitritten im

Jahr 2007 in Bezug auf die drei Sektoren nicht ersichtlich.

2.2.10.1

Auswirkungen auf den Bund

Die folgenden Einschätzungen basieren auf der Annahme, dass das Paket Schweiz–

EU im Jahr 2028 in Kraft treten wird. Die 5-jährige Übergangsphase würde dann die

Jahre 2028-2032 erfassen. Die Schweizer Beihilfeüberwachung würde mit dem In-

krafttreten des BHÜG, das heisst fünf Jahre nach der Ratifizierung der völkerrechtli-

chen Verträge nach Artikel 1 Absatz 2 VE-BHÜG (s. Art. 56 Abs. 3 VE-BHÜG), ab

dem Jahr 2033 funktionieren.

198

Annual Report on State Aid 2008, Croatian Competition Authority. Abrufbar unter:

www.aztn.hr > About Us > Annual reports.

197 / 931

Tabelle 2.2.10.1 (1): Geschätzter Ressourcenbedarf zur Umsetzung der Beihilfe-

überwachung für den Bund

Übergangsphase

2028-

2030

2031 2032

2033

2034

Ab

2035

Personal-

aufwand

(in VZÄ-

Stellen)

SECO

- System-

einführung

2/Jahr

2

2

- Nationale

Kompetenz-

stelle

1

1

1

WEKO

- Beihilfeüber-

wachung

1.5

1.5

5.5

5.5

5.5

- Beratung

4.5*

4.5*

3*

Insgesamt

2/Jahr

3.5

3.5

11*

11*

9.5*

Sachauf-

wand (in

1 000

Franken)

WEKO

- Datenbank

250

250

100

100

100

- Parteientschä-

digungen

100

100

100

Insgesamt

--

250

250

200

200

200

*2/3 des Beratungsaufwands wird über Gebühren durch die kantonalen Beihilfegeber,

das verbleibende Drittel auf Bundesebene durch intern kompensierte Kreditverschie-

bung von den federführenden Verwaltungseinheiten an die WEKO finanziert.

Neben den positiven, indirekten Auswirkungen über ökonomische Effekte (s.

Ziff. 2.2.10.3) wird die Einführung einer Beihilfeüberwachung zu zusätzlichem Auf-

wand für den Bund führen. Dieser wird insbesondere bei der WEKO, die für die Prü-

fung der Beihilfen verantwortlich sein wird, anfallen. Insgesamt ist auf Bundesebene

mit Einführungskosten von 500 000 Franken in den Jahren 2031 und 2032 zu rechnen.

Dauerhaft werden jährliche Ausgaben von 200 000 Franken erwartet. Im Übergang

werden in der WEKO und im SECO zudem zwischen zwei und elf VZÄ-Stellen sowie

ab 2035 neuneinhalb VZÄ-Stellen geschaffen.

Die WEKO überwacht zwar bereits Beihilfen im Geltungsbereich des LuftVA. Das

neue Verfahren wird jedoch aufgrund der sektoriellen Ausweitung und der eingeführ-

ten Anmelde- und Beschwerdepflichten (s. Erläuterungen in Ziff. 2.2.7 zu Art. 6 und

Art. 37 VE-BHÜG) zu neuen Bundesausgaben führen. Insgesamt ist mit einer dauer-

haften Personalerhöhung von siebeneinhalb Vollzeitäquivalenten im Sekretariat der

Wettbewerbskommission sowie einer Vollzeitäquivalenten in der Beihilfekammer zu

rechnen. Zwei VZÄ-Stellen werden über die kostenpflichtige Beratung durch die kan-

tonalen Beihilfegeber über Gebühreneinnahmen finanziert (s. Art. 5 VE-BHÜG). Die

Beratungskosten könnten insbesondere in den ersten Jahren nach der Einführung des

198 / 931

neuen Überwachungsverfahrens höher ausfallen, weshalb mit drei weiteren temporä-

ren VZÄ-Stellen verteilt über die ersten beide Jahre nach der Einführung (2033 und

2034) zu rechnen ist. Weitere Ausgaben können aufgrund allfälliger Parteientschädi-

gungen [

Bundesbehörden dürfen hingegen grundsätzlich keine Gerichtskosten aufer-

legt werden, wenn sie ihre spezialgesetzliche vorgesehene Aufsichtsfunktion ausüben

(BGE 148 II 369, E. 3).

] und der Datenbank-Betreuung (s. Art. 51 VE-BHÜG) entste-

hen.

Es ist mit zusätzlichen, einmaligen Ausgaben im Zusammenhang mit dem Aufbau der

Überwachungsbehörde zu rechnen. Mit Inkrafttreten des BHÜG muss die neue Über-

wachungsbehörde einsatzbereit sein. Dies bedeutet, dass die WEKO zwei Jahre vor

Inkrafttreten die für den Aufbau der Überwachungsbehörde beziehungsweise für die

Sicherstellung ihrer Einsatzbereitschaft ab Tag 1 notwendigen Ressourcen benötigt.

Damit ist in einem ersten Schritt der Wissens- und Kompetenzaufbau im Beihilferecht

innerhalb der Behörde sicherzustellen, der gegenwärtig nicht in genügendem Aus-

mass vorhanden ist. Dies gilt insbesondere in Bezug auf das sektorspezifische Recht

und die entsprechende Praxis in den Bereichen Strom und Landverkehr, die zukünftig

neu der Beihilfeprüfung unterliegen werden. Gleichzeitig sind die konkrete Organisa-

tion beziehungsweise die damit zusammenhängenden Prozess- und Organisationsab-

läufe vorzubereiten. Schliesslich sind der Aufbau und die Inbetriebnahme einer Da-

tenbank sicherzustellen. Für die genannten Vorbereitungsarbeiten werden bei der

WEKO eineinhalb VZÄ-Stellen während einer Vorbereitungsphase von zwei Jahren

vor Inkrafttreten vorgesehen.

Es ist mit gewissem Mehraufwand auch für Beihilfegeber auf Bundesebene zu rech-

nen, welche ihre Beihilfen anmelden, allenfalls nach der Stellungnahme der Überwa-

chungsbehörde anpassen, mitteilen und sich bei einem gerichtlichen Verfahren betei-

ligen würden. Dieser Mehraufwand könnte aber auch dazu führen, dass

Beihilfevorhaben nur dann in Angriff genommen werden, wenn ein echtes öffentli-

ches Interesse besteht und insgesamt somit weniger Beihilfen als bisher gewährt wer-

den, was die öffentlichen Haushalte entlasten würde. Zudem sind die Verwaltungsbe-

hörden des Bundes im Verlauf der Prüfung als Beihilfegeber nach Artikel 22 Absatz

1 VE-BHÜG sowie im Rahmen der Amtshilfe nach Artikel 3 Absatz 4 VE-BHÜG zu

Auskünften bei Verfahren der Überwachungsbehörde verpflichtet. Auch die allfällige

Anpassung bestehender Beihilferegelungen nach Artikel 47 Absatz 2 VE-BHÜG

kann zusätzlichen Aufwand für die Bundesbehörden verursachen. Aufgrund mögli-

cher Beschwerdeverfahren nach dem 5. Kapitel VE-BHÜG könnte auch ein gewisser

Mehraufwand für das Bundes- und Bundesverwaltungsgericht entstehen. Da jährlich

insgesamt auf Bundes- und kantonaler Ebene mit rund fünf Untersuchungen zu rech-

nen ist (s. Ziff. 2.2.10), sind diese Mehrkosten breit verteilt und fallen damit bei un-

terschiedlichen Stellen an. Deshalb werden auf Bundesebene diese Mehrkosten im

Rahmen der bestehenden Ressourcen finanziert.

Schliesslich soll auf Verordnungsstufe eine nationale Kompetenzstelle im SECO ein-

gerichtet werden, welche die Arbeiten zu beihilferechtlicher Gesetzgebung sowie den

internationalen Austausch im Kontext beihilferechtlicher Entwicklungen verantwor-

tet. Dies wird mit einer Vollzeitäquivalenten-Stelle ab dem Jahr 2033 abgedeckt. Im

Rahmen der Systemeinführung ist zudem im federführenden SECO mit erheblichem

199 / 931

Mehraufwand in der fünfjährigen Übergangsphase zu rechnen. Dies betrifft insbeson-

dere die Ausarbeitung der dazugehörigen Verordnung(en) (s. Ziff. 2.2.6.5) sowie Ko-

ordinationsarbeiten mit den Kantonen und der Europäischen Union und wird jährlich

mit bis Ende 2032 befristeten zwei VZÄ-Stellen abgedeckt.

Der Bundesrat wird den ausgewiesenen Ressourcenbedarf zu gegebener Zeit überprü-

fen und darauf achten, dass ein allfälliger Mehrbedarf an Personalaufwand innerhalb

des Eigenbereichs des Bundes kompensiert wird. Einzige Ausnahme ist das über Ge-

bühreneinnahmen finanzierte Personal (2 VZÄ).

2.2.10.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf

urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

Die Vorlage hat keine spezifischen Auswirkungen auf städtische Zentren, Agglome-

rationen und Berggebiete.

Bei den Kantonen sind Mehrausgaben aufgrund der neuen Aufgaben zu erwarten. Es

ist mit vorübergehenden Einführungskosten von schätzungsweise achteinhalb VZÄ-

Stellen sowie dauerhaften jährlichen Vollzugskosten von schätzungsweise zwei VZÄ-

Stellen bei der Überwachungsbehörde für alle Kantone insgesamt zu rechnen. Da der

Bund eine zentrale Datenbank einrichten wird, fallen dafür bei den Kantonen keine

Kosten an.

Tabelle 2.2.10.2 (1): Geschätzter Ressourcenbedarf der Beihilfeüberwachung für

die Kantone

Kantone

Vorübergehende, einma-

lige Einführungskosten

(in VZÄ-Stellen)

Dauerhafte jährliche

Vollzugskosten

(in VZÄ-Stellen)

Kostenpflichtige Beratung bei

der WEKO als Überwachungsbe-

hörde

2

2

Kantonale Gesetzesanpassungen

6,5

-

Insgesamt

8,5

2

Aufgrund der fehlenden Erfahrung der Kantone zumindest zu Beginn mit der Beihil-

feüberwachung ist mit einem erheblichen Beratungsaufwand (s. Art. 5 VE-BHÜG) zu

rechnen. Auch wenn die zu meldende Fallanzahl insbesondere langfristig tief sein

sollte (s. Ziff. 2.2.10), können Fragen zu Vorhaben auftreten, die schlussendlich nicht

angemeldet werden müssen. Die Beratung durch die Überwachungsbehörde soll nach

Aufwand berechnet und den Beihilfegebern in Rechnung gestellt werden (s. Art. 5

VE-BHÜG). Entsprechend werden schätzungsweise zwei VZÄ-Stellen bei der Über-

wachungsbehörde pro Jahr über die Aufwandentschädigung durch die Kantone ge-

genfinanziert. Dieser Aufwand könnte insbesondere in den ersten Jahren nach der

Einführung des neuen Überwachungsverfahrens höher ausfallen, weshalb mit einer

weiteren Ausgabe von zwei VZÄ-Stellen verteilt über die ersten beiden Jahre nach

der Einführung (2033 und 2034) zu rechnen ist (s. mittlere Spalte in Tabelle 2.2.10.2

(1)). Um die Beratung möglichst effizient einzusetzen, könnten Kantone und Gemein-

den analog zu gewissen Mitgliedsstaaten der EU eine eigene Vorprüfstelle errichten

(s. Erläuterungen zu Art. 6 Abs. 1 VE-BHÜG) und diese auch zur Koordination der

Beratung beauftragen.

200 / 931

Weitere Mehrkosten werden für Beihilfegeber auf kantonaler Ebene entstehen, da sie

ihre Beihilfen anmelden, allenfalls nach der Stellungnahme der Überwachungsbe-

hörde anpassen, die finalisierten Beihilfen mitteilen und sich bei einem gerichtlichen

Verfahren beteiligen. Zudem sind die Verwaltungsbehörden der Kantone im Verlauf

der Prüfung als Beihilfegeber nach Artikel 22 Absatz 1 VE-BHÜG sowie im Rahmen

der Amtshilfe nach Artikel 3 Absatz 4 VE-BHÜG zu Auskünften bei Verfahren der

Überwachungsbehörde verpflichtet. Auch die allfällige Anpassung bestehender Bei-

hilferegelungen nach Artikel 47 Absatz 2 VE-BHÜG kann zusätzlichen Aufwand für

die kantonalen Behörden verursachen. Schliesslich wird die Beihilfeüberwachung

weitere Kosten für kantonale Gerichte verursachen, wenn Beschwerden gegen kanto-

nale Beihilfen erhoben werden. Jedes neue Gesetz führt zu einer potenziellen Mehr-

belastung der Gerichte, insbesondere in der Beihilfeüberwachung, wo jedoch die Be-

schwerdepflicht der Überwachungsbehörde besteht. Da jährlich auf Bundes- und

kantonaler Ebene aber insgesamt mit schätzungsweise fünf Untersuchungen und weit

weniger Beschwerden zu rechnen ist (s. Ziff. 2.2.10), werden diese Mehrkosten wahr-

scheinlich tief ausfallen. Die dauerhaften internen Mehrkosten für kantonale Beihil-

fegeber und Gerichte sollten analog zur Bundesebene zumindest teilweise intern kom-

pensiert werden können, wobei die konkrete Finanzierung den Kantonen überlassen

ist.

Um den Kompetenzaufbau zusammenzulegen, könnten Kantone im Rahmen eines

Konkordats ein interkantonales Gericht als 1. Instanz bei Beschwerden gegen kanto-

nale Beihilfen festlegen (s. Ziff. 2.2.6.2). Dies könnte im Verlauf der fünfjährigen

Übergangsfrist stattfinden.

Innert der fünfjährigen Übergangsfrist könnten allenfalls auch kantonale Gesetze und

Verordnungen angepasst werden, um sie den beihilferechtlichen Bestimmungen an-

zupassen. Auch wenn weitgehende Revisionen nicht zu erwarten sind, wird bereits

die Überprüfung des allfälligen Revisionsbedarfs nennenswerte Ressourcen binden.

Entsprechend wird pro Kanton einmalig mit einer Viertel VZÄ-Stelle gerechnet – ins-

gesamt also sechseinhalb VZÄ-Stellen über alle Kantone hinweg.

2.2.10.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Generelle volkswirtschaftliche Einbettung der Auswirkungen der Beihilfebestimmun-

gen

Die Einführung der Beihilfeüberwachung in den drei Sektoren wird die Wettbewerbs-

lage in der Schweiz und damit die Rahmenbedingungen im Standort Schweiz in den

drei Sektoren stärken. Auch wenn Beihilfen in der EU sehr selten als unzulässig be-

urteilt werden (s. Ziff. 2.2.10), bewirkt eine Überwachung eine wettbewerbsfreundli-

chere Ausgestaltung der geplanten Beihilfen. Es ist auch damit zu rechnen, dass stark

wettbewerbsverzerrende Beihilfen aufgrund der Beratung durch die Überwachungs-

behörde nach Artikel 5 VE-BHÜG angepasst oder zurückgezogen werden.

Generell wird sich der gestärkte Wettbewerbsschutz positiv auf die Volkswirtschaft

und damit auch auf den Wohlstand in der Schweiz auswirken. Die Sicherstellung von

gleichen Rahmenbedingungen, bei denen bestimmte Unternehmen oder Produktions-

zweige nicht durch Beihilfen bevorzugt werden, verhindert die Fehlallokation von

Ressourcen und steigert damit langfristig das Produktivitätswachstum. Gleichzeitig

201 / 931

ist zu berücksichtigen, dass gewisse Beihilfen bei Vorliegen eines Marktversagens

oder anderen überwiegenden öffentlichen Interessen politisch erwünscht sind. Um

diese Ziele gegeneinander abzuwägen und den Wettbewerb nicht unnötig zu schädi-

gen, ist ein grundsätzliches Regelwerk zur Beihilfekontrolle notwendig. Dieses legt

fest, in welchen Fällen Beihilfen zulässig und wie sie möglichst wettbewerbsfreund-

lich auszugestalten sind. Staatliche Beihilfen, welche dem Wettbewerb übermässig

schaden, sind hingegen negativ für den Wohlstand eines Landes und deswegen zu

vermeiden.

Die Einführung einer Beihilfeüberwachung ist mit der Beteiligung am Binnenmarkt

der EU direkt verbunden. Somit sind auch die positiven wirtschaftlichen Auswirkun-

gen der betroffenen drei Binnenmarktabkommen im Zusammenhang mit der Beihil-

feüberwachung zu berücksichtigen (s. Ziff. 2.5.9, 2.6.9 und 2.10.9).

Auswirkungen auf einzelne Gruppen

In der EU ist die Anzahl an staatlichen Beihilfen, welche durch die Europäische Kom-

mission verboten werden, sehr gering und es existiert eine Vielzahl an Ausnahmebe-

stimmungen. Es ist davon auszugehen, dass der Grossteil an existierenden staatlichen

Beihilfen in der Schweiz auch künftig gewährt werden dürften. Bei Inkrafttreten des

BHÜG bereits gesprochene Beihilfen können unter keinen Umständen zurückgefor-

dert werden. Die Auswirkungen auf die Schweizer Unternehmen dürften damit be-

grenzt sein. Die Einführung der Beihilfeüberwachung ist auch mit gewissen, wenn

auch geringen Regulierungskosten für die Unternehmen verbunden. Die Lieferung

nötiger Informationen für die Beurteilung der Beihilfe nach Artikel 22 Absatz 1 VE-

BHÜG sollte vernachlässigbar sein, da die Beratung, Anmeldung und Austausch je-

weils zwischen der Überwachungsbehörde und dem Beihilfegeber stattfindet. Unter-

nehmen können zudem betroffen sein, wenn sie ihre Rechte als betroffene Dritte bei

einer allfälligen Äusserung in vertieften Prüfungen nach Artikel 22 Absatz 2 VE-

BHÜG oder bei Beschwerden geltend machen. Insgesamt gilt aber zu betonen, dass

der administrative Mehraufwand in erster Linie die Verwaltungsbehörden und nicht

die Unternehmen betrifft (s. Ziff. 2.2.10.1 und 2.2.10.2).

Als weitere Gruppe sind Konsumenten indirekt von der Beihilfeüberwachung durch

einen verstärkten Schutz des Wettbewerbs in positiver Weise betroffen. Ein florieren-

der Wettbewerb wirkt sich üblicherweise preisdämpfend aus.

2.2.10.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Die Vorlage hat keine nennenswerten Auswirkungen auf die Gesellschaft.

2.2.10.5

Auswirkungen auf die Umwelt

Die Vorlage könnte sich zwar theoretisch auf die Förderung der erneuerbaren Ener-

giequellen und somit auch auf die Umwelt auswirken, da die Beihilfeüberwachung im

Stromabkommen erfasst ist. Die Erfahrungen aus der EU lassen aber vermuten, dass

diese Förderung grösstenteils weiterhin möglich sein sollte. Neben zahlreichen Aus-

nahmen im Bereich der Dekarbonisierung wurde im Stromsektor in der EU seit 2012

eine einzige Beihilfe als unzulässig beurteilt. Entsprechend wurde die Frage nach den

202 / 931

Auswirkungen auf die Umwelt nicht vertieft untersucht. Zudem sieht das Stromab-

kommen Absicherungen für bestehende Förderinstrumente namentlich im Bereich der

erneuerbaren Energien und die Kompensation von ökologischen Massnahmen im Zu-

sammenhang mit der Wasserkraft vor.

2.2.10.6

Andere Auswirkungen

Es werden keine weiteren nennenswerten Auswirkungen erwartet.

2.2.11

Rechtliche Aspekte des Paketelements

2.2.11.1

Verfassungsmässigkeit der Protokolle

Die Bestimmungen zu staatlichen Beihilfen werden in die bestehenden LandVA und

LuftVA durch die Beihilfeprotokolle und in das neue Stromabkommen direkt im Text

des Abkommens aufgenommen. Die Verfassungsmässigkeit des Stromabkommens

wird in der Ziffer 2.11.10.1 erläutert. Die Beihilfeprotokolle stützen sich auf Arti-

kel 54 Absatz 1 und 101 Absatz 1 BV, wonach der Bund für die auswärtigen Angele-

genheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV ermächtigt den Bundesrat, völker-

rechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Die Bundesversammlung ist

nach Artikel 166 Absatz 2 BV für die Genehmigung völkerrechtlicher Verträge zu-

ständig, sofern für deren Abschluss nicht aufgrund von Gesetz oder völkerrechtlichem

Vertrag der Bundesrat zuständig ist (Art. 24 Abs. 2 ParlG; Art. 7

a

Abs. 1 RVOG). Bei

den Beihilfeprotokollen handelt es sich nicht um völkerrechtliche Verträge, für deren

selbstständigen Abschluss der Bundesrat aufgrund eines Gesetzes oder eines von der

Bundesversammlung genehmigten völkerrechtlichen Vertrags ermächtigt ist. Es han-

delt sich auch nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag von beschränkter Tragweite

nach Artikel 7

a

Absatz 2 RVOG. Zudem erfordert die Umsetzung der Beihilfeproto-

kolle den Erlass eines neuen Bundesgesetzes. Die Beihilfeprotokolle sind folglich der

Bundesversammlung zur Genehmigung zu unterbreiten.

2.2.11.2

Verfassungsmässigkeit der Umsetzungsgesetzgebung

Der Bund kann sich beim Erlass des BHÜG für die Überwachung von Beihilfen des

Bundes auf die inhärente Organisationskompetenz des Bundes sowie für die Überwa-

chung von Beihilfen der Kantone auf die Artikel 95 Absatz 2 Satz 1, 54 Absatz 1, 101

Absatz 1 und ergänzend auf die sektorspezifischen Bundeskompetenzen gemäss Ar-

tikel 87 (Schienengüter‑ und ‑personenverkehr) und Artikel 92 Absatz 1 BV (Stras-

senpersonenverkehr) stützen.

2.2.11.2.1

Überwachung von Beihilfen des Bundes

Diverse Sachkompetenzen der Bundesverfassung ermächtigen den Bund zur Gewäh-

rung von Beihilfen. Gestützt auf diese Bestimmungen sowie seine inhärente unge-

schriebene Kompetenz, die Organisation und das Verfahren von Bundesbehörden zu

regeln (s. Art. 164 Abs. 1 Bst. g BV), ist der Bund zur Regelung der Beihilfegewäh-

rung durch Bundesbehörden sowie zu deren Überwachung befugt. Für Bundeszustän-

digkeiten, die sich aus der Existenz und der Natur der Eidgenossenschaft ergeben und

203 / 931

für die eine explizite Zuweisung einer Rechtsetzungskompetenz fehlt, wird nach heu-

tiger Praxis im Ingress stellvertretend für die Bundeskompetenz Artikel 173 Absatz 2

BV genannt.

Der Bund ist grundsätzlich frei, das Verfahren seiner Behörden zur Beihilfegewäh-

rung zu regeln. Aufgrund der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung der Gewaltentei-

lung sowie der verfassungsrechtlichen Stellung des Bundesrates als oberste leitende

und vollziehende Behörde des Bundes sind die Kompetenzen der Überwachungsbe-

hörde jedoch in Bezug auf die Akte der Bundesversammlung und des Bundesrates

eingeschränkt. Sie kann gegen solche Akte keine Beschwerde erheben (s. dementspre-

chend Art. 36 Abs. 2; vgl. jedoch auch 37 Abs. 2 VE-BHÜG). Nach Artikel 189 Ab-

satz 4 BV kann zwar grundsätzlich eine Beschwerdemöglichkeit gegen Akte der Bun-

desversammlung (mit Ausnahme von Bundesgesetzen; s. Art. 190 BV) und des

Bundesrates auf Gesetzesstufe vorgesehen werden (s. dementsprechend Art. 31

a

und

33 Abs. 1 Bst. b und Abs. 2 VE-VGG sowie Art. 82 Bst. b

bis

VE-BGG). Für ein mög-

liches Beschwerderecht einer Verwaltungsbehörde wie der Überwachungsbehörde

sind nebst Artikel 189 Absatz 4 BV aber auch die übrigen Verfassungsbestimmungen

zur Behördenorganisation des Bundes zu beachten. Ein Beschwerderecht einer Ver-

waltungsbehörde gegen Akte der Bundesversammlung wäre mit der gegenwärtigen

verfassungsrechtlichen Ausgestaltung der Gewaltenteilung nicht vereinbar. Hinsicht-

lich eines Beschwerderechts einer Verwaltungsbehörde gegen Akte des Bundesrates

bestünden zumindest verfassungsrechtliche Bedenken. Denn der Bundesrat ist auf-

grund seiner verfassungsrechtlichen Stellung als oberste leitende und vollziehende

Behörde des Bundes auch weisungsunabhängigen Verwaltungsbehörden hierarchisch

übergeordnet. Keinerlei verfassungsrechtliche Bedenken bestehen hinsichtlich der

auch für Akte der Bundesversammlung und des Bundesrates vorgesehenen unverbind-

lichen Stellungnahme der Überwachungsbehörde.

2.2.11.2.2

Überwachung von Beihilfen der Kantone

Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich auf Beihilfen sämtlicher staatlichen

Einheiten – einschliesslich denjenigen ausserhalb der Zentralverwaltung – aller föde-

ralen Ebenen unterhalb der Bundesebenen – insbesondere auch der Gemeinden. Der

Einfachheit halber wird jeweils nur von den Kantonen gesprochen.

Bindung an die innerstaatliche Kompetenzaufteilung bei der Umsetzung völkerrecht-

licher Verträge

Gestützt auf seine Kompetenzen im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten

(Art. 54 Abs. 1 und 101 Abs. 1 BV) kann der Bund mittels völkerrechtlichen Vertrags

eine Regulierung von Beihilfen vereinbaren (s. Ziff. 2.2.11.1). Beim Abschluss völ-

kerrechtlicher Verträge ist der Bund nicht an die interne Kompetenzaufteilung zwi-

schen dem Bund und den Kantonen gebunden. Er kann somit völkerrechtlich auch

eine Regulierung von Beihilfen vereinbaren, welche auch für die Kantone gilt und

welche weiter geht als diejenige, welche er selbst gestützt auf seine Bundeskompe-

tenzen erlassen könnte. Von dieser Kompetenz wird der Bund mit dem Abschluss der

Zusatzprotokolle über staatliche Beihilfen zum LuftVA- und LandVA sowie dem Bei-

hilfeteil des Stromabkommens Gebrauch machen. Bei der Umsetzung der völker-

204 / 931

rechtlich vereinbarten Vorgaben im Landesrecht bleibt der Bund jedoch an die inner-

staatliche Kompetenzaufteilung gebunden. Für die Umsetzung der völkerrechtlichen

Beihilfebestimmungen mit dem BHÜG benötigt der Bund somit auch hinsichtlich der

Überwachung von Beihilfen der Kantone eine Bundeskompetenz.

Sektorübergreifende Bundeskompetenz zur Regulierung von Beihilfen der Kantone

199

Der Vorteil einer Abstützung des BHÜG auf eine sektorübergreifende Bundeskom-

petenz besteht darin, dass dieselbe Bundeskompetenz auch bei einer allfälligen Über-

nahme der beihilferechtlichen Bestimmungen in weiteren Binnenmarktabkommen

mit der EU herangezogen werden könnte.

Nach Artikel 95 Absatz 2 Satz 1 BV hat der Bund für einen einheitlichen schweizeri-

schen Wirtschaftsraum (Binnenmarkt) zu sorgen. Der Bund kann gestützt auf Arti-

kel 95 Absatz 2 Satz 1 BV von Kantonen gewährte staatliche Beihilfen begrenzen, die

dazu führen, dass der Marktzugang der nicht durch die Beihilfe begünstigten, externen

Anbieter eingeschränkt wird. Dies trifft zu, wenn die Beihilfen die Aufnahme der

wirtschaftlichen Tätigkeit der externen Anbieter verhindern oder erheblich erschwe-

ren. Eine entsprechende Regulierung hätte sich jedoch auf das Notwendige zu be-

schränken und den Kantonen genügend Spielraum bei der Erfüllung ihrer Aufgaben

zu belassen. Ein grundsätzliches Beihilfeverbot mit detaillierter Regelung der Aus-

nahmen beziehungsweise Rechtfertigungsmöglichkeiten, wie in der EU, wäre im na-

tionalen Recht daher nicht möglich. In verfahrensrechtlicher Hinsicht wären Eingriffe

in die Organisations- und Verfahrensautonomie der Kantone nur zulässig, soweit sie

für die Sicherstellung der richtigen und einheitlichen Anwendung des – in seinem

Umfang im Vergleich zur EU beschränkten – Beihilferechts des Bundes in den Kan-

tonen unerlässlich wären.

Artikel 95 Absatz 2 Satz 1 BV kann aufgrund seines Wortlauts («schweizerischen

Wirtschaftsraum») nur zur Regulierung von Beihilfen, die zu einer Diskriminierung

oder übermässigen Wettbewerbsverzerrung im Binnenmarkt der Schweiz führen, her-

angezogen werden. Gestützt auf seine Kompetenzen im Bereich der auswärtigen An-

gelegenheiten (Art. 54 Abs. 1 und 101 Abs. 1 BV) kann der Bund diesen Schutz vor

Diskriminierung und übermässiger Wettbewerbsverzerrungen jedoch auch autonom

auf Anbieter aus dem Ausland ausdehnen.

Tragweite der Kompetenz für den Erlass des BHÜG

Das materielle Beihilferecht ergibt sich direkt anwendbar aus den Beihilfeprotokollen

respektive dem Stromabkommen. Eine Umsetzung im Landesrecht ist nicht notwen-

dig und das BHÜG enthält dementsprechend keine materiellen Bestimmungen (vgl.

auch Ziff. 2.2.5 und die Erläuterungen zum 1. Kapitel in Ziff. 2.2.7). Die fehlende

Kompetenz des Bundes nach Artikel 95 Absatz 2 Satz 1 BV, materielles Beihilferecht

in diesem Umfang mit Geltung für die Kantone zu erlassen, schadet daher nicht.

199

Für eine ausführliche Herleitung s. Bundesamt für Justiz, Gutachten zu einer Bundeskom-

petenz zu einer sektorenübergreifenden Regulierung von Beihilfen, Bern 28. März 2023,

www.seco.admin.ch > Wirtschaftslage & Wirtschaftspolitik > Wirtschaftspolitik > Wett-

bewerb > Staat und Wettbewerb > Staatliche Beihilfen.

205 / 931

Damit sich der Bund für die Regelung des Verfahrens der Beihilfegewährung sowie

der Beihilfeüberwachung für kantonalen Beihilfen im BHÜG auf Artikel 95 Absatz 2

Satz 1 in Verbindung mit Artikeln 54 Absatz 1 und 101 Absatz 1 BV stützen kann,

müssen die folgenden beiden Voraussetzungen erfüllt sein:

Erstens

müssen die Regelungen im BHÜG im Rahmen einer Beihilfeüberwachung

bleiben, welche der Bund auch autonom (d. h. nicht in Umsetzung einer völkerrecht-

lichen Verpflichtung) vorsehen könnte. Dies gilt insbesondere für die möglichen Ein-

griffe in die kantonale Organisations- und Verfahrensautonomie. Diese Vorausset-

zung wird mit dem VE-BHÜG erfüllt. Beispielsweise entscheidet die

Überwachungsbehörde des Bundes nicht rechtsverbindlich über die Zulässigkeit von

(kantonalen) Beihilfen, sondern es ist eine unverbindliche Stellungnahme verbunden

mit einem Beschwerderecht vorgesehen und für Beihilfen der Kantone gilt kein

Durchführungsverbot (vgl. auch Ziff. 2.2.6.2 und die Erläuterungen zu Art. 8 VE-

BHÜG in Ziff. 2.2.7).

Zweitens

muss die Beihilfeüberwachung zur Verhinderung von Diskriminierung kan-

tonsexterner Anbieter und zur Beseitigung übermässiger kantonaler Beschränkungen

des zwischenkantonalen Wirtschaftsverkehrs beitragen. Dieser Beitrag zu den Zielen

nach Artikel 95 Absatz 2 Satz 1 BV muss in seinem Umfang dem Beitrag entspre-

chen, welcher eine gestützt auf diese Bundeskompetenz autonom erlassene Regulie-

rung und Überwachung von kantonalen Beihilfen leisten würde, oder darf zumindest

nicht wesentlich dahinter zurückbleiben.

Beitrag der Beihilfeüberwachung zu einem einheitlichen schweizerischen Wirt-

schaftsraum im Sinne von Artikel 95 Absatz 2 Satz 1 BV

Die zwischen der Schweiz und der EU völkerrechtlich vereinbarte Regulierung von

Beihilfen dient nicht primär einem einheitlichen schweizerischen Wirtschaftsraum,

sondern dem Schutz einheitlicher Wettbewerbsbedingungen zwischen den Unterneh-

men der Vertragsparteien in den Bereichen, die vom Geltungsbereich der betreffenden

Abkommen erfasst werden (s. Ziff. 2.2.5.1). Dementsprechend werden durch die Bei-

hilfeprotokolle respektive das Stromabkommen und in dessen Umsetzung auch durch

das VE-BHÜG nur Beihilfen erfasst, welche den Handel zwischen der Schweiz und

der EU beeinträchtigen. Im Lichte der EuGH-Rechtsprechung, zu deren Berücksich-

tigung sich die Schweiz im Rahmen des institutionellen Protokolls verpflichtet (s.

Ziff. 2.1.6.3.1), kann diese Voraussetzung jedoch auch dann erfüllt sein, wenn Beihil-

fen an ausschliesslich in der Schweiz tätige Unternehmen gewährt werden. Denn diese

Beihilfen erschweren es den Unternehmen aus der EU, in den Schweizer Binnenmarkt

einzutreten.

200

Somit können auch die Auswirkungen von Beihilfen auf den Wettbe-

werb im Binnenmarkt der Schweiz Gegenstand der Beihilfeüberwachung nach dem

BHÜG sein, sofern die Beihilfen an Unternehmen für Tätigkeiten gewährt werden,

die unter den Geltungsbereich der Abkommen fallen. Durch den Schutz der Anbieter

der EU vor Wettbewerbsverzerrungen durch Beihilfen werden auch die inländischen

200

Urteil des EuGH vom 24. Juli 2003, Altmark Trans, C-280/00, ECLI:EU:C:2003:415,

Rn. 77 ff.; Urteil des EuGH vom 8. Mai 2013, Libert u. a., verbundene Rechtssachen

C‑197/11 und C‑203/11, ECLI:EU:C:2013:288, Rn. 78 f.; Urteil des EuGH vom 21. De-

zember 2016, Vervloet u.a., C-76/15, ECLI:EU:C:2016:975, Rn. 104.

206 / 931

Anbieter, welche bereits auf dem Markt tätig sind oder dort eine Tätigkeit aufnehmen

möchten, geschützt. Während bei einer autonomen Regulierung von kantonalen Bei-

hilfen nach Artikel 95 Absatz 2 Satz 1 BV die Schutzwirkung gestützt auf die Arti-

kel 54 Absatz 1 und 101 Absatz 1 BV auf Anbieter aus dem Ausland ausgedehnt wer-

den kann, kommt umgekehrt der Schutz der Anbieter aus der EU gemäss den

Beihilfeprotokollen respektive dem Stromabkommen den im Binnenmarkt der

Schweiz tätigen Anbietern zugute. Der Beitrag zu einem einheitlichen schweizeri-

schen Wirtschaftsraum ist vergleichbar. Der Bund kann sich somit für die Überwa-

chung von Beihilfen der Kantone grundsätzlich auf Artikel 95 Absatz 2 Satz 1 in Ver-

bindung mit den Artikeln 54 Absatz 1 und 101 Absatz 1 BV stützen.

Eingeschränkter Beitrag aufgrund des Geltungsbereichs des Landverkehrsabkom-

mens

Durch die Beihilfeprotokolle respektive das Stromabkommen und deren Umsetzung

auch durch den VE-BHÜG werden nur Beihilfen erfasst, welche den Handel zwischen

der Schweiz und der EU im Geltungsbereich der Binnenmarktabkommen beinträchti-

gen (vgl. Erläuterungen zu Art. 1 Abs. 2 VE-BHÜG in Ziff. 2.2.7).

Der Geltungsbereich des LandVA erfasst nur grenzüberschreitende Sachverhalte, der

ausschliesslich nationale Verkehr in der Schweiz ist nicht erfasst.

201

Im Bereich des

ausschliesslich nationalen Verkehrs in der Schweiz ist somit ein Markteintritt von Un-

ternehmen aus der EU gar nicht vorgesehen, womit voraussichtlich auch die entspre-

chende EuGH-Rechtsprechung keine Anwendung finden kann. Dementsprechend

sind Beihilfen an ausschliesslich in der Schweiz tätige Unternehmen in diesem Sektor

voraussichtlich nicht erfasst (s. Ziff. 2.5.6.4 und 2.5.8.3.). Somit werden in diesem

Sektor nicht – wie von Artikel 95 Absatz 2 Satz 1 BV angestrebt – sämtliche Beihilfen

mit Auswirkungen im Binnenmarkt der Schweiz von der Beihilfeüberwachung erfasst

und diese Auswirkungen sind auch nicht Gegenstand der Prüfung. Zwar werden auch

die Anbieter im Binnenmarkt der Schweiz durch die Beihilfeüberwachung mittelbar

vor Wettbewerbsverzerrungen durch Beihilfen an die im Geltungsbereich des

LandVA (grenzüberschreitend) tätigen Unternehmen geschützt. Umgekehrt werden

letztere Unternehmen aber nicht vor Wettbewerbsverzerrungen durch Beihilfen an

ausschliesslich in der Schweiz tätige Anbieter geschützt. Diese Ungleichbehandlung

steht im Widerspruch zur Zielsetzung eines einheitlichen schweizerischen Wirt-

schaftsraums nach Artikel 95 Absatz 2 Satz 1 BV. Deshalb kann sich der Bund für die

Überwachung von Beihilfen der Kantone im Bereich des LandVA nicht ausschliess-

lich auf die Artikel 95 Absatz 2 Satz 1 und 101 Absatz 1 BV stützen.

Die Geltungsbereiche des LuftVA und des Stromabkommens sind nicht so ausgestal-

tet, dass sie den Beitrag der Beihilfeüberwachung zu einem einheitlichen schweizeri-

schen Wirtschaftsraum einschränken. Insbesondere werden vom LuftVA durch die

gegenseitige Gewährung entsprechender Verkehrsrechte neu auch der Flugverkehr

zwischen Punkten innerhalb der Schweiz sowie zwischen Punkten innerhalb eines

201

S. Art. 2 LandVA; vgl. auch die Erläuterungen zu Art. 1 Abs. 1 Änderungsprotokoll zum

LandVA in Ziff. 2.5.6.2.

207 / 931

Mitgliedstaates der EU erfasst.

202

Damit haben Luftfahrtunternehmen aus der EU

auch im Bereich des Inlandflugverkehrs Zugang zum Schweizer Binnenmarkt.

Ergänzende Abstützung auf sektorspezifische Bundeskompetenzen

Der Bund kann sich für die Überwachung von Beihilfen der Kantone im Bereich des

LandVA ergänzend auf Sachkompetenzen abstützen, welche eine Beihilfeüberwa-

chung durch den Bund in diesen Bereichen unabhängig vom Ziel eines einheitlichen

schweizerischen Wirtschaftsraums ermöglichen.

Nach Artikel 87 BV hat der Bund eine umfassende Gesetzgebungskompetenz für den

Eisenbahnverkehr, worunter sämtliche schienengebundenen Verkehrsträger fallen.

Sachlich erstreckt sich die Kompetenz auch auf die Marktordnung.

203

Der Bund kann

sich somit für die Überwachung von Beihilfen der Kantone im Bereich des Eisen-

bahngüter‑ und ‑personenverkehrs ergänzend auf Artikel 87 BV stützen.

Artikel 92 Absatz 1 BV verleiht dem Bund eine umfassende Bundeskompetenz im

Bereich des Post- und Fernmeldewesens. Teil des Postwesens ist auch die regelmäs-

sige und gewerbsmässige Personenbeförderung auf der Strasse. Die Kompetenz er-

streckt sich hier sachlich ebenfalls auf die Marktordnung.

204

Der Bund kann sich so-

mit für die Überwachung von Beihilfen der Kantone im Bereich des

Strassenpersonenverkehr ergänzend auf Artikel 92 Absatz 1 BV stützen.

Im Bereich des Strassengüterverkehrs fehlt eine Bundeskompetenz, welche sich sach-

lich auf die Marktordnung und auf eine Überwachung von Beihilfen der Kantone er-

streckt, auf die der Bund sich ergänzend abstützen könnte. Nach Artikel 82 Absatz 1

BV verfügt der Bund zwar über eine umfassende Gesetzgebungskompetenz im Be-

reich des Strassenverkehrs, welche neben eigentlichen Verkehrsvorschriften auch Re-

gelungen in Gebieten mit einem engen Bezug zum Strassenverkehr umfasst, nament-

lich

die

Zulassungsordnung

für

Fahrzeuge

und

Fahrzeugführer,

das

Verkehrsstrafrecht oder haftpflicht- und versicherungsrechtliche Fragen.

205

Diese

Aufzählung zeigt jedoch, dass sich die Kompetenz sachlich nicht auf eine Marktord-

nung des Güterverkehrs auf der Strasse erstreckt. Der Gütertransport ist sodann nicht

Teil des Postwesens nach Artikel 92 Absatz 1 BV. Es ist jedoch vertretbar, die sekto-

rübergreifende Kompetenz aus Artikel 95 Absatz 2 Satz 1 BV – trotz des aufgrund

des Geltungsbereichs des LandVA eingeschränkten Beitrags der Beihilfeüberwa-

chung im Bereich des Strassengüterverkehr zu einem einheitlichen schweizerischen

Wirtschaftsraum – auf diesen Bereich zu erstrecken. Eine Ausklammerung des Stras-

sengüterverkehrs aus dem VE-BHÜG und damit eine gesonderte Beihilfeüberwa-

chung durch die Kantone nur in diesem Sektor würde ebenfalls zu uneinheitlichen

202

S. Art. 1 Abs. 2 Änderungsprotokoll zum LuftVA sowie die Erläuterungen dazu in

Ziff. 2.6.6.1.

203

Kern, in: Waldmann/Belser/Epiney (Hrsg.), Basler Kommentar, Bundesverfassung, Basel

2015, Art. 87 N 13.

204

Hettich/Steiner in: Ehrenzeller/Egli/Hettich/Hongler/Schindler/Schmid/Schweizer (Hrsg.),

Die Schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, Zürich 2023, Art. 92 N 15.

205

Vogel, in: Ehrenzeller/Egli/Hettich/Hongler/Schindler/Schmid/Schweizer (Hrsg.), Die

Schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, Zürich 2023, Art. 82 N 5.

208 / 931

Verhältnissen führen. Ausserdem ist davon auszugehen, dass die dem Beihilfeproto-

koll und dem VE-BHÜG unterstellte Überwachung kantonaler Beihilfen an im Gel-

tungsbereich des LandVA (grenzüberschreitend) tätige schweizerische Unternehmen

des Strassengüterverkehrs auch eine disziplinierende Wirkung auf die Beihilfegewäh-

rung an nur innerstaatlich tätige Unternehmen hat.

Der Bund verfügt somit über eine Verfassungsgrundlage für die Überwachung von

Beihilfen der Kantone im gesamten Geltungsbereich des VE-BHÜG.

Bei einer allfälligen Übernahme der beihilferechtlichen Bestimmungen in weiteren

Binnenmarktabkommen mit der EU wird jeweils zu prüfen sein, ob deren Geltungs-

bereich den Beitrag der Beihilfeüberwachung zu einem einheitlichen schweizerischen

Wirtschaftsraum einschränken. Ist dies der Fall, muss sich der Bund für die Umset-

zung (im BHÜG) ergänzend auf eine sektorspezifische Bundeskompetenz abstützen

können. Ist dies nicht der Fall, kann sich der Bund ausschliesslich auf Artikel 95 Ab-

satz 2 Satz 1 in Verbindung mit den Artikeln 54 Absatz 1 und 101 Absatz 1 BV stüt-

zen.

2.2.11.2.3

Nicht einschlägige Verfassungsgrundlagen

206

Eine sektorübergreifende Überwachung kantonaler Beihilfen kann sich nicht auf Ar-

tikel 96 Absatz 1 BV stützen. Nach Artikel 96 Absatz 1 BV erlässt der Bund Vor-

schriften gegen volkswirtschaftlich oder sozial schädliche Auswirkungen von Kartel-

len und anderen Wettbewerbsbeschränkungen. Auch Beihilfen können zu

Wettbewerbsverzerrungen mit entsprechenden Auswirkungen führen

207

, womit ihre

Regulierung zumindest vom Wortlaut von Artikel 96 Absatz 1 BV gedeckt wäre.

Während die Artikel 27 und 94 BV den Wettbewerb vor Verzerrung durch staatliche

Massnahmen schützen, zielt Artikel 96 BV aber primär auf einen Schutz des Wettbe-

werbs vor Verzerrungen durch Private.

208

Zwar wird auch staatliches Handeln von

Artikel 96 BV erfasst, jedoch nur soweit es um eine Teilnahme am Wirtschaftsprozess

als Anbieter oder Nachfrager von Gütern und Dienstleistungen geht. Die Gewährung

von Beihilfen ist keine solche staatliche Wirtschaftstätigkeit.

209

Gegen eine Abstüt-

zung auf Artikel 96 BV als eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Be-

kämpfung sämtlicher Wettbewerbsbeschränkungen spricht auch, dass der Begriff der

206

Für weitere nicht einschlägige Verfassungsgrundlagen s. Bundesamt für Justiz, Gutachten

zu einer Bundeskompetenz zu einer sektorenübergreifenden Regulierung von Beihilfen,

Bern 28. März 2023, www.seco.admin.ch > Wirtschaftslage & Wirtschaftspolitik > Wirt-

schaftspolitik > Wettbewerb > Staat und Wettbewerb > Staatliche Beihilfen.

207

Martenet, in: Martenet/Dubey (Hrsg.), Commentaire romand, Constitution fédérale, Basel

2021, Art. 96 N 26.

208

Biaggini, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 2017, Art. 96

N 4; Jacobs, in: Ehrenzeller/Egli/Hettich/Hongler/Schindler/Schmid/Schweizer (Hrsg.),

Die Schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, Zürich 2023, Art. 96 N 6;

Uhlmann, in: Waldmann/Belser/Epiney (Hrsg.), Basler Kommentar, Bundesverfassung,

Basel 2015, Art. 96 N 7.

209

Dies anerkennt im Grundsatz auch Martenet, in: Martenet/Dubey (Hrsg.), Commentaire

romand, Constitution fédérale, Basel 2021, Art. 96 N 26, der aber Art. 96 BV in einem

Konglomerat mit Art. 92, Art. 95 Abs. 2 und Art. 98 BV dennoch für eine Bundeskompe-

tenz zur Regulierung von Beihilfen heranziehen möchte, wobei auch er die primäre Grund-

lage in Art. 95 Abs. 2 BV zu sehen scheint.

209 / 931

anderen Wettbewerbsbeschränkungen ursprünglich aus dem Kartellgesetz stammt

und erst später in die BV aufgenommen wurde mit dem Ziel klarzustellen, dass nicht

nur Kartelle sondern – unabhängig von ihrer Organisations- oder Erscheinungsform –

möglichst alle wettbewerbsbeschränkenden Gebilde erfasst werden sollen.

210

2.2.11.2.4

Fazit zur Verfassungsmässigkeit

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass eine Verfassungsgrundlage für den

gesamten Geltungsbereich des VE-BHÜG besteht. Der Bund kann sich beim Erlass

des BHÜG für die Überwachung von Beihilfen des Bundes auf die inhärente Organi-

sationskompetenz des Bundes sowie für die Überwachung von Beihilfen der Kantone

auf die Artikel 95 Absatz 2 Satz 1, 54 Absatz 1 und 101 Absatz 1 BV und ergänzend

auf die sektorspezifischen Bundeskompetenzen gemäss den Artikeln 87 und 92 Ab-

satz 1 BV stützen.

2.2.11.3

Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen

Die völkerrechtlichen Beihilfebestimmungen zwischen der Schweiz und der EU und

deren Umsetzung im VE-BHÜG orientieren sich am EU-Recht. Für die Zwecke ein-

heitlicher Wettbewerbsbedingungen in den Teilen des Binnenmarktes, die im Gel-

tungsbereich der relevanten Abkommen liegen, schafft und unterhält die Schweiz ein

System zur Beihilfeüberwachung, welches jederzeit ein Mass an Überwachung und

Durchsetzung gewährleistet, das dem in der Europäischen Union angewandten Sys-

tem gleichwertig ist. Diese Regelungen stehen im Einklang mit den Regeln der WTO,

insbesondere dem WTO-Übereinkommen über Subventionen und Ausgleichsmass-

nahmen

211

, welche weiterhin auf die betroffenen Beihilfen anwendbar sind.

2.2.11.4

Erlassform

Die Frage der Form der zu erlassenden Rechtsakte wird in den Teilen des erläuternden

Berichtes behandelt, die Bestimmungen über staatliche Beihilfen enthalten (s.

Ziff. 2.5, 2.6 und 2.10).

2.2.11.5

Vorläufige Anwendung

Es ist keine vorläufige Anwendung vorgesehen.

2.2.11.6

Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass

Die Verfahrensbestimmungen des VE-BHÜG gehen den kantonalen Verfahrensrech-

ten vor. Es sind keine weiteren besonderen rechtliche Aspekte zu erwähnen.

2.2.11.7

Datenschutz

Die Überwachungsbehörde wird im Rahmen ihrer Tätigkeiten nach dem VE-BHÜG

Personendaten und Daten juristischer Personen bearbeiten. Ob sie in diesem Rahmen

210

Biaggini, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 2017, Art. 96

N 5; Jacobs, in: Ehrenzeller/Egli/Hettich/Hongler/Schindler/Schmid/Schweizer (Hrsg.),

Die Schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, Zürich 2023, Art. 96 N 13

f.; Uhlmann, in: Waldmann/Belser/Epiney (Hrsg.), Basler Kommentar, Bundesverfassung,

Basel 2015, Art. 96 N 15.

211

Anhang 1A.13 zum Abkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation; SR

0.632.20

.

210 / 931

auch besonders schützenswerte Personendaten bearbeitet und bekanntgegeben wird

sowie besonders schützenswerte Daten juristischer Personen bekanntgeben wird und

dementsprechend dafür jeweils eine formell-gesetzliche Rechtsgrundlage geschaffen

werden muss, wird während der Vernehmlassung noch geprüft.

211 / 931

2.3

Personenfreizügigkeit

2.3.1

Zusammenfassung

Mit dem Änderungsprotokoll zum Abkommen vom 21. Juni 1999

212

zwischen der

Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft

und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (

Freizügigkeitsabkom-

men

, FZA) haben sich die Schweiz und die EU auf die Aufdatierung der Regeln zur

Personenfreizügigkeit geeinigt. Die Schweizer Wirtschaft kann somit weiterhin bei

Bedarf Arbeitskräfte aus der EU rekrutieren, was von grosser Bedeutung für den Wirt-

schaftsstandort Schweiz und die Planungssicherheit der Unternehmen ist. Umgekehrt

verleiht das Freizügigkeitsabkommen Schweizer Bürgerinnen und Bürgern umfas-

sende Mobilitätsrechte in der EU, wovon rund eine halbe Million Schweizerinnen und

Schweizer profitieren. Das FZA umfasst nebst der Zuwanderung und der grenzüber-

schreitenden Dienstleistungserbringung (inkl. Lohnschutz) auch die Koordinierung

der Systeme der sozialen Sicherheit (Anhang II) sowie die Anerkennung beruflicher

Qualifikationen (Anhang III). Dieser Geltungsbereich des FZA bleibt durch das Än-

derungsprotokoll unverändert. Die Richtlinie 2004/38/EG

213

wird massgeschneidert

auf die Schweiz übernommen und mit einem wirksamen dreistufigen Schutzkonzept

verknüpft, welches Ausnahmen und Absicherungen umfasst sowie durch die konkre-

tisierte Schutzklausel vervollständigt wird. Betreffend die grenzüberschreitende

Dienstleistungserbringung (inkl. Lohnschutz) wurde zur Übernahme der EU-

Entsenderichtlinien ins FZA ebenfalls ein dreistufiges Absicherungskonzept mit Aus-

nahmen, Prinzipien und einer Non-Regression-Klausel ausgehandelt. Das Änderungs-

protokoll zum FZA zusammen mit den innerstaatlichen Umsetzungs- und Begleit-

massnahmen stellen sicher, dass die Zuwanderung aus der EU entsprechend den

Zielen des Bundesrates arbeitsmarktorientiert bleibt, und gewährleisten die geltenden

Lohn- und Arbeitsbedingungen in der Schweiz. Der Bundesrat erachtet das Verhand-

lungsmandat als vollständig erfüllt. In Bezug auf die Schutzklausel wurde das Ver-

handlungsmandat übertroffen, indem die Konkretisierung für den gesamten Geltungs-

bereich des FZA gilt (s. Ziff. 5.3). Der Bundesrat beantragt im Rahmen des

Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU die Genehmigung des Änderungsproto-

kolls und der dazugehörenden Umsetzungsgesetzgebung.

Zuwanderung

Das FZA regelt die Rechte und Pflichten von Staatsangehörigen einer Vertragspartei

und ihrer Familienangehörigen, wenn sie sich in das Hoheitsgebiet einer anderen Ver-

tragspartei begeben, um dort zu leben, zu arbeiten oder zu studieren. Dies betrifft so-

wohl Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten in der Schweiz, als auch Schweizer

Staatsangehörige in EU-Mitgliedstaaten. Seit dem Abschluss des FZA wurde der An-

hang I, welcher die Bestimmungen im Zuwanderungsbereich enthält, mit Ausnahme

212

SR

0.142.112.681

213

Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004

über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet

der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung

(EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG,

72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und

93/96/EWG, in der Fassung gemäss Anhang I Abschnitt 2 des Änderungsprotokolls zum

FZA.

212 / 931

der Bestimmungen zur Ausweitung des FZA auf neue EU-Mitgliedstaaten nicht mehr

angepasst. Gleichzeitig hat sich das EU-Recht

214

im Bereich des freien Personenver-

kehrs namentlich mit der Einführung der Richtlinie 2004/38/EG

215

innerhalb der EU

weiterentwickelt. Im Mittelpunkt der Verhandlungen zwischen der Schweiz und der

EU über das Änderungsprotokoll zum FZA stand denn auch die Teilübernahme dieser

Richtlinie. Damit sollen im Grundsatz innerhalb der EU sowie zwischen der Schweiz

und der EU wieder dieselben Regeln bei der Personenfreizügigkeit zur Anwendung

gelangen. Das Prinzip der dynamischen Übernahme von EU-Recht wird somit für die

Schweiz in Zukunft auch für den Bereich des freien Personenverkehrs gelten.

Im

Verhandlungsmandat

vom 8. März 2024 setzte der Bundesrat im Bereich der Zu-

wanderung drei Ziele für die Verhandlungen fest: Erstens sollte die Ausrichtung der

Migration im Rahmen des FZA auf die Erwerbstätigkeit beibehalten werden, um die

Folgen für die Sozialsysteme zu begrenzen und Missbräuche zu bekämpfen. Zweitens

sollte die Schweizer Bundesverfassung in Sachen strafrechtliche Landesverweisung

respektiert werden. Und drittens sollte das Meldeverfahren für wirtschaftlich moti-

vierte Kurzaufenthalte bewahrt werden. Diese Ziele wurden mit dem Verhandlungs-

ergebnis zum Änderungsprotokoll zum FZA sowie den dazugehörigen inländischen

Umsetzungs- und Begleitmassnahmen vollumfänglich erreicht.

Das relevante EU-Recht wird begleitet von einem

dreistufigen Schutzkonzept

ins FZA

übernommen. Dieses Schutzkonzept umfasst drei Ausnahmen (betr. Daueraufenthalt,

Landesverweisung und biometrische Identitätskarte) und zwei Absicherungen (zur

Aufenthaltsbeendigung und dem Meldeverfahren) sowie eine konkretisierte Schutz-

klausel in Artikel 14a FZA. Ein zentraler Mehrwert der konkretisieren Schutzklausel

liegt in ihrem institutionellen Mechanismus unter Einbezug eines Schiedsgerichts: Die

Schweiz kann bei Uneinigkeit im Gemischten Ausschuss (GA), ohne Zustimmung der

EU, das Schiedsgericht in einem ordentlichen oder einem dringlichen Verfahren an-

rufen. Die konkretisierte Schutzklausel ist anwendbar auf Sachverhalte im gesamten

Geltungsbereich des FZA, auch auf den Lohnschutz. In der innerstaatlichen Gesetz-

gebung werden unter anderem die Bedingungen für eine Aufenthaltsbeendigung und

das Meldeverfahren festgehalten. Ebenfalls in der innerstaatlichen Gesetzgebung wer-

den die Voraussetzungen für die Auslösung der Schutzklausel mit Indikatoren in den

Bereichen Arbeitsmarkt, soziale Sicherheit, Wohnungswesen und Verkehr, sowie

Schwellenwerten betreffend die Nettozuwanderung aus der EU, der Zunahme der Be-

schäftigung von Grenzgängerinnen und Grenzgängern, der Arbeitslosigkeit und des

Sozialhilfebezugs definiert. Auch werden die Kompetenzen für die Auslösung der

Schutzklausel sowie das Ergreifen allfälliger Schutzmassnahmen festgelegt. Das Zu-

sammenspiel der vertraglichen Schutzklausel im FZA und deren innerstaatliche Um-

214

Die Bezeichnung «EU-Recht» dient der einfacheren Lesbarkeit. Erst seit dem Inkrafttreten

des Vertrags von Lissabon vom 1. Dezember 2009 ist die EU die Rechtsnachfolgerin der

Europäischen Gemeinschaft.

215

Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004

über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet

der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung

(EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG,

72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und

93/96/EWG, ABl. L 158 vom 30.4.2004, p. 77–123.

213 / 931

setzung ergibt ein wirksames Instrument. Ebenfalls in der innerstaatlichen Gesetzge-

bung wird das neu geltende Gleichbehandlungsgebot bei den Studiengebühren von

Studierenden aus der Schweiz und der EU an vorwiegend öffentlich finanzierten

Hochschulen mit Begleitmassnahmen ergänzt, um die finanziellen Auswirkungen bei

den betroffenen Hochschulen abzufedern.

Lohnschutz

Mit dem FZA wurde die grenzüberschreitende, personengebundene Dienstleistungs-

erbringung bis maximal 90 Arbeitstage pro Kalenderjahr liberalisiert. Damit solche

Dienstleistungserbringungen durch Arbeitnehmende (im Rahmen sogenannter Ent-

sendungen) und Selbstständigerwerbende aus der EU in der Schweiz nicht zu miss-

bräuchlichen Unterschreitungen der schweizerischen Lohn- und Arbeitsbedingungen

führen, und damit in- und ausländische Unternehmen die gleichen Wettbewerbsbe-

dingungen haben, wurden in der Schweiz im Jahr 2004 die sogenannten flankierenden

Massnahmen (FlaM) eingeführt. So verpflichtet das Entsendegesetz vom 8. Oktober

1999

216

(EntsG) ausländische Arbeitgebende, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-

mer in die Schweiz entsenden, zur Einhaltung der schweizerischen Lohn- und Ar-

beitsbedingungen. Zur Bekämpfung von sogenannter Scheinselbstständigkeit und der

damit verbundenen möglichen Umgehung der Einhaltung der schweizerischen Lohn-

und Arbeitsbedingungen enthält das EntsG zudem Massnahmen, die sich an selbst-

ständige grenzüberschreitende Dienstleistungserbringende richten.

Das Ziel der Verhandlungen bestand gemäss dem Schweizer Verhandlungsmandat in

der Angleichung des Rechts betreffend entsandte Arbeitnehmende gemäss FZA an

das in diesem Bereich geltende EU-Recht. Dies unter der Voraussetzung, dass das in

der Schweiz aktuell geltende Schutzniveau betreffend Lohn- und Arbeitsbedingungen

dauerhaft erhalten bleibt und Schweizer Unternehmen nicht einem unlauteren Wett-

bewerb ausgesetzt werden. Hierfür strebte der Bundesrat in den Verhandlungen mit

der EU zum Lohnschutz die Vereinbarung eines dreistufigen Absicherungskonzepts

an bestehend aus Ausnahmen, Prinzipien und einer Non-Regression-Klausel.

Der Bundesrat war sich bereits beim Start der exploratorischen Gespräche mit der EU

gemeinsam mit Kantonen und Sozialpartnern einig, dass zusätzlich zum Verhand-

lungsergebnis auch inländische Massnahmen zur Aufrechterhaltung des aktuellen

Lohnschutzniveaus nötig sind. Der Bundesrat hat diese Massnahmen parallel zu den

Verhandlungen zusammen mit Kantonen und Sozialpartnern erarbeitet und schlägt

deren Umsetzung im Rahmen der Anpassungen des EntsG, des Bundesgesetzes über

das öffentliche Beschaffungswesen (BöB)

217

, des Bundesgesetzes über die Allge-

meinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen (AVEG)

218

und des Obligati-

onsrechts (OR)

219

vor.

216

Bundesgesetz vom 8. Oktober 1999 über die flankierenden Massnahmen bei entsandten

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und über die Kontrolle der in Normalarbeitsverträ-

gen vorgesehenen Mindestlöhne;

SR 823.20.

217

Bundesgesetzes vom 21. Juni 2019, SR

172.056.1.

218

Bundesgesetz vom 28. September 1956, SR

221.215.311.

219

SR

220

214 / 931

Mit der inländischen Massnahme zur Umsetzung der Spesenregelung der EU nutzt

die Schweiz den vom relevanten EU-Recht gewährten Spielraum maximal und ge-

währleistet das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort», um un-

lauteren Wettbewerb zu verhindern.

Alle inländischen Massnahmen zur Sicherung des Lohnschutzes sind gezielt auf Be-

reiche ausgerichtet, in denen Handlungsbedarf besteht. Betroffen davon sind in erster

Linie Entsendebetriebe aus dem EU-Raum. Soweit sich die Massnahmen auch an

Schweizer Unternehmen richten, bauen sie auf dem Bestehenden auf und schaffen

keine neuen Belastungen für Schweizer Firmen. Der flexible Arbeitsmarkt wird nicht

eingeschränkt.

Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit

Dank der Aufdatierung der Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Si-

cherheit (Anhang II FZA) werden die sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche von

Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten in der Schweiz sowie von Schweizerinnen

und Schweizern in EU-Mitgliedstaaten auch künftig geschützt. Die für die Schweiz

wichtigsten bestehenden Ausnahmen konnten von der dynamischen Rechtsüber-

nahme ausgenommen werden. Die Auswirkungen der Übernahme der Richtlinie

2014/50/EU

220

auf die weitergehende berufliche Vorsorge konnten entsprechend den

Interessen der Schweiz gemildert werden.

Anerkennung von Berufsqualifikationen

Der Bereich der Anerkennung von Berufsqualifikationen (Anhang III FZA) wird mit

dem Änderungsprotokoll zum FZA erstmals seit 2015 aufdatiert. So kann die Schweiz

bei der Anerkennung von beruflichen Qualifikationen neu am Binnenmarkt-Informa-

tionssystem IMI der EU teilnehmen. Damit wird die Schweiz in Zukunft unter ande-

rem vorgewarnt, wenn Staatsangehörigen eines EU-Mitgliedstaates die Bewilligung

zur Berufsausübung entzogen wird (Vorwarnmechanismus). Dazu wird der Anhang

III FZA aufdatiert. Schweizer Bürger und Unternehmen werden in der EU über die

gleichen Regeln profitieren wie andere EU-Bürger, wenn sie einen reglementierten

Beruf in der EU ausüben wollen.

2.3.2

Ausgangslage

Zuwanderung

Das FZA ist seit dem 1. Juni 2002 in Kraft und bildet eine zentrale Säule der bilatera-

len Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU. In verschiedenen Schritten und

in Anwendung von Übergangsbestimmungen, welche eine graduelle Öffnung des

schweizerischen Arbeitsmarkts ermöglichten, wurde das FZA nach 2006 auf die

neuen EU-Mitgliedstaaten ausgeweitet. Seit 2017 gelten die Bestimmungen des FZA

auch für den jüngsten EU-Mitgliedstaat Kroatien.

220

Richtlinie Nr. 2014/50/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April

2014 über Mindestvorschriften zur Erhöhung der Mobilität von Arbeitnehmern zwischen

den Mitgliedstaaten durch Verbesserung des Erwerbs und der Wahrung von Zusatzrenten-

ansprüchen, ABl. L 128 vom 30.4.2014, S. 1-7.

215 / 931

Das FZA ist von grosser Bedeutung für die Schweiz, denn es erlaubt der hiesigen

Wirtschaft bei Bedarf auf Arbeitskräfte aus der EU zuzugreifen. Auch vor dem Hin-

tergrund der demografischen Alterung der Bevölkerung in der Schweiz spielt die Zu-

wanderung aus der EU sowohl für die Deckung des Arbeitskräftebedarfs als auch für

die Finanzierung der Sozialwerke eine wichtige Rolle. Ende 2024 lebten über 1,5 Mio.

Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten in der Schweiz. Rund 64 Prozent der zwi-

schen 2002 und 2024 eingewanderten Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten sind

aufgrund der Erwerbstätigkeit in die Schweiz eingereist; rund 23 Prozent im Rahmen

des Familiennachzugs; weitere 8 Prozent kamen zur Aus- und Weiterbildung in die

Schweiz und 5 Prozent gelten als Personen, die keine Erwerbstätigkeit in der Schweiz

ausüben (z.B. Rentnerinnen und Rentner). Der Anteil der Erwerbstätigen hat stetig

zugenommen und ist so von 53 Prozent im Jahr 2002 auf 71 Prozent im Jahr 2024

angestiegen

221

. Rund 400 000 Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten arbeiteten

Ende 2024 ausserdem als Grenzgängerin oder Grenzgänger in der Schweiz

222

. Diese

Zahlen belegen, dass die Zuwanderung gestützt auf das FZA stark von der wirtschaft-

lichen Entwicklung und den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes in der Schweiz abhängt.

Die Vorteile des FZA sind auch für Schweizer Staatsangehörige von Bedeutung. Aus-

landschweizerinnen und -schweizer, welche in einem EU-Mitgliedstaaten wohnen,

arbeiten oder studieren, geniessen aufgrund des FZA die gleichen Rechte wie Staats-

angehörige der EU in der Schweiz. Auch die Zahl der Schweizer Staatsangehörigen,

die in EU-Mitgliedstaaten wohnhaft sind, stieg seit 2002 von 337 000 auf rund

466 000 im Jahr 2024

223

.

Durch die auch im Vergleich zu anderen EU-Mitgliedstaaten hohen Zuwanderungs-

zahlen in der Schweiz hat das FZA politische und gesellschaftliche Debatten ausge-

löst. So haben Volk und Stände am 9. Februar 2014 die eidgenössische Volksinitiative

«Gegen Masseneinwanderung» angenommen, welche als Artikel 121

a

in die Bundes-

verfassung

224

(BV) aufgenommen wurde. Der Bundesrat hat daraufhin Verhandlun-

gen mit der EU angestrebt, um eine Anpassung des FZA zu erreichen. Die EU war zu

diesem Schritt jedoch nicht bereit. Schliesslich haben die Eidgenössischen Räte Ende

2016 beschlossen, den neuen Verfassungsartikel, der unter anderem eine eigenstän-

dige Steuerung der Zuwanderung forderte, mit der Stellenmeldepflicht umzusetzen

und somit die Vereinbarkeit mit dem FZA zu gewährleisten. Das Parlament hatte sich

damit bewusst für den Erhalt des FZA und der bilateralen Verträge ausgesprochen.

Ebenso haben Volk und Stände in den Jahren 2014 («Ecopop-Initiative») und 2020

(«Begrenzungsinitiative») Volksinitiativen abgelehnt, welche eine Kündigung des

FZA zur Folge gehabt hätten, und haben sich somit für den Erhalt der Bilateralen I

ausgesprochen.

221

Siehe Jahresstatistik Zuwanderung 2024, abrufbar unter www.sem.admin.ch > Publikation

& Service > Statistiken > Ausländerstatistik > Statistik Zuwanderung.

222

Siehe Grenzgängerstatistik des BFS, abrufbar unter www.bfs.admin.ch > Statistiken > Ar-

beit und Erwerb > Erwerbstätigkeit und Arbeitszeit > Erwerbsbevölkerung, Erwerbsbetei-

ligung > Grenzgängerinnen und Grenzgänger.

223

Abrufbar unter: www.bfs.admin.ch > Statistiken > Bevölkerung > Migration und Integra-

tion > Auslandschweizer/-innen > Tabellen > Im Ausland niedergelassene Schweizerinnen

und Schweiz nach Wohnsitzstaat, 1993-2024.

224

SR

101

216 / 931

Seit 2006 wird innerhalb der EU die Richtlinie 2004/38/EG, welche als Weiterent-

wicklung der Personenfreizügigkeit gilt, angewendet. Der Anhang I des FZA, der die

wesentlichen materiellen Bestimmungen der Personenfreizügigkeit enthält, wurde

hingegen mit Ausnahme der Bestimmungen zur Ausweitung des FZA auf die neuen

EU-Mitgliedstaaten seit dem Abschluss des Abkommens 1999 nicht mehr revidiert.

Das FZA sieht ausserdem vor, dass nur die bis zum Abschluss des Abkommens erlas-

sene Rechtsprechung verbindlich für die Schweiz gilt. Der statische Charakter von

Anhang I FZA führt somit auch dazu, dass der EU-

Acquis

und die EU-

Rechtsprechung im Bereich der Personenfreizügigkeit nicht oder nur unvollständig

von der Schweiz übernommen wurden. Um dennoch eine möglichst parallele Rechts-

lage in der EU und in der Schweiz zu gewährleisten, weicht das Bundesgericht jedoch

praxisgemäss von der Auslegung abkommensrelevanter unionsrechtlicher Bestim-

mungen durch den EuGH nach dem Unterzeichnungsdatum nur beim Vorliegen «trif-

tiger» Gründe ab

225

.

Aufgrund der grossen wirtschaftlichen und politischen Bedeutung der Personenfrei-

zügigkeit fordert die EU von der Schweiz die Übernahme der Richtlinie 2004/38/EG,

um das Auseinanderdriften der Bestimmungen im Verhältnis Schweiz–EU zu behe-

ben. Diese Forderungen sind nicht neu, sondern bestanden bereits im Rahmen der

Verhandlungen zum Entwurf für ein institutionelles Rahmenabkommen, welche der

Bundesrat 2021 beendet hatte (s. Ziff. 2.1.2.2). Eine Einigung im Rahmen des Pakets

Schweiz–EU war deshalb ohne eine Verhandlungslösung im Bereich der Personen-

freizügigkeit nicht realisierbar.

Lohnschutz

Das FZA regelt die grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung, die grundsätz-

lich auf 90 Arbeitstage pro Kalenderjahr begrenzt ist

226

. In Anhang I des FZA von

1999 wird auf die EU-Richtlinie 96/71/EG

227

(Entsenderichtlinie) Bezug genommen.

Diese regelt gewisse Mindestanforderungen an Beschäftigungs- und Arbeitsbedin-

gungen für entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Schweiz hatte die

Entsenderichtlinie im Rahmen des Entsendegesetzes von 1999 umgesetzt. Das Ent-

sendegesetz ist Teil der FlaM zum Schutz der Schweizer Lohn- und Arbeitsbedingun-

gen.

Das EU-Entsenderecht entwickelte sich seit Abschluss des FZA im Jahr 1999 weiter.

2014 wurde die Richtlinie 2014/67/EU

228

(Durchsetzungsrichtlinie) erlassen mit dem

225

BGE

139

II 393 E. 4.1.1.

226

In den Bereichen, in denen ein Dienstleistungsabkommen zwischen der Schweiz und der

EU (z. B. öffentliches Beschaffungswesen) besteht, garantiert das FZA das Recht auf Ein-

reise und Aufenthalt für die Dauer der Dienstleistungserbringung.

227

Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996

über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen,

ABl. L 18 vom 21.1.1997, S. 1–6 (in der zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Abkom-

mens geltenden Fassung).

228

Richtlinie 2014/67/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur

Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen

der Erbringung von Dienstleistungen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr.

1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt-Informations-

systems („IMI-Verordnung“), ABl. L 159 vom 28.05.2014, S. 11–31.

217 / 931

Ziel, die praktische Anwendung der Entsendevorschriften zu verbessern, die Umge-

hung von Vorschriften zu bekämpfen und einen besseren Austausch von Informatio-

nen unter den Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Im Jahr 2018 wurde die Entsende-

richtlinie mit der Richtlinie (EU) 2018/957

229

revidiert. Entsandte Arbeitnehmerinnen

und Arbeitnehmer unterliegen seither den gleichen Vorschriften über Entlohnung und

Arbeitsbedingungen wie einheimische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Nach

der bisherigen Regelung bestand lediglich ein Anspruch auf die im Gastland geltenden

Mindeststandards, wie den Mindestlohn. Entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeit-

nehmer haben nun auch einen Anspruch auf alle Lohnbestandteile im Gastland, wie

beispielsweise Zulagen für Nacht- und Feiertagsarbeit. Ziel ist die Umsetzung des

Grundsatzes „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“. Beide Richtlinien

sind bisher nicht in das FZA übernommen worden.

In der Vergangenheit kritisierte die EU verschiedentlich die schweizerischen FlaM als

unverhältnismässig und diskriminierend. Im Fokus standen die Voranmeldefrist von

acht Kalendertagen und die Pflicht, vor Arbeitsbeginn eine Kaution zur Deckung all-

fälliger Forderungen der paritätischen Vollzugsorgane zu hinterlegen. Die Schweiz

begründete diese Massnahmen einerseits mit der kurzen Dienstleistungsdauer auf-

grund der Beschränkung der Dienstleistungserbringung auf 90 Arbeitstage pro Kalen-

derjahr und anderseits mit den im Ausland nicht durchsetzbaren Forderungen der pa-

ritätischen Kommissionen (PK). Namentlich für diese beiden kritisierten FlaM galt

es, in den Verhandlungen Lösungen zu finden.

Anhang II FZA/Sozialversicherungskoordinierung

Die Koordinierung der Sozialversicherungssysteme ist eine unverzichtbare Begleit-

massnahme zum freien Personenverkehr, indem sie Nachteile, die sich aus der grenz-

überschreitenden Mobilität innerhalb des EU/EFTA-Raumes und der Schweiz erge-

ben können, minimiert oder beseitigt. Die Schweiz beteiligt sich seit dem Inkrafttreten

des FZA an der im EU-Recht vorgesehenen Koordinierung der nationalen Systeme

der sozialen Sicherheit. Artikel 8 FZA legt die Grundprinzipien dieser Koordinierung

fest und verweist auf Anhang II des Abkommens. In diesem Anhang vereinbaren die

Parteien die Anwendung des relevanten EU-Rechts. Dazu gehört insbesondere die

Verordnung (EG) Nr. 883/2004

230

.

Die Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit zielt darauf ab,

Hindernisse für den Personenverkehr im Bereich der sozialen Sicherheit zu beseitigen,

ohne die nationalen Sozialversicherungsgesetze zu harmonisieren. Sie betrifft alle So-

zialversicherungszweige und erfasst Staatsangehörige aus sämtlichen Vertragsstaaten

sowie deren Familienangehörige. Die betroffenen Staaten sind verpflichtet, bei der

Ausarbeitung und Anwendung ihrer eigenen Rechtsvorschriften gemeinsame Regeln

und Grundsätze zu beachten, wie die Unterstellung unter eine einzige nationale Ge-

229

Richtlinie (EU) 2018/957 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Juni 2018

zur Änderung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen

der Erbringung von Dienstleistungen, ABl. L 173 vom 9.7.2018, p. 16–24.

230

Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April

2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, in der für die Schweiz nach

Anhang II zum FZA jeweils verbindlichen Fassung (eine unverbindliche, konsolidierte

Fassung dieser Verordnung ist veröffentlicht in SR

0.831.109.268.1

).

218 / 931

setzgebung bei grenzüberschreitenden Tätigkeiten, die Gleichbehandlung von Inlän-

dern und Ausländern, die Zusammenrechnung ausländischer Versicherungszeiten für

den Erwerb von Leistungen, den Export von Geldleistungen und die Übernahme der

Kosten für im Ausland gewährte medizinische Behandlungen. So bietet Anhang II

FZA Lösungen für die meisten grenzüberschreitenden Situationen im Bereich der so-

zialen Sicherheit.

Jede Revision von Anhang II FZA erfordert die Zustimmung der Parteien bei der Be-

schlussfassung im durch das FZA eingesetzten Gemischten Ausschuss. Der Anhang II

FZA wurde seit 2002 viermal aktualisiert, und die Schweiz hat praktisch die gesamten

neuen Regelungen übernommen. Damit ist das gute Funktionieren des multilateralen

Koordinierungsrechts gewährleistet.

Seit der letzten Aufdatierung von Anhang II FZA hat sich das EU-Recht bei der Ko-

ordinierung der nationalen Sozialversicherungssysteme kaum entwickelt. Neu zu

übernehmen sind die Richtlinie 2014/50/EU betreffend Zusatzrentenansprüche sowie

weitere technische Anpassungen und Beschlüsse. Die Anpassungen durch Kommis-

sionsverordnungen betreffen Eintragungen in den Anhängen der Koordinierungsver-

ordnungen infolge Anpassungen in den nationalen Rechtsvorschriften der Mitglied-

staaten. Die zu übernehmenden Beschlüsse und Empfehlungen regeln Auslegungs-

und Anwendungsfragen der Koordinierungsbestimmungen, beispielsweise die Ar-

beitsweise der Ausschüsse für die soziale Sicherheit, die Modalitäten für die Ablö-

sung des Informationsaustausches im Papierformat durch den elektronischen Daten-

austausch, die Umsetzung der neu eingeführten Fristen für die Kostenerstattung oder

die Berechnung des Differenzbetrags bei den Familienleistungen.

Anhang III FZA/Anerkennung von Berufsqualifikationen

Die Schweiz nimmt gestützt auf Anhang III FZA am EU-Anerkennungssystem von

Berufsqualifikationen teil. Dabei gilt, dass eine Person, die nach den Kriterien des

Herkunftsstaates vollständig zur Ausübung eines Berufs qualifiziert ist, denselben Be-

ruf in allen EU-Staaten – unter Vorbehalt der rechtmässigen Modalitäten des Aufnah-

mestaates – ausüben darf.

Die im Rahmen des Anerkennungssystems reglementierten Berufe sind Berufe, für

deren Ausübung ein bestimmtes Diplom, ein Zeugnis oder ein Ausweis vorausgesetzt

wird. Damit ein Beruf gestützt auf die Richtlinie 2005/36/EG

231

als reglementiert gilt,

müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:

Es muss eine Rechtsgrundlage (sog. Rechts- oder Verwaltungsvorschrift)

auf kommunaler, kantonaler oder nationaler Ebene vorliegen.

Die Rechts- oder Verwaltungsvorschrift der geforderten Berufsqualifikati-

onen bezieht sich auf einen konkreten Verweis im Schweizer Bildungssys-

tem. Es muss aus einer Rechtsgrundlage (Gesetz, Verordnung, Reglement

231

Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September

2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, in der Fassung gemäss Anhang III,

2. Abschnitt des Änderungsprotokolls zum FZA.

219 / 931

etc.) klar hervorgehen, welcher Bildungsgang abgelegt werden muss, um

den Beruf ausüben zu dürfen.

2.3.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

Zuwanderung

Der Bundesrat hat in seinem Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 drei grosse

Ziele festgelegt: 1. die Ausrichtung der Zuwanderung auf die Erwerbstätigkeit beibe-

halten, um die Folgen für die Sozialsysteme zu begrenzen und Missbräuche zu be-

kämpfen; 2. die Vorgaben der Bundesverfassung zur strafrechtlichen Landesverwei-

sung einhalten; 3. Meldeverfahren für wirtschaftlich motivierte Kurzaufenthalte

bewahren. Zur Erreichung dieser vitalen Interessen sollte das relevante EU-Recht un-

ter Beachtung von drei Ausnahmen (Daueraufenthalt, Landesverweisung, biometri-

sche Identitätskarte) und zwei Absicherungen (Aufenthaltsbeendigung, Meldeverfah-

ren) übernommen werden. Zusätzlich sollte der Mechanismus des FZA zur

Bewältigung unerwarteter Auswirkungen, d.h. die Schutzklausel gemäss Artikel 14

Absatz 2 FZA, konkretisiert werden.

Nachdem es der Schweiz bereits im

Common Understanding

vom 27. Oktober 2023

gelungen war, sich mit der EU über die Ausnahmen und Absicherungen zur Errei-

chung der gesetzten Ziele zu einigen, gestaltete sich die erste Phase der Verhandlun-

gen schwierig. So hatten die Delegationen namentlich kein gemeinsames Verständnis

betreffend die Struktur des Änderungsprotokolls und das Zusammenspiel der dyna-

mischen Rechtsübernahme mit dem bestehenden Geltungsbereich des FZA. Die EU-

Delegation war der Ansicht, dass die vorbestehenden Ausnahmen und die

Sui-generis-

Bestimmungen des FZA aufgrund der dynamischen Rechtsübernahme keinen Da-

seinsgrund mehr hätten und aufgehoben werden müssten. Die EU wollte daher auch

die im FZA bestehenden Ausnahmen nicht anerkennen, während die Schweiz der An-

sicht war, dass diese durch das

Common Understanding

bereits garantiert seien; dieses

hielt nämlich fest, dass der Geltungsbereich des FZA unverändert bleibe. Weiter ent-

hielt das Verhandlungsmandat der beiden Delegationen Bedingungen, die über die

Vereinbarungen des

Common Understanding

hinausgingen und für Differenzen sorg-

ten. So verlangte die Schweiz insbesondere eine Konkretisierung der Schutzklausel.

Die EU ihrerseits forderte, dass die Schweiz die Richtlinie 2006/123/EG betreffend

Dienstleistungen ins FZA übernehmen müsse.

232

Dank Fortschritten in den Verhandlungen zu den institutionellen Elementen ging es

ab dem Sommer 2024 dann auch in Bezug auf das FZA vorwärts. Da die Schweiz auf

einer Konkretisierung der Schutzklausel insistierte, obwohl diese nicht Teil des

Com-

mon Understandings

war, brachte die EU eine neue Forderung im Zusammenhang

mit der bestehenden Ausnahmeregelung in Bezug auf die Zulassung zu Universitäten

und Hochschulen, die Studiengebühren und die Gewährung von Unterhaltsbeihilfen

ein.

Am Schluss konnte im Bereich der Hauptdifferenzen folgendes Verhandlungsresultat

erzielt werden: Die Forderung der EU bezüglich Richtlinie 2006/123/EG betreffend

232

Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember

2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt, ABl. L 376 vom 27.12.2006, S. 36–68

.

220 / 931

Dienstleistungen konnte von der Schweiz zurückgedrängt werden. Die Parteien einig-

ten sich darauf, dass diese Richtlinie nicht Teil des für das FZA relevanten EU-

Acquis

ist. Im Gegenzug erklärte sich die Schweiz zu einer Präzisierung der Bestimmung zum

Niederlassungsrecht für Selbstständigerwerbende betreffend das Beschränkungsver-

bot bereit. Die bestehende Schutzklausel im FZA konnte zudem konkretisiert werden.

Die Schweiz erreichte dabei, dass sie das Verfahren zur Aktivierung der Schutzklausel

künftig eigenständig, d.h. ohne Zustimmung der EU einleiten kann. Das neue Schutz-

klauselverfahren stellt insgesamt eine bedeutende Verbesserung dar.

Des Weiteren konnten die bestehenden Ausnahmen im FZA abgesichert werden, in-

klusive der Ausnahme betreffend den Zugang zu Hochschulen. Einzig bei den Stu-

diengebühren wird die Schweiz bei EU-Bürgern und -Bürgerinnen künftig den Nicht-

diskriminierungsgrundsatz anwenden müssen.

Lohnschutz

Im Bereich des Lohnschutzes hatte der Bundesrat im Verhandlungsmandat vom

8. März 2024 für die Verhandlungen mehrere Ziele formuliert. Erstens sollte eine

Angleichung des Rechts entsandter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gemäss

FZA an das in diesem Bereich geltende EU-Recht angestrebt werden. Um das in der

Schweiz aktuell geltende Schutzniveau betreffend Lohn- und Arbeitsbedingungen zu

erhalten, sollten Ausnahmen bezüglich der Voranmeldefrist, der vorgängigen Hinter-

legung einer Kaution im Wiederholungsfall sowie der Dokumentationspflicht von

selbstständigen Dienstleistungserbringerinnen und Dienstleistungserbringern abgesi-

chert werden. Weiter sah das Verhandlungsmandat vor, das Prinzip «gleicher Lohn

für gleiche Arbeit am gleichen Ort» und das schweizerische duale Vollzugssystem

abzusichern sowie eine Non-Regression-Klausel zu vereinbaren. Betreffend Spesen

sollte eine Lösung angestrebt werden, die den Grundsatz «gleicher Lohn für gleiche

Arbeit am gleichen Ort» garantiert, unlauteren Wettbewerb verhindert und die Rechts-

gleichheit zwischen den in- und ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-

mern sicherstellt. Weiter strebte der Bundesrat eine Assoziierung als Drittstaat an die

Europäische Arbeitsbehörde (ELA) an, soweit im Interesse der Schweiz.

Das Verhandlungsziel eines dreistufigen Absicherungskonzepts, bestehend aus Aus-

nahmen, Prinzipien und der Non-Regression-Klausel wurde in den Verhandlungen

erreicht.

Obwohl im

Common Understanding

nicht vorgesehen

,

forderte die Schweiz in den

Verhandlungen dennoch eine Ausnahme in Bezug auf die EU-Spesenregelung, um

das Risiko von Wettbewerbsverzerrungen bei Entsendungen in die Schweiz zu besei-

tigen. Eine Ausnahme konnte nicht erreicht werden. Die EU verwies die Schweiz

diesbezüglich auf den grossen Spielraum bei der innenstaatlichen Umsetzung, wel-

chen auch die EU-Mitgliedstaaten nutzen.

Anhang II FZA/Sozialversicherungskoordinierung

Entwicklungen des EU-Rechts und der EuGH-Rechtsprechung im Bereich der Koor-

dinierung der Sozialversicherungssysteme können mit Mehrkosten verbunden sein.

Die Schweiz hat deshalb von der EU verlangt, im FZA bereits bestehende Ausnah-

meregelungen von der dynamischen Rechtsübernahme auszunehmen. Solche Aus-

221 / 931

nahmen wurden von der EU bereits im Rahmen der Verhandlungen zu einem instituti-

onellen Rahmenabkommen akzeptiert

233

. Zielsetzung der Paketverhandlungen in die-

sem Bereich war es daher, diese Ausnahmen auch im Änderungsprotokoll zum FZA

abzusichern.

Dieses Ziel wurde erreicht. Bezüglich Übernahme der Richtlinie 2014/50/EU er-

reichte die Schweiz zudem, dass die weitergehende berufliche Vorsorge als Teil der

gesetzlichen Rentenversicherung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 unterstellt und

damit vom Geltungsbereich der Richtlinie 2014/50/EU ausgenommen wird.

Anhang III FZA/Anerkennung von Berufsqualifikationen

Teil der Verhandlungen war die Aufdatierung des Anhangs III FZA mit dem relevan-

ten EU-Recht im Bereich der Anerkennung von Berufsqualifikationen seit der letzten

Anpassung von 2015, insbesondere die Übernahme der Richtlinie (EU) 2018/958 vom

28. Juni 2018

234

über eine Verhältnismässigkeitsprüfung vor Erlass neuer Berufsreg-

lementierungen. Im Übrigen werden die seit 2002 bekannten und angewandten Regeln

und Grundsätze in den neuen Anhang III FZA übernommen.

Binnenmarkt-Informationssystem IMI

Die Teilnahme der Schweiz am Binnenmarkt-Informationssystem IMI für den Be-

reich der Anerkennung von Berufsqualifikationen war bereits bis Ende 2021 Gegen-

stand von technischen Verhandlungen mit der EU betreffend eine Revision von An-

hang III FZA gewesen. Auf technischer Stufe wurden sich die beiden Parteien damals

über die Teilnahme der Schweiz einig, doch kam es unter anderem aufgrund einer

Bestimmung im Bundesgesetz vom 18. März 1994

235

über die Krankenversicherung

(KVG) zu keiner definitiven Einigung

236

. Die damals bereits ausgehandelte Lösung

wurde vollständig in das Änderungsprotokoll des FZA übernommen.

Neu wurde im Bereich der Entsendungen eine Teilnahme der Schweiz als Drittstaat

am IMI ausgehandelt und die Verordnung (EU) 1024/2012

237

(IMI-Verordnung) ent-

sprechend in Anhang I des FZA übernommen. Wie im

Common Understanding

vor-

gesehen, erhält die Schweiz für die Realisierung ihrer Teilnahme am IMI im Bereich

233

Vgl. Entwurf für ein institutionelles Rahmenabkommen, Protokoll 2 über die Re-geln zur

Berücksichtigung der Besonderheiten, auf die sich die Vertragsparteien in den Bereichen

Personenfreizügigkeit, Verkehr auf Schiene und Strasse und Handel mit landwirtschaftli-

chen Erzeugnissen geeinigt haben, www.eda.admin.ch > Bilate-raler Weg > Überblick >

Institutionelles Abkommen (bis 2021 > Informationen und Dokumente zum Institutionel-

len Abkommen > Dokumente.

234

Richtlinie (EU) 2018/958 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Juni 2018

über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass neuer Berufsreglementierungen, in der

Fassung gemäss Anhang III Abschnitt 2 des Änderungsprotokolls zum FZA.

235

SR

832.10

236

Aus Sicht der EU besteht eine Inkompatibilität zwischen dem revidierten KVG und dem

FZA hinsichtlich der Zulassungsvoraussetzungen für Ärztinnen und Ärzte (Art. 37 KVG).

Das Parlament verabschiedete die entsprechende KVG-Teilrevision im Wissen um diese

Beurteilung durch die EU. Das revidierte KVG ist seit 2022 in Kraft.

237

Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Ok-

tober 2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt-Informations-

systems und zur Aufhebung der Entscheidung 2008/49/EG der Kommission („IMI-

Verordnung“), ABl. L 316 vom 14/11/2012, p. 1–11.

222 / 931

der Entsendungen eine Übergangsfrist von drei Jahren nach Inkrafttreten des Pakets

Schweiz–EU.

Verhandlungsabschluss

Die Verhandlungsdelegationen in den Bereichen Zuwanderung (SEM) und Entsen-

dung von Arbeitnehmenden (SECO) arbeiteten eng zusammen. Fragen, die beide Be-

reiche betreffen, insbesondere zu formellen Aspekten und zum Geltungsbereich, ver-

handelten die Delegationen gar gemeinsam. Dieses Vorgehen förderte insbesondere

die Kohärenz der vorgebrachten Argumente.

Die erste Verhandlungsrunde fand am 19. März 2024 statt. Insgesamt haben 14 offi-

zielle Verhandlungsrunden stattgefunden, die meisten davon virtuell. Zum Lohn-

schutz gab es fünf zusätzliche separate Verhandlungsrunden. Die Verhandlungsrun-

den wurden durch verschiedenste Austausche und Treffen auf allen Hierarchiestufen

mit der Delegation der EU ergänzt.

Parallel zu den Verhandlungen informierten und konsultierten das SEM und das

SECO die Vertretungen der kantonalen Verbände regelmässig über den Stand der

Verhandlungen und die diskutierten Themen, insbesondere um zu prüfen, ob die ge-

planten Regelungen auf nationaler Ebene umgesetzt werden könnten. Rund 13 Ge-

spräche fanden mit den Kantonen im Bereich der Zuwanderung statt und über 80 Ge-

sprächsrunden mit den Sozialpartnern und den Kantonen zum Lohnschutz. Zudem hat

das WBF/SBFI die akademischen und hochschulpolitischen Gremien miteinbezogen

und sie regelmässig informiert. Die Vertretungen der kantonalen Behörden nahmen

an den Verhandlungen und deren Vorbereitung teil (s. Ziff. 1.3.3.).

An seiner Sitzung vom 20. Dezember 2024 nahm der Bundesrat Kenntnis vom mate-

riellen Verhandlungsabschluss und beurteilte das Verhandlungsmandat in den Berei-

chen Zuwanderung und Lohnschutz als erfüllt. Im Mai 2025 wurden die Verhandlun-

gen mittels Paraphierung der Abkommenstexte formell abgeschlossen.

2.3.4

Vorverfahren

Zwischen 2014 und 2021 führten die Schweiz und die EU Verhandlungen über einen

Entwurf für ein institutionelles Rahmenabkommen im Bereich des Marktzugangs und

Anfang 2021 Nachverhandlungen. Es verblieben jedoch substanzielle Differenzen bei

zentralen Schweizer Interessen, insbesondere im Bereich der Personenfreizügigkeit

und des Lohnschutzes. Deshalb entschied der Bundesrat am 26. Mai 2021 nach einer

gesamtheitlichen Interessensabwägung, das Abkommen nicht zu unterzeichnen und

die Verhandlungen dazu zu beenden (s. Ziff. 2.1.2.2).

Im Februar 2022 legte der Bundesrat die Leitlinien für ein neues Verhandlungspaket

fest, mit dem der bilaterale Weg mit der EU stabilisiert und weiterentwickelt werden

sollte und nahm im März 2022 exploratorische Gespräche mit der EU auf.

Im Zuwanderungsbereich wurde eine technische Arbeitsgruppe Bund–Kantone ge-

schaffen, in welcher auf Seite der Kantone die KdK, die VDK, die SODK, die KKJPD,

aber auch die Fachverbände und – vereine wie die VKM und der VSAA vertreten

waren. Die Arbeitsgruppe traf sich in regelmässigen Abständen, nicht nur während

der exploratorischen Gespräche, sondern auch während der formellen Verhandlungen.

223 / 931

Die kantonalen Vertreterinnen und Vertreter brachten sich ein in Bezug auf Umset-

zungs- und Vollzugsfragen, die parallel zu den aussenpolitischen Gesprächen geführt

wurden. Damit wurde sichergestellt, dass sich die kantonalen Konferenzen und Ver-

bände fortlaufend einbringen und allfällige problematische Aspekte im Vollzug sig-

nalisiert werden konnten.

Im Rahmen der exploratorischen Gespräche im Bereich der Zuwanderung einigten

sich die Schweiz und die EU hinsichtlich der Übernahme der Richtlinie 2004/38/EG

auf Ausnahmen bei der strafrechtlichen Landesverweisung und bei der Gewährung

des Daueraufenthaltsrechts sowie der Übergangsfrist für die Übernahme einer biomet-

rischen Identitätskarte. Ausserdem wurden Absicherungen vereinbart, die das Melde-

verfahren sowie die Beendigung des Aufenthalts von unfreiwillig arbeitslosen Staats-

angehörigen der EU-Mitgliedstaaten betrafen.

Die exploratorischen Gespräche im Bereich des Lohnschutzes ergaben, dass mit der

EU, im Falle der Übernahme des relevanten EU-Entsenderechts, ein dreistufiges Ab-

sicherungsdispositiv vereinbart werden sollte. Das Absicherungsdispositiv beinhal-

tete die Absicherung zweier Prinzipien («gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen

Ort» sowie duales Vollzugssystem der Schweiz) sowie mehrere Ausnahmen: Eine

viertägige Voranmeldepflicht inklusive autonomer Festlegung der Kontrolldichte auf

der Basis einer objektiven Risikoanalyse, eine Kautionspflicht im Wiederholungsfall

mit verhältnismässigen Sanktionen bis hin zu einer Dienstleistungssperre und eine

Dokumentationspflicht für selbstständige Dienstleistungserbringende. Eine von der

Schweiz geforderte Ausnahme betreffend die Spesenregelung wies die EU in den ex-

ploratorischen Gesprächen zurück. Dafür war die EU bereit, eine Non-Regression-

Klausel zu vereinbaren, damit die Schweiz künftige Entwicklungen im EU-Recht

nicht übernehmen müsste, welche das Schutzniveau der entsandten Arbeitnehmenden

bedeutend schwächen würden.

Die Ergebnisse der exploratorischen Gespräche zur Zuwanderung und zum Lohn-

schutz wurden in den Ziffern 13 und 14 des

Common Understanding

festgehalten.

2.3.5

Grundzüge der Protokolle

2.3.5.1

Institutionelle Elemente

Mit dem Institutionellen Protokoll zum FZA (IP-FZA, s. Ziff. 2.3.6.1) werden die

neuen institutionellen Elemente ins Abkommen integriert. Das IP-FZA enthält insbe-

sondere die relevanten Bestimmungen zur dynamischen Rechtsübernahme, zur ein-

heitlichen Auslegung und Anwendung sowie zur Streitbeilegung. Damit ersetzt das

IP-FZA auch die bisherigen institutionellen Bestimmungen des FZA. Es sind dies ge-

mäss Artikel 2 Absatz 2 IP-FZA die Artikel 16 (Bezugnahme auf das Gemeinschafts-

recht), Artikel 17 (Entwicklung des Rechts) und Artikel 19 (Streitbeilegung). Soweit

im Abkommen auf Rechtsakte der Union Bezug genommen wird, ist für die Anwen-

dung von unionsrechtlichen Begriffen neu gemäss Artikel 7 Absatz 2 IP-FZA auch

die Rechtsprechung des EuGH nach Unterzeichnung des Abkommens heranzuziehen.

Eine grosse Bedeutung kommt im FZA den bestehenden und neu verhandelten Aus-

nahmen inklusive Non-Regression-Klausel zu. Die dynamische Rechtsübernahme ist

224 / 931

in den von diesen Ausnahmen und von der Non-Regression-Klausel abgedeckten Be-

reichen ausgeschlossen. Sie werden entsprechend in Artikel 5 Absatz 7 IP-FZA auf-

gelistet. Spezifisch auf das FZA zugeschnitten sind sodann Artikel 5 Absatz 10 und

Artikel 10 Absatz 6, welche die rechtliche Bedeutung der Absicherungen und Prin-

zipen definieren, sowie einzelne Bestimmungen im Zusammenhang mit dem Schutz-

klauselverfahren in der Anlage zum Schiedsgericht (s. Ziff. 2.1.5.4).

2.3.5.2

Änderungsprotokoll

2.3.5.2.1

Personenfreizügigkeit (Anhang I FZA)

Die Schweiz und die EU einigten sich in den Verhandlungen auf ein Änderungspro-

tokoll und ein Institutionelles Protokoll. Wie in allen Binnenmarktabkommen wird

letzteres dem FZA als Protokoll angehängt und ist somit integraler Bestandteil des

Abkommens. Mit dem Änderungsprotokoll werden gewisse Artikel im Hauptteil und

im Anhang I des FZA inhaltlich angepasst und sämtliche materiellen Bestimmungen

aus dem Anhang I in den Hauptteil des FZA verschoben. Die materiellen Bestimmun-

gen im Hauptteil definieren den Geltungsbereich des FZA und begrenzen die dyna-

mische Rechtsübernahme. Diese findet nur im Rahmen des durch den Hauptteil defi-

nierten Geltungsbereichs statt; Bestimmungen im Hauptteil können nur durch

Revisionen des Abkommens, unter Zustimmung aller Vertragsparteien, abgeändert

werden. Mittels Änderungsprotokoll werden dem FZA zudem drei neue Zusatzproto-

kolle, zwölf Gemeinsame Erklärungen sowie eine Einseitige Erklärung angehängt. Im

Anhang I befinden sich künftig nur noch Verweise auf EU-Rechtsakte mit techni-

schen Anpassungen, um den Ausnahmen und anderen abgesicherten Besonderheiten

der Schweiz Rechnung zu tragen. Dort finden sich beispielsweise die zweijährige

Übergangsfrist für die Richtlinie 2004/38/EG sowie die dreijährige Übergangsfrist für

die Entsenderichtlinie.

Der Bundesrat strebte die Absicherung der vitalen Interessen der Schweiz mittels ei-

nes dreistufigen Schutzkonzepts an. Dieses umfasst drei Ausnahmen, zwei Absiche-

rungen und eine konkretisierte Schutzklausel. Damit soll gewährleistet werden, dass

die Zuwanderung aus der EU arbeitsmarktorientiert bleibt, die direkte Einwanderung

in die Sozialsysteme verhindert wird und die Landesverweisung von straffälligen

Ausländerinnen und Ausländern gemäss bisheriger Gesetzgebung grundsätzlich mög-

lich bleibt. Mit der Konkretisierung der Schutzklausel strebte er ein zusätzliches In-

strument an für den Fall, dass die Anwendung des FZA zu schwerwiegenden wirt-

schaftlichen oder sozialen Problemen führt. Diese Ziele wurden erreicht.

Ausnahme Daueraufenthaltsrecht für Erwerbstätige

In Bezug auf das in der Richtlinie 2004/38/EG vorgesehene Daueraufenthaltsrecht

konnte die Schweiz eine gewichtige Ausnahme erzielen. Währenddem das Dauer-

aufenthaltsrecht innerhalb der EU allen Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten so-

wie ihren drittstaatsangehörigen Familienangehörigen ungeachtet ihrer Erwerbssitua-

tion nach fünfjährigem Aufenthalt zusteht, steht es in der Schweiz nur erwerbstätigen

EU-Staatsangehörigen und ihren Familienangehörigen zu. Perioden vollständiger So-

zialhilfeabhängigkeit von sechs Monaten oder mehr werden nicht an die Fünfjahres-

frist für den Erwerb des Daueraufenthaltsrechts gezählt. Dadurch erhalten Personen

225 / 931

das Daueraufenthaltsrecht, die nachhaltig in den Arbeitsmarkt integriert sind. Das Ri-

siko, dass diese Personen arbeitslos werden, ist gering, was das Risiko von Sozialhil-

febezug nach Erhalt des Daueraufenthalts beschränkt.

Ausnahme strafrechtliche Landesverweisung

In Bezug auf die strafrechtliche Landesverweisung wurde eine weitere wichtige Aus-

nahme erreicht: Die Schweiz übernimmt keine Bestimmungen der Richtlinie

2004/38/EG betreffend die Landesverweisung, die über die Verpflichtungen gemäss

heutigem FZA hinausgehen. Damit kann die Schweiz die Vorgaben der Bundesver-

fassung zur strafrechtlichen Landesverweisung wahren. Die bisherigen Gesetzesbe-

stimmungen betreffend die strafrechtliche Landesverweisung (s. Art. 66

a

ff. Strafge-

setzbuch

238

[StGB] und Art. 49

a

ff. Militärstrafgesetz vom 13. Juni 1927

239

[MStG]),

die auf straffällige ausländische Staatsangehörige Anwendung finden, bleiben unver-

ändert bestehen.

Ausnahme biometrische Identitätskarten

Mit dieser Ausnahme werden die in der Verordnung (EU) 2019/1157

240

genannten

Fristen für die Einführung biometrischer Identitätskarten derogiert. Die Schweiz er-

hält nach Inkrafttreten des Änderungsprotokolls ein Jahr Zeit, um biometrische Iden-

titätskarten einzuführen. Zudem bleiben alle bis zu diesem Zeitpunkt ausgestellten

Schweizer Identitätskarten ohne Chip in der EU weiterhin bis zu ihrem Ablaufdatum

gültig (längstens zehn Jahre).

Absicherung Beendigung Aufenthalt von ehemaligen Erwerbstätigen

Unter dem FZA von 1999 haben Staatsangehörige der Vertragsparteien das Recht

nach Beendigung eines Arbeitsverhältnisses mit einer Dauer von weniger als einem

Jahr im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei zu bleiben, um sich eine Beschäfti-

gung zu suchen, und sich während eines angemessenen Zeitraums von bis zu sechs

Monaten dort aufzuhalten, sofern dies erforderlich ist, um von den ihrer beruflichen

Befähigung entsprechenden Stellenangeboten Kenntnis zu nehmen und gegebenen-

falls die erforderlichen Massnahmen im Hinblick auf ihre Einstellung zu treffen

(Art. 2 Abs. 1 Anhang I FZA). Sie gelten während dieser Frist als Nichterwerbstätige

und können während der Dauer dieses Aufenthalts von der Sozialhilfe ausgeschlossen

werden (Art. 2 Abs. 1 letzter Satz Anhang I FZA). Im nationalen Recht wurde von

dieser Möglichkeit des Sozialhilfeausschlusses Gebrauch gemacht. (vgl. Art. 61

a

Abs 3 des Ausländer- und Integrationsgesetzes vom 16. Dezember 2005

241

(AIG). Im

Gegensatz dazu hält das Änderungsprotokoll zum FZA in Verbindung mit Artikel 7

238

SR

311.0

239

SR

321.0

240

Verordnung (EU) 2019/1157 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni

2019 - zur Erhöhung der Sicherheit der Personalausweise von Unionsbürgern und der Auf-

enthaltsdokumente, die Unionsbürgern und deren Familienangehörigen ausgestellt werden,

die ihr Recht auf Freizügigkeit ausüben, in der Fassung gemäss Anhang I Abschnitt 2 des

Änderungsprotokolls zum FZA.

241

SR

142.20

226 / 931

Absatz 3 Buchstabe c der Richtlinie 2004/38/EG fest, dass die Erwerbstätigeneigenei-

genschaft für mindestens sechs Monate aufrechterhalten bleibt, wenn Staatsangehö-

rige der EU-Mitgliedstaaten bei einer Erwerbstätigkeit von unter zwölf Monaten un-

freiwillig arbeitslos werden. Im VE-AIG wird die Frist auf sechs Monate festgelegt

(vgl. Art. 61

a

Abs 1). Während dieser sechs Monate behalten Staatsangehörige der

EU-Mitgliedstaaten ihre Erwerbstätigeneigenschaft und können daher auch Sozial-

hilfe beziehen. Um allfälligen Missbräuchen vorzubeugen, setzt dies allerdings vo-

raus, dass sie beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) angemeldet sind

und sich diesem zur Verfügung stellen. Diese Bestimmung gilt sowohl für Arbeitneh-

mende als auch für selbstständig Erwerbstätige.

Auch die unfreiwillige Beendigung der Erwerbstätigkeit von Arbeitnehmenden bei

einem Aufenthalt von über zwölf Monaten gemäss Artikel 6 Absatz 6 Anhang I des

FZA von 1999 wurde in Artikel 61

a

Absatz 4 AIG kodifiziert. Die Richtlinie

2004/38/EG sieht nun vor, dass die Erwerbstätigeneigenschaft erhalten bleibt, solange

sich Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten bei einem unfreiwilligen Verlust der

Erwerbstätigkeit nach einer Beschäftigung von über zwölf Monaten der öAV zur Ver-

fügung stellen. Auch dies gilt sowohl für Arbeitnehmende als auch selbstständig Er-

werbstätige. Die Erwerbstätigeneigenschaft besteht bei unfreiwilligem Verlust der Er-

werbstätigkeit nach einer Beschäftigung von über zwölf Monaten also nur solange

grundsätzlich unbeschränkt fort, als sich die Person dem zuständigen Arbeitsamt zur

Verfügung stellt.

Zusätzlich hat die Schweiz mit der EU in einer Gemeinsamen Erklärung die Absiche-

rung ausgehandelt, wonach der Aufnahmestaat im Einzelfall und unter Anwendung

der gleichen Massstäbe wie bei seinen eigenen Staatsangehörigen berücksichtigen

kann, ob ein Arbeitsuchender ernsthaft in gutem Glauben mit dem zuständigen Amt

zusammenarbeitet, um wieder eine Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt zu finden.

Ziel dieser Zusammenarbeit ist es, dass Arbeitsuchende innerhalb eines angemesse-

nen Zeitraums eine Stelle finden (zur nationalen Umsetzung dieser Bestimmungen

vgl. Art. 61

a

Abs. 2 VE-AIG). Andernfalls können die Erwerbstätigeneigenschaft und

das damit verbundene Aufenthaltsrecht verloren gehen. Damit wird auch der miss-

bräuchlichen Inanspruchnahme staatlicher Leistungen vorgebeugt.

Absicherung Meldeverfahren beim bedingungslosen Recht auf Aufenthalt

bis zu drei Monaten

Das FZA von 1999 enthält keine spezielle Bestimmung für Aufenthalte von bis zu

drei Monaten, ausser in Artikel 5 Absatz 3 FZA in Verbindung mit Artikel 23 An-

hang I FZA, der das Recht auf Einreise und Aufenthalt von höchstens drei Monaten

für Dienstleistungsempfängerinnen und -empfänger vorsieht.

242

Artikel 6 Absatz 2

und Artikel 7 Absatz 2 Anhang I FZA sehen sodann vor, dass Arbeitnehmende und

abhängig beschäftigte Grenzgängerinnen und Grenzgänger bei einer Beschäftigung

von höchstens drei Monaten keine Aufenthaltserlaubnis benötigen beziehungsweise

ausgestellt wird. Die Voraussetzungen für den Aufenthalt von Staatsangehörigen der

EU-Mitgliedstaaten von bis zu drei Monaten richteten sich viel mehr nach nationalem

Recht, namentlich dem AIG und den dazugehörigen Verordnungen (insbesondere die

242

BGE

149

I 248, E. 6.2.

227 / 931

Verordnung vom 24. Oktober 2007

243

über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätig-

keit, [VZAE] sowie die Verordnung vom 22. Mai 2002

244

über den freien Personen-

verkehr [VFP]). Artikel 10 AIG, der besagt, dass ausländische Personen für einen

Aufenthalt ohne Erwerbstätigkeit bis zu drei Monaten keine Bewilligung benötigen,

verschafft keinen direkten Anspruch auf Anwesenheit.

245

Das Änderungsprotokoll

zum FZA in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 1 der Richtlinie 2004/38/EG verschafft

dagegen das Recht auf Aufenthalt für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten. Staats-

angehörige der EU-Mitgliedstaaten müssen dabei im Besitz eines gültigen Personal-

ausweises oder Reisepasses sein. Ansonsten sind keine weiteren Bedingungen zu er-

füllen oder Formalitäten zu erledigen. Die Rechte der Staatsangehörigen der EU-

Mitgliedstaaten gehen demnach bei einem Aufenthalt von bis zu drei Monaten weiter

als unter dem FZA von 1999.

Die Schweiz konnte dazu eine wichtige weitere Absicherung aushandeln. Die gemein-

same Erklärung über die Meldung betreffend Stellenantritte und die Einseitige Erklä-

rung der Schweiz über die bei Selbstständigen zu ergreifenden Massnahmen im Rah-

men des Meldeverfahrens für kurzfristige Erwerbstätigkeit ermöglicht es der Schweiz,

das bisherige Meldeverfahren für Stellenantritte im Kurzaufenthalt bis zu drei Mona-

ten aufrechtzuerhalten und die Meldepflicht auf selbstständige Erwerbstätige auszu-

dehnen (s. Ziff. 2.3.6.2.6).

Konkretisierung der Schutzklausel

Es ist der Schweiz gelungen, mit der EU eine Konkretisierung der bestehenden

Schutzklausel auszuhandeln (Art. 14 Abs. 2 FZA). Neu kann die Schweiz eigenstän-

dig das Verfahren zur Aktivierung der Schutzklausel einleiten, wenn die Anwendung

des FZA zu schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Schwierigkeiten führt.

Gibt es im Gemischten Ausschuss des Freizügigkeitsabkommens (GA) keine Eini-

gung, kann die Schweiz das Schiedsgericht ohne Zustimmung der EU anrufen. Das

Schiedsgericht entscheidet, ob schwerwiegende wirtschaftliche Probleme vorliegen.

Wird dies bejaht, kann die Schweiz eigenständig geeignete Schutzmassnahmen er-

greifen. Entsteht dadurch ein Ungleichgewicht, kann die EU ihrerseits Ausgleichs-

massnahmen innerhalb des FZA ergreifen. Wenn das Schiedsgericht das Vorliegen

schwerwiegender wirtschaftlicher Probleme verneint, kann die Schweiz dennoch ent-

scheiden, geeignete Massnahmen zur Beseitigung der festgestellten Probleme zu er-

greifen. Sie muss dann aber in Kauf nehmen, dass die EU ihrerseits ein Streitbeile-

gungsverfahren wegen Verletzung des FZA initiieren und verhältnismässige

Ausgleichsmassnahmen in einem der Binnenmarktabkommen (ausgenommen dem

Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens) ergreifen könnte (s. Erläuterungen zur

Schutzklausel und zur innerstaatlichen Umsetzung gemäss Art. 21

b

VE-AIG in

Ziff. 2.3.8.1.1)

243

SR

142.201

244

SR

142.203

245

BGE

149

I 248, E. 6.3.

228 / 931

Studierende

Die Schweiz verpflichtet sich neu, Studierende, die Staatsangehörige der EU-

Mitgliedstaaten sind und zum Studium in die Schweiz kommen, bei den Studienge-

bühren an den mehrheitlich öffentlich finanzierten universitären Hochschulen und

Fachhochschulen gleich zu behandeln wie Schweizer Studierende. Umgekehrt werden

Schweizer Studierende in der EU hinsichtlich Studiengebühren ebenfalls wie EU-

Studierende behandelt. Das allgemeine Diskriminierungsverbot des Artikels 2 FZA

gilt ausdrücklich auch für allfällige spezifische öffentliche Unterstützungsmechanis-

men für Studiengebühren. Die Zulassung und die Unterhaltsbeiträge (Stipendien)

bleiben hingegen wie bisher ausdrücklich vom Geltungsbereich des FZA und damit

vom allgemeinen Diskriminierungsverbot ausgenommen. Das heutige System der Zu-

lassung zu den schweizerischen Hochschulen und damit insbesondere der prüfungs-

freie Zugang für schweizerische Maturandinnen und Maturanden bleibt somit gewähr-

leistet. Die bei Inkrafttreten des Abkommens bestehenden Anteile der EU-

Studierenden in der Schweiz und der Schweizer Studierenden in der EU sollen insge-

samt nicht verringert werden. Für die schweizerischen Hochschulen ergibt sich daraus

weder eine Verpflichtung, eine Mindestzahl von Studienplätzen für Studierende aus

der EU zu garantieren, noch den Anteil der Studierenden aus der EU zu erhöhen. Dies

steht zudem unter dem Vorbehalt der Erhaltung der Qualität und der Besonderheiten

des Bildungssystems, einschliesslich des Zulassungssystems und der Organisation der

Kompetenzen. Die Schweizerische Hochschulkonferenz (SHK), das gemeinsame

hochschulpolitische Organ von Bund und Kantonen, wird die Entwicklungen der Stu-

dierendenanteile und der Zulassungsbeschränkungen entsprechend monitoren.

Gleichstellung von Selbstständigen

Während das FZA von 1999 unterschiedliche Bestimmungen für Arbeitnehmende mit

Wohnsitz in der Schweiz und für selbstständig Erwerbstätige aus der EU mit Nieder-

lassungsrecht vorsah, besteht unter dem Änderungsprotokoll zum FZA in Verbindung

mit der Richtlinie 2004/38/EG eine einzige Bestimmung für Arbeitnehmende und

Selbstständige (Art. 7 Abs. 1 Bst. a und Art. 8 Absatz 3, 1. Aufzählungspunkt). Dem-

nach sind auch die Voraussetzungen für das Vorliegen einer selbstständigen Erwerbs-

tätigkeit die gleichen wie bei Arbeitnehmenden. Konkret wird für eine selbstständige

Erwerbstätigkeit eine tatsächliche und echte Tätigkeit verlangt, welche nicht völlig

untergeordnet und unwesentlich sein darf.

Auch gemäss Änderungsprotokoll zum FZA in Verbindung mit der Richtlinie

2004/38/EG kann wie bereits unter dem FZA für das Gewähren eines Aufenthalts-

rechts ein Nachweis der Selbstständigkeit verlangt werden (Art. 8 Abs. 3 Aufzähl-

punkt 1 Richtlinie 2004/38/EG).

Die Gleichstellung von Selbstständigen mit Unselbstständigen gemäss Änderungs-

protokoll zum FZA in Verbindung mit der Richtlinie 2004/38/EG bezieht sich auch

darauf, dass selbstständig Erwerbstätige für die Aufrechterhaltung der Erwerbstäti-

geneigenschaft den gleichen Voraussetzungen unterliegen wie Unselbstständige und

damit ihre Erwerbstätigeneigenschaft beibehalten, wenn sie mit dem RAV kooperie-

ren. Dauerte die Erwerbstätigkeit weniger als ein Jahr, so ist die Aufrechterhaltung

der Erwerbstätigeneigenschaft auf sechs Monate nach Aufgabe der Erwerbstätigkeit

229 / 931

beschränkt (Art. 7 Abs. 3 Bst. c Richtlinie 2004/38/EG in Verbindung mit Art. 61

a

Abs. 1 VE-AIG).

Familiennachzug

Der Kreis der Personen, die Anspruch auf Familiennachzug haben, wird im Ände-

rungsprotokoll zum FZA in Verbindung mit der Richtlinie 2004/38/EG erweitert auf

Personen in eingetragener Partnerschaft, unterhaltsberechtigte Verwandte in aufstei-

gender Linie von Personen in eingetragener Partnerschaft sowie auf Nachkommen

von Personen in eingetragener Partnerschaft, die unter 21 Jahre alt sind oder denen

Unterhalt gewährt wird. Weiter wird der Personenkreis, der einen erleichterten Fami-

liennachzug geltend machen kann, auf pflegebedürftige Familienangehörige sowie

Lebenspartnerinnen und Lebenspartner erweitert und die Pflichten des Aufnahmes-

taates bei der Prüfung der persönlichen Umstände und Begründung von Ablehnungen

ausgeweitet. Ausserdem wird die Bedingung einer angemessenen Wohnung beim Fa-

miliennachzug in der Richtlinie nicht mehr erwähnt. Zusätzlich haben alle nachgezo-

genen Familienangehörigen Anspruch auf Erwerbstätigkeit. Ausserdem verlangt die

Richtlinie 2004/38/EG für die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts bei einer

Scheidung, Aufhebung der Ehe oder der Beendigung der eingetragenen Partnerschaft

bei Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines EU-Staates besitzen,

dass die Ehe oder eingetragene Partnerschaft mindestens drei Jahre bestanden hat,

wovon jedoch nur ein Jahr davon in der Schweiz gelebt worden sein muss. Im Gegen-

satz dazu kennt das FZA von 1999 keine entsprechende Regelung. Es gelten zurzeit

die Bestimmungen des AIG, welche zwar ebenfalls verlangen, dass die Ehegemein-

schaft mindestens drei Jahre besteht, die drei Jahre müssen aber gemäss bundesge-

richtlicher Rechtsprechung

246

in der Schweiz gelebt worden sein (Art. 50 Abs. 1 lit. a

AIG).

Ausnahme beim Immobilienerwerb

Die heute geltende Ausnahme zum Immobilienerwerb (Art. 25 Anhang I des FZA von

1999) wird neu in Artikel 7 f im Hauptteil des FZA inhaltlich unverändert weiterge-

führt (s. Erläuterungen zu Art. 1 Ziff. 6 des Änderungsprotokolls betreffend Art. 7f

des FZA (Immobilienerwerb) in Ziff. 2.3.6.2.2).

Zusatzprotokoll zu Bewilligungen für Langzeitaufenthalte

(Niederlassungsbewilligungen)

Das Verhandlungsmandat des Bundesrats sah vor, dass die Schweiz bereit ist, allen

Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten unter Gleichbehandlung und nach einer

Mindestdauer eines vorgängigen Aufenthalts von fünf Jahren eine Niederlassungsbe-

willigung zu erteilen, wobei die Integrationskriterien nach AIG eingehalten werden

sollen. Diese Verpflichtung wurde reziprok in einem Protokoll zum FZA festgehalten,

das ausdrücklich vorbehält, dass Bewilligungen für Langzeitaufenthalte (Niederlas-

sungsbewilligungen) ausserhalb des Geltungsbereichs des FZA liegen (s. Erläuterun-

gen unter Ziff. 2.3.6.4).

246

Urteil 2C_634/2023 vom 13. Januar 2025, E. 4.1.

230 / 931

Teilnahme am EURES

Das Europäische Netz der Arbeitsvermittlungen (EURES) hat zum Ziel, die Mobilität

der Arbeitnehmenden innerhalb der EU- und EFTA-Mitgliedstaaten zu erleichtern.

Mit einer Beteiligung der Schweiz am EURES können Schweizer Arbeitsnehmende

ebenfalls Zugang auf EURES veröffentliche Stellenausschreibung haben. Bisher war

die Beteiligung der Schweiz am EURES gestützt auf Artikel 11 Anhang I FZA vor-

gesehen. Die Zusammenarbeit war in einer bilateralen Vereinbarung mit der Europä-

ische Kommission geregelt. Neu wendet die Schweiz das entsprechende EU-Recht

an: Die Teilnahme am EURES ergibt sich aus der Übernahme der Verordnung (EU)

2016/589. Die Schweiz verpflichtet sich nach Artikel 1des Anhangs zum IP-FZA be-

treffend die Anwendung von Artikel 13 dieses Protokolls zu einem finanziellen Bei-

trag am EURES. Der Mechanismus, welcher in Artikel 13 des IP-FZA festgelegt wird,

ist in Ziffer 2.3.9.1.1 genauer beschrieben. Eine Gemeinsame Erklärung zu Stellenan-

geboten wurde ebenfalls abgeschlossen (s. Erläuterungen unter Ziff. 2.3.6.2.6). Diese

Gemeinsamen Erklärung hält die Absicherung der nationalen Gesetzgebung betref-

fend die Einführung einer Stellenmeldepflicht zur Umsetzung von Artikel 121a BV

fest.

Lohnschutz

Im Rahmen der Aufdatierung des FZA wird die auch die EU-Entsenderichtlinien

übernehmen. Die Übernahme des EU-Entsenderechts umfasst die Richtlinie

96/71/EG

247

, sowie die Richtlinie 2014/67/EU

248

.

Mit Ausnahmen von der dynamischen Rechtsübernahme wurden Schweizer Beson-

derheiten abgesichert: die Voranmeldefrist für ausländische Firmen, die Arbeitneh-

merinnen und Arbeitnehmer in die Schweiz entsenden oder als selbstständige Dienst-

leistungserbringende in der Schweiz Arbeiten verrichten, die autonome Festlegung

der Kontrolldichte, die Kautionspflicht im Wiederholungsfall als Ausnahme in Bezug

auf die Richtlinie 2014/67/EU und die Dokumentationspflicht für selbstständige

grenzüberschreitende Dienstleistungserbringende als Massnahme zur Bekämpfung

der Scheinselbstständigkeit. Sollte sich das EU-Entsenderecht ändern, unterliegen

diese Ausnahmen nicht der dynamischen Rechtsübernahme und bleiben somit beste-

hen.

Zudem wurden zwei Prinzipien abgesichert: «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am

gleichen Ort» sowie das duale Vollzugssystem der Schweiz. Das heisst die Schweiz

setzt weiterhin das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» um.

Das bedeutet, dass Entsendebetriebe die in der Schweiz geltenden Regeln für die Be-

zahlung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auch für alle entsandten Arbeit-

nehmerinnen und Arbeitnehmer einhalten müssen. Das duale Vollzugssystem bei den

FlaM umfasst die Kontrolle der Lohn- und Arbeitsbedingungen durch die Sozialpart-

ner (paritätische Kommissionen) und die Kantone. Die Sozialpartner können auch ihre

247

Richtlinie 96/71/EG, in der Fassung gemäss Anhang I Abschnitt 2 des Änderungsproto-

kolls zum FZA.

248

Richtlinie 2014/67/EU, in der Fassung gemäss Anhang I Abschnitt 2 des Änderungsproto-

kolls zum FZA.

231 / 931

in den Gesamtarbeitsverträgen vorgesehenen Sanktionen weiterhin in verhältnismäs-

siger und nichtdiskriminierender Art und Weise anwenden. Die Schweiz und die EU

sind übereingekommen, dass diese beiden Prinzipien bei der Integration von EU-

Rechtsakten in die Schweizer Rechtsordnung zu berücksichtigen sind.

Mit der Non-Regression-Klausel wurde vereinbart, dass künftige Anpassungen oder

neue Entwicklungen des EU-Entsenderechts, die das zwischen der Schweiz und der

EU im angepassten FZA zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Änderungsprotokolls

im Abkommen vereinbarte Schutzniveau betreffend die Arbeits- und Lohnbedingun-

gen bedeutend verschlechtern würden, nicht in das FZA übernommen werden müssen.

Sie bezieht sich folglich auf die Bestimmungen zur grenzüberschreitenden Dienstleis-

tungserbringung des FZA, inkl. der diesbezüglichen Ausnahmen und Prinzipien sowie

des im Anhang gelisteten relevanten EU-Rechts. Die Non-Regression-Klausel sichert

somit das Schweizer Lohnschutzniveau gegen Rückschritte aufgrund der dynami-

schen Rechtsübernahme ab oder stellt anders formuliert eine Ausnahme von der dy-

namischen Rechtsübernahme dar.

Die Gemeinsame Erklärung über die Beteiligung der Schweiz an den Tätigkeiten der

Europäischen Arbeitsbehörde ermöglicht schliesslich die weitere Teilnahme der

Schweiz im Management-Board der Europäischen Arbeitsbehörde (ELA). Zu einem

späteren Zeitpunkt steht es der Schweiz offen, eine stärkere Einbindung, das heisst

den Abschluss einer Vereinbarung zur weiteren Zusammenarbeit mit der ELA, zu

prüfen.

Die Schweiz nimmt zudem neu als Drittstaat gemäss der IMI-Verordnung im Bereich

Entsendungen am Binnenmarkt-Informationssystem IMI teil (s. Ziff. 2.3.6.2.3.). Die

Schweiz verpflichtet sich nach Artikel 1 des Anhangs zum IP-FZA betreffend die An-

wendung von Artikel 13 dieses Protokolls zu einem finanziellen Beitrag am IMI. Der

Mechanismus, welcher in Artikel 13 des IP-FZA festgelegt wird, ist in Ziffer 2.3.9.1.1

genauer beschrieben.

2.3.5.2.2

Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit

(Anhang II FZA)

Durch die in den Verhandlungen erreichte Unterstellung der weitergehenden Berufli-

chen Vorsorge unter die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 können die Auswirkungen

der Übernahme der Richtlinie 2014/50/EU abgeschwächt werden. Artikel 5 der Richt-

linie sieht vor, dass unverfallbare Rentenanwartschaften im Zusatzrentensystem, in

dem sie erworben wurden, erhalten werden müssen, wenn die Arbeitnehmenden aus

dem Beschäftigungsverhältnis ausscheiden. Lediglich für Beträge unterhalb eines ge-

ringen Schwellenwertes kann die Möglichkeit einer Barauszahlung des Kapitals ein-

geräumt werden. Faktisch kommt das einem Barauszahlungsverbot gleich. Das ange-

sparte Kapital in der weitergehenden Beruflichen Vorsorge müsste deshalb bei einem

Wegzug aus der Schweiz in einen Mitgliedstaat der EU in der Schweiz blockiert wer-

den. Durch die Unterstellung der weitergehenden Vorsorge unter die Verordnung

(EG) Nr. 883/2004 gilt anstelle dieses Verbots nur eine Einschränkung der Baraus-

zahlung beim Umzug in einen EU-Mitgliedstaat, wie dies bereits für die obligatori-

sche Minimalvorsorge vorgesehen ist. So gelten für die gesamte Berufliche Vorsorge

die gleichen Regeln, was die Durchführung massgeblich erleichtern wird.

232 / 931

Die vierjährige Übergangsfrist für das Inkrafttreten dieser Regelung erlaubt es den

Versicherten, ihre Vorsorgeplanung entsprechend anzupassen. Gleichzeitig erhalten

die Vorsorgeeinrichtungen die erforderliche Zeit, ihre Prozesse in Einklang mit den

neuen Regelungen zu bringen.

In den Verhandlungen wurde erreicht, dass bestimmte bestehende spezielle Regelun-

gen und Vorbehalte der Schweiz von der dynamischen Rechtsübernahme ausge-

schlossen werden (s. Ziff. 2.3.6.2.4).

Nicht mehr in Kraft stehende Rechtsakte wurden aus Anhang II FZA gestrichen und

neu erlassene hinzugefügt. So betreffen weitere technische Anpassungen in verschie-

denen Verordnungen, Beschlüssen und Empfehlungen z.B. die Nachführung von na-

tionalen Eintragungen einzelner EU-Mitgliedstaaten in die Anhänge der Koordinie-

rungsverordnungen, Umsetzungsfragen des elektronischen Datenaustauschs oder die

Arbeitsweise verschiedener Gremien auf EU-Ebene im Sozialversicherungsbereich.

2.3.5.2.3

Anerkennung von Berufsqualifikationen (Anhang III FZA)

Zentraler Inhalt der Aufdatierung im Anhang III FZA ist die Einführung des Binnen-

markt-Informationssystems IMI durch eine Übernahme der IMI-Verordnung durch

die Schweiz als Drittstaat. IMI ist ein verschlüsseltes Online-Tool, auf das die zustän-

digen Behörden der EU-Mitgliedstaaten mit einem Passwort zugreifen. Das System

erleichtert den behördlichen Informationsaustausch im Rahmen der praktischen Um-

setzung des EU-Rechts. Mit der Aufdatierung von Anhang III FZA kann die Schweiz

neu an der Verwaltungszusammenarbeit über IMI teilnehmen. Zudem kann die

Schweiz durch die IMI-Teilnahme künftig für den Nachweis von erforderlichen

Berufsqualifikationen vom Europäischen Berufsausweis Gebrauch machen und den

Vorwarnmechanismus bei einem Verbot oder bei einer Beschränkung der Ausübung

eines reglementierten Berufs nutzen (s. Ziff. 2.3.9.2.1, was die Auswirkungen auf die

Kantone betrifft). Gemäss Artikel 1 des Anhangs zum IP-FZA betreffend die Anwen-

dung von Artikel 13 dieses Protokolls verpflichtet sich die Schweiz zu einem finanzi-

ellen Beitrag für die Teilnahme am IMI (s. Ziff. 2.3.9.1.1).

2.3.6

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der Protokolle

2.3.6.1

Institutionelles Protokoll

Dynamische Rechtsübernahme

Entsprechend dem Grundsatz der dynamischen Rechtsübernahme (s. Ziff. 2.1.5.2)

sind die Vertragsparteien im Rahmen des aufdatierten FZA zur Integration derjenigen

EU-Rechtsakte in das Abkommen verpflichtet, welche in den durch das Abkommen

klar begrenzten Geltungsbereich fallen. Die EU und die Schweiz integrieren die be-

troffenen Rechtsakte dabei so rasch als möglich in das Abkommen (Art. 5 Abs. 1 IP-

FZA). Hierfür gilt neu die Integrationsmethode, das heisst, sobald die Rechtsakte der

EU in das Abkommen integriert wurden, sind sie – gegebenenfalls mit Anpassungen,

die bei ihrer Integration beschlossen wurden – allein durch ihre Integration in das Ab-

kommen Teil der Schweizer Rechtsordnung geworden (Art. 5 Abs. 2). Bisher war die

Schweiz im Rahmen des FZA lediglich verpflichtet, gleichwertige Rechte und Pflich-

ten zu schaffen, wie sie in den in das Abkommen aufgeführten EU-Rechtsakten ent-

halten sind (Art. 16 FZA). Allerdings kam für die Anhänge II und III bereits in der

233 / 931

Vergangenheit

de facto

die Integrationsmethode zur Anwendung. Anhang I wurde

bisher noch nie angepasst. (s. Ziff. 2.1.5.2.2).

Von der dynamischen Rechtsübernahme ausgenommen sind EU-Rechtsakte, die in

den Anwendungsbereich der unter Artikel 5 Absatz 7 des IP-FZA aufgelisteten Aus-

nahmen beziehungsweise unter die Non-Regression-Klausel fallen (Art. 5g, 5h, 5i, 5j,

7b, 7e, 7f, 7g, 7h, Anhang II Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit,

Teil II, Sektorielle Anpassungen, Punkt 1.a – f des Änderungsprotokolls; zu den ein-

zelnen Ausnahmen s. Ziff. 2.3.5.2).

Teil der Verhandlungen war zudem auch die Aufdatierung des FZA um den seit 1999

aufgelaufenen FZA-relevanten EU-

Acquis

. Dies betraf insbesondere den Anhang I,

der seit 1999 mit Ausnahme der Bestimmungen zur Ausweitung des FZA auf neue

EU-Mitgliedstaaten, nie an das neue EU-Recht in diesem Bereich angepasst wurde.

Von Relevanz sind hier vor allem die Richtlinie 2004/38/EG- und das Entsenderecht.

Im Dienstleistungsbereich verlangte die EU zudem die Aufnahme der Richtlinie

2006/123/EG betreffend Dienstleistungen. Die Schweiz konnte indessen erreichen,

dass dieser Rechtsakt der EU, der ihrer Ansicht nach nicht in den Geltungsbereich des

FZA fällt, nicht in das Abkommen integriert wird. Die anderen Anhänge des FZA

(Anhang II: Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit; Anhang III: Gegen-

seitige Anerkennung von Berufsqualifikationen) wurden bereits unter dem geltenden

FZA regelmässig aufdatiert, auch wenn diesbezüglich keine Verpflichtung bestand.

Bei diesen beiden Anhängen enthält die Liste der zu übernehmenden Rechtsakte somit

jene Rechtsakte, die Weiterentwicklungen betreffend den Geltungsbereich dieser An-

hänge entsprechen, welche aber noch nicht integriert wurden. In Fällen, in denen

Rechtsakte der EU den Geltungsbereich des FZA nur teilweise betreffen oder in denen

der Schweiz zu gewissen Bestimmungen eine Ausnahme von der dynamischen Über-

nahme gewährt wurde (s. Liste der Ausnahmen unter Art. 5 Abs. 7 des IP-FZA), neh-

men die Schweiz und die EU eine Teilübernahme des betreffenden Rechtsakts vor.

Nach Artikel 5 Absatz 10 IP-FZA verpflichten sich die Vertragsparteien, das Prinzip

«gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» und das duale Vollzugssystem der

Schweiz im Rahmen der dynamischen Rechtsübernahme zu berücksichtigen

(s. Ziff. 2.3.5.2.1). Sie anerkennen damit ihre spezifische Rechtsverbindlichkeit, die

aber nicht gleichwertig ist wie jene der Ausnahmen. Die Schweiz kann diese Elemente

jedoch während der Diskussionsphase vor der Integration eines EU-Rechtsakts gel-

tend machen und gegebenenfalls Anpassungen dieses Rechtsakts verlangen, damit sie

berücksichtigt werden (s. Ziff. 2.1.5.2.2). Diese Berücksichtigungspflicht kann na-

mentlich auch im Falle eines Streits über die dynamische Rechtsübernahme relevant

sein, etwa im Zusammenhang mit der Beurteilung der Verhältnismässigkeit möglicher

Ausgleichsmassnahmen infolge eines Streitfalls. Das Bestehen und die Rechtsver-

bindlichkeit des Prinzips «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» und des

dualen Vollzugssystems der Schweiz werden zur Folge haben, dass die von der EU

beschlossenen Ausgleichsmassnahmen weniger einschneidend sein dürften als Mass-

nahmen, die bei deren Nichtbestehen ergriffen würden, und dass die Beurteilung der

Verhältnismässigkeit solcher Massnahmen gegebenenfalls strenger ausfallen dürfte,

wenn die Schweiz einen Rechtsakt der EU nicht übernimmt, weil er ihres Erachtens

gegen das erwähnte Prinzip und das Vollzugssystem verstösst.

234 / 931

Streitbeilegung

Nach den allgemeinen institutionellen Regeln verpflichten sich die Schweiz und die

EU, alle Streitigkeiten, die sich aus der Auslegung und Anwendung des FZA und der

im Abkommen genannten Rechtsakte ergeben, nach dem vorgesehenen Streitbeile-

gungsmechanismus beizulegen (s. Ziff. 2.1.5.4).

Insofern als das FZA ein bilaterales Abkommen in einem Bereich betreffend den Bin-

nenmarkt ist, an dem die Schweiz teilnimmt (Art. 3 Abs. 2 IP-FZA), können die ver-

hältnismässigen Ausgleichsmassnahmen, die eine Vertragspartei ergreifen kann, um

ein mögliches Ungleichgewicht zu beheben, im Rahmen des FZA selbst oder aber

auch im Rahmen eines anderen Abkommens in den Bereichen betreffend den Binnen-

markt, an denen die Schweiz teilnimmt, ergriffen werden (Art. 11 Abs. 1 IP-FZA).

Ferner sieht die Bestimmung zur konkretisierten Schutzklausel (s. Erläuterungen zu

Art. 14

a

Schutzklausel in Ziff. 2.3.6.2.2,) spezifische Regelungen betreffend das

Streitbeilegungsverfahren vor. Diese werden durch einzelne Bestimmungen in der

Anlage zum Schiedsgericht ergänzt.

Das IP-FZA enthält in Artikel 10 Absatz 6 zudem eine spezifische Bestimmung zum

rechtlichen Gehalt der zwei ausgehandelten Absicherungen, die in den Gemeinsamen

Erklärungen über die Verweigerung der Sozialhilfe und die Aufenthaltsbeendigung

vor Erwerb des Daueraufenthalts und über die Meldung betreffend Stellenantritte (s.

Ziff. 2.3.6.2.6) enthalten sind. Die Absicherungen müssen im Rahmen der Beilegung

der dem GA unterbreiteten Streitigkeiten nach Treu und Glauben berücksichtigt wer-

den. Die Berücksichtigung der Absicherungen gilt für alle Streitigkeiten in Zusam-

menhang mit der Auslegung oder der Anwendung des Abkommens oder eines darin

integrierten Rechtsakts der EU, da das Streitbeilegungsverfahren immer über einen

Meinungsaustausch im GA führt. Die Absicherungen müssen daher sowohl von den

Vertragsparteien im Rahmen ihrer Diskussionen im GA als auch vom Schiedsgericht,

sofern es angerufen wird, berücksichtigt werden. Die Absicherungen gelten solange

und soweit sie mit den EU-Rechtsakten, wie sie ins Abkommen integriert wurden,

vereinbar sind.

Der letzte Satz von Artikel 10 Absatz 6 IP-[FZA] hält fest, dass die Absicherungen

der Integrationspflicht von Artikel 5 Absatz 1 IP-[FZA] nicht entgegenstehen, da sie

nicht dieselbe Rechtsverbindlichkeit haben wie die Ausnahmen. Dennoch müssen die

Parteien und das Schiedsgericht die Absicherungen im Falle von Streitigkeiten dar-

über, ob ein EU-Rechtsakt, der gegen die Absicherungen verstösst, in das Abkommen

aufgenommen werden soll, berücksichtigen. Die Berücksichtigung kann zum Beispiel

in Form einer Anpassung des EU-Rechtsakts im Rahmen seiner Integration in das

Abkommen, einer spezifischen Übergangsregelung oder einer strengeren Bewertung

der Verhältnismässigkeit möglicher Ausgleichsmassnahmen im Falle, dass die

Schweiz die Übernahme des betreffenden Rechtsakts verweigert, obwohl sie gemäss

einem Entscheid des Schiedsgerichts dazu gehalten wäre, erfolgen. Wenn die Schweiz

einen Rechtsakt der EU, der gegen eine Absicherung verstösst, nicht integriert, sollten

das Bestehen dieser Absicherung und deren Rechtsverbindlichkeit zur Folge haben,

dass die von der EU beschlossenen Ausgleichsmassnahmen weniger einschneidend

sein dürften als Massnahmen, die bei deren Nichtbestehen ergriffen würden, und die

Beurteilung der Verhältnismässigkeit solcher Massnahmen strenger ausfallen dürfte.

235 / 931

Finanzielle Beiträge

Die Verpflichtungen bezüglich des finanziellen Beitrags der Schweiz zu FZA-

relevanten Informationssystemen (EURES, MISSOC, ESSI und IMI) sind in Arti-

kel 13 des IP-FZA in Verbindung mit Artikel 1 und Artikel 4 des Anhangs betreffend

die Anwendung von Artikel 13 des Protokolls geregelt.

2.3.6.2

Änderungsprotokoll

2.3.6.2.1

Allgemeine Ausführungen

Das Änderungsprotokoll zum FZA enthält nur diejenigen Bestimmungen, welche ge-

ändert werden sollen. Nicht erwähnte Artikel aus dem FZA gelten unverändert weiter.

Die Ziele gemäss Artikel 1 des FZA, nämlich die Einräumung des Rechts auf Einreise,

Aufenthalt, Zugang zu Erwerbstätigkeit, Niederlassung als Selbstständige, Aufenthalt

als Nichterwerbstätige, das Recht auf Verbleib, die Erleichterung der Erbringung von

Dienstleistungen sowie die Einräumung der gleichen Lebens-, Beschäftigungs- und

Arbeitsbedingungen wie für Inländerinnen und Inländer bleiben unverändert beste-

hen.

Artikel 2 FZA, der den Grundsatz der Nicht-Diskriminierung umfasst, bleibt unver-

ändert. Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, welche sich rechtmässig in der

Schweiz aufhalten, dürfen bei der Anwendung dieses Abkommens nicht aufgrund ih-

rer Staatsangehörigkeit diskriminiert werden. Gemäss der ständigen Rechtsprechung

des EuGH, die das Bundesgericht übernommen hat

249

, gilt Artikel 2 FZA ebenso für

direkte Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit

250

wie auch für indirekte

Diskriminierungen, die «durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale

tatsächlich zum gleichen Ergebnis führen

251

» Das Bundesgericht weicht praxisgemäss

von der Auslegung abkommensrelevanter unionsrechtlicher Bestimmungen – was mit

dem

Grundsatz der Nicht-Diskriminierung der Fall ist - durch den EuGH nach dem

Unterzeichnungsdatum nicht leichthin, sondern nur beim Vorliegen «triftiger»

Gründe ab».

Auch die Artikel 3, 6-9, 11-13, 15, 20, 22-23 und 25 des FZA bleiben unverändert

bestehen.

Der materielle Gehalt gewisser Bestimmungen von Anhang I wurde mit oder ohne

Anpassungen in die Grundbestimmungen des Abkommens übernommen (Art. 5

Abs. 1, 12–13, 15–23, 25). Diese Bestimmungen können ausschliesslich über eine

Revision des Abkommens geändert werden. Sie sind daher für die Definition des Gel-

tungsbereichs des Abkommens relevant.

Sämtliche Anhänge enthalten nunmehr ausschliesslich Verweise auf die relevanten zu

übernehmenden Rechtsakte und die damit verbundenen technischen Anpassungen.

Vorbehältlich der Ausnahmen und allfälliger Anpassungen, die spezifisch für die

249

S. BGE

133

V 367

250

S. BGE

136

II 141

251

EuGH, Urteil vom 23. Mai 1996, O’Flynn / Adjudication Officer, C-237/94,

EU:C:1996:206; BGE

131

V 209.

236 / 931

Schweiz gelten, wird jeder neue Rechtsakt, der in den Bereich der Personenfreizügig-

keit fällt, in den entsprechenden Anhang aufgenommen.

2.3.6.2.2

Hauptteil

Artikel 1 Ziffer 1 des Änderungsprotokolls betreffend die Präambel des FZA

Das Abkommen wird in seiner Präambel durch fünf Erwägungsgründe ergänzt. Diese

heben die Freizügigkeit als wichtigen Aspekt des Binnenmarktes hervor, weisen auf

den Grundsatz der einheitlichen Auslegung des Abkommens gemäss Artikel 7 IP-

FZA und auf durch die EuGH-Rechtsprechung entwickelte Prinzipien hin und beto-

nen das Ziel, die umfassende Partnerschaft der Schweiz und der EU zu festigen (s.

Ziff. 2.1.5.1.1).

Artikel 1 Ziffer 2 und Ziffer 3 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 4, 4a und

4b des FZA

Das Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit gemäss Artikel 4

bleibt unverändert. In Bezug auf das Recht sich niederzulassen gilt Artikel 4

a

, wie

dies bereits mit dem FZA von 1999 der Fall war, nur für natürliche Personen, nicht

aber für juristische Personen. Ein Unternehmen erhält also nicht das Recht, sich ohne

Weiteres im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei niederzulassen. Artikel 4

a

hält zudem fest, dass Beschränkungen der Gründung von Zweigniederlassungen oder

-stellen durch Staatsangehörige einer Vertragspartei, die im Hoheitsgebiet einer ande-

ren Vertragspartei niedergelassen sind, verboten sind. Das Niederlassungsrecht wird

im Änderungsprotokoll zum FZA damit insgesamt klarer geregelt, ohne jedoch über

bereits bestehende Verpflichtungen hinauszugehen. Insbesondere werden das Be-

schränkungsverbot und das Recht auf Gründung eines Unternehmens explizit er-

wähnt, die bisher lediglich gestützt auf die vor 1999 entwickelte Rechtsprechung des

EuGH galten.

Betreffend die Gleichbehandlung von Selbstständigen weist Artikel 4

b

, welcher den

Grundsatz der Nichtdiskriminierung gemäss Artikel 2 FZA konkretisiert, darauf hin,

dass die Artikel 7–10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011

252

auch auf diese Personen-

kategorie anwendbar sind. Selbstständige und ihre Familienangehörigen geniessen die

gleichen steuerlichen und sozialen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitneh-

menden, beispielsweise in Bezug auf den Zugang der Kinder zu Schulbildung und

Studium. Diese Gleichbehandlung war im FZA bereits vorgesehen (s. Art. 2 FZA

i. V. m. Art. 15 Abs. 2 und Art. 9 Anhang I FZA von 1999).

252

Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April

2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union, ABl. L 141 vom

27.5.2011, S. 1, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2019/1149, ABl. L 186 vom

11.7.2019, S. 21.

237 / 931

Artikel 1 Ziffer 5 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 5a-5f des FZA

(Dienstleistungen)

Artikel 5

a

übernimmt die im FZA vorgesehenen Beschränkungsverbote hinsichtlich

der Erbringung von Dienstleistungen (Art. 17 Anhang I). Die Bestimmung enthält ins-

besondere die geltenden Vorgaben für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaats-

angehörigen, die zur Erbringung einer Dienstleistung in die Schweiz entsandt werden;

darunter namentlich die Vorgabe, dass sie im regulären Arbeitsmarkt des Mitglied-

staats, in dem sie ihren Wohnsitz haben, integriert sein müssen, bevor sie in der

Schweiz eine Dienstleistung erbringen können. Gemäss aktueller Schweizer Praxis

müssen entsandte Dienstleistungserbringende seit mindestens zwölf Monaten über

eine Aufenthaltskarte im Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, verfügen,

damit diese Voraussetzung erfüllt ist. Für Dienstleistungserbringende gelten weiterhin

die Regelungen betreffend Einreise in den Schengen-Raum in Bezug auf Reisedoku-

mente, Visa und die zulässige maximale Aufenthaltsdauer (90 Tage innerhalb von

180 Tagen).

Die Artikel 5

b

–5

f

übernehmen die bestehenden Bestimmungen aus Anhang I FZA,

unbeschadet der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH, die von der Schweiz über-

nommen wird (Art. 18–22 Anhang I).

Der Verweis auf das relevante Entsenderecht, welcher bisher in Artikel 22 Anhang 1

des FZA verankert war, wird durch das Änderungsprotokoll in Artikel 5

f

Absatz 2 des

Hauptteils des FZA verschoben.

Auch weiterhin können gestützt auf Artikel 5

f

Absatz 3 Buchstabe i nationale Rege-

lungen, die bei Inkrafttreten des FZA am 1. Juni 2002 im Bereich des Personalverleihs

und der Personalvermittlung sowie der Finanzdienstleistungen in Kraft waren, zur

Anwendung gebracht werden. Grenzüberschreitender Personalverleih und grenzüber-

schreitende Arbeitsvermittlung in die Schweiz werden gestützt auf das Arbeitsver-

mittlungsgesetz vom 6. Oktober 1989

253

(AVG)

auch weiterhin nicht zulässig sein.

Die Regelungen zum grenzüberschreitenden Personalverleih des EU-Entsenderechts

gelangen deshalb gestützt auf die technischen Anpassungen gemäss Buchstaben b und

c zur Richtlinie 96/71/EG

254

für die Schweiz nicht zur Anwendung. Artikel 5

f

Ab-

satz 3 Buchstabe i präzisiert zudem, dass die dynamische Rechtsübernahme durch die

Schweiz im Bereich der Verordnung (EU) 2016/589 über ein Europäisches Netz der

Arbeitsvermittlungen (EURES) nicht dazu führen darf, dass die Schweiz ihre natio-

nalen Regelungen zum Personalverleih und zur Arbeitsvermittlung nicht mehr zur

Anwendung bringen darf.

Die Bestimmungen von Absatz 3 Ziffern i und ii unterliegen nicht dem Grundsatz der

dynamischen Übernahme, da sie nicht in den Geltungsbereich des Abkommens fallen.

253

SR

823.11

254

Richtlinie 96/71/EG, in der Fassung gemäss Anhang I Abschnitt 2 des Änderungsproto-

kolls zum FZA.

238 / 931

Artikel 1 Ziffer 5 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 5g, 5h, 5i und 5j des

FZA (Ausnahmen von der dynamischen Rechtsübernahme)

Die Ausnahmen von der dynamischen Rechtsübernahme werden in Artikel 5 Absatz 7

des IP-FZA aufgelistet. Es handelt sich um die Artikel 5

g (Voranmeldefrist und Kon-

trollen)

, 5

h

(Kautionen und Sanktionen),

5

i (Nachweis der Selbstständigkeit)

und

5j

(Non-Regression),

welche durch das Änderungsprotokoll in den Hauptteil des FZA

aufgenommen werden.

Die Regelung in Artikel 5g (

Voranmeldefrist und Kontrollen)

sieht vor, dass die

Schweiz eine Voranmeldefrist von maximal vier Arbeitstagen für selbstständige

Dienstleistungserbringende sowie für Arbeitgeber aus der EU, die Arbeitnehmerinnen

und Arbeitnehmer in die Schweiz entsenden, in spezifischen Branchen zur Anwen-

dung bringen kann, damit Kontrollen vor Ort durchgeführt werden können. Diese spe-

zifischen Branchen werden von der Schweiz auf der Basis einer objektiven Risiko-

analyse eigenständig bestimmt. Dies gilt auch für die in allen Branchen

durchzuführenden Anzahl Kontrollen und die Kontrolldichte. Dabei ist dem Umstand

Rechnung zu tragen, dass die Dienstleistungserbringung zwischen der Schweiz und

der EU auf 90 Arbeitstage pro Kalenderjahr beschränkt ist und damit ein grosser Teil

der Dienstleistungen nur von kurzer Dauer ist. Die Festlegung der von der viertägigen

Voranmeldefrist erfassten Branchen ist regelmässig zu überprüfen und, wenn ange-

zeigt, zu aktualisieren. Ausserhalb der Risikobranchen kann gestützt auf Artikel 9 Ab-

satz 1 Buchstabe a der Richtlinie 2014/67/EU eine Meldepflicht spätestens vor Ar-

beitsbeginn zur Anwendung gebracht werden.

Gestützt auf Artikel 5h (

Kautionen und Sanktionen

) können die paritätischen Kom-

missionen (PK) gegenüber Arbeitgebern, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer

in die Schweiz entsenden, eine Kautionspflicht zur Anwendung bringen. Die Kauti-

onspflicht kann vorgesehen werden für Branchen, die von der Schweiz aufgrund einer

Risikoanalyse autonom festgelegt werden. Sie ist im Wiederholungsfall zu leisten,

d.h., wenn ein Entsendebetrieb bei früheren Einsätzen in der Schweiz seine finanziel-

len Verpflichtungen gegenüber den PK nicht erfüllt hat. Bei Nichtleistung der Kaution

kann die Schweiz Sanktionen verhängen: Eine Verwaltungsbusse bis hin zu einer

Dienstleistungssperre.

Gemäss Artikel 5i (

Nachweis der selbstständigen Erwerbstätigkeit

) kann die Schweiz

gegenüber selbstständigen grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringenden aus

den EU-Mitgliedstaaten eine Dokumentationspflicht zur Anwendung bringen, um die

Scheinselbstständigkeit zu bekämpfen. Selbstständige Dienstleistungserbringende aus

EU-Mitgliedstaaten müssen bei einer Kontrolle vor Ort ihre Selbstständigkeit anhand

von drei Dokumenten nachweisen können: Meldebestätigung (sofern vorhanden),

Nachweis der Registrierung als selbstständig erwerbende Person bei den Sozialversi-

cherungsbehörden im Herkunftsstaat sowie Nachweis eines Vertragsverhältnisses.

Die Schweiz verpflichtet sich, relevantes EU-Entsenderecht in das FZA zu integrie-

ren. Würden künftige Anpassungen der EU-Entsenderichtlinien oder neues EU-

Entsenderecht das bei Inkrafttreten des Änderungsprotokolls zwischen der Schweiz

und der EU vereinbarte Schutzniveau der in die Schweiz entsandten Arbeitnehmerin-

nen und Arbeitnehmer, bestehend aus dem gestützt auf das Änderungsprotokoll zu

239 / 931

übernehmende EU-Entsenderecht sowie den vereinbarten Ausnahmen und Prinzipien,

in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen bedeutend verschlechtern,

besteht für die Schweiz gestützt auf Artikel 5j (Non-Regression-Klausel) keine Ver-

pflichtung, diese in das Abkommen zu integrieren. Die Klausel ist eine Absicherung

des Schweizer Schutzniveaus und stellt eine Ausnahme vom Prinzip der dynamischen

Rechtsübernahme nach Artikel 5 des IP-FZA dar. Eine Verschlechterung des Schutz-

niveaus in der Schweiz ist nach Inkrafttreten des Änderungsprotokolls zum FZA dem-

nach nicht mehr möglich.

Artikel 1 Ziffer 5 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 5k des FZA

(Dienstleistungsempfänger)

Dienstleistungsempfängerinnen und Dienstleistungsempfänger sind Nichterwerbstä-

tigen gleichgesetzt, was bedeutet, dass sie nur einen Aufenthalt von mehr als drei Mo-

naten begründen können, wenn sie über ausreichende Existenzmittel verfügen, sodass

sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen müs-

sen, und über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen (Art. 7

Abs. 1, Bst. b der Richtlinie 2004/38/EG). Diese Voraussetzungen entsprechen jenen

des FZA für Personen, die keine Erwerbstätigkeit ausüben (Art. 24 Abs. 1 Anhang I).

Wer beispielsweise für den Zweck einer medizinischen Behandlung in die Schweiz

kommen will, muss die genannten Bedingungen erfüllen und sich für einen Aufenthalt

von mehr als drei Monaten bei den zuständigen kantonalen Behörden registrieren.

Artikel 1 Ziffer 6 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 7a des FZA

(Grenzgänger)

Für Grenzgängerinnen und Grenzgänger, die eine Kategorie von selbstständig oder

unselbstständig Erwerbstätigen bilden, gelten im FZA von 1999 spezifische Bestim-

mungen (s. Art. 7 und 13 Anhang I). Diese Bestimmungen sind im FZA in der Fas-

sung gemäss Änderungsprotokoll zum FZA nicht mehr enthalten. Da Grenzgängerin-

nen und Grenzgänger keinen Aufenthalt in der Schweiz haben, gilt für sie

beispielsweise Artikel 7 und 8 der Richtlinie 2004/38/EG nicht. Aus diesem Grund

wurde auf Ersuchen der Schweiz Artikel 7

a

eingeführt. Der Wortlaut der Definition

von Grenzgängerinnen und Grenzgängern entspricht der bestehenden aus dem FZA

von 1999, und es wird sich auch weiterhin um eine Kategorie von selbstständig oder

unselbstständig Erwerbstätigen handeln. Grenzgängerinnen und Grenzgänger sind ge-

mäss diesem Artikel Staatsangehörige einer Vertragspartei, die im Hoheitsgebiet einer

Vertragspartei eine selbstständige oder unselbstständige Erwerbstätigkeit ausüben

und ihren Wohnsitz in der anderen Vertragspartei haben, an den sie in der Regel täg-

lich, mindestens jedoch einmal in der Woche zurückkehren.

Diese Bestimmung ermöglicht es der Schweiz Grenzgängerinnen und Grenzgänger,

welche einer Erwerbstätigkeit von mehr als drei Monaten pro Kalenderjahr in der

Schweiz nachgehen, zu registrieren und ihnen eine deklaratorische Registrierungsbe-

scheinigung auszustellen, die entweder kostenlos sein muss oder gegen Entrichtung

eines Betrags erfolgt, der die Ausstellungsgebühr für ähnliche Dokumente an Inlän-

derinnen und Inländer nicht übersteigt. Da ein solches Verfahren im Rahmen der

240 / 931

Richtlinie 2004/38/EG Personen vorbehalten ist, die sich in einem anderen Mitglied-

staat aufhalten, war eine spezifische Bestimmung im FZA erforderlich. Bei Erwerbs-

tätigkeiten als Grenzgängerin oder Grenzgänger von bis zu drei Monaten kommt das

Meldeverfahren zur Anwendung. Die Umsetzung der Registrierungs- und Melde-

pflicht für Grenzgängerinnen und Grenzgänger erfolgt in Artikel 13

a

Absatz 3 VE-

AIG und Artikel 6a VE-EntsG (s. Ziff. 2.3.8.1.1 und Ziff. 2.3.8.4.1).

Grenzgängerinnen und Grenzgänger haben keinen Aufenthalt in der Schweiz und

können daher beispielweise kein Daueraufenthaltsrecht in der Schweiz geltend ma-

chen und haben keinen Anspruch auf Sozialhilfe.

In der Gemeinsamen Erklärung stellt die Schweiz in Aussicht, dass sie die Umsetzung

der Registrierungs- und Meldepflicht in den entsprechenden bilateralen Foren mit den

benachbarten EU-Mitgliedstaaten erörtert. Diese Gespräche sollen nicht zu einer un-

terschiedlichen Behandlung von Grenzgängerinnen und Grenzgängern im Rahmen

des Abkommens führen und lassen deren Rechte und Pflichten gemäss Abkommen

unberührt. Ziel dieser Gemeinsamen Erklärung ist es, dass die Schweiz die benach-

barten Staaten über die Modalitäten und Pflichten der Registrierungs- und Melde-

pflicht für Grenzgängerinnen und Grenzgänger in der Schweiz informiert.

Artikel 1 Ziffer 6 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 7b des FZA

(Studierende)

a)

Allgemein

Auch Studierende, die sich länger als drei Monate in der Schweiz aufhalten, müssen

ihre Anwesenheit bei den zuständigen kantonalen Behörden anzeigen. Es ist vorgese-

hen, dass der Aufnahmestaat von Studierenden, die nicht aufgrund einer anderen Be-

stimmung des Abkommens über ein Aufenthaltsrecht verfügen, verlangen kann, sich

anzumelden (Art. 8 Abs. 1 Richtlinie 2004/38/EG). Die Bestimmung wiederholt zu-

dem wie im FZA von 1999 (vgl. Art. 24 Abs. 4 Anhang I FZA), dass für Studierende,

die ausschliesslich zu Studienzwecken in die Schweiz einreisen, der allgemeine Nicht-

diskriminierungsgrundsatz (Art. 2) weder für den Hochschulzugang noch für die Un-

terhaltsbeihilfen (Stipendien) gilt. Somit werden das Zulassungssystem und aktuelle

Quoten der Schweizer Hochschulen nicht tangiert (siehe dazu ergänzend «Anteil EU-

Studierende», Kap. c).

b)

Nichtdiskriminierung bei den Studiengebühren

Neu müssen die mehrheitlich öffentlich finanzierten universitären Hochschulen und

Fachhochschulen den allgemeinen Nichtdiskriminierungsgrundsatz (Art. 2 FZA) in

Bezug auf Studiengebühren einhalten. Schweizer Studierende profitieren umgekehrt

an den Hochschulen der EU-Staaten von einer Gleichbehandlung betreffend Studien-

gebühren. Dazu gehören alle Arten von Gebühren (Einschreibegebühren, Semester-

gebühren, Benutzungsgebühren, usw.). Der Grundsatz gilt auch für öffentliche Unter-

stützungsmechanismen für die Studiengebühren (z.B. in Form von Erlassen,

Rückzahlungen, Ermässigungen, Stundungen oder Ratenzahlungen). Private Unter-

stützungsmechanismen für Studiengebühren ohne öffentlichen Auftrag (z.B. Fonds,

Stiftungen) sind davon ausgenommen. Während gemäss Artikel 7

b

Unterhaltsbeihil-

241 / 931

fen (Stipendien) weiterhin vollständig vom allgemeinen Nichtdiskriminierungsgrund-

satz ausgenommen sind, fallen - wie bereits heute – andere öffentliche Vergünstigun-

gen für Studierende, wie z.B. die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder der Zu-

gang zu kulturellen Einrichtungen ebenfalls darunter (Art. 2 FZA), wobei aber

Einschränkungen aus sachlichen Gründen gerechtfertigt werden können. Eine direkte

Diskriminierung, d. h. eine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, kann

aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sein,

während indirekte Diskriminierungen auch aus zwingenden Gründen des Allgemein-

interesses gerechtfertigt sein können. In jedem Fall ist eine Diskriminierung nur dann

gerechtfertigt, wenn die vorgesehene Massnahme verhältnismässig, d. h. geeignet und

erforderlich ist, um das angestrebte Ziel zu erreichen.

Ausgenommen vom allgemeinen Nichtdiskriminierungsgrundsatz bezüglich Studien-

gebühren sind u.a. die Pädagogischen Hochschulen, die Ausbildungsstätten der Be-

rufsbildung (z.B. Höhere Fachschulen) und die mehrheitlich privat finanzierten Hoch-

schulen wie z.B. die École hôtelière de Lausanne (EHL), auch wenn sie einer

mehrheitlich öffentlich finanzierten universitären Hochschule oder Fachhochschule

«angeschlossen» sind (Art. 7b Bst. a Punkt i FZA).

c)

„Anteil EU-Studierende“

In Buchstabe b) der Regelung wird festgehalten, dass der Gesamtanteil («

overall-le-

vel»

) der EU-Studierenden an den universitären Hochschulen, den Fachhochschulen

und den beiden ETH ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Abkommens nicht ab-

nehmen soll (Stand 2023: 18% EU-Studierende an universitären Hochschulen [Ba-

chelor, Master und PhD] und 10% EU-Studierende an Fachhochschulen [Bachelor

und Master]). Diese Bestimmung unterliegt jedoch verschiedenen Vorbehalten. So

sollen Qualität und Besonderheiten des Bildungssystems gewahrt werden. Es wird

explizit darauf hingewiesen, dass keine Verpflichtung entsteht, das Zulassungssystem

zu ändern, den «

overall level

» anzuheben oder eine Mindestzahl von Studienplätzen

für EU-Studierende vorzusehen. Die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Änderungs-

protokolls zum FZA bestehenden Quoten und Beschränkungen der Hochschulen kön-

nen beibehalten werden (z.B. Universität St. Gallen oder EPFL). Neue Massnahmen

und Quoten, welche zu einer Senkung der Anteile an EU-Studierenden an einer be-

stimmten Hochschule unterhalb des Wertes beim Inkrafttreten des Änderungsproto-

kolls zum FZA führen, sind dann unproblematisch, wenn sie keinen Einfluss auf den

gesamtschweizerischen

«overall level»

haben. Unproblematisch sind auch Anteilsre-

duktionen, die nicht auf konkrete Massnahmen zurückzuführen sind, wie z. B. die de-

mographische Entwicklung der Anzahl Schweizer Studierenden oder der Rückgang

der EU-Studierenden, aus wirtschaftlichen Gründen, usw. Problematisch wären wohl

neue flächendeckende Quoten für EU-Studierende, die zu einer spürbaren Reduktion

des

«overall level»

auf gesamtschweizerischer Ebene führen würden und sich z.B.

nicht mit der Sicherstellung von Qualität begründen liessen.

Sollte Uneinigkeit darüber bestehen, ob die Schweiz die Bestimmung einhält, käme

das Schiedsgericht zum Zug. Sollte das Schiedsgericht eine Verletzung feststellen und

242 / 931

die Schweiz sich nicht an sein Urteil halten, könnte die EU verhältnismässige Aus-

gleichsmassnahmen ergreifen (vermutlich analoge Reduktion der Anteile der Schwei-

zer Studierenden in der EU).

Artikel 1 Ziffer 6 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 7c und 7d des FZA

(Ausübung hoheitlicher Befugnisse und Öffentliche Ordnung)

Die Artikel 5, 10 und 16 Anhang I FZA wurden mit dem Änderungsprotokoll aus dem

Anhang I in den Hauptteil des Abkommens verschoben. Die Möglichkeit, das Recht

auf Ausübung einer Erwerbstätigkeit zu verweigern, wenn sie die Ausübung hoheitli-

cher Befugnisse umfasst, wurde bezüglich unselbstständig Erwerbstätige (Art 7c

Abs. 1) und Selbstständige (Art. 7c Abs. 2) in eine Bestimmung zusammengeführt.

Inhaltlich bleiben die Bestimmungen unverändert.

Artikel 1 Ziffer 6 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 7e des FZA

(Daueraufenthalt inkl. Vorruhestandsregelung)

Ein Recht auf Daueraufenthalt, wie es in Artikel 16 der Richtlinie 2004/38/EG vorge-

sehen ist, gibt es im FZA nicht. Das FZA sieht lediglich ein Recht auf Verbleib im

Hoheitsgebiet einer Vertragspartei nach Beendigung einer Erwerbstätigkeit vor (s. un-

ten). Artikel 7

e

sieht vor, dass in der Schweiz lebende Staatsangehörige der EU-

Mitgliedstaaten ein Recht auf Daueraufenthalt erwerben können, wenn sie die in die-

sem Artikel vorgesehenen Voraussetzungen erfüllen. Dabei ist anzumerken, dass in

Artikel 7 Absatz 3 der Richtlinie 2004/38/EG die Situationen nichtabschliessend auf-

gelistet sind, in denen die Erwerbstätigeneigenschaft aufrechterhalten wird. Beginnt

eine Person eine Berufsausbildung und gibt sie ihre Erwerbstätigkeit freiwillig auf, so

behält sie ihre Erwerbstätigeneigenschaft, wenn die Ausbildung mit der früheren be-

ruflichen Tätigkeit im Zusammenhang steht. Das Recht auf Daueraufenthalt erstreckt

sich zudem auf aus Drittstaaten stammende Familienangehörige, die sich ebenfalls

während fünf Jahren ununterbrochen mit der oder dem Staatsangehörigen eines EU-

Mitgliedstaats rechtmässig in der Schweiz aufgehalten haben.

In Bezug auf das Daueraufenthaltsrecht konnte die Schweiz eine gewichtige Aus-

nahme erzielen. Währenddem das Daueraufenthaltsrecht innerhalb der EU (Art. 16

Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG) allen Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten

sowie ihren Familienangehörigen ungeachtet ihrer Erwerbssituation nach fünfjähri-

gem Aufenthalt zusteht, steht es in den Beziehungen zwischen der Schweiz und der

EU nur Erwerbstätigen sowie ihren Familienangehörigen offen. Zudem werden Peri-

oden vollständiger Sozialhilfeabhängigkeit von sechs Monaten oder mehr nicht für

die Berechnung der Fünfjahresfrist gezählt.

Nach dem neuen Artikel 7

e

FZA erfüllt eine als nicht erwerbstätig geltende Person

die Voraussetzungen für dieses Recht nicht. Dies betrifft beispielsweise Staatsange-

hörige der EU-Mitgliedstaaten, die sich in der Schweiz niederlassen, um zu studieren

oder ihren Ruhestand zu verbringen.

Bei einer vollständigen Sozialhilfeabhängigkeit von sechs Monaten oder mehr kann

die Anrechnung an den für den Daueraufenthalt erforderlichen Zeitraum ausgesetzt

243 / 931

werden (s. Art. 41c Abs. 3 VE-AIG; s. Ziff. 2.3.8.1.1). Dies betrifft beispielsweise

Personen, die während drei Jahren als Arbeitnehmende gelten und dann während ei-

nem Jahr vollständig auf Sozialhilfe angewiesen sind. Um die Voraussetzungen für

den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt zu erfüllen, müssten diese Personen noch

zwei weitere Jahre als Arbeitnehmende vorweisen können.

Während sechs Monate oder länger dauernde Zeiträume der vollständigen Sozialhil-

feabhängigkeit oder ohne Status als Erwerbstätige die Berechnung der Dauer des

rechtmässigen Aufenthalts in der Schweiz von fünf Jahren unterbrechen, ist bei einer

definitiven Ausreise oder bei einer vorübergehenden Abwesenheit für einen längeren

Auslandaufenthalt im Sinne von Artikel 16 Absatz 3 der Richtlinie 2004/38/EG der

Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt ausgeschlossen.

Der Verlust des Rechts auf Daueraufenthalt wird im Übrigen nach anderen Bestim-

mungen der Richtlinie 2004/38/EG geregelt. Diese sehen einen Verlust dieses Rechts

im Falle einer Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat, die zwei aufeinanderfol-

gende Jahre überschreitet (Art. 16 Abs. 4), oder aus Gründen der öffentlichen Ord-

nung oder Sicherheit (Art. 27 Abs. 1 i. V. m. Art. 29 Abs. 2 der Richtli-

nie 2004/38/EG) vor.

Im FZA von 1999 (Art. 4 Anhang I) konnte unter anderem ein Verbleiberecht geltend

gemacht werden, wenn Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten im Zeitpunkt der

Aufgabe ihrer Erwerbstätigkeit das von der schweizerischen Gesetzgebung vorgese-

hene Alter für die Geltendmachung einer Rente erreicht haben, sich während der vo-

rangegangenen drei Jahre ständig in der Schweiz aufgehalten haben, und dort zuletzt

während mindestens zwölf Monaten erwerbstätig waren. Unter der Richtlinie

2004/38/EG heisst das Verbleiberecht nun Daueraufenthaltsrecht (Art. 17). Gemäss

Artikel 17 Absatz 1 lit. a der Richtlinie 2004/38/EG steht Arbeitnehmenden nicht nur

beim Erreichen der für die Geltendmachung einer Altersrente gesetzlich vorgesehenen

Alters ein Daueraufenthaltsrecht zu, sondern auch, wenn sie ihre abhängige Erwerbs-

tätigkeit im Rahmen einer Vorruhestandsregelung beendet haben. Es ist derzeit davon

auszugehen, dass die Vorruhestandsregelung gemäss Richtlinie 2004/38/EG insofern

Auswirkungen haben wird, als dass auch der Vorbezug der Altersrente gemäss Arti-

kel 40 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1946

255

über die Alters- und Hinterlas-

senenversicherung (AHVG) und damit ab dem 63. Altersjahr als Zeitpunkt für die

Geltendmachung eines Daueraufenthaltsrechts herangezogen werden kann.

Artikel 1 Ziffer 6 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 7f des FZA

(Immobilienerwerb)

Seit den frühen 1960er Jahren bedürfen «Personen im Ausland»

256

für den Erwerb

von Grundstücken in der Schweiz grundsätzlich einer Bewilligung, welche strengen

Voraussetzungen unterliegt. Um diese nationale Gesetzgebung beizubehalten, die

255

SR

831.10

256

Siehe Definition in Artikel 5 des Bundesgesetzes über den Erwerb von Grundstücken

durch Personen im Ausland vom 16. Dezember 1983, BewG; SR

211.412.41

.

244 / 931

nicht mit dem EU-Recht und dabei insbesondere dem Grundsatz der Nichtdiskrimi-

nierung vereinbar war, hat die Schweiz an den Verhandlungen zum heute geltenden

FZA eine Ausnahme für den Immobilienerwerb ausgehandelt. Im Sinne eines Kom-

promisses erleichterte die Schweiz damals den Erwerb von Grundstücken durch

Staatsangehörige der EU-Mitgliedsstaaten durch Anpassung des Bundesgesetzes vom

16. Dezember 1983

257

über den Erwerb von Grundstücken durch Personen im Aus-

land (BewG, sogenannte «Lex Koller»), indem Staatsangehörige der EU-

Mitgliedsstaaten, die ein Aufenthaltsrecht und ihren Hauptwohnsitz in der Schweiz

haben, vom Anwendungsbereich des BewG und damit der Bewilligungspflicht aus-

genommen wurden. Im Gegenzug blieb der Kern des BewG durch die Ausnahme ge-

wahrt. Das bedeutet, dass Staatsangehörige der Vertragsparteien beim Immobiliener-

werb nach wie vor nicht generell wie Inländerinnen und Inländer behandelt werden,

sofern sie ihren Hauptwohnsitz nicht im Aufnahmestaat haben. So unterliegt der Er-

werb von Ferien- und Zweitwohnungen nach Artikel 9 BewG durch alle Ausländerin-

nen und Ausländer, so auch durch Staatsangehörige der EU-Mitgliedsstaaten, ohne

Wohnsitz in der Schweiz nach wie vor der Bewilligungspflicht des BewG. Eine Aus-

nahme gilt nur beim Erwerb einer Zweitwohnung durch Grenzgängerinnen und

Grenzgänger für Staatsangehörige von EU/EFTA-Mitgliedsstaaten (Art. 7 Bst. j

BewG). Auch der Immobilienerwerb bzw. -handel durch Personen im Ausland zu rei-

nen Spekulations- oder kurzfristigen Anlagezwecken ist nach wie vor unzulässig

258

.

Hauptgrund für diese Ausnahme bildeten die damaligen Bedenken der Schweiz be-

züglich der Knappheit an eigenem produktivem Land, der sehr hohen ausländischen

Nachfrage nach Immobilien und einem

im Vergleich zu verschiedenen EU-

Mitgliedsstaaten

viel geringeren Anteil an Wohnbevölkerung mit eigenem Wohn-

eigentum. Diese Bedenken bestehen heute nach wie vor und haben sich aufgrund der

sich zuspitzenden Wohnungsknappheit noch verschärft. Das Änderungsprotokoll zum

FZA übernimmt die bisher geltende Ausnahmeregelung für den Immobilienerwerb

daher inhaltlich unverändert in Artikel 1 Ziffer 6 betreffend Artikel 7

f

des FZA.

Dadurch ist die Schweiz im Bereich des Immobilienerwerbs nicht zur dynamischen

Rechtsübernahme künftiger Rechtsakte der EU verpflichtet und ist die Schweiz in

diesem Bereich ausserdem auch nicht an die Rechtsprechung des EuGH gebunden

259

.

Rein redaktionell bereinigt wird einzig Absatz 3 der Bestimmung, indem entspre-

chend der bereits heute geltenden Rechtslage (Art. 7 und 13 Anhang I FZA von 1999)

und analog zu den Absätzen 1 und 2 klärend ergänzt wird, dass auch Grenzgängerin-

nen und Grenzgänger Staatsangehörige einer Vertragspartei sein müssen.

Gemäss dem heute geltenden Artikel 9 Absatz 6 Anhang I FZA geniessen Arbeitneh-

mende, welche die Staatsangehörigkeit einer Vertragspartei besitzen und im Hoheits-

gebiet der anderen Vertragspartei beschäftigt sind, hinsichtlich einer Wohnung, ein-

schliesslich der Erlangung des Eigentums an der von ihnen benötigten Wohnung,

257

SR

211.412.41

258

Botschaft zur Genehmigung der sektoriellen Abkommen zwischen der Schweiz und der

EG vom 23. Juni 1999, BBl

1999

6128, 6367 ff.

259

Vgl. Artikel 5 Absatz 7 des Institutionellen Protokoll zum Abkommen zwischen der

Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ih-

ren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit.

245 / 931

dieselben Rechte wie die Inländerinnen und Inländer. Dies unter Vorbehalt der Aus-

nahmeregelung über den Immobilienerwerb (Art. 25 Anhang I FZA

260

). Dasselbe gilt

auch für selbstständig Erwerbstätige gemäss Artikel 15 Absatz 2 Anhang I FZA, wo-

nach die Bestimmungen von Artikel 9 Anhang I FZA

mutatis mutandis

auch für

Selbstständige gelten. Nun entspricht Artikel 9 Absatz 6 Anhang I FZA inhaltlich Ar-

tikel 9 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 und wird im Änderungsprotokoll zum FZA

nicht übernommen. Die Ausnahmeregelung zum Immobilienerwerb gilt zwar ohnehin

für alle Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten, die das Recht auf Freizügigkeit in

Anspruch nehmen – unabhängig ob und in welcher Stellung (selbstständig/unselbst-

ständig) sie in der Schweiz erwerbstätig sind. Gleichwohl wird der bisherige Vorbe-

halt zugunsten der Ausnahmeregelung über den Immobilienerwerb künftig in Form

einer «technischen Anpassung» zu Artikel 9 Absatz 1 der Verordnung (EU) Nr.

492/2011 zum Ausdruck gebracht. Für die Gleichbehandlung der Selbstständigen

wird im Änderungsprotokoll zum FZA

mutatis mutandis

auf die Artikel 7-10 der Ver-

ordnung (EU) Nr. 492/2011 verwiesen (Art. 4

b

Abs. 2 Änderungsprotokoll zum

FZA).

Artikel 1 Ziffer 6 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 7g des FZA

(Biometrische Identitätskarten)

Heute stellt die Schweiz Identitätskarten aus, welche über keinen Chip verfügen. Dies

im Gegensatz zu den Schweizer Pässen und biometrischen Ausländerausweisen, wel-

che seit vielen Jahren diese zusätzliche Sicherheit gegen Identitätsmissbrauch bieten.

Mit dem Projekt zur Erneuerung der Identitätskarte 2023 wurde vom EJPD deshalb

vorgesehen, in den kommenden Jahren zusätzlich und wahlweise ein biometrisches

Modell anzubieten.

Die Verordnung (EU) 2019/1157 schreibt vor, dass alle ab 2021 ausgestellten EU-

Personalausweise (Identitätskarten) über einen Chip mit einem digitalen Gesichtsbild

und zwei gespeicherten Fingerabdrücken verfügen müssen und dass Personalaus-

weise, welche diese Sicherheitsanforderung nicht erfüllen, 2031 ungültig werden.

Diese Vorgabe soll mit dem Änderungsprotokoll zum FZA auch für Schweizer Iden-

titätskarten für die Ausübung der Personenfreizügigkeit Pflicht werden.

Mit Artikel 7

g

werden die in der Verordnung (EU) 2019/1157 genannten Fristen für

die Einführung biometrischer Identitätskarten im Sinne einer Ausnahme derogiert. So

erhält die Schweiz nach Inkrafttreten des Änderungsprotokolls zum FZA ein Jahr Zeit,

um biometrische Identitätskarten einzuführen. Zudem bleiben alle bis zu diesem Zeit-

punkt ausgestellten Schweizer Identitätskarten ohne Chip in der EU weiterhin bis zu

ihrem Ablaufdatum gültig (längstens zehn Jahre).

260

Im geltenden Artikel 9 Absatz 6 Anhang I FZA wird irrtümlich auf Artikel 26 anstatt auf

Artikel 25 Anhang I FZA verwiesen. Vgl. Felix Schöbi (2001): Das Abkommen über die

Freizügigkeit der Personen und der Erwerb von Grundstücken in der Schweiz. In: Daniel

Felder / Christine Kaddous (Hrsg.): Accords bilatéraux Suisse – UE (Commentaires) / Bi-

laterale Abkommen Schweiz – EU (Erste Analysen), Collection Dossiers de droit euro-

péen, Dossier de droit européen n° 8. Basel - Bruxelles: Helbing & Lichtenhahn - Bruy-

lant, S. 418.

246 / 931

Artikel 1 Ziffer 6 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 7h des FZA

(Landesverweisung)

a.)

Ausgangslage

Artikel 7

h

(«Expulsion») und die Richtlinie 2004/38/EG (Kapitel VI, Art. 27–33) re-

geln den Schutz von Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten vor Massnahmen der

öffentlichen Ordnung und Sicherheit, einschliesslich der strafrechtlichen Landesver-

weisung. Artikel 7

h

legt auch die Ausnahmen von der Anwendung einiger Bestim-

mungen dieses Kapitels der Richtlinie 2004/38/EG fest.

Im Rahmen der Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU betreffend die

Übernahme der Richtlinie 2004/38/EG, stellte sich unter anderem die Frage zur Ver-

einbarkeit der Artikel 27–33 mit den verfassungsrechtlichen Bestimmungen betref-

fend die Ausschaffung krimineller Ausländerinnen und Ausländer (Art. 121 Abs. 3–

6 BV, s. Ziff. 2.3.10.1.2). Die vertiefte Prüfung der Frage hat gezeigt, dass gewisse

Bestimmungen der Artikel 27–33 der Richtlinie 2004/38/EG in einem Spannungsver-

hältnis zu Artikel 121 Absätze 3–6 BV stehen. Es ist jedoch zu unterschieden zwi-

schen den Spannungen, welche die Übernahme der Richtlinie 2004/38/EG auslösen

würde, weil sie neue, über das FZA hinausgehende Verpflichtungen einführte (Art. 28

Abs. 2 und 3 sowie Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG), und den Spannungen,

an denen auch die Übernahme der Richtlinie 2004/38/EG nichts ändern würde; dies

weil sie Verpflichtungen einführte, die sich bereits aus dem geltenden FZA von 1999

ergeben (Art. 27 und Art. 32 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG).

Der erste Satz von Artikel 7

h

bekräftigt, dass die Parteien übereingekommen sind, die

Verpflichtungen aus dem FZA von 1999 in Bezug auf Beschränkungen der öffentli-

chen Ordnung und Sicherheit aufrechtzuerhalten. Daraus geht hervor, dass das Ände-

rungsprotokoll zum FZA für die Parteien keine neuen Verpflichtungen in Bezug auf

die strafrechtliche Landesverweisung einführt. Dies wird durch Artikel 5 (Ziffer 1 in

Verbindung mit Ziffer 7) des IP-FZA bestätigt, wonach die in Absatz 1 genannte Ver-

pflichtung zur Übernahme nicht für Bestimmungen oder Rechtsakte der EU gelten für

die – wie im Falle der Landesverweisung (Artikel 7

h

) – Ausnahmen bestehen.

b.)

Nicht anwendbare Bestimmungen der Richtlinie 2004/38/EG (Art. 7h zwei-

ter und dritter Satz)

Gemäss dem zweiten Satz von Artikel 7

h

soll Artikel 28 Absätze 2 und 3 der Richtli-

nie 2004/38/EG für die Schweiz nicht gelten. Diese Ausnahme gilt auch für die damit

zusammenhängende Rechtsprechung des EuGH sowie für zukünftige Bestimmungen

in diesem Bereich, d. h. es findet keine dynamische Rechtsübernahme statt.

Artikel 7

h

3. Satz bietet den Vertragsparteien die Möglichkeit, anstelle von Artikel 33

Absatz 2 der Richtlinie 2004/38/EG das EU-Recht, wie es sich aus dem FZA von 1999

ergibt, anzuwenden. Mit dem Verzicht auf die Umsetzung von Artikel 33 Absatz 2

der Richtlinie 2004/38/EG macht die Schweiz von dieser Möglichkeit Gebrauch und

wird die sich aus dem geltenden FZA 1999 ergebenden Verpflichtungen beibehalten.

Denn auch diese Bestimmung der Richtlinie 2004/38/EG verstärkt den Schutz vor

Ausweisungen und schafft eine über das geltende FZA hinausgehende Verpflichtung.

247 / 931

Dies, weil Artikel 33 Absatz 2 der Richtlinie 2004/38/EG verlangt, dass bei einer Aus-

weisungsverfügung, die mehr als zwei Jahre nach ihrem Erlass vollstreckt werden

soll, von Amtes wegen zu überprüfen ist, ob von der Ausweisung betroffene Person

eine gegenwärtige und tatsächliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicher-

heit ausgeht. Zudem ist zu beurteilen, ob seit der Anordnung der Landesverweisung

eine materielle Änderung der Umstände eingetreten ist.

Demgegenüber verpflichtet sich die Schweiz – wie bereits erwähnt – dazu, die sich

aus dem geltenden FZA von 1999 ergebenden Verpflichtungen beizubehalten. Darun-

ter fällt auch das Recht der betroffenen Person, eine Überprüfung des Ausweisungs-

entscheides zu verlangen. Konkret muss die Schweiz – anstelle von Artikel 33 Ab-

satz 2 der Richtlinie 2004/38/EG – weiterhin Artikel 3 der Richtlinie 64/221/EWG

des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25. Februar 1964

261

zur

Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Aus-

ländern, auf die Artikel 5 Anhang I FZA verweist, und die einschlägige Rechtspre-

chung des EuGH (Art. 16 Abs. 2 des FZA von 1999) berücksichtigen, die bis zum

20. Juni 1999 ergangen ist. Obwohl der EuGH kein Urteil erlassen hat, das sich spe-

ziell auf die Überprüfung eines Ausweisungsentscheides vor seiner Vollstreckung be-

zieht, so räumt seine Rechtsprechung vor 1999 der betroffenen Person das Recht auf

Überprüfung ein, wenn innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach dem Auswei-

sungsentscheid eine Änderung der materiellen Umstände geltend gemacht wird

262

.

c.)

Anwendbare Bestimmungen der Richtlinie 2004/38/EG

Abgesehen von diesen Ausnahmen sollen die übrigen Bestimmungen des Kapitels VI

(Art. 27–33) der Richtlinie 2004/38/EG Anwendung finden; dies gilt aus den folgen-

den Gründen auch für die Artikel 27 und 32 Absatz 1 der Richtlinie 2004/38/EG:

Artikel 27 der Richtlinie 2004/38/EG regelt unter anderem die Voraussetzungen, un-

ter denen die Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit von Staatsangehörigen der EU-

Mitgliedstaaten aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit eingeschränkt

werden kann; dies gilt somit auch für Massnahmen zur Ausweisung aus dem Hoheits-

gebiet. Diese Voraussetzungen entsprechen den Vorgaben des geltenden Artikel 5

Anhang I FZA und der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH (Art. 16, Abs. 2 des

FZA von 1999). Artikel 27 der Richtlinie 2004/38/EG schafft demzufolge keine

neuen Verpflichtungen für die Schweiz.

Diese Voraussetzungen stehen jedoch in einem bereits bestehenden Spannungsver-

hältnis zum Wortlaut von Artikel 121 Absätze 3–6 BV, der einen Automatismus bei

der Anordnung einer strafrechtlichen Landesverweisung und eine Mindestdauer von

fünf Jahren (im Wiederholungsfall 20 Jahre) für das im konkreten Fall anzuordnende

261

Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sonder-

vorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen

der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, Abl. 56 vom

04.04.1964, S. 850.

262

EuGH, Urteil vom 18. Mai 1982, Adoui und Cornuaille / Belgischer Staat, 115/81 und

116/81, EU:C:1982:183 und Urteil vom17. Juni 1997, The Queen / Secretary of State for

the Home Department, ex parte Shingara und Radiom, C111/95 und C-111/95,

EU:C:1997:300.

248 / 931

Einreiseverbot vorsieht. Andererseits stehen die Voraussetzungen – zum grossen Teil

– auch in einem Spannungsverhältnis zur Umsetzungsgesetzgebung, welche die im

FZA von 1999 vorgesehene Bedrohungsanalyse, d. h. das Vorliegen einer tatsächli-

chen, gegenwärtigen und erheblichen Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft

berührt, nicht ausreichend berücksichtigt (s. Art. 66

a

ff StGB und Art. 49

a

ff. MStG).

Diese Problematik war bei der Umsetzung der Volksinitiative für die Ausschaffung

krimineller Ausländer (Ausschaffungsinitiative

263

) allerdings bekannt; es wurde be-

wusst in Kauf genommen, und auch transparent kommuniziert, dass die Bestimmun-

gen zur strafrechtlichen Landesverweisung nicht in jeder Hinsicht konform mit dem

geltenden FZA sein könnten

264

. Die Spannungen mit dem bestehenden Recht betref-

fen jedoch hauptsächlich die normative Ebene; das Bundesgericht hat in seiner Recht-

sprechung bislang zwar für den Verzicht auf eine Landesverweisung aufgrund des

FZA (entsprechend dem gesetzgeberischen Willen) eine relativ restriktive Praxis ent-

wickelt, hat aber die völkervertraglich vereinbarten Bestimmungen des FZA bisher

immer beachtet.

Artikel 32 Absatz 1 der Richtlinie 2004/38/EG räumt der von einer Ausweisung be-

troffenen Person das Recht ein, nach einer angemessenen Frist, spätestens jedoch drei

Jahre nach Vollstreckung der Landesverweisung, einen Antrag auf Überprüfung und

Aufhebung des Einreiseverbots zu stellen. Falls sich die Umstände, die zur Landes-

verweisung führten, geändert haben, soll das Einreiseverbot überprüft und gegebe-

nenfalls aufgehoben werden. Darüber hinaus wird den Behörden eine Frist von sechs

Monaten gesetzt, innert der sie über den Antrag entscheiden müssen. Die Pflicht zur

Überprüfung eines Ausweisungsentscheids für den Fall, dass eine materielle Ände-

rung der Umstände seit dem ersten Entscheid eingetreten ist, ist jedoch nicht neu. Sie

ergibt sich bereits aus der Rechtsprechung des EuGH

265

im Sinne von Artikel 16 Ab-

satz 2 des FZA von 1999, die für die Schweiz bereits gilt. Der einzige Unterschied

zum geltenden FZA von 1999 ist, dass Artikel 32 Absatz 1 der Richtlinie 2004/38/EG

die Fristen für die gesuchstellende Person und die Behörden nun klar definiert. Was

die Kriterien zur Überprüfung der Gültigkeit des Einreiseverbots anbelangt, so dürften

sich diese nach Artikel 27 der Richtlinie 2004/38/EG richten (zum bestehenden Span-

nungsverhältnis auf normativer Ebene und der Rechtsprechung der Gerichte s. oben).

Bislang besteht in den Gesetzesbestimmungen betreffend die strafrechtliche Landes-

verweisung keine gesetzliche Grundlage bezüglich einer solchen Überprüfungs- und

Aufhebungsmöglichkeit (s. Art. 66

a

ff. StGB, Art. 49

a

ff. MStG). Da Artikel 32 Ab-

satz 1 der Richtlinie 2004/38/EG – so wie die übrigen Bestimmungen, für die keine

Ausnahme besteht – jedoch direkt anwendbar sein wird, soll, wie bereits im Rahmen

der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative, darauf verzichtet werden, eine explizite

263

Volksinitiative vom 15. Februar 2008 ‘Für die Ausschaffung krimineller Ausländer (Aus-

schaffungsinitiative)’, AS

2011

1199.

264

S. Botschaft des Bundesrates vom 26. Juni 2013 zur Änderung des Strafgesetzbuches und

Militärstrafgesetzes, Umsetzung von Art. 121 Abs. 3–6 BV über die Ausschaffung krimi-

neller Ausländerinnen und Ausländer), BBl

2013

5975 ff., 6056 f. und 6059.

265

EuGH, Urteil vom 18. Mai 1982, Adoui und Cornuaille / Belgischer Staat, 115 und

116/81, EU:C:1982:183 und Urteil vom17. Juni 1997, The Queen / Secretary of State for

the Home Department, ex parte Shingara und Radiom, C111/95 und C-111/95,

EU:C:1997:300.

249 / 931

Überprüfungs- und Aufhebungsmöglichkeit im Gesetz zu verankern; diese Möglich-

keit soll – wie bis anhin – der Rechtsprechung durch die Gerichte überlassen werden.

d.)

Konsequenzen der Rechtsprechung des EuGH nach dem 20. Juni 1999 im

Zusammenhang mit dem „illegalen Aufenthalt“ von Staatsangehörigen der

EU-Mitgliedstaaten

Gemäss Artikel 7 Absatz 2 des IP-FZA verpflichtet sich die Schweiz, vorbehaltlich

ausdrücklich vorgesehener Ausnahmen, die Rechtsprechung des EuGH vor und nach

dem Änderungsprotokoll zum FZA zu beachten. Nach dieser Rechtsprechung kom-

men sämtliche Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten in den Genuss von Kapi-

tel VI der Richtlinie 2004/38/EG allein aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit selbst

dann, wenn sie sich «nicht rechtmässig» im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaa-

tes aufhalten

266

. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts

267

, geniessen Staats-

angehörige der EU-Mitgliedstaaten, die sich nicht auf ein spezifisches, im FZA vor-

gesehenes Aufenthaltsrecht berufen können, allerdings derzeit jedoch nicht den

Schutz von Artikel 5 Anhang I FZA von 1999. Auf Staatsangehörige der EU-

Mitgliedstaaten ohne ein solches Aufenthaltsrecht wird Artikel 66

a

ff. StGB demzu-

folge angewendet, als wären sie Drittstaatenangehörige (ausserhalb des FZA). Die

Bestimmungen von Kapitel VI der Richtlinie 2004/38/EG, die in das FZA übernom-

men wurden, erfordern grundsätzlich eine Änderung dieser Praxis.

Artikel 1 Ziffer 6 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 7i des FZA (Einreise

von Drittstaatsangehörigen)

Dieser Artikel verschiebt die bisherige Regelung des Artikel 1 Absatz 1 Anhang I

FZA, gemäss der von entsandten Arbeitnehmern im Sinne des bisherigen Artikel 17

Anhang I FZA ein Einreisevisum oder ein gleichwertiger Nachweis verlangt werden

darf, wenn sie nicht die Staatsangehörigkeit einer Vertragspartei besitzen, in den

Hauptteil des Abkommens. Dies gilt nicht für entsandte Arbeitnehmende, die bereits

aufgrund von in Anhang I aufgenommenen Rechtsakten oder anderen zwischen den

Vertragsparteien geltenden Instrumenten über ein Einreiserecht verfügen.

Artikel 1 Ziffer 7 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 10 des FZA

(Änderungen bezüglich Mitgliedschaft in der EU)

Dieser Artikel regelt das Verfahren zur Ausdehnung des FZA auf neue EU-

Mitgliedstaaten. Es wird festgehalten, dass jeweils ein Übergangsregime ausgehandelt

werden soll, welches die schrittweise Öffnung des Arbeitsmarkts ermöglicht, wobei

u.a. die Bevölkerungsgrösse und das wirtschaftliche Gefälle berücksichtigt werden

sollen. Die Bestimmungen zu den bisherigen Übergangsregimes mit Kontingenten,

Inländervorrang, vorgängiger Kontrolle der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie der

sogenannten Ventilklausel, welche es der Schweiz erlaubte, bei überdurchschnittlich

266

EuGH, Urteil vom 7. Juni 2007, Kommission / Niederlande, C-50/06, EU:C:2007:325, Rn

14 ff. Es sei darauf hingewiesen, dass dieses Urteil die Richtlinie 64/221/EWG (auf die in

Art. 5 Anhang I FZA von 1999 Bezug genommen wird) betraf, deren Bestimmungen in

Kapitel VI der Richtlinie 2004/38/EG übernommen worden sind.

267

Vgl. insb. BGE

145

IV 55, 145 IV 364 sowie Urteil des Bundesgerichts vom 28. Novem-

ber 2018, 6B_1152/2017.

250 / 931

hoher Zuwanderung aus dem betroffenen neuen EU-Mitgliedstaat für eine befristete

Zeit erneut Kontingente einzuführen, sind mittlerweile ausgelaufen und werden des-

halb aufgehoben. Die Eckwerte dieser Übergangsregimes bleiben jedoch eine Refe-

renz für künftige Übergangsregimes.

Artikel 1 Ziffer 8 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 14 des FZA

(Gemischter Ausschuss)

Im Rahmen des Pakets Schweiz-EU erfolgt, soweit als sinnvoll, eine Vereinheitli-

chung der GA-Bestimmungen in allen betroffenen Abkommen (s. Ziff. 2.1.5.7). Auf-

gabe des Gemischten Ausschusses ist es weiterhin, die ordnungsgemässe Durchfüh-

rung sowie den Informationsfluss unter den Vertragsparteien sicherzustellen. Der GA

des FZA kann zudem weiterhin Empfehlungen aussprechen sowie in den vom Ab-

kommen vorgesehenen Fällen Beschlüsse fassen. Neu sind solche Beschlüsse auch

für die Übernahme neuer Rechtsakte in den Anhang I und nicht nur wie bisher in die

Anhänge II und III (vgl. Art. 18) sowie im Zusammenhang mit der Schutzklausel (vgl.

Art. 14

a

) vorgesehen. Ebenfalls neu ist die Schutzklausel nicht mehr in Artikel 14

Absatz 2 FZA, sondern in einem ausführlichen eigenständigen Artikel 14a FZA gere-

gelt.

Artikel 1 Ziffer 9 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 14a des FZA

(Schutzklausel)

Die bisher in Artikel 14 Absatz 2 FZA verankerte allgemeine Schutzklausel wurde

entsprechend dem Verhandlungsmandat konkretisiert. Neu ist die Schutzklausel in ei-

nem neuen eigenständigen Artikel 14a FZA geregelt. Ausgangssituation ist weiterhin

das Vorliegen von schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen. Neu

wird präzisiert, dass diese Probleme durch die Anwendung des FZA verursacht wer-

den müssen. Die Schutzklausel bezieht sich damit auf das gesamte FZA und alle darin

geregelten Themenbereiche. Liegen schwerwiegende wirtschaftliche oder soziale

Probleme vor, kann der GA des FZA auf Antrag einer Vertragspartei geeignete Mas-

snahmen ergreifen. Findet sich keine Einigung im GA, sieht Artikel 14a FZA neu die

Möglichkeit der Einleitung eines Verfahrens vor dem Schiedsgericht vor, welches

jede Vertragspartei eigenständig initiieren kann. Dabei wird zwischen einem ordentli-

chen und einem dringlichen Verfahren unterschieden.

Im

ordentlichen Verfahren

kann eine Vertragspartei nach 60 Tagen ergebnisloser Dis-

kussion im GA das Schiedsgerichtsverfahren initiieren, falls «schwerwiegende wirt-

schaftliche Probleme» vorliegen. Das Schiedsgericht muss innerhalb von sechs Mo-

naten ab seiner Konstituierung und der Bezeichnung der Schiedsrichter entscheiden

(neuer Art. 14a Abs. 1 bis 3 FZA; s. Ziff. 2.1).

Bei einer «dringlichen Ausnahmesituation mit einem Risiko von sehr schwerem wirt-

schaftlichem Schaden» kann das

dringliche Verfahren

gewählt werden. In diesem Fall

kann eine Vertragspartei das Schiedsgericht bereits nach 30 Tagen ergebnisloser Dis-

kussion im GA anrufen (neuer Art. 14

a

Abs. 4 FZA). Zudem kann für die Dauer des

Schiedsgerichtsverfahrens die vorläufige Anwendung von Schutzmassnahmen beim

Schiedsgericht beantragt werden. Dieses entscheidet nach einer summarischen Prü-

251 / 931

fung (

prima facie

) innert 30 Tagen, ob die Bedingungen für solche Massnahmen er-

füllt sind. Dabei wird Artikel III.10 des Anhangs zum Schiedsgericht

mutatis mutan-

dis

angewendet (s. Ziff. 2.1). Sind die Bedingungen gemäss Schiedsgericht erfüllt,

können vorläufige Schutzmassnahmen angewendet werden (neuer Art. 14a Abs. 5

FZA). Die andere Vertragspartei könnte diesfalls provisorische Ausgleichsmassnah-

men innerhalb des FZA ergreifen, um ein mögliches Ungleichgewicht im Abkommen

zu beheben. Das Schiedsgericht muss den definitiven Entscheid innerhalb von sechs

Monaten ab seiner Konstituierung und der Designation der Schiedsrichter (s. Ziff. 2.1)

treffen.

Kommt das Schiedsgericht zum Schluss, dass die vorgebrachten Probleme tatsächlich

vorliegen und durch die Anwendung des FZA verursacht wurden (

positiver Ent-

scheid

), kann die ersuchende Vertragspartei geeignete Schutzmassnahmen ergreifen.

Falls dadurch ein Ungleichgewicht im Abkommen entstehen würde, könnte die andere

Vertragspartei zum Ausgleich eines allfälligen Ungleichgewichts ihrerseits

Aus-

gleichsmassnahmen

im Rahmen des FZA ergreifen (neuer Art. 14a Abs. 3 FZA).

Die Auslösefaktoren für das Schiedsgerichtsverfahren («

schwerwiegende wirtschaft-

liche Probleme

») unterscheiden sich von der Ausgangssituation für die Diskussion im

GA («schwerwiegende wirtschaftliche oder soziale Probleme», neuer Art. 14a Abs. 1

FZA). Die Begriffswahl trägt dem Umstand Rechnung, dass soziale Probleme grund-

sätzlich mit wirtschaftlichen Indikatoren verbunden sind und daher unter den Begriff

«wirtschaftliche Probleme» subsumiert werden können. Dies ermöglicht auch den

konkreten Nachweis von sozialen Problemen im Schiedsgerichtsverfahren. Für die

Beurteilung von «

schwerwiegenden wirtschaftlichen Problemen

» sind sowohl makro-

als auch mikroökonomische Indikatoren relevant. Dies gilt ebenfalls für den Umstand

des «

Risikos von

sehr schwerem wirtschaftlichem Schaden

», welcher für die vorläu-

fige Anwendung von Schutzmassnahmen im dringlichen Verfahren vorliegen muss.

Droht zum Beispiel einem für eine Region wirtschaftlich bedeutsamen Unternehmen

der Konkurs wegen Lohnunterbietungen von Entsendebetrieben, könnte das Krite-

rium erfüllt sein.

Der

Entscheid des Schiedsgerichts

betrifft einzig das Vorliegen der vorgebrachten

schwerwiegenden Probleme und den Zusammenhang mit der Anwendung des FZA.

Bei einem positiven Entscheid des Schiedsgerichtskann die ersuchende Vertragspartei

eigenständig über die

Art der Massnahmen

entscheiden. Die Schutzmassnahmen und

Ausgleichsmassnahmen müssen sich auf das FZA beschränken und verhältnismässig

sein (neuer Art. 14a Abs. 3 und 5 FZA). Zudem müssen diejenigen Massnahmen be-

vorzugt werden, welche das allgemeine Funktionieren des FZA am wenigsten beein-

trächtigen (vgl. neuer Art. 14a Abs. 6 FZA).

268

Schutzmassnahmen und/oder Aus-

gleichsmassnahmen werden alle drei Monate im GA besprochen (neuer Art. 14a

Abs. 7 FZA). Würde die betroffene Vertragspartei die Schutzmassnahmen oder die

Ausgleichsmassnahmen als unverhältnismässig beurteilen, müsste sie ein ordentliches

Streitbeilegungsverfahren initiieren (s. Ziff. 2.1).

268

Im Gegensatz zu Massnahmen im Streitbeilegungsverfahren, welche in allen Binnenmarkt-

abkommen ergriffen werden können (Ausnahme des Agrarteils der Landwirtschaft, s.

Ziff. 3.1).

252 / 931

Im Rahmen eines Schutzklauselverfahrens kann auch der

EuGH

beigezogen werden.

Der Entscheid, den EuGH zu konsultieren oder nicht, obliegt jedoch in jedem Fall

dem Schiedsgericht. Allgemein kann das Schiedsgericht nur dann den EuGH anrufen,

wenn sich eine Frage in Zusammenhang mit der Interpretation oder Anwendung von

EU-Recht stellt. Der EuGH kann nicht von sich aus in einem Schutzklauselverfahren

intervenieren. Gemäss dem gemeinsamen Verständnis der Verandlungsdelegationen

sind die Auslösesituationen im Schutzklauselverfahren keine Begriffe des EU-Rechts.

In einem dringlichen Schutzklauselverfahren muss das Schiedsgericht zudem in je-

dem Fall innert 30 Tagen einen Entscheid betreffend die allfällige vorläufige Anwen-

dung von Schutzmassnahmen treffen. Diese Frist schliesst eine Beizug des EuGH

de

facto

aus (Art. III.10 des Anhangs zum Schiedsgericht, s. Ziff. 2.1).

Die Bestimmungen in Artikel 14a FZA belassen einen Spielraum für die innerstaatli-

che Umsetzung. In der innerstaatlichen Umsetzung im AIG werden die Voraussetzun-

gen und Kompetenzen für die Auslösung der Schutzklausel sowie für das Ergreifen

allfälliger Schutzmassnahmen weiter konkretisiert und festgelegt (Art. 21

b

VE-AIG;

s. Ziff. 2.3.8.1.1).

Trifft das Schiedsgericht einen

negativen Entscheid,

endet das Schutzklauselverfah-

ren nach dem neuen Artikel 14a FZA. Der ersuchenden Vertragspartei steht es offen,

trotzdem Schutzmassnahmen zu ergreifen, im Falle der Schweiz entsprechend der er-

gänzenden innerstaatlichen Umsetzung im AIG. Im AIG ist auf Stufe Bundesgesetz

verankert, dass Schutzmassnahmen auch dann möglich sind, wenn ein Schiedsspruch

vorliegt, der festhält, dass die Voraussetzungen für Schutzmassnahmen nicht erfüllt

sind (s. Ziff. 2.3.8.1.1). Der Gesetzgeber schafft dort bewusst die Möglichkeit, unter

Inkaufnahme der staatsvertraglichen Konsequenzen (allfällige Ausgleichsmassnah-

men der EU im Rahmen der Streitbeilegung) vom FZA abzuweichen. Wäre die EU

nämlich der Ansicht, dass diese Schutzmassnahmen der Schweiz, die sie entgegen

dem Schiedsgerichtsurteil fällt, das FZA verletzen, müsste sie ein ordentliches Streit-

beilegungsverfahren wegen einer Vertragsverletzung initiieren (s. Ziff. 2.1).

Artikel 1 Ziffer 10 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 18 des FZA (Revision)

Artikel 18 des FZA wurde durch einen neuen Artikel 18 ersetzt. Die Revisionsverfah-

ren für alle Binnenmarktabkommen wurden vereinheitlicht.

Artikel 1 Ziffer 11 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 21 des FZA

(Beziehung zu Steuerabkommen)

Die rein formalen Änderungen der Bestimmung dienen lediglich dazu, diese an den

aktuellen internationalen Steuerkontext anzupassen. Diese Änderungen, insbesondere

jene im Artikel 21 Absatz 2 des FZA, haben keine Auswirkungen auf den materiellen

Geltungsbereich der Bestimmung.

Artikel 1 Ziffer 12 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 23a des FZA

(Gültigkeit von Aufenthaltserlaubnissen und anderen Sonderbescheinigungen)

Die gestützt auf das FZA von 1999 ausgestellten Aufenthaltsbewilligungen B, Kurz-

aufenthaltsbewilligungen L sowie Grenzgängerbewilligungen G behalten auch nach

253 / 931

Inkrafttreten des Änderungsprotokolls zum FZA ihre Gültigkeiten. Erst nach Ablauf

des auf der jeweiligen Bewilligung eingetragenen Gültigkeitsdatums werden die Be-

willigungen umbenannt und mit einem neuen Aufenthaltstitel beziehungsweise Son-

derbescheinigung für Grenzgängerinnen und Grenzgänger ersetzt, sofern die Bedin-

gungen für einen legalen Status beispielsweise als erwerbstätige oder nicht-

erwerbstätige Person oder als Grenzgängerin oder Grenzgänger weiterhin erfüllt sind.

Artikel 1 Ziffer 12 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 23b des FZA

(Übergangsregelungen)

Die Richtlinie 2004/38/EG wird erst nach einer Übergangsfrist von zwei Jahren nach

Inkrafttreten des Änderungsprotokolls zum FZA zur Anwendung kommen. Damit hat

sich die Schweiz dieselbe Umsetzungsfrist ausbedungen, wie dannzumal die EU-

Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG hatten. Kohärenterweise

kommen auch diejenigen Artikel des Abkommens, welche Bestimmungen der Richt-

linie 2004/38/EG präzisieren oder Ausnahmen von derselben vorsehen, erst nach Ab-

lauf dieser Umsetzungsfrist zur Anwendung. Auch die Richtlinie 2014/54/EU über

Massnahmen zur Erleichterung der Ausübung der Rechte, die Arbeitnehmenden im

Rahmen der Freizügigkeit zustehen

269

, kommt erst nach einer Übergangsfrist von

zwei Jahren zur Anwendung. Die übrigen Bestimmungen des aufdatierten FZA ent-

falten ihre Wirkung ab Inkrafttreten des Änderungsprotokolls, darunter auch die im

neuen Anhang I referenzierten EU-Rechtsakte.

Sowohl für die Umsetzung der Richtlinien 96/71/EG, in der durch die Richtlinie (EU)

2018/957 geänderten Fassung und die Richtlinie 2014/67/EU, die Anwendung der

Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 sowie das Inkrafttreten der Ausnahmen von der dy-

namischen Rechtsübernahme nach den Artikeln 5

g

, 5

h

, und 5

i

haben die Schweiz und

die EU durch das Änderungsprotokoll zum FZA in Artikel 23

b

Absatz 2 eine Über-

gangsfrist von 36 Monaten nach Inkrafttreten des Änderungsprotokolls vereinbart.

Die Übergangsfrist gilt auch für Artikel 5f Absatz 2. Während den Übergangsfristen

gelten weiterhin die Bestimmungen Artikel 5 Absatz 4, Artikel 16, sowie Artikel 22

Absatz 2 von Anhang I des Abkommens in seiner Fassung vor Inkrafttreten des Än-

derungsprotokolls. Für die Non-Regression Klausel gelangt keine Übergangsfrist zur

Anwendung.

Artikel 1 Ziffer 13 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 24 des FZA

(Räumlicher Geltungsbereich)

Artikel 24 im FZA wurde durch einen neuen Artikel 24 ersetzt, welcher die Bezeich-

nung «Europäische Gemeinschaft» durch «Europäische Union» ersetzt. Inhaltlich

bleibt die Bestimmung unverändert.

269

Richtlinie 2014/54/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014

über Massnahmen zur Erleichterung der Ausübung der Rechte, die Arbeitnehmern im Rah-

men der Freizügigkeit zustehen, ABl. L 128 vom 30.4.2014, S. 8–14.

254 / 931

2.3.6.2.3

Anhang I des Änderungsprotokolls betreffend Anhang I des

FZA (Zuwanderung und Lohnschutz)

Im neuen Anhang I sind der zu übernehmende einschlägige

Acquis

sowie die techni-

schen Anpassungen aufgeführt, die für einen jeweiligen Rechtsakt präzisieren, wie

gewisse Bestimmungen auf die Schweiz anzuwenden sind. Aus Gründen der Klarheit

haben die Schweiz und die EU für fast alle Ausnahmen und Absicherungen technische

Anpassungen vorgenommen. Schliesslich haben die Schweiz und die EU in Anhang I

technische Anpassungen für die ausgehandelten Übergangszeiträume vorgenommen.

Die Bestimmungen von Abschnitt 1 Anhang I gelten für alle drei Anhänge. Im ersten

Absatz wird darauf hingewiesen, dass die Pflicht zur dynamischen Rechtsübernahme

gemäss den Bestimmungen des IP-FZA auch für die Anhänge gilt (s. Ziff. 2.1.5.2.2).

Sofern in technischen Anpassungen nichts anderes bestimmt ist, gelten gemäss Ab-

satz 2 die Rechte und Pflichten der EU-Mitgliedstaaten, die in den in den Anhängen

aufgeführten EU-Rechtsakten vorgesehen sind, auch für die Schweiz, unter Einhal-

tung des Institutionellen Protokolls (s. Ziff. 2.1.5.7). Damit wird sichergestellt, dass

die Schweiz die gleichen Rechte wie die EU-Mitgliedstaaten hat und nicht als «Dritt-

staat» schlechter gestellt werden kann. Der dritte Absatz regelt die Auskunfts- und

Informationspflichten gegenüber den in den Rechtsakten aufgeführten europäischen

Institutionen. Geht es dabei um Informationen zur Überwachung oder Anwendung

dieser Rechtsakte, sind diese Verpflichtungen nicht als solche auf die Schweiz an-

wendbar. Informationen, die sich nicht auf die Überwachung oder Anwendung bezie-

hen, beispielsweise Statistiken oder technische Informationen zum Austausch zwi-

schen den zuständigen Behörden, werden von der Schweiz direkt an die Europäische

Kommission übermittelt.

Die Teilnahme am EURES ergibt sich aus der Übernahme der Verordnung (EU)

2016/589. Die Schweiz verpflichtet sich nach Artikel 1 des Anhangs zum IP-FZA be-

treffend die Anwendung von Artikel 13 dieses Protokolls zu einem finanziellen Bei-

trag am EURES. Der Mechanismus, welcher in Artikel 13 des IP-FZA festgelegt wird,

ist in Ziffer 2.3.9.1.1 genauer beschrieben.

Im Entsendebereich werden die Richtlinien 96/71/EG, und 2014/67/EU mit techni-

schen Anpassungen und einer Übergangsfrist von drei Jahren übernommen.

Die Teilnahme als Drittstaat am IMI im Bereich Entsendungen wird durch das Ände-

rungsprotokoll in Anhang I des FZA geregelt, indem für die Schweiz die Verordnung

(EU) Nr. 1024/2012 (IMI-Verordnung) zur Anwendung gelangt. Die Schweiz ver-

pflichtet sich nach Artikel 1 des Anhangs zum IP-FZA betreffend die Anwendung von

Artikel 13 dieses Protokolls zu einem finanziellen Beitrag am IMI. Der Mechanismus,

welcher in Artikel 13 des IP-FZA festgelegt wird, ist in Ziffer 2.3.9.1.1 genauer be-

schrieben. Der Geltungsbereich ist aus einer technischen Anpassung zur Verordnung

(EU) Nr. 1024/2012 ersichtlich. Die Teilnahme am IMI im Bereich Entsendungen

ermöglicht es, Informationen zu Entsendebetrieben mit den zuständigen Behörden der

EU-Mitgliedstaaten auszutauschen und Verwaltungssanktionen grenzüberschreitend

zu vollstrecken. Nebst Bund und Kantonen erhalten auch die Paritätischen Kommis-

sionen von allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträgen Zugang zum Be-

reich Entsendungen des IMI. Sie werden Informationen mit den zuständigen Behör-

den der EU-Mitgliedstaaten austauschen können. Da die Möglichkeiten von IMI zur

255 / 931

grenzüberschreitenden Vollstreckung auf Verwaltungssanktionen beschränkt sind,

werden die Paritätischen Kommissionen IMI nicht für die grenzüberschreitende Voll-

streckung ihrer zivilrechtlichen Sanktionen nutzen. Zudem ist für die Teilnahme am

IMI im Bereich Entsendungen eine Übergangsfrist von drei Jahren ab Inkrafttreten

des Pakets (Schweiz–EU) vorgesehen. Diese Übergangsfrist ist ebenfalls über eine

technische Anpassung geregelt und abgestimmt auf die Übergangsfrist zur Umsetzung

der Richtlinien 96/71/EG und 2014/67/EU.

2.3.6.2.4

Anhang II des Änderungsprotokolls betreffend Anhang II

des FZA (Koordinierung der Systeme der sozialen

Sicherheit)

Anhang II, II. Sektorielle Anpassungen, Ziffer 1: Ausnahmen von der dynamischen

Rechtsübernahme

Von den bestehenden speziellen Regelungen und Vorbehalten der Schweiz in An-

hang II FZA von 1999 konnten die wichtigsten von der dynamischen Rechtsüber-

nahme ausgeschlossen werden. Diese Ausnahmen sind somit dauerhaft als solche ab-

gesichert. Sie sind auch in Artikel 5 Absatz 7 des IP-FZA explizit erwähnt.

Die einzelnen Punkte betreffen abweichende Regelungen der Schweiz, die gemäss

den Koordinierungsverordnungen der EU vorgesehen und erlaubt sind, sowie eine ei-

genständige Ausnahme für die Hilflosenentschädigungen.

Die Schweiz ist somit nicht verpflichtet, künftig neue Regelungen der EU in An-

hang II FZA zu übernehmen, wenn sie folgende Bereiche betreffen:

a)

Ausschluss der kantonalen Rechtsvorschriften betreffend die Unterhaltsvor-

schüsse (Alimentenbevorschussung) von der Koordinierung der sozialen Sicherheit:

Diese Leistungen müssen nicht mit analogen Leistungen aus anderen Ländern koor-

diniert und nicht exportiert werden.

b)

Ausschluss der Ergänzungsleistungen und vergleichbarer kantonaler Leis-

tungen vom Export: Die Schweiz konnte diese Leistungen seit Inkrafttreten des FZA

von 1999 als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen vom Export ausnehmen.

c)

Ausschluss der kantonalen beitragsunabhängigen Mischleistungen bei Ar-

beitslosigkeit vom Export: Diese Leistungen sind ebenfalls seit Inkrafttreten des FZA

als besondere beitragsunabhängige Geldleistungen vom Export ausgenommen.

d)

Der Beitritt zur freiwilligen AHV für Personen, die ausserhalb der Schweiz

und der EU wohnen, ist erst nach einer ununterbrochenen Versicherungszeit in der

AHV/IV von fünf Jahren möglich. Ausländische Versicherungszeiten müssen für die

Erfüllung dieser Vorversicherungszeit nicht angerechnet werden.

e)

Die Weiterversicherung in der obligatorischen AHV/IV von Personen, die

ausserhalb der Schweiz und der EU für einen Arbeitgeber in der Schweiz arbeiten, ist

erst nach einer ununterbrochenen Versicherungszeit in der AHV/IV von fünf Jahren

möglich. Ausländische Versicherungszeiten müssen für die Erfüllung dieser Vorver-

sicherungszeit nicht angerechnet werden.

f)

Ausschluss der Hilflosenentschädigung der AHV und der IV vom Export:

Bei Inkrafttreten des FZA von 1999 konnte die Schweiz Hilflosenentschädigungen als

256 / 931

besondere beitragsunabhängige Geldleistungen vom Export ausnehmen. Die Recht-

sprechung hat in der Zwischenzeit solche Leistungen auf europäischer Ebene als ex-

portierbar qualifiziert. Trotzdem konnte die Schweiz ihre Ausnahme als politische

Ausnahme aufrechterhalten.

Anhang II, II. Sektorielle Anpassungen, Abschnitt B Wahrung von

Zusatzrentenansprüchen - Rechtsakte, auf die Bezug genommen wird, Ziffer 2

Teil des zu übernehmenden EU-

Acquis

ist die Richtlinie 2014/50/EU. Diese Richtli-

nie gilt für Zusatzrentensysteme mit Ausnahme der unter die Verordnung (EG)

Nr. 883/2004 fallenden Systeme. Ihre Anwendung auf die Schweiz hätte faktisch ein

Verbot der Barauszahlung der Austrittsleistung der weitergehenden Beruflichen Vor-

sorge (Überobligatorium) nach Ausreise in einen EU-Mitgliedstaat zur Folge (siehe

Ziff. 2.3.5.2.2).

Die Schweiz konnte erreichen, dass die weitergehende berufliche Vorsorge als Teil

des gesetzlichen Rentenversicherungssystems den Koordinierungsregeln der Verord-

nung (EG) Nr. 883/2004 unterstellt wird und damit die gleichen Regeln gelten wie für

die Minimalvorsorge gemäss dem Bundesgesetz vom 25. Juni 1982

270

über die beruf-

liche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG). So gilt für die weiterge-

hende Vorsorge ebenfalls kein Verbot, sondern nur eine Einschränkung der Baraus-

zahlung der Austrittsleistung, d.h. die Barauszahlung bei Verlassen der Schweiz ist

wie bei

der Minimalvorsorge nicht mehr möglich, solange eine Person in einem EU-

Mitgliedstaat der obligatorischen Rentenversicherung unterliegt.

Für die Umsetzung der Richtlinie 2014/50/EU und die Anwendung der Verordnung

(EG) Nr. 883/2004 auf die weitergehende berufliche Vorsorge ist eine Übergangsfrist

von vier Jahren vorgesehen, wie sie bei Inkrafttreten der Richtlinie auch den EU-

Mitgliedstaaten für deren Umsetzung zustand. Bezüglich Umsetzung der Richtlinie

2014/50/EU hat die EU akzeptiert, dass die schweizerische Regelung zur weiterge-

henden Vorsorge der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 unterstellt und damit vom Gel-

tungsbereich der Richtlinie 2014/50/EU ausgenommen wird.

Weitere in den Anhang II FZA integrierte Rechtsakte sind von geringer Tragweite. Es

handelt sich um Kommissionsverordnungen betreffend technische Änderungen, die

vorab Aktualisierungen der Anhänge zu den Koordinierungsverordnungen beinhalten.

Die neu aufgenommenen Beschlüsse und Empfehlungen haben auslegenden Charak-

ter. Sie bezwecken die Präzisierung der Anwendung der Koordinierungsregeln.

Protokoll I und II zu Anhang II FZA

Die bisherige Übergangsbestimmung betreffend die berufliche Vorsorge in Ziffer III

von Protokoll I wurde gestrichen. Die fünfjährige Übergangsfrist galt beim Inkrafttre-

ten des FZA und hat infolge Zeitablaufs ihre Bedeutung verloren.

In der neuen Ziffer III von Protokoll I wird die vierjährige Übergangsfrist für die Un-

terstellung der weitergehenden beruflichen Vorsorge unter die Verordnung (EG)

Nr. 883/2004 geregelt.

270

SR

831.40

257 / 931

Das Protokoll II zu Anhang II FZA wird unverändert übernommen.

Finanzielle Beiträge

Die Schweiz beteiligte sich bereits bisher an dem von der EU eingerichteten System

zum elektronischen Austausch von Sozialversicherungsdaten (EESSI - Electronic

Exchange of Social Security Information). Neu verpflichtet sich die Schweiz nach

Artikel 1 des Anhangs zum IP-FZA betreffend die Anwendung von Artikel 13 dieses

Protokolls dazu, einen finanziellen Beitrag an dieses System zu leisten. Der Mecha-

nismus, welcher in Artikel 13 des IP-FZA festgelegt wird, ist in Ziffer 2.3.9.1.1 ge-

nauer beschrieben.

Die Schweiz nimmt ebenfalls bereits am gegenseitigen Informationssystem für sozi-

ale Sicherheit (MISSOC - Mutual Information System on Social Protection) teil. Der

finanzielle Beitrag beruht auf einer separaten Vereinbarung mit dem MISSOC-

Sekretariat. Artikel 13 des IP-FZA ist auf diesen Beitrag nicht anwendbar (vgl. Art. 4

des Anhangs zum IP-FZA betreffend die Anwendung von Art. 13 dieses Protokolls).

2.3.6.2.5

Anhang III des Änderungsprotokolls betreffend Anhang III

des FZA (Anerkennung von Berufsqualifikationen)

Der Anhang III FZA verweist auf eine Reihe von Rechtsakten des EU-Rechts, von

denen die meisten zwischen der Schweiz und der EU bereits in Kraft sind. Dies betrifft

in erster Linie die Richtlinie 2005/36/EG, welche die Schweiz seit 2011 anwendet.

Der

Acquis

, den das Änderungsprotokoll zum FZA übernimmt, betrifft Rechtsakte,

die neu im Anhang III FZA integriert werden. Diese werden im Folgenden aufgeführt.

Die Richtlinie 2013/55/EU

271

ändert und modernisiert die Richtlinie 2005/36/EG. Sie

führt wesentliche materielle Anpassungen ein, wie die Zusammenarbeit im IMI, den

Europäischen Berufsausweis, den Vorwarnmechanismus und die gemeinsamen Aus-

bildungsgrundsätze. Sie vereinfacht, verbessert und reduziert die notwendigen Ver-

fahrensschritte bei der Anerkennung von Berufsqualifikationen.

Die Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 regelt die Teilnahme der Schweiz am IMI als

Drittstaat und die Modalitäten der Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe von IMI,

insbesondere die Bearbeitung besonders schützenswerter Daten. In diesem Bereich

hat die Schweiz mehrere technische Anpassungen vorgenommen. Insbesondere soll

das Schweizer Recht an persönlichen Daten angewendet werden. Gemäss Artikel 1

des Anhangs des IP-FZA verpflichtet sich die Schweiz zu einem finanziellen Beitrag.

Der Mechanismus, welcher in Artikel 13 des IP-FZA festgelegt wird, wird in Ziffer

2.3.9.1.1 genauer beschrieben.

Der

Europäische Berufsausweis

«

European Professional Card

» (EPC) ist eine Be-

scheinigung in Form eines elektronischen Zertifikats. Ein EPC-Zertifikat belegt, dass

271

Richtlinie 2013/55/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. November

2013 zur Änderung der Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifika-

tionen und der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit

Hilfe des Binnenmarkt-Informationssystems („IMI-Verordnung“), in der Fassung gemäss

Anhang III, 2. Abschnitt des Änderungsprotokolls zum FZA.

258 / 931

für die berufstätige Person im Herkunfts- und Aufnahmestaat keinerlei Einschränkun-

gen bestehen. Es gilt als Nachweis, dass Berufsleute sämtliche notwendigen Voraus-

setzungen hinsichtlich der Berufsqualifikationen – zum Zwecke einer vorübergehen-

den Dienstleistungserbringung oder der Niederlassung in einem Aufnahmestaat –

erfüllt haben. Das elektronische EPC-Verfahren ist aktuell für insgesamt 5 Berufe

(Pflegefachpersonen für allgemeine Pflege, Bergführerinnen und Bergführer, Immo-

bilienmaklerinnen und -makler, Physiotherapeutinnen und -therapeuten sowie Dip-

lome als Apothekerinnen und Apotheker) möglich.

Die Berufsangehörigen können wählen, ob sie einen Antrag über das EPC-Verfahren

einreichen oder das herkömmliche Anerkennungsverfahren nutzen wollen. Es bietet

den Berufsangehörigen eine zusätzliche Möglichkeit und wird folglich auch Schwei-

zer Staatsangehörigen erlauben, die Anerkennung ihrer Abschlüsse elektronisch zu

beantragen. Die Bestimmungen über die Modalitäten der Berufsausübung und insbe-

sondere zu dem Erfordernis von Sprachkenntnissen sind in der geänderten Richtlinie

2005/36/EG präzisiert. Es ist explizit vorgesehen, dass für gewisse berufliche Tätig-

keiten Sprachkenntnisse in einer Amtssprache verlangt werden können. Dies gilt für

Berufe mit Auswirkungen auf die Patientensicherheit oder, wenn erhebliche und kon-

krete Zweifel daran bestehen, dass die betroffene Person für die berufliche Tätigkeit,

die sie auszuüben beabsichtigt, über ausreichende Sprachkenntnisse verfügt. Es han-

delt sich um eine Anpassung, die bereits weitgehend der bestehenden Praxis der Be-

hörden entspricht. Der Grundsatz, Sprachkenntnisse überprüfen zu dürfen, wird bei-

behalten, sodass die Patientensicherheit auch in Zukunft gewährleistet ist.

Der Vorwarnmechanismus ermöglicht die elektronische Übermittlung via IMI in

Echtzeit, wenn es betreffend die Ausübung eines reglementierten Berufs bei einer Per-

son zu einem Verbot oder einer Beschränkung kommt. Konkret werden Informationen

über die Identität von Berufsangehörigen, denen von Behörden oder Gerichten im Ge-

sundheitswesen oder im Bereich der Erziehung Minderjähriger, einschliesslich Kin-

derbetreuung in Einrichtungen und frühkindliche Erziehung, die Ausübung berufli-

cher Tätigkeiten ganz oder teilweise – auch vorübergehend – verboten worden ist oder

diesbezügliche Beschränkungen auferlegt worden sind, ausgetauscht. Durch die War-

nung soll verhindert werden, dass Berufsangehörige, gegen die eine Sanktion (z. B.

wegen medizinischer Fehler, pädophiler Handlungen oder anderer sexueller Über-

griffe) vorliegt, die Einschränkung oder das Verbot der Berufsausübung im Her-

kunftsstaat umgehen, indem sie die Anerkennung in einem anderen Staat beantragen.

Betroffen sind die Berufsgruppen, die in Artikel 56

a

Absatz 1 der geänderten Richt-

linie 2005/36/EG aufgelistet sind: Das sind insbesondere die sektoralen Berufe (Ärz-

tinnen und Ärzte, Zahnärztinnen und Zahnärzte, Tierärztinnen und Tierärzte, Apothe-

kerinnen und Apotheker, Pflegefachpersonen für allgemeine Pflege und Hebammen)

sowie weitere Berufsangehörige, deren Berufsausübung Auswirkungen auf die Pati-

entensicherheit hat. Der Vorwarnmechanismus gilt auch für die übrigen vom Gel-

tungsbereich des Gesundheitsberufegesetzes vom 30. September 2016

272

(GesBG) er-

fassten

Berufe,

die

Chiropraktorinnen

und

Chiropraktoren

nach

272

SR

811.21

259 / 931

Medizinalberufegesetz vom 23. Juni 2006

273

(MedBG) sowie die Angehörigen der

Psychologieberufe nach dem Psychologieberufegesetz vom 18. März 2011

274

(Psy-

chologinnen und Psychologen sowie Psychotherapeutinnen und -therapeuten). Dar-

über hinaus zählen auch die Berufsangehörigen dazu, die reglementierte Berufe aus-

üben,

die

Auswirkungen

auf

die

Patientensicherheit

haben

(z. B.

Dentalhygienikerinnen und Dentalhygieniker, med. Masseurinnen und Masseure,

Fachfrau/Fachmann Gesundheit, Podologinnen und Podologen). Ebenso gilt der Vor-

warnmechanismus für die Berufsangehörigen, die Tätigkeiten im Bereich der Erzie-

hung Minderjähriger, einschliesslich in der Kinderbetreuung in Einrichtungen und in

der frühkindlichen Erziehung, ausüben. Es handelt sich namentlich um die Berufe

Fachfrau/Fachmann Betreuung (Kinderbetreuung), Sozialpädagoginnen und -pädago-

gen, Sozialarbeiterinnen und -arbeiter, Kinder- und Jugendpsychologinnen und -

psychologen sowie Kinder- und Jugendpsychotherapeutinnen und -therapeuten. Im

schulischen Bereich betrifft es insbesondere die Lehrpersonen (Kindergarten, Primar-

stufe, Sekundarstufe I, Maturitätsschulen), die Schulleiterinnen und -leiter sowie die

sonderpädagogischen Fachpersonen (heilpädagogische Früherziehung, schulische

Heilpädagogik, Logopädie und Psychomotoriktherapie).

Bei Fälschungen von Berufsqualifikationsnachweisen erfolgt via IMI eine Warnung,

indem Informationen über die Identität von Berufsangehörigen ausgetauscht werden.

Es handelt sich dabei um Personen, welche die Anerkennung von Berufsqualifikatio-

nen beantragt haben und bei denen später gerichtlich (im Rahmen eines Strafverfah-

rens) festgestellt wurde, dass sie dabei gefälschte Berufsqualifikationen verwendet

haben. Gemäss Artikel 56

a

Absatz 3 der geänderten Richtlinie 2005/36/EG muss die

Warnung im IMI spätestens drei Tage nach Annahme der Gerichtsentscheidung, d. h.

nach Zustellung des Strafurteils, erfolgen.

Gemeinsame Ausbildungsgrundsätze sollen bei der Anerkennung von Berufsqualifi-

kationen für einen stärkeren Automatismus sorgen. Dafür bestehen zwei Instrumente:

der gemeinsame Ausbildungsrahmen und die gemeinsamen Ausbildungsprüfungen.

Sie verfolgen den Zweck, das System der automatischen Anerkennung auf weitere

Berufe auszudehnen. Dies soll gestützt auf EU-weite harmonisierte Mindestanforde-

rungen an die Ausbildungsgänge erfolgen. Derzeit gibt es nur eine gemeinsame Aus-

bildungsprüfung für Skilehrerinnen und Skilehrer. Die Schweiz kann frei entscheiden,

ob sie an dieser Prüfung teilnehmen oder das derzeitige Anerkennungssystem beibe-

halten möchte, das auf einem Vergleich der Ausbildungen und Ausgleichsmassnah-

men beruht.

Die Durchführung von Verhältnismässigkeitsprüfungen ist im Abkommen vor der

Annahme neuer Berufsreglementierungen oder der Änderung bestehender Berufsreg-

lementierungen vorgesehen. Sie soll ungerechtfertigte Beschränkungen des Zugangs

zu beruflichen Tätigkeiten oder ihrer Ausübung verbieten und die Transparenz und

das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes gewährleisten. Die Gründe für die

Verhältnismässigkeit müssen im IMI festgehalten und der Öffentlichkeit zugänglich

gemacht werden. Der Bund und vor allem die Kantone sind von der Umsetzung dieser

273

SR

811.11

274

SR

935.81

260 / 931

Richtlinie betroffen, da sie in der Regel für die Reglementierung von Berufen zustän-

dig sind.

Ausserdem enthält die Richtlinie 2013/55/EU zahlreiche Änderungen, die grössten-

teils technischer oder terminologischer Art sind:

Die Gewährung des partiellen Zugangs: Grundsatz, der gemäss Rechtspre-

chung des EuGH bereits gilt und von der Schweiz seit Jahren angewendet

wird (z. B. Anerkennung von Lehrpersonen, die nur ein Fach unterrichten,

d. h. Monofachlehrkräfte).

Die Möglichkeit, die Ausbildungsdauer nicht nur wie bisher in Jahren, son-

dern neu auch in ECTS-Punkten auszudrücken.

Die Aufhebung der Möglichkeit, nicht auf ein Gesuch einzugehen, wenn

sich der ausländische Abschluss gemäss Zuordnung in Artikel 11 der Richt-

linie 2005/36/EG um mehr als ein Ausbildungsniveau unterscheidet (vgl.

neuer Art. 13 Abs. 1 der geänderten Richtlinie 2005/36/EG).

Die Anpassung von Titel II der Richtlinie 2005/36/EG (Dienstleistungsfrei-

heit): Die Richtlinie 2013/55 sieht vor, dass der EU anzugeben ist, für wel-

che Berufe eine Nachprüfung der Berufsqualifikationen vorgesehen ist

(Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie). Der Umfang der Nachweise, die von Berufs-

angehörigen verlangt werden können, wurde erweitert, namentlich in Bezug

auf die Sprachkenntnisse bei Berufen, welche die Patientensicherheit tan-

gieren. Die Dienstleistung soll neu ab Einreichung der Meldung der Dienst-

leistungserbringenden und nicht mehr ab einer behördlichen Mitteilung

stattfinden.

Das generelle System (Vergleich der Ausbildungen mit Ausgleichsmass-

nahmen) wird breiter und systematischer angewendet. Es soll subsidiär zur

Anwendung kommen, wenn kein günstigeres Anerkennungssystem (z. B.

eine automatische Anerkennung) möglich ist. Das betrifft vor allem medi-

zinische Weiterbildungen, die nicht im Anhang V der Richtlinie

2005/36/EG aufgeführt sind.

Die Durchführungsverordnung (EU) 2015/983

275

regelt das Verfahren zur Ausstel-

lung des Europäischen Berufsausweises und die Anwendung des Vorwarnmechanis-

mus.

275

Durchführungsverordnung (EU) 2015/983 der Kommission vom 24. Juni 2015 betreffend

das Verfahren zur Ausstellung des Europäischen Berufsausweises und die Anwendung des

Vorwarnmechanismus gemäss der Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments

und des Rates, in der Fassung gemäss Anhang III, 2. Abschnitt des Änderungsprotokolls

zum FZA.

261 / 931

Die Richtlinie (EU) 2018/958

276

regelt die Modalitäten der Verhältnismässigkeitsprü-

fung vor Erlass neuer Berufsreglementierungen für sämtliche Behörden, die eine Tä-

tigkeit reglementieren, sei es auf Bundes-, Kantons- oder Gemeindeebene. Diese

Richtlinie ist unmittelbar anwendbar und muss bei jeder neuen Reglementierung oder

Anpassung existierender Reglementierungen angewendet werden.

Die delegierte Verordnung (EU) 2019/907

277

legt eine gemeinsame Ausbildungsprü-

fung für Skilehrerinnen und Skilehrer gemäss Artikel 49b der Richtlinie 2005/36/EG

fest. Die Übernahme dieser Verordnung verpflichtet nicht zur Teilnahme an dieser

Prüfung; die Schweiz ist frei, an der Prüfung teilzunehmen oder nicht. Hat sie ein

Interesse daran, wird ein Entscheid des GA nötig sein.

Der Durchführungsbeschluss (EU) 2023/423

278

unterstützt ein Pilotprojekt zur Um-

setzung der Bestimmungen über die Verwaltungszusammenarbeit in Bezug auf regle-

mentierte Berufe gemäss den Richtlinien 2005/36/EG und 2018/958 mithilfe von IMI

und zur Integration der Datenbank reglementierter Berufe in dieses System.

Die delegierte Richtlinie (EU) 2024/782

279

ändert die Mindestanforderungen an die

Ausbildung der Berufe der Pflegefachpersonen für allgemeine Pflege, der Zahnmedi-

zin und der Apothekerin und des Apothekers.

In mehreren EU-Rechtsakten wird zudem die Liste der automatisch anerkannten Be-

zeichnungen für Ärztinnen und Ärzte, Zahnärztinnen und Zahnärzte, Apothekerinnen

und Apotheker, Tierärztinnen und Tierärzte, Pflegefachpersonen, Hebammen und Ar-

chitektinnen und Architekten aktualisiert. Die Schweiz bringt auch ihre Anpassungen

ein, namentlich bei einer Aufdatierung von Weiterbildungen von Ärztinnen und Ärz-

ten, die künftig in der EU automatisch anerkannt werden.

276

Richtlinie (EU) 2018/958 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Juni 2018

über eine Verhältnismässigkeitsprüfung vor Erlass neuer Berufsreglementierungen, in der

Fassung gemäss Anhang III, 2. Abschnitt des Änderungsprotokolls zum FZA.

277

Delegierte Verordnung (EU) 2019/907 der Kommission vom 14. März 2019 zur Festle-

gung einer gemeinsamen Ausbildungsprüfung für Skilehrer gemäss Artikel 49b der Richt-

linie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005

über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (Text von Bedeutung für den EWR.)

C/2019/1935, in der Fassung gemäss Anhang III, 2. Abschnitt des Änderungsprotokolls

zum FZA.

278

Durchführungsbeschluss (EU) 2023/423 der Kommission vom 24. Februar 2023 über ein

Pilotprojekt zur Umsetzung der Bestimmungen über die Verwaltungszusammenarbeit in

Bezug auf reglementierte Berufe gemäss den Richtlinien 2005/36/EG und (EU) 2018/958

des Europäischen Parlaments und des Rates mithilfe des Binnenmarkt-Informationssys-

tems und zur Integration der Datenbank reglementierter Berufe in dieses System,

C/2023/1202, in der Fassung gemäss Anhang III, 2. Abschnitt des Änderungsprotokolls

zum FZA.

279

Delegierte Richtlinie (EU) 2024/782 der Kommission vom 4. März 2024 zur Änderung der

Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich der Min-

destanforderungen an die Ausbildung der Berufe der Krankenpflegerin und des Kranken-

pflegers für allgemeine Pflege, des Zahnarztes und des Apothekers, in der Fassung gemäss

Anhang III, 2. Abschnitt des Änderungsprotokolls zum FZA.

262 / 931

2.3.6.2.6

Gemeinsame Erklärungen

Gemeinsame Erklärung zur Unionsbürgerschaft

Als weitere Absicherung hat die Schweiz mit der EU eine Gemeinsame Erklärung zur

Unionsbürgerschaft ausgehandelt, welche derjenigen der EWR-Staaten nachempfun-

den ist. Sie besagt, dass das Konzept der Unionsbürgerschaft nicht im FZA enthalten

ist und damit zu unterscheiden ist von den Freizügigkeitsregeln, wie sie die Vertrags-

parteien vereinbart haben. Insbesondere wird festgehalten, dass das FZA keine

Rechtsgrundlage bildet für politische Rechte von Angehörigen der Vertragsparteien.

Gemeinsame Erklärung über die Verhinderung von Rechtsmissbrauch der durch die

Richtlinie 2004/38/EG verliehenen Rechte

In dieser Gemeinsamen Erklärung teilen die Schweiz und die EU das gemeinsame

Ziel, den Missbrauch der durch die Richtlinie 2004/38/EG gewährten Rechte im Ein-

klang mit Artikel 35 der Richtlinie zu verhindern und dagegen vorzugehen, insbeson-

dere in Bezug auf den Zugang zur Sozialhilfe. Für die Auslegung des Begriffs des

Rechtsmissbrauchs ist die Rechtsprechung des EuGH zu berücksichtigen. So müssen

auf der Grundlage von Artikel 35 der Richtlinie 2004/38/EG ergriffene Massnahmen

auf eine individuelle Prüfung des Einzelfalls gestützt sein und dürfen keinen general-

präventiven Zweck verfolgen.

Gemeinsame Erklärung über die Verweigerung der Sozialhilfe und die

Aufenthaltsbeendigung vor Erwerb des Daueraufenthalts

Mit dieser Gemeinsamen Erklärung hat die Schweiz eine weitere wichtige Absiche-

rung ausgehandelt. Durch sie soll klar aufgezeigt werden, welche Praktiken aus dem

EU-Recht, insbesondere der Richtlinie 2004/38/EG, sowie der Rechtsprechung des

EuGH derzeit massgebend sind, wenn es um die Verweigerung der Sozialhilfe oder

den Entzug des Aufenthaltsrechts vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt geht.

Diese Regeln sollen eine dem EU-Recht entsprechende Auslegung sicherstellen, wo-

bei die Schweiz bei der Umsetzung, unter Beachtung der Grundsätze der Nichtdiskri-

minierung und der Verhältnismässigkeit, ihren Handlungsspielraum nutzen kann. Bei-

spielsweise endet das Aufenthaltsrecht von stellensuchenden Personen, wenn die

Schweizer Behörden feststellen, dass diese sich nicht um ihre Eingliederung in den

Arbeitsmarkt bemühen und auch nicht mit der öffentlichen Arbeitsvermittlung (öAV)

zusammenarbeiten, um eine Stelle zu finden (s. Ziff. 2.3.8.1.1, Art. 61

a

VE-AIG).

Gemeinsame Erklärung über die Meldung betreffend Stellenantritte und Einseitige

Erklärung der Schweiz über die bei Selbstständigen zu ergreifenden Massnahmen im

Rahmen des Meldeverfahrens für kurzfristige Erwerbstätigkeit

Dank der Aushandlung dieser Absicherung mit der EU kann die Schweiz das Online-

Meldeverfahren für kurzfristige Erwerbstätigkeit von Arbeitnehmenden und Selbst-

ständigen weiterführen beziehungsweise neu einführen. Mit diesem Meldeverfahren

für eine Erwerbstätigkeit von maximal drei Monaten pro Kalenderjahr verfügen die

kantonalen Behörden weiterhin über ein administratives Instrument zur Kontrolle der

263 / 931

Lohn- und Arbeitsbedingungen. Diese Erklärung spricht in diesem Zusammenhang

nicht vom Meldeverfahren im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (s. Ge-

meinsame Erklärung über die gemeinsamen Ziele betreffend die Dienstleistungsfrei-

heit von bis zu 90 Arbeitstagen und die Gewährleistung der Rechte von entsandten

Arbeitnehmenden). Solche Verwaltungsvorschriften sollen das Aufenthaltsrecht der

Person nicht beeinträchtigen, auch nicht für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf

Daueraufenthalt.

280

Die Einseitige Erklärung der Schweiz verfolgt das Ziel des Bundesrates, Lohndum-

ping zu bekämpfen. In dieser Erklärung hält die Schweiz daher zusätzlich fest, dass

sie in Anbetracht der in Anhang I und in der Gemeinsamen Erklärung des Änderungs-

protokolls beschriebenen Lösungen für die Entsendung von Arbeitnehmenden, wenn

nötig Massnahmen ergreifen wird, um sicherzustellen, dass Selbstständige diese Mel-

devorschriften nicht umgehen. Die einseitige Erklärung stellt eine Grundlage dar, um

die Meldepflicht auf im Ausland wohnhafte selbstständig Erwerbstätige ohne Nieder-

lassung im Ausland zu erweitern, welche ihre Erwerbstätigkeit nur für bis zu drei Mo-

nate pro Kalenderjahr in der Schweiz ausüben möchten (s. Ziff. 2.3.8.4.1). Eine Aus-

weitung der Meldepflicht auf diese selbstständigen Erwerbstätigkeiten ist notwendig,

weil die Schweiz das bedingungslose Recht auf Aufenthalt bis zu drei Monaten ge-

mäss Artikel 6 der Richtlinie 2004/38/EG übernimmt. Dieses verschafft Staatsange-

hörigen der EU-Mitgliedstaaten ein Aufenthaltsrecht für Aufenthalte bis zu drei Mo-

naten, ohne, dass sie in dieser Zeit eine Meldebestätigung oder Bewilligung ihres

Aufenthalts benötigen. Das Recht auf Aufenthalt bis zu drei Monaten gilt auch für

Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die in dieser Zeit einer Erwerbstätigkeit

nachgehen. Mit der Ausweitung der Meldepflicht auf selbstständig Erwerbstätige

wird verhindert, dass die auf 90 Tage beschränkte Dienstleistungsfreiheit umgangen

werden kann, indem sich grenzüberschreitende Dienstleistungserbringende als Selbst-

ständige ausgeben und damit aufgrund des bedingungslosen Rechts auf Aufenthalt bis

zu drei Monaten keiner Meldung unterliegen würden.

Gemeinsame Erklärung zum Übereinkommen über die Anerkennung von

Qualifikationen

Mit dieser gemeinsamen Erklärung nehmen die Vertragsparteien zur Kenntnis, dass

die Schweiz und alle Mitgliedstaaten Vertragsparteien des Übereinkommens über die

Anerkennung von Qualifikationen im Hochschulbereich in der europäischen Region

sind, und bestätigen, dass sie bei der Umsetzung des Abkommens die Bestimmungen

dieses Übereinkommens in der zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Änderungs-

protokolls geltenden Fassung einhalten.

Gemeinsame Erklärung zu Stellenangeboten

Die gemeinsame Erklärung hält die Absicherung der nationalen Gesetzgebung zur

Umsetzung von Artikel 121

a

BV trotz der dynamischen Anpassung an den EURES-

Besitzstand fest. Die Umsetzung von Artikel 121

a

BV beinhaltet die Einführung einer

280

Änderungsprotokoll zum FZA, Gemeinsame Erklärung über die Meldung betreffend Stel-

lenantritte.

264 / 931

Stellenmeldepflicht im Artikel 21

a

AIG. Dabei müssen offene Stellen in Berufsarten

mit einer Arbeitslosenquote von 5 Prozent oder darüber bei den RAV gemeldet wer-

den und unterliegen einer Sperrfrist, bevor sie öffentlich ausgeschrieben werden dür-

fen.

Gemeinsame Erklärung über die gemeinsamen Ziele betreffend die

Dienstleistungsfreiheit von bis zu 90 tatsächlichen Arbeitstagen und die

Gewährleistung der Rechte von entsandten Arbeitnehmenden

Diese Erklärung hat zum Ziel festzuhalten, dass sowohl die Schweiz und die EU ihren

Staatsangehörigen sowie ihren Wirtschaftsakteuren faire Bedingungen für den freien

Dienstleistungsverkehr während bis zu 90 Arbeitstagen pro Kalenderjahr (einschliess-

lich der Entsendung von Arbeitnehmenden) einräumen und dabei die Rechte der Ar-

beitnehmenden in vollem Umfang gewährleisten. Ebenfalls wird darin bekräftigt, dass

nichtdiskriminierende und verhältnismässige Kontrollen notwendig sind, um den

freien Dienstleistungsverkehr, sowie die korrekte und wirksame Anwendung der Vor-

schriften zum Schutz der Arbeitnehmenden zu gewährleisten, indem Missbrauch und

Umgehung verhindert werden.

Gemeinsame Erklärung betreffend wirksame Kontrollsysteme einschliesslich des

dualen Vollzugssystems der Schweiz

Mit dieser gemeinsamen Erklärung bekennen sich die Vertragsparteien zum dualen

Vollzugssystem, indem darauf verwiesen wird, dass die nach nationalem Recht zu-

ständigen Vollzugsorgane – in der Schweiz können dies die Sozialpartner sein – in

ihrem Hoheitsgebiet wirksame Kontrollen durchführen sollen, um die Einhaltung der

geltenden Vorschriften und Regelungen zu gewährleisten. Dies stellt sicher, dass die

Kontroll- und Sanktionsbefugnisse dieser Einrichtungen gewahrt und respektiert wer-

den. Zudem bekräftigen die Parteien, dass die Kontrollen und Kontrollsysteme wirk-

sam und nichtdiskriminierend sein sollten.

Gemeinsame Erklärung zum Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen

Ort» und zu einem angemessenen und ausreichenden Schutzniveau für entsandte

Arbeitnehmende

In dieser gemeinsamen Erklärung wird das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit

am gleichen Ort» abgesichert. Dies bedeutet, dass am gleichen Ort und für die gleiche

Arbeit der gleiche Lohn gezahlt werden soll. Es wird festgehalten, dass die Schweiz

dieses Prinzip bereits seit dem Inkrafttreten des FZA anwendet, in den letzten Jahren

verstärkt hat und die EU und die Schweiz beide ein angemessenes und ausreichendes

Schutzniveau garantieren können.

Gemeinsame Erklärung über die Beteiligung der Schweiz an den Tätigkeiten der

Europäischen Arbeitsbehörde

Mit der Gemeinsamen Erklärung über die Beteiligung der Schweiz an den Tätigkeiten

der europäischen Arbeitsbehörde wird bekräftigt, dass die Schweiz weiterhin als Be-

obachterin an den Sitzungen und Beratungen des Verwaltungsrats der Europäischen

265 / 931

Arbeitsbehörde (ELA) teilnehmen kann. Zudem wird festgehalten, dass die Schweiz

Arbeitsvereinbarungen mit der ELA treffen kann.

Gemeinsame Erklärung zum deklaratorischen Registrierungssystem für

Grenzgängerinnen und Grenzgänger

Mit dieser Gemeinsamen Erklärung wurde vereinbart, dass die Schweiz mit den be-

nachbarten Mitgliedstaaten die Registrierungspflicht für Grenzgängerinnen und

Grenzgänger in den entsprechenden Foren erörtert, falls sie eine solche Pflicht gemäss

Artikel 7a FZA einführen wird. Diese sollen nicht zu einer unterschiedlichen Behand-

lung von Grenzgängerinnen und Grenzgängern im Rahmen des Abkommens führen

und lassen deren Rechte und Pflichten unberührt.

Gemeinsame Erklärung über die Aufnahme von zwei Rechtsakten der Union in

Anhang I zum FZA

In der Schlussphase der Verhandlungen wurden EU-seitig zwei neue Rechtsakte ver-

abschiedet, die zumindest teilweise in den Geltungsbereich des Abkommens fallen.

Es handelt sich einerseits um die Verordnung (EU) 2024/2747 vom 9. Oktober

2024

281

über Binnenmarkt-Notfälle und die Resilienz des Binnenmarkts, und ande-

rerseits um die Richtlinie (EU) 2024/2841 vom 23. Oktober 2024

282

zur Einführung

des Europäischen Behindertenausweises und des Europäischen Parkausweises für

Menschen mit Behinderungen. Gestützt auf die Gemeinsame Erklärung soll der GA

des FZA die nötigen Massnahmen ergreifen, so dass die beiden Rechtsakte unverzüg-

lich nach Inkrafttreten des Änderungsprotokolls ins FZA übernommen werden kön-

nen.

2.3.6.3

Protokoll betreffend den Erwerb von Immobilien in Malta

und Protokoll über Zweitwohnungen in Dänemark

Die bereits heute geltende Ausnahmeregelung zum Erwerb von Grundbesitz auf den

maltesischen Inseln durch Schweizer Staatsangehörige wird beibehalten. Eine solche

Ausnahme ist auch im EU-Recht vorgesehen. Obschon diese Ausnahme für Malta nie

als Übergangsmassnahme gedacht war, wurde sie in Ziffer 7 des Abschnitts «Über-

gangsmassnahmen für den Erwerb von Grundstücken und Zweitwohnungen» im An-

schluss an Artikel 34 Anhang I des FZA von 1999 festgelegt. Da alle übrigen Über-

gangsmassnahmen dieses Abschnitts infolge Ablaufs der Übergangsfristen

mittlerweile obsolet geworden sind, wird die

Ausnahmeregelung für den Immobilien-

erwerb in Malta

neu in einem separaten Protokoll zum FZA – analog zu den bisher

im FZA von 1999 geltenden Protokollen über Zweitwohnungen in Dänemark oder

über die Ålandinseln – geregelt. Die letztgenannten Ausnahmen, die nach wie vor

281

Verordnung (EU) 2024/2747 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober

2024 zur Schaffung eines Rahmens von Massnahmen für einen Binnenmarkt-Notfall und

die Resilienz des Binnenmarkts und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2679/98 des

Rates (Verordnung über Binnenmarkt-Notfälle und die Resilienz des Binnenmarkts),

ABl. L, 2024/2747, 8.11.2024.

282

Richtlinie (EU) 2024/2841 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober

2024 zur Einführung des Europäischen Behindertenausweises und des Europäischen Park-

ausweises für Menschen mit Behinderungen, ABl. L, 2024/2841, 14.11.2024.

266 / 931

auch im EU-Recht vorgesehen sind, bleiben auch im Rahmen des revidierten FZA

weiterhin gültig.

2.3.6.4

Zusatzprotokoll zu Bewilligungen für Langzeitaufenthalte

(Niederlassungsbewilligungen)

Das Verhandlungsmandat des Bundesrats sah vor, dass die Schweiz bereit ist, allen

Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten unter Gleichbehandlung und nach einer

Mindestdauer eines vorgängigen Aufenthalts von fünf Jahren eine Niederlassungsbe-

willigung zu erteilen, wobei die Integrationskriterien nach AIG eingehalten werden

sollen. Diese Verpflichtung wurde reziprok in einem Protokoll zum FZA festgehalten,

das ausdrücklich vorbehält, dass Bewilligungen für Langzeitaufenthalte (Niederlas-

sungsbewilligungen) ausserhalb des Geltungsbereichs des FZA liegen (s.

Ziff. 2.3.5.2.1 «Zusatzprotokoll zu Bewilligungen für Langzeitaufenthalte (Niederlas-

sungsbewilligungen»)).

Die EU und die Schweiz verpflichten sich im Protokoll gegenseitig, eine Bewilligung

für Langzeitaufenthalt (Niederlassungsbewilligung) nach fünf Jahren zu erteilen. Das

Protokoll verweist auf das Recht der Schweiz respektive das Unionsrecht und gilt für

die Schweiz sowie alle Mitgliedstaaten der EU mit Ausnahme von Irland und Däne-

mark, wobei für diese beiden Staaten gestützt auf langjährige gegenseitige Verwal-

tungspraxis (Irland) beziehungsweise eine Niederlassungsvereinbarung (Dänemark)

weiterhin ebenfalls nach fünf Jahren eine Niederlassungsbewilligung erteilt wird. Die

übrigen nationalen Integrationskriterien (Landessprache, wirtschaftliche Teilhabe,

keine Sozialhilfeabhängigkeit) bleiben bestehen und sind zu erfüllen, wobei sie ver-

gleichbar bleiben sollen. Bilaterale Niederlassungsverträge mit günstigeren Voraus-

setzungen bleiben vorbehalten. Da das Zusatzprotokoll sich ausserhalb des Geltungs-

bereichs des FZA befindet, wird der Streitbeilegungsmechanismus nur

mutatis

mutandis

angewendet unter Ausschluss des EuGH. Die Kompetenz, Niederlassungs-

verträge abzuschliessen, obliegt dem Bundesrat (Art. 34 AIG).

2.3.7

Grundzüge des Umsetzungserlasses

Zuwanderung

Das in den Anhängen zum FZA aufgelistete EU-Recht kann in der Schweiz grund-

sätzlich direkt angewendet werden, sofern die Bestimmungen hinreichend konkret

sind. Ist dies nicht der Fall, braucht es zusätzliche Regelungen im Schweizer Recht.

Dies ist insbesondere bei Richtlinien der Fall, da diese im Unterschied zu Verordnun-

gen in erster Linie Ziele und Mindestnormen definieren. Hier verfügt die Schweiz

entsprechend über mehr Spielraum.

Die Schweiz verfügt so auch über einen gewissen Handlungsspielraum, um einzelne

Bestimmungen aus der Richtlinie 2004/38/EG umzusetzen; darunter die Möglichkeit,

von Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten zu verlangen, dass sie ihre Anwesen-

heit im Hoheitsgebiet innerhalb eines angemessenen Zeitraums melden (Art. 5 Abs. 5)

und sich bei Aufenthalten von über drei Monaten in der Schweiz bei den Behörden

anmelden (Art. 8 Abs. 1), die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft als

Arbeitnehmende oder Selbstständige während mindestens sechs Monaten bei unfrei-

williger Arbeitslosigkeit im Laufe der ersten zwölf Monate (Art. 7 Abs. 3) sowie die

267 / 931

Möglichkeit, bestimmten Personenkategorien den Anspruch auf Sozialhilfe nicht zu

gewähren (Art. 24 Abs. 2).

Der vorliegende Vorentwurf zur Änderung des AIG (VE-AIG) setzt die unter anderem

auf der Grundlage der (teilweise) übernommenen Richtlinie 2004/38/EG erfolgten

Anpassungen des Hauptteils und von Anhang I des FZA um. Mit den neuen Bestim-

mungen sollen der Handlungsspielraum aus dem angepassten FZA genutzt (Art. 13

a

VE-AIG) oder die Rechtsstellung der Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten ge-

klärt (Art. 61

a

und 61

c

VE-AIG) sowie andere Anpassungen im Sinne einer Harmo-

nisierung der Bestimmungen (Art. 41

c

VE-AIG) vorgenommen werden.

Das Meldeverfahren für entsandte Arbeitnehmende gemäss Artikel 6 EntsG soll auch

für vorübergehende selbstständige Erwerbstätigkeiten ohne Absicht, sich in der

Schweiz niederzulassen, gelten und für diese als auch für Stellenantritte bis drei Mo-

nate und grenzüberschreitende selbstständige Dienstleistungserbringungen neu im

Entsendegesetz geregelt werden (vgl. Art. 6a, 6b und 6e VE-EntsG).

Lohnschutz

Die vorliegenden Entwürfe zur Anpassung des EntsG, des BöB, des AVEG und des

OR beinhalten zum einen Massnahmen im Zusammenhang mit den Arbeits- und

Lohnbedingungen, die den in die Schweiz entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeit-

nehmern garantiert werden müssen. Mit zusätzlichen gezielten Massnahmen soll zu-

dem der Lohnschutz im inländischen Kontext gesichert werden. Das gesamte Mass-

nahmenpaket zur Sicherung des Lohnschutzes lässt sich in vier Kategorien einteilen.

Die erste Kategorie beinhaltet kompensatorische Massnahmen als Reaktion auf die

Zugeständnisse, die die Schweiz gegenüber der EU gewähren musste (s. Ziff. 2.3.4).

Sie bezwecken die Effizienzsteigerung des Meldeverfahrens für ausländische Dienst-

leistungserbringerinnen und Dienstleistungserbringer mittels Verstärkung der Kom-

petenzen des Bundes und mittels weiterer Optimierungen als Folge der auf vier Tage

verkürzten Voranmeldefrist und deren Beschränkung auf Risikobranchen. Des Wei-

teren beinhalten sie die Einführung von Verwaltungssanktionen bis hin zu einer

Dienstleistungssperre für Entsendebetriebe, wenn die Pflicht zur Hinterlegung einer

Kaution bei den paritätischen Organen verletzt wurde. Zudem werden die Mitwir-

kungspflichten der Entsendebetriebe bei den Kontrollen im Vollzug des EntsG ver-

stärkt, indem Dokumente vor Ort hinterlegt bzw. verfügbar gemacht und eine An-

sprechpartnerin oder ein Ansprechpartner in der Schweiz benannt werden muss. Zur

Stärkung der Prävention zur Einhaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen werden

höhere Anforderungen an die Vergabebedingungen im öffentlichen Vergabeverfahren

gestellt, indem der Anbieter den Nachweis seiner Konformität mit den Arbeits- und

Lohnbedingungen auf Basis von Kontrollergebnissen von paritätischen Organen er-

bringen muss. Zusätzlich werden die Kontrollmöglichkeiten auf öffentlichen Baustel-

len durch Verwendung von paritätischen Baustellenausweisen verbessert. Weiter wird

für das Bauhaut- und das Baunebengewerbe die Haftung des Erstunternehmers auf die

Forderungen der paritätischen Organe gegenüber den Subunternehmern wie Konven-

tionalstrafen und Kontrollkosten erweitert.

Die zweite Kategorie von Massnahmen wirkt gewissen Bedenken entgegen, dass die

Dienstleistungssperre im Vollzug des EntsG seitens der EU unter Druck geraten

268 / 931

könnte. Diese Kategorie umfasst die grenzüberschreitende Vollstreckung von Ver-

waltungssanktionen, zum einen durch die Amtshilfe von ausländischen Behörden,

zum anderen durch die Beibehaltung der Dienstleistungssperre im EntsG als Sanktion

von nicht vollstreckbaren Verwaltungssanktionen und weiteren Pflichtverletzungen.

Die dritte Kategorie betrifft die maximale Nutzung des innenpolitischen Spielraums

bei der Umsetzung der EU-Spesenregelung im EntsG, weil in den Verhandlungen mit

der EU zwar das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» verein-

bart werden konnte, aber keine Ausnahme in Bezug auf die Übernahme der EU-

Spesenregelung bei Arbeitnehmerentsendungen.

Schliesslich beinhaltet die vierte Kategorie Massnahmen, die die sozialpartnerschaft-

lichen Strukturen beim Lohnschutz sichern. Dies sind einerseits Massnahmen zum

Erhalt der bestehenden allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträge (ave

GAV). Minimale Arbeits- und Lohnbedingungen in allgemeinverbindlich erklärten

GAV erfüllen seit der Einführung der Personenfreizügigkeit eine zunehmend wichtige

Funktion, weil sie die Lohn- und Arbeitsbedingungen sowohl für schweizerische Un-

ternehmen als auch für grenzüberschreitende Dienstleistungserbringerinnen und

Dienstleistungserbringer aus dem EU-Raum verbindlich regeln, wobei deren Nicht-

einhaltung sanktioniert werden kann. Zudem schaffen sie gleiche Wettbewerbsbedin-

gungen in einer Branche. Weitere Massnahmen sorgen zudem für einen besseren

Rechtsschutz für inländische Betriebe, die einem ave GAV unterstellt werden sollen.

Zudem wird der Kündigungsschutz für gewählte Arbeitnehmervertreterinnen und -

vertreter, für Mitglieder eines Organs einer paritätischen Personalvorsorgeeinrichtung

sowie für Mitglieder nationaler Branchenvorstände, die im Rahmen eines ave GAV

tätig sind, gestärkt.

Die Massnahmen zur Sicherung des Lohnschutzes fussen auf unterschiedlichen

Grundlagen. Zum einen erfolgen sie in Umsetzung der Anpassungen, die aufgrund

der Übernahme der EU-Entsenderichtlinien ins FZA (Anhang I) notwendig sind. Zum

anderen gründen sie auf den mit der EU verhandelten Ausnahmen von der dynami-

schen Rechtsübernahme, oder sie basieren auf inländischen Gesetzesgrundlagen wie

zur Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen oder zum öffentli-

chen Beschaffungswesen. Gesamthaft betrachtet stärken diese Massnahmen den

Schutz der Lohn- und Arbeitsbedingungen und beugen Missbrauch vor.

Die Schweiz nutzt damit ihren Handlungsspielraum, den sie aufgrund des revidierten

Abkommens zur Verfügung hat, umfassend aus. Die Massnahmen gegenüber Dienst-

leistungserbringerinnen und Dienstleistungserbringern aus der EU, die Arbeitnehme-

rinnen und Arbeitnehmer in die Schweiz entsenden, müssen jedoch dem Verhältnis-

mässigkeitsgrundsatz genügen und dürfen nichtdiskriminierend sein.

Sozialversicherungskoordinierung/Anhang II FZA

Als Folge der Übernahme der Richtlinie 2014/50/EU wird die weitergehende berufli-

che Vorsorge als Teil des gesetzlichen Rentenversicherungssystems den Koordinie-

rungsregeln der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 unterstellt. Durch diese Unterstellung

gelten inskünftig die gleichen Regeln wie für die BVG-Minimalvorsorge. Die Baraus-

zahlung der Austrittsleistung bei Verlassen der Schweiz ist wie bei der Minimalvor-

sorge nicht mehr möglich, solange eine Person in einem EU-Mitgliedstaat der obliga-

torischen Rentenversicherung unterliegt. Deshalb müssen das Freizügigkeitsgesetz

269 / 931

vom 17. Dezember 1993

283

(FZG), das BVG und das Zivilgesetzbuch

284

(ZGB) an-

gepasst werden. Es ist auch vorgesehen, die Verordnung vom 13. November 1985

285

über die steuerliche Abzugsberechtigung für Beiträge an anerkannte Vorsorgeformen

(BVV 3) anzupassen, um die Regelung für vorzeitige Ausrichtung der Altersleistun-

gen zu präzisieren.

2.3.7.1

Umsetzungsgesetzgebung

2.3.7.1.1

Zuwanderung

Das AIG gilt für Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten und ihre Familienangehö-

rigen sowie für aus der EU in die Schweiz entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeit-

nehmer, die in den Geltungsbereich das FZA fallen, soweit das FZA keine abweichen-

den Bestimmungen enthält oder dieses Gesetz günstigere Bestimmungen vorsieht.

Um den Geltungsbereich dieses Gesetzes zu präzisieren, wird hinzugefügt, dass das

AIG auch dann gilt, wenn es dies ausdrücklich vorsieht (Art. 2 Abs. 2 VE-AIG).

Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen aus Drittstaa-

ten, die beabsichtigen, sich länger als drei Monate in der Schweiz aufzuhalten, müssen

sich unmittelbar nach der Einreise in die Schweiz melden und sich nach den ersten

drei Monaten des Aufenthalts anmelden beziehungsweise eine Aufenthaltsbewilli-

gung beantragen. Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die während mehr als drei

Monaten in der Schweiz eine selbstständige oder unselbstständige Erwerbstätigkeit

als Grenzgängerin oder Grenzgänger ausüben, müssen sich ebenfalls registrieren las-

sen (Art. 13

a

VE-AIG).

Mit der Umsetzungsbestimmung zur Schutzklausel werden die Kompetenzen des

Bundesrates bei der Prüfung von schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen

Problemen anhand von Indikatoren und Schwellenwerten und bei der Auslösung der

Schutzklausel festgelegt. Zudem werden die Schutzmassnahmen und Ausgleichsmas-

snahmen aufgeführt, die der Bundesrat selbstständig anordnen kann. Vor einem Ent-

scheid sind die parlamentarischen Kommissionen, die Kantone und die Sozialpartner

zu konsultieren. Ein Kanton kann die Prüfung der Auslösung der Schutzklausel bean-

tragen, wenn im Kanton schwerwiegende wirtschaftliche oder soziale Probleme vor-

liegen. Ist ein nationaler Schwellenwert überschritten, muss der Bundesrat das Ver-

fahren zur Aktivierung der Schutzklausel prüfen. Ein Kanton kann zudem regionale,

respektive kantonale Schutzmassnahmen vorschlagen (Art. 21

b

VE-AIG). Der Bun-

desrat kann trotz einem negativen Entscheid des Schiedsgerichts selbst vorüberge-

hende geeignete Schutzmassnahmen ergreifen, wenn er zum Schluss kommt, dass die

Probleme derart gross sind, dass Massnahmen erforderlich erscheinen. Sollen diese

Massnahmen länger als 12 Monate dauern, muss der Bundesrat innerhalb dieser Frist

der Bundesversammlung eine entsprechende Vorlage unterbreiten. Die Massnahmen

des Bundesrates gelten jedoch über diese Frist hinaus bis zum Entscheid des Parla-

ments über die Vorlage.

Wenn der Bundesrat beziehungsweise die Bundesversammlung solche Massnahmen

ergreift, könnte die EU ihrerseits ein Streitbeilegungsverfahren anstreben, wenn sie

283

SR

831.42

284

SR

210

285

SR

831.461.3

270 / 931

der Ansicht ist, dass diese Massnahmen – da ausserhalb der Schutzklausel – das FZA

verletzen. Diesfalls könnte es gegebenenfalls zu Ausgleichsmassnahmen in den Bin-

nenmarktabkommen (ausgenommen dem Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens)

kommen.

Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die sich als Nichterwerbstätige oder zur

Ausbildung in der Schweiz aufhalten, haben grundsätzlich keinen Anspruch auf So-

zialhilfe. Dies gilt auch für kurze Aufenthalte bis zu drei Monate ohne Erwerbstätig-

keit und für Aufenthalte zur Stellensuche (Art. 41

c

VE-AIG).

Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten verlieren die Erwerbstätigeneigenschaft und

das damit verbundene Aufenthaltsrecht sechs Monate nach der unfreiwilligen Been-

digung der Erwerbstätigkeit, wenn die unfreiwillige Arbeitslosigkeit während den ers-

ten zwölf Monate der Erwerbstätigkeit eingetreten ist. Dauert diese Erwerbstätigkeit

mehr als zwölf Monate, erfolgt der Verlust der Erwerbstätigeneigenschaft und des

damit verbundenen Aufenthaltsrechts, wenn sie sich nicht beim zuständigen Arbeits-

amt anmelden oder wenn sie die Teilnahme an einer Wiedereingliederungsstrategie

verweigern. Dies gilt auch, wenn sie nicht innerhalb von sechs Monaten nach dem

Ende der Arbeitslosenentschädigung eine andere Arbeit gefunden haben, es sei denn,

sie machen glaubhaft, dass Aussicht darauf besteht, in absehbarer Zeit eine neue Stelle

zu finden (Art. 61

a

VE-AIG). Gestützt auf die Gemeinsame Erklärung wird das Mel-

deverfahren für kurzfristige Stellenantritte weiterhin Anwendung finden. Gleichzeitig

wird das Meldeverfahren gestützt auf die Einseitige Erklärung auch auf vorüberge-

hende selbstständige Erwerbstätigkeiten ohne Absicht sich in der Schweiz niederzu-

lassen ausgeweitet. Sowohl diese beiden Meldepflichten als auch die Meldepflicht bei

selbstständigen grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringenden wird im EntsG

verankert (vgl. Art. 6

a

, 6

b

und 6

e

VE-EntsG). Da die Meldepflicht bei Entsendungen

bis anhin bereits im EntsG zu finden ist, sind neu alle Meldepflichten für Erwerbstä-

tigkeiten bis drei Monaten im EntsG geregelt.

2.3.7.1.2

Lohnschutz

Der Entwurf zur Revision des EntsG beinhaltet im Wesentlichen die Anpassungen,

die aufgrund der Übernahme der EU-Entsenderichtlinien ins FZA (Anhang I) erfor-

derlich sind. Bislang war der Verweis auf das relevante Entsenderecht in Artikel 22

Absatz 2 Anhang I des FZA von 1999 verankert. Artikel 22 Absatz 2 sieht vor, dass

die Schweiz auf die entsandten Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen die in der

Schweiz geltenden Vorschriften über die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen

anwendet. Diese sind im EntsG enthalten und entsprechen der Richtlinie 96/71/EG

gemäss der zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des FZA von 1999 geltenden Fassung.

Gemäss Änderungsprotokoll wird diese Bestimmung nun in den Hauptteil des FZA

verschoben (neuer Art. 5

f

Abs. 2).

Das neue Entsenderecht umfasst nicht nur die bereits beim Abschluss des FZA vom

21. Juni 1999 bestehenden Richtlinie 96/71/EG, sondern auch zwei zusätzliche EU-

Richtlinien zur Entsendung, die in den letzten Jahren verabschiedet wurden. Die

Richtlinie (EU) 2018/957 revidiert die Entsende-Richtlinie 96/71/EG und etabliert

insbesondere das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort». Die

Durchsetzungsrichtlinie von 2014 (Richtlinie 2014/67/EU) sorgt dafür, dass der Voll-

zug und die Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG sichergestellt ist. Diese Richtlinie

271 / 931

bezweckt die Durchsetzung der Ansprüche von entsandten Arbeitnehmerinnen und

Arbeitnehmern, wie sie in der durch Richtlinie (EU) 2018/957 revidierten Entsende-

richtlinie verankert sind. Dafür sieht sie Massnahmen des Aufnahmestaates vor; diese

umfassen insbesondere eine Meldepflicht vor Beginn der Entsendung, zwingende An-

gaben über das Arbeitsverhältnis bei der Anmeldung, Bereithaltung von Dokumenten

vor Ort, Benennung einer Ansprechpartnerin oder eines Ansprechpartners, die Durch-

führung von Kontrollen sowie die Gewährung von Amtshilfe wie Auskunftserteilung,

Zustellung von Dokumenten und Vollstreckung von Verwaltungssanktionen.

Anpassungen im EntsG aufgrund der Übernahme des EU-Entsenderechts

Die Übernahme des EU-Entsenderechts ins FZA sowie die diesbezüglich ausgehan-

delten Ausnahmen erfordern im EntsG die Anpassung gewisser Bestimmungen. Neu

wird die Voranmeldefrist auf Risikobranchen beschränkt, die von der Schweiz auto-

nom definiert werden, und gleichzeitig von acht Kalendertagen auf vier Arbeitstage

verkürzt (neuer Art. 5

g

FZA). Zu den Arbeitstagen zählen die Werktage ohne Sams-

tage. Die Anwendung der Kautionspflicht in den ave GAV wird für Entsendebetriebe

auf Wiederholungsfälle beschränkt, inklusive die Möglichkeit zur Sanktionierung bis

zu einer Dienstleistungssperre bei Nichtleisten der Kaution (neuer Art. 5

h

FZA). Die

im neuen Artikel 5

i

FZA vereinbarte Ausnahme über die Dokumentationspflicht von

selbstständigen Dienstleistungserbringerinnen und Dienstleistungserbringern wird in

Artikel 6

c

VE-EntsG geregelt

.

Es wird darauf hingewiesen, dass der Artikel 1

a

des

EntsG in den Artikel 6

c

VE-EntsG verschoben wird.

Die Richtlinie 2014/67/EU sieht diverse Kontroll- und Durchsetzungsmassnahmen

vor. Mit der Gewährung von grenzüberschreitender gegenseitiger Amtshilfe zur Aus-

kunftserteilung und zur Vollstreckung von rechtskräftigen Verwaltungssanktionen

wird sichergestellt, dass die Verpflichtungen der Arbeitgeber im Aufnahmestaat auch

im Herkunftsstaat vollzogen werden können. Zu diesem Zweck werden im EntsG

Grundlagen für die Gewährung und die Inanspruchnahme von Amtshilfe zur Aus-

kunftserteilung, zur Zustellung von Dokumenten und betreffend Verwaltungssankti-

onen sowie zur Vollstreckung dieser Sanktionen eingeführt. Die Zusammenarbeit un-

ter den Behörden erfolgt via das EU-Binnenmarktinformationssystem (IMI), an das

die Schweiz angeschlossen wird. Die Beteiligung der Schweiz am IMI erfordert, dass

die Zuständigkeiten zur Verwaltung und die Berechtigungen zur Nutzung des Systems

auf Ebene Bund und Kantone sowie bei den paritätischen Vollzugsorganen festgelegt

werden (s. Ziff. 2.3.6.2.3).

Zusätzlich wird im EntsG eine Pflicht des Arbeitgebenden eingeführt, eine Ansprech-

partnerin oder einen Ansprechpartner in der Schweiz zu benennen, welche oder wel-

cher in Vertretung des Arbeitgebenden Dokumente und Mitteilungen der Kontrollor-

gane entgegennimmt sowie Dokumente zum Nachweis der Einhaltung der Lohn- und

Arbeitsbedingungen verschickt. Der Gesetzes-Entwurf sieht auch eine Pflicht zur Be-

reithaltung von Dokumenten vor Ort vor.

Spesen

Die Pflicht zur dynamischen Rechtsübernahme beinhaltet auch die EU-

Spesenregelung gemäss Artikel 3 Absatz 7 Unterabsatz 2 der Richtlinie 96/71/EG,

wie durch Richtlinie (EU) 2018/957 geändert. Mit der Änderung der Richtlinie

272 / 931

96/71/EG sollte in der EU der Grundsatz «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am glei-

chen Ort» verwirklicht werden. Die Tragweite der Regelung zur Auslagenentschädi-

gung in Artikel 3 Absatz 7 Unterabsatz 2 der revidierten Richtlinie 96/71/EG ist noch

nicht abschliessend geklärt. Gemäss dem Wortlaut der Bestimmung ist der Arbeitge-

ber verpflichtet, die Kosten im Zusammenhang mit der Entsendung im Einklang mit

den auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften und/oder

Gepflogenheiten zu erstatten.

Am 30. April 2024 publizierte die Europäische Kom-

mission ihren Bericht

286

zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2018/957 in den EU-

Mitgliedstaaten und hielt darin fest, dass zahlreiche EU-Mitgliedstaaten

in ihrer Um-

setzungsgesetzgebung nicht festlegen oder nicht eindeutig festlegen, dass sich die Ent-

schädigung der Auslagen nach dem auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Recht

richtet. Es ist jedoch unklar, ob die Europäische Kommission gegen diese EU-

Mitgliedstaaten oder einen Teil von ihnen Vertragsverletzungsverfahren wegen nicht

konformer Umsetzung der EU-Spesenregelung eröffnen wird oder nicht.

In der Schweiz gilt seit 1. April 2020 Artikel 2 Absatz 3 EntsG, der den Arbeitgeber

verpflichtet, den entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Auslagen im

Zusammenhang mit der Entsendung zu entschädigen. Diese Entschädigungen gelten

nicht als Lohnbestandteil.

Diese Bestimmung wird nun dahingehend an die revidierte Richtlinie 96/71/EG an-

gepasst, dass sich die notwendigen Auslagenentschädigungen grundsätzlich nach den

auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften oder nationalen

Gepflogenheiten richten. Es gilt zudem wie bisher der Grundsatz, dass Entschädigun-

gen für Auslagen wie Reise, Unterkunft und Verpflegung nicht als Lohnbestandteil

gelten.

Deckt die Entschädigung nach Artikel 2

a

Absatz 1 VE-EntsG hingegen die notwendig

entstehenden Auslagen nicht, so ist der Differenzbetrag zu den notwendig entstehen-

den Auslagen auszuzahlen (Abs. 2). Der Begriff der notwendig entstehenden Ausla-

gen richtet sich nach Artikel 327

a

OR und somit nach Schweizer Recht. Dies bedeu-

tet, dass die Auslagen nach Schweizer Ansätzen zu entschädigen sind, sofern die

Entschädigung nach Absatz 1 diese nicht bereits deckt.

Vereinbarungen von festen Vergütungen für die Dauer der Entsendung sind möglich,

wie namentlich eine ortsübliche Pauschale oder eine ortsübliche pauschale Tages-

oder Monatsvergütung (Abs. 3).

Aus Sicht des Bundesrates wird dadurch der Grundsatz «gleicher Lohn für gleiche

Arbeit am gleichen Ort» verwirklicht, den die Schweiz und die EU als gemeinsames

Ziel und Prinzip im Bereich des Lohnschutzes definiert haben (vgl. die Gemeinsame

Erklärung zum Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» und zu

einem angemessenen und ausreichenden Schutzniveau für entsandte Arbeitneh-

mende). Bietet das auf das Arbeitsverhältnis der entsandten Arbeitnehmerinnen oder

286

https://op.europa.eu/de > Amt für Veröffentlichungen > BERICHT DER KOMMISSION

AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT DEN RAT UND DEN EUROPÄISCHEN

WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS über die Anwendung und Umsetzung der

Richtlinie (EU) 2018/957 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Juni 2018

zur Änderung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rah-

men der Erbringung von Dienstleistungen.

273 / 931

des entsandten Arbeitnehmers anwendbare nationale Recht oder die nationalen Ge-

pflogenheiten keine ausreichende Kostenerstattung und gehen die Auslagen für Reise,

Unterkunft und Verpflegung ganz oder teilweise zulasten der entsandten Arbeitneh-

merin oder des entsandten Arbeitnehmers, wäre das Prinzip «Gleicher Lohn für glei-

che Arbeit am gleichen Ort» nicht gewährleistet.

Artikel 3 Absatz 10 der revidierten Entsenderichtlinie erlaubt es zudem, unter Einhal-

tung des Abkommens, für Unternehmen aus den EU-Mitgliedstaaten in gleicher

Weise wie für inländische Unternehmen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für

andere als die in Artikel 3 Absatz 1 Unterabsatz 1 der revidierten Entsenderichtlinie

aufgeführten Aspekte vorzuschreiben, soweit es sich um Vorschriften im Bereich der

öffentlichen Ordnung handelt.

Es ist folglich möglich, zusätzlich zum abschliessenden Katalog der Arbeits- und Be-

schäftigungsbedingungen in Artikel 3 Absatz 1 Unterabsatz 1 der revidierten EU-

Entsenderichtlinie, weitere Vorschriften zum Arbeitnehmerschutz zu definieren.

Diese müssen nichtdiskriminierend und verhältnismässig sein sowie zum Bereich der

öffentlichen Ordnung gehören.

Für inländische Arbeitsverhältnisse ist die Spesenregelung von Artikel 327

a

OR an-

wendbar, die den Arbeitgeber verpflichtet, alle durch die Ausführung der Arbeit not-

wendig entstehenden Auslagen zu ersetzen, bei Arbeit an auswärtigen Arbeitsorten

auch die für den Unterhalt erforderlichen Aufwendungen (Abs. 1). Durch schriftliche

Abrede, Normalarbeitsvertrag oder Gesamtarbeitsvertrag kann als Auslagenersatz

eine feste Entschädigung, wie namentlich ein Taggeld oder eine pauschale Wochen-

oder Monatsvergütung festgesetzt werden, durch die jedoch alle notwendig entstehen-

den Auslagen gedeckt werden müssen (Abs. 2). Artikel 2

a

VE-EntsG lehnt sich an

die Auslagenregelung von Artikel 327

a

OR an und verpflichtet ausländische Entsen-

debetriebe in gleicher Weise wie inländische Arbeitgeber zum Ersatz der notwendigen

Auslagen. Damit ist die Gleichbehandlung zwischen in- und ausländischen Betrieben

sichergestellt. Es ist dem ausländischen Arbeitgeber unbenommen, eine für Arbeit-

nehmerinnen und Arbeitnehmer günstigere Spesenregelung als jene in Artikel 327

a

OR vorzusehen, dies hat auf inländische Arbeitgeber und auf Artikel 327

a

OR keine

Auswirkungen.

Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit ist gewahrt, indem primär das auf das Ar-

beitsverhältnis der entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anwendbare na-

tionale Recht oder die nationalen Gepflogenheiten anwendbar sind. Nur wenn die not-

wendig entstandenen Auslagen in der Schweiz damit nicht gedeckt sind, kommt die

Erstattungspflicht nach Artikel 2 Absatz 3

bis

VE-EntsG zum Zuge. Anstelle der Er-

stattung der notwendig entstandenen Auslagen sind zudem Pauschalen möglich, die

am Entsendeort in der Schweiz ortsüblich sind.

Vor dem Hintergrund, dass die Schweiz im Vergleich zu den EU-Mitgliedstaaten ein

deutlich höheres Preisniveau und damit deutlich höhere Lebenshaltungskosten auf-

weist, ist eine Massnahme wie in Artikel 2

a

VE-EntsG vorgesehen für den Erhalt des

sozialen Standards und des sozialen Friedens und für die Garantie von fairen Wettbe-

werbsbedingungen zwischen in- und ausländischen Unternehmen unabdingbar. Sie ist

somit als Vorschrift zum Erhalt der öffentlichen Ordnung zu qualifizieren. Ohne diese

274 / 931

Massnahme würden die Gewährung der Arbeits- und Lohnbedingungen von entsand-

ten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Schweiz untergraben und ausländi-

sche Entsendefirmen würden im Wettbewerb mit dem inländischen Gewerbe deutli-

che Preisvorteile erhalten. Für den Erhalt des sozialen Friedens und von fairen

Wettbewerbsbedingungen ist die Spesenregelung in Artikel 2

a

VE-EntsG deshalb ge-

rechtfertigt.

Umsetzungsgesetzgebung des Ergebnisses der Verhandlungen

Die Umsetzung des Verhandlungsresultats bedingt die Aufhebung oder Verkürzung

der achttägigen Voranmeldefrist auf vier Arbeitstage in Risikobranchen, die Einfüh-

rung einer Meldepflicht vor Arbeitsbeginn in den übrigen Branchen und eine Anpas-

sung der Pflicht zur Hinterlegung einer Kaution, die auf den Wiederholungsfall be-

schränkt wurde. Neu wird aufgrund des Verhandlungsergebnisses auch eine Sanktion

bis hin zu einer Dienstleistungssperre bei Nichtleisten der Kaution im Wiederholungs-

fall eingeführt werden.

Aktualisierung der Regelungen zum Datenschutz

Schliesslich sind im Entwurf des EntsG auch Regelungen zum Datenschutz der am

Vollzug des Entsendegesetzes beteiligten Personen vorgesehen. Der bisherige Arti-

kel 8 EntsG enthält nur wenige Ausführungen zum materiellen Datenschutz im Voll-

zug des Entsendegesetzes. Diese Regelungen genügen jedoch dem Legalitätsprinzip

nicht mehr, weshalb in den Artikeln 8

o

– 8

q

VE-EntsG die Datenbearbeitung und Da-

tenbekanntgabe präzisiert und ausführlich geregelt werden. Diese beinhalten die Da-

tenbekanntgabe unter den Vollzugsorganen des EntsG, die Bekanntgabe zwischen den

Vollzugsorganen des EntsG und anderen Behörden der Aufsicht des Arbeitsmarktes

und im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Tätigkeiten.

2.3.7.1.3

Nichtdiskriminierung bei den Studiengebühren

Nach dem Inkrafttreten des Änderungsprotokolls zum FZA sind universitäre Hoch-

schulen und Fachhochschulen verpflichtet, für Studierende, die Staatsangehörige ei-

nes EU-Mitgliedstaates sind, die gleichen Studiengebühren wie für Schweizer Studie-

rende

zu

erheben,

und

zwar

unabhängig

von

ihrem

Wohnsitz.

Der

Nichtdiskriminierungsgrundsatz gilt auch für allfällige Unterstützungsmechanismen

der Hochschulen bezüglich Studiengebühren (z.B. Massnahmen zum Erlass von Stu-

diengebühren). Das ETH-Gesetz vom 4. Oktober 1991

287

muss betreffend Studienge-

bühren angepasst werden (Art. 34d Abs. 2 und 2

bis

).

Der ETH-Rat kann für Studierende aus Drittstaaten höhere Studiengebühren vorse-

hen. Er wird seine Gebührenverordnung entsprechend anpassen.

Mit der vorgeschlagenen Regelung wird die von der Bundesversammlung am 27. Sep-

tember 2024

288

beschlossene Anpassung des ETH-Gesetzes geändert und mit dem

Abkommen in Übereinstimmung gebracht. Der Bundesrat schlägt auch vor, die Kom-

petenz zur Festlegung der Studiengebühren für Studierende aus Drittstaaten wieder

287

SR

414.110

288

BBl

2024

2497

275 / 931

dem ETH-Rat zu übertragen. Er erwartet, dass der ETH-Rat den Beschluss der Bun-

desversammlung für eine höhere Nutzerbeteiligung von ausländischen Studierenden

(siehe oben) in seinen Analysen weiterhin berücksichtigen wird, auch ohne eine kon-

krete Vorgabe im Gesetz.

2.3.7.2

Begleitmassnahmen mit Gesetzesanpassungen

2.3.7.2.1

Zuwanderung

Die Rechte aus dem FZA werden verweigert oder erlöschen, wenn sie in missbräuch-

licher oder betrügerischer Weise geltend gemacht werden. Es soll beispielhaft festge-

halten werden, in welchen Situationen ein solcher Rechtsmissbrauch oder Betrug vor-

liegt (Art.

61c

VE-AIG).

Der Datenaustausch zwischen den Migrationsbehörden, den Arbeitsämtern, den So-

zialhilfebehörden und den für die Ergänzungsleistungen zuständigen Organen soll

verbessert werden. Insbesondere sollen die Arbeitsämter den Migrationsbehörden die

Anmeldung bei der öffentlichen Arbeitsvermittlung (öAV), den Bezug von Arbeits-

losenentschädigung sowie die Verweigerung oder Nichteinhaltung der Wiedereinglie-

derungsstrategie mitteilen (Art. 97 Abs. 3 Bst. d

bis

VE-AIG).

Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten sollen sanktioniert werden, wenn sie gegen

die Pflichten aus Artikel 13

a

VE-AIG verstossen (Art. 120 Abs. 1 Bst. a VE-AIG).

Ausländische Unternehmen oder selbstständige ausländische Dienstleistungserbrin-

gerinnen und Dienstleistungserbringer, die in der Schweiz ein Unternehmen ohne eine

tatsächliche, effektive und dauerhafte Geschäftstätigkeit einzig zu dem Zweck grün-

den, darin Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der EU oder der EFTA zu beschäfti-

gen, um die im FZA oder im EFTA-Übereinkommen vorgesehene Beschränkung von

90 tatsächlichen Arbeitstagen pro Kalenderjahr zu umgehen (Briefkastenfirmen), sol-

len sanktioniert werden können. Gleiches gilt für ausländische Unternehmen oder

selbstständige ausländische Dienstleistungserbringerinnen und Dienstleistungserbrin-

ger, die ohne Erlaubnis und während mehr als 90 tatsächlichen Arbeitstagen pro Ka-

lenderjahr eine Dienstleistung in der Schweiz erbringen (Art. 122

d

VE-AIG).

2.3.7.2.2

Lohnschutz

Ansprechpartnerin oder Ansprechpartner sowie Dokumentationspflicht vor

Ort

Die Verkürzung der Voranmeldefrist von acht Kalendertagen auf vier Arbeitstage und

die Beschränkung der Voranmeldefrist auf Risikobranchen werden, neben der Opti-

mierung und der Weiterentwicklung des zentralen Meldeverfahrens, mit der Pflicht

für Entsendebetriebe zur Benennung einer Ansprechpartnerin oder eines Ansprech-

partners in der Schweiz und der Einführung einer Dokumentationspflicht vor Ort

kompensiert. Letztere Massnahmen sind im Abschnitt über die Umsetzungsgesetzge-

bung ausgeführt (s. Ziff. 2.3.7.1.2).

Optimierung und Weiterentwicklung des zentralen Meldeverfahrens

Um den Anforderungen an die Planung der Kontrollen infolge der Verkürzung der

Voranmeldefrist und deren Beschränkung auf Risikobranchen gerecht zu werden,

wird das Meldeverfahren so weit wie möglich automatisiert und auf Bundesebene

276 / 931

zentralisiert. Neu erfolgt die Weiterleitung der Meldungen nicht mehr durch die vom

Kanton bezeichnete Behörde, sondern durch eine Bundesbehörde. Die Meldung wird

künftig automatisiert und direkt an die zuständigen Kontrollorgane (PK und kantonale

TPK und kantonale Behörde) weitergeleitet. Hierfür ist eine Anpassung des EntsG

notwendig. In Artikel 6 Absatz 6 VE-EntsG wird der Bundesrat ermächtigt, die Bun-

desbehörde zu bestimmen, an welche die Meldung eines Einsatzes in der Schweiz

erfolgen muss und welche für die Übermittlung der Meldung an die Kontrollorgane

zuständig ist. Parallel zu den Anpassungen des Meldeverfahrens im Rahmen der An-

passungen von Artikel 6 Absätze 1, 4 und 6 sind weitere Optimierungen geplant (s.

Ziff. 2.3.7.3.2).

Begleitmassnahmen zur Kautionspflicht

Zur Durchsetzung der künftig auf Wiederholungsfälle beschränkten Kautionspflicht

soll künftig eine Verwaltungssanktion bis hin zu einer Dienstleistungssperre während

der Dauer der Nichtzahlung der Kaution möglich sein (Art. 9 Abs. 2 Bst. b

bis

) Die

übrigen in Artikel 2 Absatz 2

bis

Absatz und 2

quater

EntsG erwähnten kollektivrechtli-

chen Pflichten können wie bis anhin nicht nach Artikel 9 EntsG sanktioniert werden.

Im Übrigen wird die Dienstleistungssperre im Entsendegesetz (Artikel 9 Absatz 2

Buchstaben b bis e EntsG) beibehalten. Die verwaltungsrechtliche Sanktion der

Dienstleistungssperre gilt als unverzichtbares Instrument im Vollzug des Entsendege-

setzes und kommt zur Anwendung, wenn ausländische Entsendebetriebe die Auskunft

bei einer Kontrolle verweigern, Verwaltungsbussen nicht bezahlen oder schwerwie-

gende Verstösse gegen die Arbeits- und Lohnbedingungen begehen.

Zur Kompensation der reduzierten Kautionspflicht wird ausserdem die Haftung des

Erstunternehmers im Bauhaupt- und Baunebengewerbe auf die Forderungen der PK

wie Konventionalstrafen und Kontrollkosten erweitert. Bei Verstössen gegen die mi-

nimalen Arbeits- und Lohnbedingungen durch seine Subunternehmer wird der Erstun-

ternehmer für die aufgrund der Verstösse ausgesprochenen Konventionalstrafen und

Kontrollkosten haftbar gemacht. Damit werden auch die Schwierigkeiten bei der

grenzüberschreitenden Durchsetzung der zivilrechtlichen Konventionalstrafen und

Kontrollkosten behoben. Verwaltungssanktionen nach Artikel 9 können zwar künftig

via die Amtshilfe, die ein Herkunftsstaat dem Aufnahmestaat gewähren muss (s.

Ziff. 2.3.7.1), im Herkunftsstaat eines Entsendebetriebs vollstreckt werden. Die Voll-

streckungshilfe bezieht sich jedoch nur auf Verwaltungssanktionen, nicht aber auf die

zivilrechtlichen Forderungen der PK. Mit der Erweiterung der Haftung des Erstunter-

nehmers wird für die Forderungen der PK in den meisten Fällen ein Gerichtsstand in

der Schweiz gegeben sein. Der Erstunternehmer haftet nur, wenn der Subunternehmer

zuvor erfolglos belangt wurde oder nicht belangt werden kann. Um Ungleichheiten

zwischen inländischen Firmen und Entsendefirmen aus der EU zu vermeiden, wird

die erweiterte Haftung wie die bereits bestehende für die Arbeits- und Lohnbedingun-

gen auch auf inländische Erst- und Subunternehmer angewendet.

Der Lohnschutz soll mit folgenden weiteren Massnahmen im Bereich des öffentlichen

Beschaffungswesens, im OR und im Bereich der Allgemeinverbindlicherklärung von

Gesamtarbeitsverträgen gesichert werden.

277 / 931

GAV-Bescheinigungen im öffentlichen Beschaffungswesen

Bereits heute sind die Anbieterinnen gehalten, im Rahmen einer öffentlichen Beschaf-

fung die Einhaltung der Arbeits- und Lohnbedingungen darzulegen, in der Regel mit-

tels Selbstdeklaration. Damit kann die öffentliche Auftraggeberin jedoch nur be-

schränkt sicherstellen, dass diese Bedingungen auch tatsächlich eingehalten sind.

Wenn es sich um einen öffentlichen Bauauftrag handelt, sollen künftig die GAV-

Bescheinigungen in Branchen mit allgemeinverbindlich erklärten GAV (ave GAV)

zum Standard für den Nachweis der Einhaltung gewisser Teilnahmebedingungen wer-

den: Anbieterinnen, die einem ave GAV für Bauleistungen unterstehen, müssen ge-

mäss vorgeschlagener Anpassung des Bundesgesetzes über das öffentliche Beschaf-

fungswesen (BöB) sowie gemäss vorgesehener Empfehlung der KBOB die GAV-

Bescheinigungen als Nachweis betreffend die Einhaltung der Arbeits- und Lohnbe-

dingungen einreichen. Soweit im Zeitpunkt des Zuschlags bereits Subunternehmerin-

nen gemeldet werden müssen und sofern diese einem ave GAV unterstehen, reicht die

Anbieterin auch für jene Subunternehmerinnen die GAV-Bescheinigung ein. Die

GAV-Bescheinigungen erlauben es den Beschaffungsstellen aller föderalen Ebenen,

die verfügbaren und einsehbaren Ergebnisse von real durchgeführten Kontrollen zu

konsultieren, bevor sie Bauaufträge vergeben. Dadurch kann verhindert werden, dass

Firmen mit offenen Verstössen gegen die Lohn- und Arbeitsbedingungen berücksich-

tigt werden. Die Beschaffungsstellen mehrerer Kantone (z.B. Bern, Genf, Neuenburg,

Waadt und Wallis) haben damit bereits Erfahrungen gesammelt.

Die Aufwertung von GAV-Bescheinigungen gegenüber der Selbstdeklaration der An-

bieterin zielt nur auf das sogenannte Bauhaupt- und das Baunebengewerbe und betrifft

sowohl in- als auch ausländische Anbieterinnen sowie deren Subunternehmerinnen.

Die Massnahme ist damit nichtdiskriminierend. Während inländische Firmen auf-

grund ihres Gepräges einem GAV unterstellt sind, sind ausländische Firmen nur für

ihre jeweilige Tätigkeit in der Schweiz einem bestimmten GAV zugeordnet. Die Aus-

sage der GAV-Bescheinigung bezieht sich bei ausländischen Firmen deshalb immer

auf eine erfolgte Tätigkeit in der Schweiz. Die Massnahme ist zudem verhältnismäs-

sig, weil die Betriebe mit den GAV-Bescheinigungen auf bereits bestehende Instru-

mente zurückgreifen können, die einfach, rasch und gegen ein geringes Entgelt erhält-

lich sind. Mit der vorgesehenen Umsetzung wird sichergestellt, dass Anbieterinnen,

die keinem ave GAV unterstehen, die Einhaltung der Arbeits- und Lohnbedingungen

weiterhin mittels Selbstdeklaration nachweisen können und deswegen nicht von den

Beschaffungsstellen vom Vergabeverfahren ausgeschlossen werden dürfen. Die

GAV-Bescheinigungen sind für ausländische Betriebe, die bereits Leistungen in der

Schweiz erbracht haben, schon heute zu den gleichen Bedingungen erhältlich wie für

Schweizer Betriebe. Um eine diskriminierungsfreie Umsetzung sicherzustellen, wer-

den die paritätischen Kommissionen auch für Firmen, die noch nie in der Schweiz

tätig waren, eine Bescheinigung ausstellen müssen.

Das BöB gilt nicht für kantonale und kommunale Auftraggeberinnen. Die Kantone

verfügen im Bereich des öffentlichen Beschaffungswesens über eigene Gesetzge-

bungskompetenzen. Um sämtliche Auftraggeberinnen (Kantone, Gemeinden, Ein-

278 / 931

richtungen des öffentlichen Rechts usw.) im Hinblick auf die verschärfte Nachweis-

pflicht zu sensibilisieren, wird die Koordinationskonferenz der Bau- und Liegen-

schaftsorgane der öffentlichen Bauherren (KBOB) Empfehlungen verabschieden. In

der KBOB sind alle föderalen Ebenen vertreten.

Diese Massnahme wird insbesondere im Bereich Tiefbau greifen, da mehr als 85 %

der entsprechenden Bauinvestitionen durch öffentliche Bauherren (Bund/Kan-

tone/Gemeinden) getätigt werden; im Hochbau sind es ca. 18 %.

Kündigungsschutz im Obligationenrecht für Arbeitnehmerverterinnen und -

vertreter

Zur Sicherung der sozialpartnerschaftlichen Strukturen beim Lohnschutz soll der

Kündigungsschutz für gewählte Arbeitnehmerverterinnen und -vertreter, Mitglieder

eines Organs einer paritätischen Personalvorsorgeeinrichtung sowie für Mitglieder

nationaler Branchenvorstände, die im Rahmen eines ave GAV tätig sind, neu geregelt

werden. Die neue Regelung soll für Arbeitgebende zur Anwendung gelangen, welche

gemäss der in Artikel 3 des Mitwirkungsgesetzes vom 17. Dezember 1993

289

vorgese-

henen Grenze mindestens fünfzig Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäfti-

gen. Beabsichtigt ein Arbeitgeber die Kündigung einer dieser Personen, hat er dies

dem betreffenden Arbeitnehmer oder der betreffenden Arbeitnehmerin begründet mit-

zuteilen. Die Parteien führen anschliessend auf Verlangen des Arbeitnehmers oder der

Arbeitnehmerin eine Aussprache, die maximal zwei Monate dauert. Die Parteien be-

mühen sich nach Treu und Glauben, aber ohne Ergebnisverpflichtung, um eine Lö-

sung, durch die sich die Kündigung vermeiden lässt. Eine Lösung kann beispielsweise

das Angebot einer vergleichbaren Stelle sein. Nach der Aussprache kann der Arbeit-

geber die Kündigung aussprechen. Im Fall einer missbräuchlichen Kündigung sind

erhöhte Sanktionen bis maximal 10 Monatslöhne vorgesehen. Diese Verbesserung des

Kündigungsschutzes im Obligationenrecht ist auch eine Antwort auf verschiedene

ILO-Empfehlungen an die Schweiz im Rahmen der Klage des SGB gegen die Schweiz

(s. Ziff. 2.3.10.3.5).

Erfordernis der Mehrheit der beteiligten Arbeitnehmerinnen und

Arbeitnehmer (Arbeitnehmerquorum)

Gemäss Gesetz kann bereits seit Inkrafttreten des AVEG vom Arbeitnehmerquorum

ausnahmsweise abgewichen werden, wenn besondere Verhältnisse vorliegen (Art. 2

Ziff. 3 AVEG). Heute wird diese Ausnahmenregelung bei einer grossen Mehrheit der

Gesuche um Allgemeinverbindlicherklärung auf Bundes- und kantonaler Ebene von

den Arbeitgeber- und den Arbeitnehmerverbänden, die den GAV abgeschlossen ha-

ben, gemeinsam angerufen. Die besonderen Umstände, die die Organisierung der Ar-

beitnehmer erschweren, insbesondere der hohe Anteil an Temporär- und Teilzeitbe-

schäftigten, die hohe Fluktuation oder häufige Wechsel des Arbeitsortes, sind heute

in vielen Branchen Realität. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Allgemein-

verbindlicherklärung grundsätzlich im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-

289

SR

822.14

279 / 931

nehmer liegt, da ihnen der GAV in erster Linie Vorteile bringt und ihnen Minimal-

rechte (Lohn, Arbeitszeit, Ferien, usw.) garantiert werden, weshalb von der Mehrheit

der beteiligten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abgewichen werden kann.

Eine neue Regelung, die das Abweichen bei besonderen Umständen nicht mehr nur

ausnahmsweise zulässt, wird die gängige und unter den Sozialpartnern breit abge-

stützte Praxis der zuständigen Behörden auf Bundes- und Kantonsebene im Gesetz

abbilden. Dies soll zu mehr Rechtssicherheit für die gesuchstellenden GAV-Parteien

führen. Jedoch führt die neue Regelung nicht zu einer Erleichterung der Allgemein-

verbindlicherklärung von neuen GAV. Die drei Quoren gemäss Artikel 2 Ziffer 3 sind

nach wie vor einzuhalten und die GAV-Parteien haben auch weiterhin nachzuweisen,

dass besondere Umstände vorliegen, welche die Organisierung der Arbeitnehmerin-

nen und Arbeitnehmer in der Branche erschweren und die Abweichung vom Arbeit-

nehmerquorum rechtfertigen.

Besondere Mehrheit als Voraussetzung zur Verlängerung von bereits

allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträgen

Verschiedene Arbeitgeberverbände, insbesondere in Branchen mit vielen Kleinstbe-

trieben mit wenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und vielen Betriebsneu-

gründungen, bekunden seit einigen Jahren zunehmend Schwierigkeiten, das gefor-

derte Arbeitgeberquorum (Mehrheit der an einem GAV beteiligten Arbeitgeber) zu

erreichen. Zur Sicherung der heute bereits allgemeinverbindlich erklärten GAV ist

deshalb eine Anpassung beim Arbeitgeberquorum notwendig, da gemäss geltendem

Recht bei dessen Nichterfüllung die Allgemeinverbindlicherklärung nicht mehr erteilt

werden kann. Vertragsparteien, deren GAV bereits allgemeinverbindlich erklärt

wurde, sollen daher aufgrund der besonderen Mehrheit die Weiterführung ihrer All-

gemeinverbindlicherklärung auch dann beantragen können, wenn das Arbeitgeber-

quorum nicht mehr erfüllt ist. Liegt das Arbeitgeberquorum unter 50 Prozent, aber bei

mindestens 40 Prozent, wird kompensierend das gemischte Quorum (Anteil der durch

die beteiligten Arbeitgeber beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer) ent-

sprechend höher liegen bzw. stärker gewichtet. Mit dem gemischten Quorum wird der

Anteil der Arbeitsverhältnisse stärker berücksichtigt, auf die der GAV sowieso zur

Anwendung gelangt, und die grösseren Arbeitgeber in einer Branche werden stärker

gewichtet. GAV, die noch nie allgemeinverbindlich erklärt waren, sollen hingegen

nicht von einer solchen im AVEG neu zu schaffenden Regelung profitieren können.

Bei der erstmaligen Allgemeinverbindlicherklärung eines GAV müssen nach wie vor

alle drei Quoren gemäss Artikel 2 Ziffer 3 erfüllt sein.

Verbesserter Rechtsschutz

Mit der Schaffung des neuen Artikels im AVEG wird den am GAV nicht beteiligten

Arbeitgebern (sogenannten Aussenseitern) ermöglicht, nach Einleitung von Unterstel-

lungsabklärungen durch eine paritätische Kommission eines ave GAV mittels Erhe-

bung einer negativen Feststellungsklage eine zivilgerichtliche Klärung der Unterstel-

lungsfrage einleiten zu können. Diese Bestimmung richtet sich nach Artikel 88 ZPO,

der die allgemeinen Voraussetzungen für die Feststellungsklage regelt. Die Änderung

ist notwendig, da Unterstellungsabklärungen lange dauern können und bisher eine ge-

280 / 931

richtliche Klärung der Unterstellung regelmässig erst nach Vorliegen eines Unterstel-

lungsentscheids bzw. einer Betreibung herbeigeführt werden kann. Mit der vorge-

schlagenen Änderung wird deshalb dem Bedürfnis der nicht beteiligten Arbeitgeber

nach einer Verbesserung ihres Rechtsschutzes Rechnung getragen.

Ave GAV gehen gemäss Artikel 4 Absatz 2 AVEG nicht ave GAV vor. Dies kann

dazu führen, dass mehrere GAV auf einen Betrieb zur Anwendung kommen können,

wenn dieser Betrieb verschiedene Tätigkeiten ausübt. Um mehr Rechtssicherheit und

frühzeitige Klarheit betreffend eine allfällige Unterstellung unter einen allgemeinver-

bindlich zu erklärenden GAV zu schaffen, sollen in klar definierten Konstellationen

Verbände, die Vertragspartei eines nicht ave GAV sind, bei der für die Allgemeinver-

bindlicherklärung zuständigen Behörde eine Klarstellung im Geltungsbereich einer

Allgemeinverbindlicherklärung beantragen können, wonach ihre Mitglieder nicht in

den betrieblichen Geltungsbereich eines allgemeinverbindlich zu erklärenden GAV

fallen. Diese Regelung kommt nur zum Zug, wenn die entsprechenden Arbeitgeber

(Betriebe und Betriebsteile) ihre überwiegenden Tätigkeiten im Geltungsbereich des

von ihnen einzuhaltenden nicht ave GAV ausführen.

2.3.7.2.3

Gleichbehandlung bezüglich Studiengebühren

Die Schweiz verpflichtet sich, Studierende, die Staatsangehörige eines EU-

Mitgliedstaates sind, bei den Studiengebühren von überwiegend öffentlich finanzier-

ten universitären Hochschulen und Fachhochschulen gleich zu behandeln wie Schwei-

zer Studierende, und zwar unabhängig von ihrem Wohnsitz.

Heute erheben verschiedene kantonale Hochschulen höhere Studiengebühren für aus-

ländische Studierende. Die Gleichbehandlung der Angehörigen der EU-

Mitgliedstaaten mit den Schweizer Studierenden generiert somit finanzielle Ausfälle.

Gemäss einer Studie von Ecoplan

290

hätte eine solche Gleichbehandlung im Jahr 2024

bei den kantonalen Universitäten und universitären Institute zu Mindereinnahmen in

der Höhe von rund 17,3 Mio. CHF und bei den Fachhochschulen von rund 4,5 Mio.

CHF geführt (insgesamt rund 21,8 Mio. CHF; Zahlenbasis Studierendenzahlen

2023/24, Studiengebühren 2024). Es wird vorgeschlagen, dass die nach Inkrafttreten

des Änderungsprotokolls anfallenden Ausfälle befristet und je hälftig von Bund und

Kantonen getragen werden. Der Bund verteilt seinen Anteil an die kantonalen Uni-

versitäten, universitären Institute und Fachhochschulen zum einen gemäss ihren kon-

kreten Einbussen, zum andern gemäss ihren Anteilen der Studierenden, die zu Stu-

dienzwecken aus der EU in die Schweiz kommen. Damit wird berücksichtigt, dass die

Hochschulen die Kosten für die Studierenden aus der EU – im Gegensatz zu denjeni-

gen für Studierende aus anderen Kantonen – weitgehend selber tragen. Die prozentu-

ale Aufteilung der beiden Kriterien soll sich in den Folgejahren dynamisch entwi-

ckeln. Der Bundesrat schlägt vor, den Bundesbeitrag im ersten Jahr zu 80 Prozent

gemäss den konkreten Einbussen und zu 20 Prozent gemäss ihrem Anteil von Studie-

290

www.sem.admin.ch > Publikation & Service > Service > Forschung und Evaluation > Stu-

die von Ecoplan vom 09.05.2025: «RFA zur Teilübernahme der Unionsbürgerrichtlinie

UBRL. Auswirkungen auf die staatlichen Institutionen».

281 / 931

renden, die Staatsangehörige eines EU-Mitgliedstaats sind, an die beitragsberechtig-

ten Hochschulen auszurichten. In den drei Folgejahren sollen sich diese Anteile zu-

gunsten des Kriteriums «Studierendenanteil» entwickeln.

Für die Ausrichtung des Bundesanteils ist eine Anpassung des Hochschulförderungs-

und -koordinationsgesetzes (HFKG

291

) notwendig.

2.3.7.3

Begleitmassnahmen ohne Gesetzesanpassungen

2.3.7.3.1

Zuwanderung

Monitoringkonzept und innerstaatlicher Entscheidprozess zur Schutzklausel

Das SEM wird in Zusammenarbeit mit dem SECO und dem BFS ein Monitoringkon-

zept für die Schutzklausel auslösenden Indikatoren und Schwellenwerte erarbeiten.

Dieses Konzept soll die genaue Definition der Indikatoren, Empfehlungen zur Höhe

der Schwellenwerte und zur praktischen Umsetzung des Monitorings (welche Berech-

nungen konkret verwendet werden, wie regelmässig eine Kontrolle der Indikatoren

und Schwellenwerte stattfinden soll etc.) umfassen. Das Monitoring erlaubt es in Er-

gänzung zu bestehenden Instrumenten, die Auswirkungen der Anwendung des FZA

auf Zuwanderung, Arbeitsmarkt, soziale Sicherheit sowie weitere Bereiche wie Woh-

nungswesen und Verkehr zu beobachten und bildet eine Grundlage für den Entscheid

über eine Auslösung der Schutzklausel.

Gleichzeitig wird das SEM in Zusammenarbeit mit dem SECO und dem EDA ein

Konzept zum innerstaatlichen Entscheidprozess zur Schutzklausel erarbeiten. Dieses

Konzept wird die Kompetenzen zur Beantragung der Aktivierung der Schutzklausel

innerhalb der Bundesverwaltung beschreiben und festhalten, welche konkreten

Schritte vorgenommen werden müssen, wenn die Aktivierung der Schutzklausel

durch den Bundesrat geprüft wird.

2.3.7.3.2

Lohnschutz

Optimierung und Weiterentwicklung des zentralen Meldeverfahrens

Parallel zu den Anpassungen des Meldeverfahrens im Rahmen von Artikel 6 Ab-

sätze 1, 4 und 6 EntsG (s. Ziff. 2.3.7.2.2) sind weitere Verbesserungsmassnahmen ge-

plant.

Die zentralisierte und automatisierte Triage sowie die Übermittlung der Meldungen

erfolgen neu vom Bund direkt an die zuständigen Kontrollorgane (paritätische Kom-

missionen, kantonale tripartite Kommissionen und die vom Kanton nach Art. 7 Abs. 1

Bst. d VE-EntsG bezeichnete Behörde) und bewirken, dass die eingegangenen Mel-

dungen basierend auf den im System hinterlegten kantonalen Parametrisierungen au-

tomatisiert triagiert und dem zuständigen Kontrollorgan (noch vor der Bearbeitung

der Meldung durch den Kanton) übermittelt werden. Die Kantone zeichnen sich für

die Hinterlegung der Parametrisierung verantwortlich. Diese Parametrisierung muss

die kantonale Vollzugslandschaft abbilden und regelmässig durch die kantonalen

Vollzugsorgane aktualisiert werden.

291

SR

414.20

282 / 931

Gleichzeitig zur Triage wird die Meldung durch die zuständige kantonale Behörde

bearbeitet, wobei auch bei diesem Prozessschritt grösstmögliche Automatisierung und

eine möglichst frühzeitige Notifikation an die Kontrollorgane angestrebt werden. Auf-

grund der Rückmeldung der Kontrollorgane zur Triage (korrekt oder fehlerhaft und

in diesem Fall insbesondere zur richtigen Zuordnung und zur effektiv ausgeübten Tä-

tigkeit) soll das Triage-Instrument mit der Zeit dazulernen.

In einem nächsten Schritt wird gemeinsam mit den involvierten Stellen auf Bundes-

ebene, den Vertreterinnen und Vertretern der Kantone und der Sozialpartner zu klären

sein, wie und in welchen Systemen die obenstehenden Prozessschritte effizient um-

gesetzt werden. Dazu werden verschiedene Ansätze vertieft.

Die Weiterentwicklung des Online-Meldeverfahrens infolge Verkürzung der Voran-

meldefrist ist eingebettet in ein gemeinsames Vorhaben von SEM, SECO und den

FlaM-Vollzugsorganen zur Optimierung des Meldeverfahrens. Phase I dieses Vorha-

bens wurde im März 2025 umgesetzt und fokussierte sich auf Massnahmen zur Ver-

besserung der Datenqualität und der Datenübermittlung. Mit dieser ersten Phase

wurde die Basis für grundlegendere Weiterentwicklungen respektive Digitalisie-

rungsschritte (Phase II) geschaffen. Phase II dient der Weiterentwicklung des Melde-

verfahrens und greift dafür konzeptionell grundsätzlichere Fragen auf.

Paritätische Baustellenausweise auf Baustellen der öffentlichen Hand

Auf Baustellen der öffentlichen Hand soll die Verwendung der von den paritätischen

Vollzugsorganen ausgestellten oder in Zusammenarbeit mit diesen erstellten Identifi-

kationsausweise (Baustellenausweise/«Baucard») für die Arbeitnehmenden der Zu-

schlagsempfängerin und ihrer Subunternehmerinnen zur Pflicht werden. Diese Mass-

nahme ist auf diejenigen Branchen beschränkt, deren Gesamtarbeitsverträge

allgemein verbindlich erklärt sind und die zudem ein – in der Regel von paritätischen

Vollzugsorganen gegen ein kleines Entgelt zur Verfügung gestelltes – System zur ver-

besserten Durchführung von Kontrollen der massgeblichen Arbeitsbedingungen vor-

sehen. Heute ist dies beispielsweise der Fall im Bauhauptgewerbe, zu dem unter an-

derem Arbeiten für die tragenden Elemente eines Bauwerks, wie Hoch- und Tiefbau,

Strassenbau und Aushub-/Abbrucharbeiten zählen.

Die Verwendung eines Baustellenausweises bei der Erbringung von Bauleistungen

(bzw. im Bauhaupt- und Baunebengewerbe gemäss

kantonaler Terminologie, siehe

Art. 8 Abs. 2 Bst. a Interkantonale Vereinbarung über das öffentliche Beschaffungs-

wesen [IVöB]) wird die Kontrollen auf Baustellen der öffentlichen Hand vereinfachen

und verbessert für den Bauherren (bzw. die Auftraggeberin) sowie den Erstunterneh-

mer (i.d.R. die Zuschlagsempfängerin) den Überblick, welche Firmen und Arbeitneh-

menden effektiv auf der Baustelle arbeiten. Diese Massnahme wird beim Bund auf

Stufe der Verordnung vom 12. Februar 2020

292

über das öffentliche Beschaffungswe-

sen (VöB) eingeführt, indem Artikel 12 Absatz 5 Satz 3 BöB in der VöB konkretisiert

wird. Mit Blick auf die Sensibilisierung kantonaler und kommunaler Auftraggeberin-

nen ist wie bei der Pflicht zur Einreichung einer GAV-Bescheinigung eine KBOB-

Empfehlung geplant (s. Ziff. 2.3.7.2.2). Mit einer entsprechenden Umsetzung wird

garantiert, dass diese Baustellenausweise auch für ausländische Anbieterinnen einfach

292

SR

172.056.11

283 / 931

erhältlich sein werden. Sie dürfen keinen Hinderungsgrund für eine Teilnahme an öf-

fentlichen Ausschreibungen darstellen.

Die Pflicht zur Verwendung eines solchen Kontrollsystems wird unter Berücksichti-

gung des konkreten Auftrags gelten. Sie eignet sich insbesondere bei grösseren Bau-

aufträgen, während bei kleineren Bauaufträgen wie etwa kleinere Reparaturarbeiten

darauf verzichtet werden kann. Daher wird der Auftraggeberin ein gewisses Ermessen

eingeräumt. Betroffen sind in- und ausländische Anbieterinnen und deren allfällige

Subunternehmerinnen, die in der Schweiz im Rahmen eines öffentlichen Auftrags

Bauleistungen erbringen. Es handelt sich somit um eine nicht diskriminierende Mas-

snahme, da sie ausländische Anbieterinnen und Subunternehmerinnen nicht an der

Leistungserbringung hindert. Die Massnahme ist zudem verhältnismässig, weil sie auf

Bauleistungen beschränkt ist und weil die Anbieterinnen und Subunternehmerinnen

mit den Baustellenausweisen auf bestehende Instrumente zurückgreifen können, die

rasch ausgestellt werden und mit geringen Kosten verbunden sind.

2.3.7.4

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

Die mit den Änderungen im Rahmen der Personenfreizügigkeit mit der EU verbun-

denen Kosten stehen in einem vernünftigen Verhältnis mit den formulierten Zielen

des Bundesrates, namentlich der Modernisierung der bilateralen Abkommen mit der

EU. Das FZA ist aus einer volkswirtschaftlichen Perspektive das wichtigste Abkom-

men (s. Ziff. 2.3.9.3).

2.3.7.5

Umsetzungsfragen

2.3.7.5.1

Zuwanderung

Staatsangehörige der EFTA-Mitgliedstaaten

Bisher gelten für Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten und für Staatsangehörige

der Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA; Mitgliedstaaten

sind Norwegen, Island, Liechtenstein und die Schweiz) die gleichen Regeln, da im

EFTA-Übereinkommen bis auf wenige Ausnahmen das gleiche Recht wie im FZA

von 1999 übernommen wurde (s. Art. 20 und Anhang K Anlage 1 des EFTA-

Übereinkommens vom 4. Januar 1960

293

).

Der EFTA-Rat ist nicht befugt, die Bestimmungen im Hauptteil von Anhang K

(Art. 53 Abs. 4 des EFTA-Übereinkommens) oder in Anlage 1 zu diesem Anhang

über die Freizügigkeit (Art. 14 Abs. 3 Anhang K) zu ändern. Für eine Anpassung des

Hauptteils sowie von Anhang K Anlage 1 des EFTA-Übereinkommens müsste ein

neues Abkommen mit Norwegen, Island und Liechtenstein ausgehandelt werden.

Ohne entsprechendes Mandat mit einer daraus folgenden internationalen Verpflich-

tung, Staatsangehörigen der EFTA-Mitgliedstaaten zusätzliche Rechte zu gewähren,

sind die Änderungen des AIG nicht auf sie anwendbar. So bleiben die massgebenden

Rechtsgrundlagen des AIG und der VFP in Bezug auf die Bewilligungsarten und Aus-

länderausweise, die Anmelde- und Bewilligungsverfahren sowie die Beendigung der

Anwesenheit und die Fernhalte- und Entfernungsmassnahmen anwendbar.

293

SR

0.632.31

284 / 931

Aufenthaltsdokumente und Dokumente für Grenzgängerinnen und

Grenzgänger

Die Richtlinie 2004/38/EG sieht Aufenthaltsdokumente für Aufenthalte von länger

als drei Monaten vor, die das Aufenthaltsrecht in der Schweiz bestätigen: eine Anmel-

debescheinigung für Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten (Art. 8 Abs. 2) und

eine Aufenthaltskarte für ihre Familienangehörigen aus Drittstaaten (Art. 9 Abs. 1).

Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten erhalten somit keine Kurzaufenthalts- oder

Aufenthaltsbewilligungen mehr, im Gegensatz zu ihren Familienangehörigen aus

Drittstaaten.

Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die in der Schweiz eine unselbstständige

oder selbstständige Erwerbstätigkeit als Grenzgängerin oder Grenzgänger ausüben,

behalten ihren Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat. Das aufdatierte FZA sieht vor,

dass sie registriert werden können, wenn die Dauer der geplanten Erwerbstätigkeit

drei Monate übersteigt. Sie erhalten in diesem Fall eine Registrierungsbescheinigung

(neuer Art. 7

a

FZA).

Die Modalitäten der Ausstellung dieser Dokumente sollen in der VFP geregelt wer-

den. Folgende Dokumente sollen ausgestellt werden:

für Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten: ein als «Anmeldebescheini-

gung» geltender Aufenthaltstitel;

für ihre Familienangehörigen aus Drittstaaten, die nachgezogen werden: ein

als «Aufenthaltskarte» geltender Aufenthaltstitel;

für Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die eine Erwerbstätigkeit als

Grenzgängerin oder Grenzgänger ausüben: eine Sonderbescheinigung zum

Nachweis der Registrierung der ausgeübten Erwerbstätigkeit.

Die Gültigkeitsdauer dieser Dokumente soll ebenfalls in der VFP präzisiert werden.

Die Richtlinie 2004/38/EG regelt die Gültigkeitsdauer der Anmeldebescheinigung

nicht. Sie schliesst die Möglichkeit nicht aus, ein Gültigkeitsdatum in Verbindung mit

der Dauer des geplanten Aufenthalts einzutragen. Mit Ablauf der Gültigkeitsdauer

eines ausgestellten Ausweises gehen die Rechte aus dem FZA aber nicht verloren, da

die Bescheinigung eine rein deklaratorische Wirkung hat. Sie soll lediglich das Beste-

hen eines Aufenthaltsrechts zum Zeitpunkt der Ausstellung feststellen. Zudem soll die

Einführung einer Gültigkeitsdauer nicht dazu führen, dass systematisch geprüft wird,

ob die betroffenen Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten die Voraussetzungen

gemäss FZA erfüllen. Eine solche Prüfung wird nur im Einzelfall durchgeführt, wenn

begründete Zweifel bestehen (s. Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG). Die Auf-

enthaltskarte, die Drittstaatsangehörigen ausgestellt wird, gilt für fünf Jahre ab dem

Zeitpunkt der Ausstellung oder für die geplante Dauer des Aufenthalts, wenn diese

weniger als fünf Jahre beträgt (Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG).

Es ist vorgesehen, Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten und ihren Familienan-

gehörigen weiterhin einen Ausweis mit folgender Gültigkeitsdauer auszustellen:

ein Jahr (L) für geplante Aufenthalte von weniger als einem Jahr;

285 / 931

fünf Jahre (B) für geplante Aufenthalte von mehr als einem Jahr.

Der neue Artikel 7

a

FZA regelt die Gültigkeitsdauer der Registrierungsbescheinigung

für Grenzgängerinnen und Grenzgänger ebenfalls nicht. Diese Bestimmung schliesst

die Möglichkeit nicht aus, eine Gültigkeitsdauer gemäss der geplanten Erwerbstätig-

keit vorzusehen. Es ist vorgesehen, Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten, die in

der Schweiz eine Erwerbstätigkeit als Grenzgängerin oder Grenzgänger ausüben, eine

Sonderbescheinigung (G) mit folgender Gültigkeitsdauer auszustellen:

ein Jahr bei einem auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrag;

fünf Jahre bei einem auf mehr als ein Jahr befristeten oder einem unbefris-

teten Arbeitsvertrag sowie für selbstständig Erwerbstätige.

Nachzug von weiteren Familienangehörigen

Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie 2004/38/EG legt fest, welche Familienangehörigen

ein Einreise- und Aufenthaltsrecht haben. Gemäss Artikel 3 Absatz 2 dieser Richtlinie

muss die Schweiz nach Massgabe ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften die Ein-

reise und den Aufenthalt «weiterer» Familienangehöriger unabhängig ihrer Staatsan-

gehörigkeit erleichtern. Dabei handelt es sich um Familienangehörige, die in finanzi-

eller oder physischer Hinsicht (z. B. schwerwiegende gesundheitliche Gründe) von

Staatsangehörigen eines EU-Mitgliedstaats abhängig sind oder die mit ihnen in häus-

licher Gemeinschaft gelebt haben, sowie um die Lebenspartnerinnen oder den Leben-

spartnern, mit denen eine ordnungsgemäss bescheinigte dauerhafte Beziehung einge-

gangen wurde. Die persönlichen Umstände müssen gründlich geprüft werden und eine

Verweigerung der Einreise oder des Aufenthalts dieser Personen muss begründet wer-

den.

Gemäss Artikel 30 Absatz 1 Buchstabe b AIG kann bereits heute von den Zulassungs-

voraussetzungen abgewichen werden, um schwerwiegenden persönlichen Härtefällen

Rechnung zu tragen. Die allgemeinen Voraussetzungen und das Verfahren für solche

Härtefälle hat der Bundesrat in Artikel 31 VZAE festgelegt. Bei der Beurteilung sind

insbesondere folgende Kriterien zu berücksichtigen: die Integration der Gesuchstelle-

rin oder des Gesuchstellers anhand der Integrationskriterien nach Artikel 58

a

Ab-

satz 1 AIG; die Familienverhältnisse, insbesondere der Zeitpunkt der Einschulung und

die Dauer des Schulbesuchs der Kinder; die finanziellen Verhältnisse; die Dauer der

Anwesenheit in der Schweiz; der Gesundheitszustand sowie die Möglichkeiten für

eine Wiedereingliederung im Herkunftsstaat. Diese Aufzählung ist nicht abschlies-

send.

Gemäss heutiger Praxis kann eine Aufenthaltsbewilligung nach Artikel 31 VZAE er-

teilt werden namentlich an unterstützungsbedürftige Verwandte, die zwingend auf die

Betreuung durch in der Schweiz wohnhafte Personen angewiesen sind (s. Ziff. 5.6.2

der Weisungen SEM I.

294

), an Konkubinatspartnerinnen und -partner (s. Ziff. 5.6.3

und 5.6.4) sowie an gleichgeschlechtliche Partnerinnen und Partner, die auf eine Hei-

rat oder eine Eintragung ihrer Partnerschaft verzichtet haben, beispielsweise wegen

294

Weisungen SEM I. unter: www.sem.admin.ch > Publikationen & Service > Weisungen

und Kreisschreiben > I. Ausländerbereich.

286 / 931

drohender Benachteiligung im Heimatland der Partnerin oder des Partners

(s. Ziff. 5.6.6).

Die zuständigen Behörden (Art. 88 VZAE) berücksichtigen bei der Ermessensaus-

übung die öffentlichen Interessen und die persönlichen Verhältnisse sowie die In-

tegration der Ausländerinnen und Ausländer (Art. 96 Abs. 1 AIG). Die Erteilung einer

Aufenthaltsbewilligung bei einem schwerwiegenden persönlichen Härtefall ist dem

SEM zur Zustimmung zu unterbreiten (Art. 85 Abs. 2 VZAE und Art. 5 Bst. d der

Verordnung des EJPD vom 13. August 2015

295

über das ausländerrechtliche Zustim-

mungsverfahren [ZV-EJPD]).

Mit dem geltenden Recht werden die in Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie 2004/38/EG

erfassten Situationen bereits berücksichtigt. Eine Anpassung des AIG oder der VZAE

ist daher nicht nötig.

Biometrische Identitätskarten

Die Einführung von biometrischen Identitätskarten erfolgt auf Stufe der Ausweisver-

ordnung vom 20. September 2002

296

mit einem separaten Rechtsetzungsprojekt. Da-

bei werden im Wesentlichen das zusätzliche Modell der biometrischen Identitätskarte

zusätzlich aufgenommen und kostendeckende Gebühren für Bund und Kantone fest-

gelegt. Es wird eine Vernehmlassung zur Revision der Ausweisverordnung durchge-

führt werden. Die Einführung der biometrischen Identitätskarten soll in jedem Fall

rechtzeitig vor dem Ablauf der mit Artikel 7

g

des Änderungsprotokolls zum FZA

derogierten Fristen erfolgen.

Immobilienerwerb

Die weiterhin unverändert geltende Ausnahmeregelung zum Immobilienerwerb (s.

Ziff. 2.3.6.2.2, Erläuterungen zum Art. 1 Ziff. 6 des Änderungsprotokolls betreffend

Art. 7

f

des FZA) benötigt keine Umsetzungsgesetzgebung in Form einer Anpassung

des BewG. Die zu erwartenden Anpassungen der Ausführungsbestimmungen zum

AIG (z.B. die VFP) bezüglich der Bezeichnung für die schweizerischen Aufenthalts-

titel und Grenzgängerbescheinigungen der Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten

können rein technische Anpassungen der Verordnung vom 1. Oktober 1984

297

über

den Erwerb von Grundstücken durch Personen im Ausland zur Folge haben (voraus-

sichtlich insbesondere Art. 2 Abs. 2, Art. 18

a

Abs. 3 und Anhang II Ziffer 15 BewV).

Zulassungsvoraussetzungen für Ärztinnen und Ärzte

Damit Ärztinnen und Ärzte als Leistungserbringer gelten und über die Krankenkassen

abrechnen können, müssen sie gemäss Artikel 37 KVG mindestens drei Jahre im be-

antragten Fachgebiet an einer anerkannten schweizerischen Weiterbildungsstätte ge-

arbeitet haben. Sie müssen zudem die in ihrer Tätigkeitsregion notwendige Sprach-

kompetenz mittels einer in der Schweiz abgelegten Sprachprüfung nachweisen. Diese

Nachweispflicht entfällt für Ärztinnen und Ärzte, die über bestimmte Abschlüsse

295

SR

142.201.1

296

SR

143.11

297

SR

211.412.411

287 / 931

(z. B. schweizerische Maturität) in der Amtssprache der jeweiligen Tätigkeitsregion

verfügen.

Im Rahmen des GA des FZA machte die EU geltend, dass Artikel 37 KVG gegen das

Nichtdiskriminierungsgebot gemäss Artikel 2 FZA und gegen Artikel 55 der Richtli-

nie 2005/36/EG (Anhang III FZA) verstösst und verlangt, dass die Konformität mit

dem FZA hergestellt wird. Obwohl der Bundesrat bei parlamentarischen Beratungen

auf diesen Konflikt mit dem FZA hinwies (siehe seine Stellungnahme vom 25. Januar

2023

298

zur Parlamentarischen Initiative 22.413 «Ausnahmen von der dreijährigen

Tätigkeitspflicht gemäss Artikel 37 Absatz 1 KVG bei nachgewiesener Unterversor-

gung), sah das Parlament bisher keinen Handlungsbedarf eine Anpassung von Arti-

kel 37 KVG in Bezug auf die Vereinbarkeit mit dem FZA anzugehen.

2.3.7.5.2

Lohnschutz

Die bisherige Organisation und Zusammenarbeit im Vollzug des EntsG und der Ar-

beitsmarktbeobachtung gemäss Artikel 360

b

OR erfordert keine gesetzlichen Anpas-

sungen. Bezüglich der Vollstreckungshilfe von Verwaltungssanktionen auf Ersuchen

eines EU-Mitgliedstaates, ist darauf hinzuweisen, dass im Bereich des EntsG und des

Bundesgesetzes vom

11. April 1889

über

Schuldbetreibung

und

Konkurs

(SchKG)299 hauptsächlich die kantonalen Behörden für die konkrete Umsetzung der

rechtlichen Bestimmungen zuständig sein werden. Somit setzt die geplante Regelung

die aktive Zusammenarbeit der kantonalen Behörden im Bereich des EntsG und des

SchKG voraus. Im Übrigen erfordert die vorgeschlagene Änderung keine Anpassung

des kantonalen Rechts.

Die Ausführungsbestimmungen für die Umsetzung der Änderungen des Entsendege-

setzes werden in der Verordnung vom 21. Mai 2003

300

über die in die Schweiz ent-

sandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (EntsV) geregelt.

Weiter stellen sich Umsetzungsfragen betreffend die automatisierte Triage und Über-

mittlung der Meldungen eines Einsatzes in der Schweiz (vgl. Art. 6 Abs. 1, 4 und 6

sowie die entsprechenden Erläuterungen). Im Vorfeld wurde mit Vertreterinnen und

Vertretern der involvierten Bundesbehörden, der Kantone und der Sozialpartner ge-

prüft, wie die Prozessschritte des Meldeverfahrens effizienter ausgestaltet werden

können. In Zukunft werden die Triage und Weiterleitung der Meldungen nicht mehr

durch die Kantone, sondern zentral durch eine Bundesbehörde erfolgen. Infrage

kommt hierbei das SECO oder das SEM. Zur automatisierten Triage der Meldungen

wird künftig ein zentrales und lernendes maschinenbasiertes Triage-Instrument ein-

gesetzt werden. Zudem wird in Zukunft möglich sein, dass die Weiterleitung der Mel-

dung automatisiert über eine elektronische Schnittstelle erfolgt (bspw. über die Platt-

form für elektronische Kommunikation nach Art. 8

r

VE-EntsG). Wie und in welchen

Systemen die automatisierte Triage und Weiterleitung der Meldung am effizientesten

umgesetzt werden kann, wird im Rahmen einer Expertengruppe mit Vertreterinnen

und Vertretern der involvierten Bundesbehörden, der Kantone und der Sozialpartner

geklärt werden.

298

BBl

2023

343

299

SR

281.1

300

SR

823.201

288 / 931

Der grenzüberschreitende Behördenaustausch via IMI wird in der Schweiz vorwie-

gend mit den kantonalen Amtsstellen und den PK stattfinden. Die zuständigen kanto-

nalen Amtsstellen werden deshalb als IMI-Koordinationsstellen für ihr Kantonsgebiet

die Möglichkeit erhalten, weitere kantonale Amtsstellen im System aufzunehmen.

Das SECO wird für den Bereich «Entsendung von Arbeitnehmenden» die Rolle der

nationalen Koordination wahrnehmen. Die Kantone und die PK wurden konsultiert.

Da mit der EU verhandelt wurde, dass die Ausnahmen von der dynamischen Rechts-

übernahme, die Übernahme des EU-Entsenderechts und der Anschluss an das IMI erst

drei Jahre nach Inkrafttreten des angepassten FZA in Kraft treten, ist genügend Zeit

vorhanden, um die organisatorischen Vorkehrungen zu treffen. Die zuständige kanto-

nale Amtsstelle wird für den zusätzlichen Koordinationsaufwand entschädigt.

Neue Instrumente im Vollzug des EntsG wie die Bereithaltung von Dokumenten vor

Ort und die Benennung einer Ansprechpartnerin oder eines Ansprechpartners sowie

die Organisation der Beteiligung der Vollzugsorgane am IMI wurden im Vorfeld mit

Vertreterinnen und Vertretern der Kantone und der Sozialpartner auf die Vollzug-

stauglichkeit hin geprüft.

Öffentlichen Beschaffungswesen

Die von den Anbieterinnen einzureichenden GAV-Bescheinigungen für sich und ihre

allfälligen Subunternehmerinnen unterstützen die öffentliche Auftraggeberin bei der

Kontrolle der Einhaltung der Arbeits- und Lohnbedingungen, bevor sie einen Bauauf-

trag erteilt. Während der Ausführung des Bauauftrags erleichtern die von den paritä-

tischen Vollzugsorganen zur Verfügung gestellten Baustellenausweise die Kontrollen

auf öffentlichen Baustellen. Die Einführung dieser beiden Massnahmen wird einen

gewissen Schulungs- und Initialaufwand bei den öffentlichen Auftraggeberinnen so-

wie voraussichtlich Anpassungen bei manchen Vorlagen (z.B. Musterverträge) erfor-

dern. Unter anderem muss den öffentlichen Auftraggeberinnen vermittelt werden, in

welchen Fällen bzw. bei welchen Branchen eine GAV-Bescheinigung oder die Ver-

wendung von Baustellenausweisen zu verlangen ist.

2.3.8

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des

Umsetzungserlasses

2.3.8.1

Zuwanderung

2.3.8.1.1

Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG)

Art. 2 Abs. 2

Das AIG gilt für Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten und ihre Familienangehö-

rigen sowie für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die von Arbeitgebern mit Sitz

oder Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat in die Schweiz entsandt wurden, soweit das

FZA keine abweichenden Bestimmungen enthält oder dieses Gesetz günstigere Best-

immungen vorsieht (

subsidiäre Anwendung;

Art. 2 Abs. 2 zweiter Satz VE-AIG, wel-

cher der Formulierung des geltenden Art. 2 Abs. 2 AIG entspricht).

Es soll nun präzisiert werden, dass das AIG für diese Personen gilt, soweit das Gesetz

dies ausdrücklich vorsieht (

direkte Anwendung

; Art. 2 Abs. 2 erster Satz VE-AIG).

289 / 931

Einige Bestimmungen setzen das FZA um: Art. 13

a

(Besondere Pflichten), 41

c

(So-

zialhilfeausschluss), 61

a

(Verlust des Status als Erwerbstätige), 61

c

(Rechtsmiss-

brauch) und 120 VE-AIG (Sanktionen). Die anderen Bestimmungen werden geändert

oder neu geschaffen, weil die geltenden Bestimmungen des AIG nicht subsidiär auf

Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten angewandt werden können, da das System

der «Bewilligungen» durch die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG wegfällt:

Artikel 15 (Abmeldung), 61

d

(Erlöschen des Aufenthaltsrechts), 61

e

(Erlöschen, Ver-

weigerung und Widerruf des Rechts auf Daueraufenthalt), 64 Absatz 1 Buchstabe d

(Wegweisungsverfügung), 64

d

Absatz 2 Buchstabe g (Ausreisefrist und sofortige

Vollstreckung), 97 Absätze 4 und 5 (Amtshilfe und Datenbekanntgabe), 99 Absatz 1

(Zustimmungsverfahren) und 118 Absatz 1VE-AIG (Täuschung der Behörden). Es

handelt sich dabei um wichtige rechtsetzende Bestimmungen im Sinne von Arti-

kel 164 Absatz 1 BV, die eine formelle gesetzliche Grundlage benötigen.

Artikel 62 AIG bleibt beispielsweise subsidiär auf Familienangehörige aus Drittstaa-

ten anwendbar, die über ein Aufenthaltsrecht gemäss FZA verfügen, da sie eine Auf-

enthaltskarte erhalten. Demgegenüber wird diese Bestimmung für Staatsangehörige

der EU-Mitgliedstaaten nicht mehr gelten, da sie sich auf ausländerrechtliche «Bewil-

ligungen» bezieht, die durch die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG wegfallen.

Die zuständige Behörde kann die Beendigung des Aufenthaltsrechts feststellen

(s. neuer Art. 61

d

Abs. 2 VE-AIG).

Art. 13a

Besondere Pflichten von Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten

und deren Familienangehörigen

Allgemeines

Der neue Artikel 13

a

VE-AIG soll die Pflichten von Staatsangehörigen der EU-

Mitgliedstaaten und ihren Familienangehörigen regeln, die von ihrem Recht auf Ein-

reise (Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2004/38/EG) und Aufenthalt von mehr als drei Mo-

naten (Art. 8 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG) Gebrauch machen.

Es soll zudem auch die Pflichten der Grenzgängerinnen und Grenzgänger (Arbeitneh-

mende und Selbstständige) regeln, die von ihrem Recht auf Ausübung einer Erwerbs-

tätigkeit während mehr als drei Monaten (Art. 7

a

E-FZA) Gebrauch machen.

Mit diesem Artikel soll die Anmeldepflicht der Staatsangehörigen der EU-

Mitgliedstaaten und ihrer Familienangehörigen ausdrücklich geregelt werden, die sich

heute aus der subsidiären Anwendung von Artikel 12 AIG in Verbindung mit Arti-

kel 2 Absatz 4 Anhang I FZA ergibt. Er enthält zudem neue Begriffe aus der Richtli-

nie 2004/38/EG und dem aufdatierten FZA. Für die Regelung der Pflichten von

Staatsangehörigen der EFTA-Mitgliedstaaten, die ihre Rechte aus dem EFTA-

Übereinkommen nutzen, braucht es keine besonderen Bestimmungen. Für Staatsan-

gehörige eines EFTA-Mitgliedstaates sollen für die Anmelde- und Bewilligungsver-

fahren weiterhin die Artikel 10–15 AIG sowie Artikel 9, 10, 12, 13, 15 und 16 VZAE

sinngemäss gelten.

Vor der Einreise in die Schweiz beabsichtigter Aufenthalt von mehr als drei Monaten

(Abs. 1)

Gemäss Artikel 5 Absatz 5 der Richtlinie 2004/38/EG kann die Schweiz von Staats-

angehörigen der EU-Mitgliedstaaten und deren Familienangehörigen verlangen, dass

290 / 931

sie ihre Anwesenheit im Hoheitsgebiet der Schweiz innerhalb eines angemessenen

und nichtdiskriminierenden Zeitraums melden (

Meldung

in Zusammenhang mit dem

Einreiserecht).

Die Artikel 8 und 9 der Richtlinie 2004/38/EG regeln die Verwaltungsformalitäten für

Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten beziehungsweise ihre Familienangehörigen

aus Drittstaaten für Aufenthalte von über drei Monaten. Die Schweiz kann vorsehen,

dass Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten sich nach einer Frist von mindestens

drei Monaten ab dem Zeitpunkt der Einreise bei der zuständigen Behörde anmelden

und die Familienangehörigen aus Drittstaaten eine Aufenthaltskarte beantragen (

An-

meldung und Beantragung einer Aufenthaltskarte

in Zusammenhang mit dem Aufent-

haltsrecht).

In Absatz 1 wird die Meldepflicht verankert für Staatsangehörige der EU-

Mitgliedstaaten und deren Familienangehörigen, die bei ihrer Einreise beabsichtigen,

länger als drei Monate in der Schweiz zu bleiben. Zudem müssen sich Staatsangehö-

rige der EU-Mitgliedstaaten anmelden und ihre Familienangehörigen aus Drittstaaten

müssen eine Aufenthaltskarte beantragen. Damit nutzt die Schweiz die in der Richtli-

nie 2004/38/EG vorgesehene Möglichkeit, von den Staatsangehörigen der EU-

Mitgliedstaaten und ihren Familienangehörigen aus Drittstaaten vorzusehen, dass sie

ihre Einreise und ihren Aufenthalt in der Schweiz melden. Es handelt sich dabei nicht

um eine Voraussetzung für ein Aufenthaltsrecht, sondern um eine rein administrative

Formalität gemäss Richtlinie 2004/38/EG. Der Aufenthaltstitel, der bestätigt, dass die

Anmeldung erfolgt ist, und die Aufenthaltskarte haben eine rein deklaratorische Funk-

tion. Sie dienen dazu, das Bestehen von Rechten aus dem FZA zum Zeitpunkt der

Ausstellung zu bescheinigen, und sie sollen den Aufenthalt im Aufnahmestaat erleich-

tern. In der Verordnung (EU) 2019/1157 sind die Spezifikationen für solche Aufent-

haltsdokumente festgehalten (Art. 6 und 7).

Für Staatsangehörige der EU- oder EFTA-Mitgliedstaaten und ihre Familienangehö-

rigen, die beabsichtigen, weniger als drei Monate in der Schweiz zu bleiben (für den

Fall einer Absichtsänderung während des Aufenthalts von bis zu drei Monaten

s. Abs. 2), sind keine solchen Pflichten vorgesehen. Diese unterschiedliche Behand-

lung ist darauf zurückzuführen, dass bei einer kurzfristigen Erwerbstätigkeit eine Mel-

depflicht vorgesehen ist (s. Ziff. 2.3.8.4.1, Erläuterungen zum VE-EntsG). Für Perso-

nen, die keine Erwerbstätigkeit ausüben (Touristinnen und Touristen, Dienst-

leistungsempfängerinnen und -empfänger), ist die Einführung von solchen Pflichten

nicht erforderlich.

Im Hinblick auf den nichtdiskriminierenden Charakter der Meldefrist ist zu erwähnen,

dass auch Schweizer Staatsangehörige an eine Meldefrist gebunden sind (s. Art. 11

des Registerharmonisierungsgesetzes vom 23. Juni 2006

301

[RHG], wonach die Kan-

tone die notwendigen Vorschriften erlassen).

Nach der Einreise in die Schweiz beabsichtigter Aufenthalt von mehr als drei Monaten

(Abs. 2)

301

SR

431.02

291 / 931

Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen, die sich ge-

mäss ihrem Recht auf Aufenthalt von bis zu drei Monaten (Art. 6 der Richtli-

nie 2004/38/EG) in der Schweiz aufhalten, können im Laufe dieses Aufenthalts ihre

Absicht ändern und beschliessen, über diese drei Monate hinaus in der Schweiz zu

bleiben. Wenn eine solche Absichtsänderung erfolgt, bevor die Pflicht zur Anmeldung

und zur Beantragung einer Aufenthaltskarte anwendbar wird (drei Monate ab Einreise

in die Schweiz), begründet sie die Pflicht zur Meldung der Anwesenheit. Falls die

vom Bundesrat für die Meldung der Anwesenheit bei der Einreise in die Schweiz fest-

gelegte Frist bereits abgelaufen ist (Abs. 1 i. V. m. Abs. 4), muss dies Meldung spä-

testens vor Aufnahme der Erwerbstätigkeit erfolgen.

Die Festlegung der Pflicht, spätestens vor der Aufnahme der Erwerbstätigkeit seine

Anwesenheit zu melden, verfolgt ein legitimes öffentliches Interesse: Damit soll die

Umgehung der Bestimmungen des EntsG verhindert werden. Mit dieser Regelung

wird garantiert, dass Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten – je nach Dauer der

geplanten Erwerbstätigkeit – entweder über die Meldung der Anwesenheit oder über

die im EntsG vorgesehene Meldung mit den zuständigen Behörden in Kontakt gewe-

sen sein werden. Eine Widerhandlung gegen diese Pflichten kann sanktioniert werden

(s. Art. 120 Abs. 1 Bst. a VE-AIG und Art. 9 Abs. 2 Bst. a VE-EntsG).

Ausübung einer Erwerbstätigkeit als Grenzgängerin oder Grenzgänger während

mehr als drei Monaten (Abs. 3)

Gemäss Artikel 7

a

E-FZA sind Grenzgängerinnen und Grenzgänger Staatsangehörige

einer Vertragspartei, die im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei eine selbstständige

oder unselbstständige Erwerbstätigkeit ausüben und ihren Wohnsitz in der anderen

Vertragspartei haben, an den sie in der Regel täglich oder mindestens einmal in der

Woche zurückkehren (Abs. 1). Die zuständigen Behörden können Grenzgängerinnen

und Grenzgänger, die ihre Erwerbstätigkeit während mehr als drei Monaten ausüben,

zu deklaratorischen Zwecken registrieren (Abs. 2). Dabei stellen sie ihnen eine Re-

gistrierungsbescheinigung aus (Abs. 3).

Absatz 3 verpflichtet Grenzgängerinnen und Grenzgänger, die Staatsangehörige der

EU-Mitgliedstaaten sind, dazu, sich bei der zuständigen Behörde registrieren zu las-

sen. Bei unselbstständig Erwerbstätigen obliegt diese Pflicht dem Arbeitgeber. Die

Schweiz macht damit von einer Möglichkeit nach dem FZA Gebrauch.

Die genaue Frist für die Registrierung ist im FZA nicht festgelegt. Die Registrierung

muss jedoch spätestens vor Aufnahme der Erwerbstätigkeit in der Schweiz erfolgen.

Die Festlegung der Pflicht, sich vor der Aufnahme der Erwerbstätigkeit registrieren

zu lassen, verfolgt ein legitimes öffentliches Interesse: Damit soll die Umgehung der

Bestimmungen des EntsG verhindert werden. Mit dieser Regelung wird garantiert,

dass Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten – je nach Dauer der geplanten Erwerbs-

tätigkeit – mit den zuständigen Behörden in Kontakt gewesen sein werden (Meldung

kurzfristiger Erwerbstätigkeit bis zu drei Monaten oder Registrierung bei längerfristi-

ger Erwerbstätigkeit). Eine Widerhandlung gegen diese Pflichten kann sanktioniert

werden (s. Art. 120 Abs. 1 Bst. a VE-AIG und Art. 9 Abs. 2 Bst. a VE-EntsG).

Die mit einem Aufenthaltsrecht aus dem FZA verbundenen Bestimmungen sind auf

Grenzgängerinnen und Grenzgänger, die Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten

292 / 931

sind nicht anwendbar, da sie sich nicht gemäss der Richtlinie 2004/38/EG in der

Schweiz aufhalten.

Fristen und Verfahren (Abs. 4)

Absatz 4 ermächtigt den Bundesrat, die Fristen, in denen die in den Absätzen 1–3 ent-

haltenen Pflichten erfüllt werden müssen, sowie das entsprechende Verfahren festzu-

legen. Die Richtlinie 2004/38/EG präzisiert diesbezüglich, dass die Frist für die Mel-

dung der Anwesenheit angemessen und nicht diskriminierend sein muss (Art. 5

Abs. 5) und die Frist für die Anmeldung und die Einreichung des Antrags mindestens

drei Monate ab dem Zeitpunkt der Einreise betragen muss (Art. 8 Abs. 2 und Art. 9

Abs. 2).

Die Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen können

selber entscheiden, ob sie sich bereits nach ihrer Einreise in der Schweiz anmelden

beziehungsweise eine Aufenthaltsbewilligung beantragen wollen. In diesem Fall ent-

fällt die Meldung der Anwesenheit.

Art. 15 Abs. 2

In der geltenden Version ist Artikel 15 AIG nicht subsidiär (Art. 2 Abs. 2 VE-AIG)

auf Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten anwendbar, da er sich an Ausländerin-

nen und Ausländer richtet, die eine «Bewilligung» besitzen, welche durch die Teil-

übernahme der Richtlinie 2004/38/EG jedoch wegfällt. Auf ihre aus Drittstaaten stam-

menden Familienangehörigen ist er hingegen anwendbar, da diese über eine

Aufenthaltskarte (

Status quo

) oder eine Daueraufenthaltskarte verfügen.

Weder das FZA noch die Richtlinie 2004/38/EG regeln die Ausreise aus dem Aufnah-

mestaat. Unter «Ausreise» ist der Wille zu verstehen, seinen Wohnsitz ins Ausland zu

verlegen. Um die Wirksamkeit der Bestimmungen der Richtlinie 2004/38/EG sicher-

zustellen, namentlich jener in Zusammenhang mit vorübergehenden Abwesenheiten,

welche die Kontinuität des Aufenthalts im Hinblick auf den Erwerb des Rechts auf

Daueraufenthalt nicht berühren (Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG), und jener

in Zusammenhang mit dem Verlust des Rechts auf Daueraufenthalt (Art. 16 Abs. 4

der Richtlinie 2004/38/EG), ist es notwendig, dass die Staatsangehörigen der EU-

Mitgliedstaaten, die ein Aufenthaltsrecht oder ein Recht auf Daueraufenthalt besitzen,

die zuständigen Behörden informieren, wenn sie die Schweiz verlassen, sowie gege-

benenfalls, wenn sie in die Schweiz zurückkehren.

Der neue Absatz 2 verpflichtet Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die ein

Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate oder ein Recht auf Daueraufenthalt

besitzen zum einen, sich bei der am Wohnort zuständigen Behörde abzumelden, wenn

sie die Schweiz verlassen.

Zum anderen gelten für Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, welche die

Schweiz verlassen haben und beabsichtigen, für einen Aufenthalt von mehr als drei

Monaten zurückzukehren, die Pflichten nach Artikel 13

a

Absatz 1 VE-AIG (Anwe-

senheitsmeldung und Anmeldung).

293 / 931

Art. 21b

Schutzmassnahmen und Ausgleichsmassnahmen bei der Anwendung

des FZA

Abs. 1 und 2

Der Bundesrat ist für das gesamte Verfahren vor dem GA des FZA und dem Schieds-

gericht zuständig (Art. 21

b

Abs. 1 und 2 VE-AIG). Führt die Anwendung des FZA in

der ganzen Schweiz, in einer bestimmten Region oder in einer bestimmten Branche

zu schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen, so kann der Bundes-

rat einen Antrag an den GA nach dem neuen Artikel 14

a

Absatz 1 FZA stellen zu

deren Beseitigung (Art. 21

b

Abs. 1 VE-AIG). Er kann Beschlüsse des GA nach dem

neuen Artikel 14

a

Absatz 1 FZA über Schutzmassnahmen nach den Absätzen 6 und

7 genehmigen und sie umsetzen, soweit sie nicht direkt anwendbar sind (Art. 21

b

Abs. 1 VE-AIG).

Trifft der GA des FZA keinen Beschluss, so kann der Bundesrat das Schiedsgericht

gemäss neuem Artikel 14

a

Absätze 2 und 4 FZA anrufen (Art. 21

b

Abs. 2 VE-AIG).

Stellt das Schiedsgericht gemäss neuem Artikel 14

a

Absätze 3 und 5 FZA fest, dass

die Voraussetzungen nach den genannten Bestimmungen erfüllt sind, so kann er

Schutzmassnahmen nach den Absätzen 6 und 7 ergreifen (Art. 21

b

Abs. 2 VE-AIG).

Abs. 3

Gemäss Absatz 3 kann der Bundesrat trotz einem negativen Entscheid des Schiedsge-

richts selbst vorübergehende geeignete Schutzmassnahmen gemäss Absatz 6 und 7

ergreifen, wenn er zum Schluss kommt, dass die Probleme derart gross sind, dass

Massnahmen erforderlich erscheinen. Sollen diese Massnahmen länger als 12 Monate

dauern, muss der Bundesrat innerhalb dieser Frist der Bundesversammlung eine ent-

sprechende Vorlage unterbreiten. Die Massnahmen des Bundesrates gelten jedoch

über diese Frist hinaus bis zum Entscheid des Parlaments über die Vorlage.

Wenn der Bundesrat beziehungsweise die Bundesversammlung solche Massnahmen

ergreift, könnte die EU ihrerseits ein Streitbeilegungsverfahren anstreben, wenn sie

der Ansicht ist, dass diese Massnahmen – da ausserhalb der Schutzklausel – das FZA

verletzen. Diesfalls könnte es gegebenenfalls zu Ausgleichsmassnahmen in den Bin-

nenmarktabkommen (ausgenommen dem Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens)

kommen.

Die konkretisierte Schutzklausel sowie das im Institutionellen Protokoll festgelegte

Streitbeilegungsverfahren mit der Möglichkeit von Ausgleichsmassnahmen stellen

wesentliche Neuerungen im Vergleich zum geltenden FZA dar. Neu sieht das FZA

selber einen Mechanismus für den Fall vor, dass eine Vertragspartei vom FZA ab-

weicht. Dieser Mechanismus greift auch, falls die Schweiz trotz negativem Entscheid

des Schiedsgerichts befristete Schutzmassnahmen in Anwendung von Artikel 21

b

Ab-

satz 3 VE-AIG ergreift. Es ist davon auszugehen, dass das Bundesgericht diesen neuen

Mechanismus berücksichtigen wird, wenn es seine Rechtsprechung zum Verhältnis

zwischen innerstaatlichem Recht und dem FZA im Falle von Normenkonflikten über-

prüft.

Abs. 4

294 / 931

Ergreift die EU Schutzmassnahmen gegen die Schweiz, ist der Bundesrat für das all-

fällige Ergreifen von Ausgleichsmassnahmen im Geltungsbereich des FZA gegenüber

der EU zuständig.

Abs. 5

Der Bundesrat kann das Vorliegen von schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozi-

alen Problemen nach Absatz 1 in der ganzen Schweiz, in einer bestimmten Region

oder einer bestimmten Branche gestützt auf geeignete Indikatoren, insbesondere in

den Bereichen der Zuwanderung, des Arbeitsmarktes, der sozialen Sicherheit, des

Wohnungswesens und des Verkehrs, prüfen (Art. 21

b

Abs. 5 Satz 1 VE-AIG). Er

kann also die Auslösung der Schutzklausel prüfen, wenn geeignete Indikatoren auf

schwerwiegende wirtschaftliche oder soziale Probleme hinweisen. Er muss aber die

Auslösung der Schutzklausel prüfen, wenn die gestützt auf das FZA ausgelöste Net-

tozuwanderung, die Zunahme der Beschäftigung von Grenzgängerinnen und Grenz-

gängern, der Arbeitslosigkeit oder des Sozialhilfebezugs einen vom Bundesrat festge-

legten Schwellenwert für die ganze Schweiz überschreitet (Art. 21

b

Abs. 5 Satz 2 VE-

AIG).

1. Satz (Indikatoren)

Die Auflistung der Indikatoren ist in Artikel 21

b

Absatz 5 Satz 1 VE-AIG nicht ab-

schliessend. Als relevante Bereiche für die zu berücksichtigenden Indikatoren sind

beispielhaft die Zuwanderung, der Arbeitsmarkt (z.B. Beschäftigungs-, Arbeitslosig-

keit- und Lohnentwicklung, Spesenentschädigungen), die soziale Sicherheit (z.B. um-

fassendere Betrachtung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe sowie der Ergänzungsleis-

tungen),

das

Wohnungswesen

(z.B.

Nachfrage

nach

Wohnraum,

Wohnungsknappheit) und der Verkehr (z.B. Staustunden) aufgeführt.

2. Satz (Schwellenwerte)

Die Prüfung der Aktivierung der Schutzklausel muss erfolgen, wenn ein Schwellen-

wert überschritten wird. In Artikel 21

b

Absatz 5 Satz 2 VE-AIG werden daher die

Nettozuwanderung aus der EU, Grenzgängerbeschäftigung, Arbeitslosigkeit und So-

zialhilfebezug aufgelistet, für welche Schwellenwerte auf Verordnungsstufe definiert

werden sollen. Die Schwellenwerte sollen so festgelegt werden, dass sie eine ausser-

ordentliche Situation anzeigen, die schwerwiegende wirtschaftliche oder soziale Prob-

leme vermuten lässt. Gleichzeitig soll der Bundesrat die Schwellenwerte so festlegen,

dass sie realistischerweise auch erreicht werden können.

Im Bereich der Zuwanderung könnte es sich um eine ausserordentlich hohe Nettozu-

wanderung aus der EU handeln. Der Schwellenwert bei der Nettozuwanderung könnte

beispielsweise berechnet werden, in dem der EU-Wanderungssaldo (Einwanderung

minus Auswanderung) eines Jahres ins Verhältnis gesetzt wird mit der gesamten stän-

digen Wohnbevölkerung in der Schweiz. Auf nationaler Ebene könnte dieser Schwel-

lenwert auf 0,74 Prozent festgelegt werden (d.h. ab einer Nettozuwanderung von ge-

rundet 0,8 % und darüber müsste die Auslösung der Schutzklausel geprüft werden).

Bei der Grenzgängerbeschäftigung könnte beispielsweise die Veränderung im Grenz-

gängerbestand binnen eines Jahres im Verhältnis zur Anzahl der Erwerbstätigen des

Vorjahres beigezogen werden. Diese würde somit den Beitrag der EU-

Grenzgängerbeschäftigung zum Wachstum der Beschäftigung in einem Jahr messen.

295 / 931

Es könnte ein Schwellenwert von 0,34 Prozent festgelegt werden, das heisst die Prü-

fung der Auslösung der Schutzklausel würde bei einem jährlichen Zuwachs der

Grenzgängerbeschäftigung um gerundet 0,4 Prozent und höher erfolgen.

Im Bereich des Arbeitsmarkts könnte eine starke Zunahme der Arbeitslosigkeit, wie

sie in der Vergangenheit etwa nach Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise im

Jahr 2009 oder der Covid-Krise im Jahr 2020 zu beobachten war, als Auslöser festge-

legt werden. Konkret könnte die Veränderung der Arbeitslosigkeit auf nationaler

Ebene im Vergleich zum Vorjahr herangezogen werden. Gemessen würde hier nicht

nur die Veränderung der Arbeitslosigkeit von Staatsangehörigen der EU-

Mitgliedstaaten, sondern der allgemeinen Arbeitslosigkeit in der Schweiz, da diese

ein verlässlicher Krisenindikator ist. Bei der Arbeitslosigkeit dürfte es schwieriger

sein, einen direkten Zusammenhang zwischen der Anwendung des FZA und der Zu-

nahme der Arbeitslosigkeit zu belegen. Dies rechtfertigt einen höheren Schwellen-

wert. Der Schwellenwert könnte beispielswies auf 30 Prozent festgesetzt werden.

Nimmt die Arbeitslosigkeit in einem Jahr um mehr als 30 Prozent zu, so müsste die

Prüfung der Schutzklausel erfolgen.

Es besteht ein Kostenrisiko für die Kantone und Gemeinden, wenn die Sozialhilfe-

kosten als Folge der Anwendung des FZA zunehmen. Der Bundesrat soll deshalb die

Anwendung der Schutzklausel auch dann prüfen, wenn eine starke Zunahme des So-

zialhilfebezugs durch Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten beobachtet wird.

Hierfür könnte die Zunahme der Anzahl Sozialhilfebeziehenden mit Staatsangehörig-

keit der EU-Mitgliedstaaten auf gesamtschweizerischer Ebene herangezogen werden.

Der Schwellenwert könnte beispielsweise auf 12 Prozent festgelegt werden.

Die Schwellenwerte, welche gemäss den Beispielen oben zu einer Prüfung der

Schutzklausel geführt hätten, wären im Zeitraum 2011 bis 2023 insgesamt viermal

erreicht worden (2011 und 2022 bei der Grenzgängerbeschäftigung, 2013 bei der Net-

tozuwanderung und 2020 bei der Arbeitslosigkeit, siehe nachfolgende Tabelle

2.3.8.1.1[1]).

Tabelle 2.3.8.1.1 (1): Berechnung der jährlichen nationalen Schwellenwerte seit

2002

Jahr

EU-

Nettozuwande-

rung (%)

EU-

Grenzgängerbe-

schäftigung (%)

Veränderung der

Arbeitslosigkeit

(%)

Veränderung des

Sozialhilfebezugs

von

EU-Staats-

angehörigen (%)

2002

0,2

n/a

+50

n/a

2003

0,3

n/a

+45

n/a

2004

0,3

n/a

+5

n/a

2005

0,3

n/a

-3

n/a

296 / 931

2006

0,4

n/a

-11

n/a

2007

0,7

n/a

-17

-4

2008

0,9

n/a

-7

-3

2009

0,6

n/a

+44

+7

2010

0,5

n/a

+4

+4

2011

0,7

0,4

-19

+6

2012

0,7

0,3

+2

+11

2013

0,8

0,2

+9

+6

2014

0,7

0,2

0

+4

2015

0,6

0,2

+4

+2

2016

0,5

0,2

+5

+2

2017

0,4

0,2

-4

0

2018

0,3

0,1

-17

-4

2019

0,4

0,2

-9

-4

2020

0,5

0,0

+36

-1

2021

0,4

0,3

-6

-6

2022

0,6

0,4

-28

-7

2023

0,7

0,2

-6

0

2024

0,6

0,2

+20

Quelle: Statistik der Bevölkerung und der Haushalte des BFS (STATPOP) und Aus-

länderstatistik 2024 des SEM für die Nettozuwanderung, Grenzgängerstatistik des

BFS (GGS) und Statistik der Unternehmensstruktur des BFS (STATENT) für die

Grenzgängerrate, Arbeitsmarktstatistik des SECO für die Arbeitslosigkeit, Sozialhil-

festatistik (ausländische Sozialhilfebeziehende und Sozialhilfequote der wirtschaftli-

chen Sozialhilfe) des BFS für den Sozialhilfebezug.

297 / 931

Erläuterungen zur Berechnung der jährlichen Schwellenwert in der Tabelle 2.3.8.1.1

(1): Bei der EU-Nettozuwanderung wird der jährliche Wanderungssaldo ins Verhält-

nis gesetzt zur gesamten ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz zu Jahresbeginn.

Die Zuwachsrate der EU-Grenzgängerbeschäftigung wird berechnet, indem die Ver-

änderung des Grenzgängerbestands ins Verhältnis zur Anzahl der Beschäftigten ge-

mäss Statistik der Unternehmensstruktur (STATENT) des Vorjahres gesetzt wird. Für

das Jahr 2024 wird die Veränderung des Grenzgängerbestands zur Beschäftigung des

vorletzten Jahres (2022) ins Verhältnis gesetzt, da noch kein Wert für 2023 aus der

STATENT vorliegt. Bei der Veränderung der Arbeitslosigkeit wird die jährliche Ver-

änderung der Anzahl aller gemeldeten arbeitslosen Personen in der Schweiz gemäss

SECO betrachtet. Beim Sozialhilfebezug wird die jährliche Veränderung der Anzahl

Sozialhilfebeziehender mit Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaates berechnet.

Bei der Grenzgängerrate und bei der Veränderung des Sozialhilfebezugs sind Zahlen

gemäss obiger Definition erst ab 2011, resp. 2007 verfügbar. Im Rahmen der Erarbei-

tung des Monitorings zur Schutzklausel wird geprüft, welche Statistiken geeignet

sind, um zeitnah und verlässlich die Schwellenwerte aus der Schutzklausel zu über-

wachen (s. Ziff. 2.3.7.3.1).

Abs. 6

Im Absatz 6 wird festgehalten, welche Schutzmassnahmen beziehungsweise Aus-

gleichsmassnahmen der Bundesrat ergreifen kann: Bestimmte Zulassungsvorausset-

zungen nach den Artikeln 18–29 AIG und die Abweichungen nach 30 AIG können

auch für Personen angewendet werden, für die das FZA zur Anwendung kommt (Fest-

legung von Höchstzahlen, Schaffung eines Vorrangs der inländischen Arbeitskräfte,

Kontrolle der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie Bedingungen für die Zulassung

von Nichterwerbstätigen). Zudem kann als Schutzmassnahme bei unfreiwilliger Ar-

beitslosigkeit der Entzug des Aufenthaltsrechts in Abweichung von Artikel 61

a

VE-

AIG vorgesehen werden. Weiter soll es möglich sein, die Dauer der Stellensuche ein-

zuschränken und die Einhaltung der Aufenthaltsvoraussetzungen für einen vorgese-

henen Aufenthalt von mehr als drei Monaten bereits zum Zeitpunkt der Einreise zu

prüfen.

Bei den vorgeschlagenen Schutzmassnahmen handelt es sich um Massnahmen, die

grösstenteils im AIG bereits für Drittstaatsangehörige vorgesehen sind. Damit kann

die Schutzklausel bei ihrer Anrufung in kurzer Zeit ihre Wirkung entfalten, ohne den

Gesetzgebungsprozess durchlaufen zu müssen. Die Massnahmen «Beschränkung der

Dauer der Stellensuche und frühere Prüfung der Aufenthaltsvoraussetzungen» sind

nicht im AIG vorgesehen, sind aber genügend bestimmt, damit der Bundesrat diese

Massnahmen in einer gesetzesvertretenden Verordnung erlassen kann.

Die aufgeführten Schutzmassnahmen sind alle geeignet, ernsthafte wirtschaftliche

oder soziale Schwierigkeiten der Schweiz abzufedern und einzugrenzen. Zum Bei-

spiel kann mit der Festlegung von Höchstzahlen und der Schaffung eines Inländervor-

rangs die Zuwanderung gebremst und damit Schwierigkeiten in verschiedenen Berei-

chen (z.B. Wohnungswesen) entgegengewirkt werden. Mit der Kontrolle der Lohn-

und Arbeitsbedingungen sowie mit dem Erlöschen des Aufenthaltsrechts bei unfrei-

williger Arbeitslosigkeit werden hingegen vor allem wirtschaftliche Schwierigkeiten

wie die Belastung der Sozialhilfe und Sozialversicherungen entgegengewirkt. Diese

298 / 931

letzteren Massnahmen zielen auf Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die sich

bereits in der Schweiz aufhalten.

Abs. 7

Die Massnahmen nach Absatz 6 müssen Rechte nach dem FZA betreffen, geeignet

sein und zeitlich und in ihrem Umfang begrenzt sein. Die geplanten Schutzmassnah-

men müssen ausserdem angemessen sein und in direktem Zusammenhang mit der Be-

seitigung der Probleme im Sinne von Absatz 1 stehen. FZA-kompatible Massnahmen

zur Behebung eines Problems sind vorgängig zu prüfen und gegebenenfalls als mil-

dere Massnahme zu bevorzugen. Der Bundesrat kann nationale, oder auch regionale

(ein oder mehrere Kantone) und branchenspezifische Schutzmassnahmen treffen,

wenn die Prüfung aufzeigt, dass die Anwendung des FZA nicht auf nationaler Ebene

zu schwerwiegenden Problemen führt, sondern der Zusammenhang nur in einer Re-

gion oder einer Wirtschaftsbranche besteht. Dadurch dürfte die entsprechende Schutz-

massnahme auch als verhältnismässig gelten.

Abs. 8

Sollten die Massnahmen nach Absatz 6 nicht genügen oder werden andere Massnah-

men in Abweichung des FZA, die eine Gesetzesänderung erfordern, z.B. in den Be-

reichen des Arbeitsmarktes, der sozialen Sicherheit oder des Wohnungswesens oder

des Verkehrs als notwendig erachtet, so unterbreitet der Bundesrat der Bundesver-

sammlung zusätzliche oder andere Massnahmen, falls notwendig im dringlichen Ver-

fahren (Art. 165 BV).

Abs. 9

Der Bundesrat hört die zuständigen parlamentarischen Kommissionen, die Kantone

und die Sozialpartner vor dem Stellen eines Antrags gemäss Absatz 1, vor dem Er-

greifen von Schutzmassnahmen oder Ausgleichsmassnahmen nach den Absätzen 1-4

oder wenn er beabsichtigt, auf das Stellen eines Antrags gemäss Absatz 1 trotz Über-

schreitung eines nach Absatz 5 zweiter Satz festgelegten Schwellenwertes zu verzich-

ten an.

Abs. 10

Ausserdem soll jedem Kanton die Möglichkeit gegeben werden, dem Bundesrat zu

beantragen, die Aktivierung der Schutzklausel zu prüfen, wenn im Kanton schwer-

wiegende wirtschaftliche oder soziale Probleme vorliegen. Die Auswirkungen des

FZA sind regional sehr unterschiedlich. Dies zeigt sich in der Nettozuwanderung und

insbesondere auch in der Grenzgängerbeschäftigung. Gewisse Grenzkantone weisen

dabei überproportional hohe Grenzgängerzahlen im Vergleich zum Rest der Schweiz

auf. Dementsprechend können auch Schwierigkeiten bei der Anwendung des FZA

regional begrenzt sein. Um dieser besonderen Situation der Grenzkantone Rechnung

zu tragen, wird als Schwellenwert unter anderem auch die Zunahme der Grenzgän-

gerbeschäftigung vorgesehen (siehe Abs. 5).

Ein solches Antragsrecht für die Kantone umfasst die Möglichkeit bei Bedarf und mit

entsprechender Begründung dem Bundesrat zu beantragen, das Verfahren zur Akti-

vierung der Schutzklausel auszulösen, deren Schutzmassnahmen auf einen oder meh-

rere Kantone beschränkt sind. Ist einer der nationalen Schwellenwerte erreicht, führt

der Antrag zu einer obligatorischen Prüfung der Aktivierung der Schutzklausel. Zwar

299 / 931

hat der Bundesrat gemäss Artikel 21

b

Absatz 5 VE-AIG ohnehin die Pflicht, in diesen

Fällen die Aktivierung der Schutzklausel zu prüfen. Der Mehrwert des Antragsrechts

der Kantone besteht jedoch darin, dass sie vorschlagen können, auch kantonal oder

regional beschränkte Schutzmassnahmen einzuführen, indem sie nachweisen, dass auf

ihrem Gebiet besondere, ernsthafte wirtschaftliche oder soziale Schwierigkeiten vor-

liegen, die auf die Anwendung des FZA zurückzuführen sind. Der Bundesrat bleibt

aber auch bei einem entsprechenden kantonalen Antrag frei, schweizweite Schutz-

massnahmen zu ergreifen. Ist kein nationaler Schwellenwert überschritten, kann der

Bundesrat gestützt auf einen kantonalen Antrag ebenfalls eine Prüfung der Aktivie-

rung der Schutzklausel vornehmen. Bestehen starke Hinweise auf eine besondere kan-

tonale Problematik, beispielsweise gestützt auf weitere Indikatoren, kann sich eine

solche Prüfung aufdrängen, der Bundesrat behält indes einen Ermessenspielraum.

Art. 41c

Sozialhilfe von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EU oder

der EFTA

Allgemeines

Der Ausschluss von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EU oder der EFTA

und deren Familienangehörigen von der Sozialhilfe ist heute in Artikel 29

a

AIG ge-

regelt, soweit diese sich lediglich zum Zweck der Stellensuche in der Schweiz aufhal-

ten, und in Artikel 61

a

AIG im Falle einer unfreiwilligen Beendigung des Arbeitsver-

hältnisses vor Ablauf der ersten zwölf Monate des Aufenthalts.

Artikel 41

c

VE-AIG übernimmt den Inhalt der Artikel 29

a

und 61

a

AIG für Staats-

angehörige der Mitgliedstaaten der EU und der EFTA (Abs. 1 Bst. a und d). Zusätz-

lich sieht er zwei neue Situationen vor, die zu einem Sozialhilfeausschluss führen und

ausschliesslich Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten betreffen (Abs. 1 Bst. b und

c). Diese Bestimmung stützt sich auf Artikel 121 Absatz 1 BV (s. Ziff. 2.3.10.2.3).

Aus Gründen der Systematik ist es sinnvoll, diese Bestimmung im 6. Kapitel des AIG

(«Regelung des Aufenthalts») zu integrieren, da sie nicht die «Zulassungsvorausset-

zungen» im Sinne des 5. Kapitels betrifft. Vielmehr regelt sie die Rechte und Pflichten

von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EU und der EFTA während ihres Auf-

enthalts, in erster Linie den Sozialhilfeausschluss.

Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der EU oder der EFTA, die von ihrem Anspruch

auf Ausübung einer Erwerbstätigkeit in der Schweiz Gebrauch machen, ohne ihren

Wohnsitz im Ausland aufzugeben (Grenzgängerinnen und Grenzgänger), erhalten

ausschliesslich in ihrem Wohnsitzstaat Sozialhilfeleistungen (s. Art. 20 des Bundes-

gesetzes vom 24. Juni 1977

302

über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürfti-

ger und Art. 70 Abs. 4 der Verordnung [EG] Nr. 883/2004

303

). Es ist daher nicht not-

wendig, sie in dieser Bestimmung ausdrücklich auszuschliessen.

Abs. 1

302

SR

851.1

303

SR

0.831.109.268.1

300 / 931

Der Klarheit halber wurde die in den Artikeln 29

a

und 61

a

AIG verwendete Formu-

lierung im Sinne eines «Nichtbestehens eines Sozialhilfeanspruchs» durch den «So-

zialhilfeausschluss» ersetzt. Dadurch kommt der von der Schweiz im Bereich der So-

zialhilfe für bestimmte Personenkategorien verfolgte restriktive Ansatz deutlicher

zum Ausdruck.

Bst. a

Gemäss Artikel 24 Absatz 2 der Richtlinie 2004/38/EG ist die Schweiz nicht ver-

pflichtet, Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten, die weder Arbeitnehmende noch

Selbstständige sind beziehungsweise denen dieser Status nicht erhalten bleibt, und

ihren Familienangehörigen während der Stellensuche nach den ersten drei Monaten

des Aufenthalts (Art. 6) einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren, sofern sie nach-

weisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und dass sie eine begründete Aus-

sicht haben, eingestellt zu werden (Art. 14 Abs. 4 Bst. b).

Obwohl dies aus Artikel 24 Absatz 2 der Richtlinie 2004/38/EG nicht klar hervorgeht,

präzisiert die Europäische Kommission, dass die Richtlinie zulässt, dass sowohl Ar-

beitsuchende, die noch nicht im Aufnahmemitgliedstaat gearbeitet haben, als auch

jene, die zuvor beschäftigt waren, aber das Recht auf Daueraufenthalt noch nicht er-

worben haben und denen der Status als Erwerbstätige im Aufnahmestaat nicht erhal-

ten bleibt, von der Sozialhilfe ausgeschlossen werden können (s. Punkt iii).

304

Buchstabe a betrifft Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die anfänglich zum

Zweck der Stellensuche in die Schweiz einreisen oder die nach dem Verlust des Status

als Erwerbstätige eine Stelle suchen, sowie ihre Familienangehörigen. Im Gegensatz

zu Artikel 29

a

AIG sind nicht allgemein Ausländerinnen und Ausländer betroffen, da

die Zulassung von Staatsangehörigen von Drittstaaten einzig zum Zweck der Stellen-

suche in der Schweiz im AIG nicht geregelt ist.

Die Gemeinsame Erklärung über die Verweigerung der Sozialhilfe und die Aufent-

haltsbeendigung vor Erwerb des Daueraufenthalts präzisiert, dass die persönliche Si-

tuation der Staatsangehörigen von EU-Mitgliedstaaten und ihrer Familienangehörigen

in einem solchen Fall nicht einzeln geprüft werden muss.

305

Bst. b

Nach Artikel 6 der Richtlinie 2004/38/EG haben Staatsangehörige der EU-

Mitgliedstaaten das Recht auf Aufenthalt in der Schweiz während eines Zeitraums

von bis zu drei Monaten, wobei sie lediglich im Besitz eines gültigen Personalauswei-

ses oder Reisepasses sein müssen und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu er-

füllen oder Formalitäten zu erledigen brauchen. Ihre Familienangehörigen aus Dritt-

staaten, die sie begleiten oder ihnen nachziehen, müssen lediglich im Besitz eines

gültigen Reisepasses sein.

304

Ziff. 11.1.3 der Bekanntmachung der Kommission C/2023/8500 – Leitfaden zum Freizü-

gigkeitsrecht der Unionsbürger und ihrer Familien, ABl. C, C/2023/1392, 22.12.2023 un-

ter: https://eur-lex.europa.eu/homepage.html > Suche > 52023XC01392.

305

Siehe Änderungsprotokoll vom xx.xx.2025 zum Abkommen zwischen der Schweizeri-

schen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mit-

gliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit, Gemeinsame Erklärung über die Verwei-

gerung der Sozialhilfe und die Aufenthaltsbeendigung vor Erwerb des Daueraufenthalts.

301 / 931

Während dieser drei Monate können Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die

nicht als Arbeitnehmende oder Selbstständige gelten oder diesen Status beibehalten,

und ihre Familienangehörigen von der Sozialhilfe ausgeschlossen werden (Art. 24

Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG).

Buchstabe b hält ausdrücklich fest, dass Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die

sich ohne Status als Erwerbstätige in der Schweiz aufhalten, sowie ihre Familienan-

gehörigen während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts keinen Anspruch auf So-

zialhilfe haben. Damit macht der Gesetzgeber von einer in Artikel 24 Absatz 2 der

Richtlinie 2004/38/EG vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch. Diesen bedingungslo-

sen Anspruch auf einen Aufenthalt in der Schweiz während bis zu drei Monaten gibt

es im EFTA-Übereinkommen nicht, weshalb der Sozialhilfeausschluss auch nicht auf

die Staatsangehörigen der EFTA-Mitgliedstaaten erweitert werden muss (

Status quo

).

Buchstabe b soll die Attraktivität der Schweiz als Zuwanderungsland senken und stellt

somit ein mit der Migrationspolitik vereinbares Instrument zur Steuerung der Zuwan-

derung dar. Er betrifft nur Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten bei ihrer Ankunft

in der Schweiz und gilt für einen begrenzten Zeitraum von drei Monaten. Oft werden

die betroffenen Personenkategorien bereits auf kantonsrechtlicher Ebene von der So-

zialhilfe ausgeschlossen (z. B. Touristinnen und Touristen, Studierende), da sie für

die kurze Aufenthaltszeit in der Regel keinen Wohnsitz in der Schweiz haben. Der

Ausschluss von der Sozialhilfe hat also begrenzte materielle und zeitliche Auswirkun-

gen und lässt den Kernbereich der kantonalen Sozialhilfekompetenz unberührt

(Art. 115 BV i. V. m. Art. 121 Abs. 1 BV; s. auch Ziff. 2.3.10.2.3).

Die Gemeinsame Erklärung über die Verweigerung der Sozialhilfe und die Aufent-

haltsbeendigung vor Erwerb des Daueraufenthalts präzisiert, dass die persönliche Si-

tuation in einem solchen Fall nicht einzeln geprüft werden muss (s. Punkt i).

306

Bst. c

Nach Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 2004/38/EG haben nichterwerbs-

tätige Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten (z. B. Pensionierte, Studierende, Ren-

tenbeziehende) das Recht auf Aufenthalt in der Schweiz, wenn sie für sich und ihre

Familienangehörigen über ausreichende Mittel verfügen, sodass sie während ihres

Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen der Schweiz in Anspruch nehmen müssen. Im

Gegensatz zur Richtlinie 2004/38/EG sieht das EFTA-Übereinkommen den automa-

tischen Verlust des Aufenthaltsrechts vor, wenn die finanziellen Voraussetzungen

nicht mehr erfüllt sind (Art. 23 Abs. 8 Anhang K Anlage 1), weshalb dieser Aus-

schluss auch nicht auf Staatsangehörige der EFTA-Mitgliedstaaten erweitert werden

muss (

Status quo

).

Buchstabe c regelt den Sozialhilfeausschluss für Staatsangehörige der EU-

Mitgliedstaaten, die sich ohne Status als Erwerbstätige in der Schweiz aufhalten, da

ihr Aufenthaltsrecht davon abhängt, dass sie über ausreichende finanzielle Mittel ver-

306

Siehe Änderungsprotokoll vom xx.xx.2025 zum Abkommen zwischen der Schweizeri-

schen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mit-

gliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit, Gemeinsame Erklärung über die Verwei-

gerung der Sozialhilfe und die Aufenthaltsbeendigung vor Erwerb des Daueraufenthalts.

302 / 931

fügen (Art. 7 Abs. 1 Bst. b und 14 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG zur Aufrechter-

haltung des Aufenthaltsrechts). Dieser Sozialhilfeausschluss ist also eine Folge der

Voraussetzung, über genügend finanzielle Mittel zu verfügen. Wenn eine nichter-

werbstätige Person in der Schweiz um Sozialhilfeleistungen ersucht, nimmt die für

die Ausrichtung dieser Leistungen zuständige Behörde eine individuelle Prüfung vor

(s. Punkt ii,

a contrario

).

In Übereinstimmung mit dem FZA präzisiert Buchstabe c im zweiten Teil, dass die

Kantone die Ausnahmen festlegen und zum Beispiel punktuelle oder kurzfristige fi-

nanzielle Unterstützungen zur Bewältigung spezifischer Situationen gewähren kön-

nen. Darüber hinaus ist zu erwähnen, dass betroffene Personen trotz dem Sozialhil-

feausschluss ein Anrecht auf Nothilfe haben, denn dieses Grundrecht auf

Existenzsicherung erstreckt sich auf alle Personen, unabhängig davon, welchen auf-

enthaltsrechtlichen Status sie haben (Art. 12 BV)

307

.

Buchstabe c soll die Attraktivität der Schweiz als Zuwanderungsland senken und stellt

somit ein mit der Migrationspolitik vereinbares Instrument zur Steuerung der Zuwan-

derung dar. Er betrifft nur Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die sich ohne

Status als Erwerbstätige in der Schweiz aufhalten und für sich und ihre Familienan-

gehörigen nicht oder nicht mehr über ausreichende finanzielle Mittel verfügen.

308

Die

Regelung hat also begrenzte materielle und zeitliche Auswirkungen und lässt den

Kernbereich der kantonalen Sozialhilfekompetenz unberührt (Art. 115 BV i. V. m.

Art. 121 Abs. 1 BV; s. auch Ziff. 2.3.10.2.3). Diese Personen haben in der Regel be-

reits auf kantonsrechtlicher Ebene keinen Anspruch auf Sozialhilfe.

Bst. d

Nach Artikel 2 Absatz 1 Anhang K Anlage 1 des EFTA-Übereinkommens können

Staatsangehörige der EFTA-Mitgliedstaaten, die zum Zweck der Stellensuche in die

Schweiz einreisen oder nach Beendigung eines Arbeitsverhältnisses mit einer Dauer

von weniger als einem Jahr in der Schweiz bleiben, während der Dauer des Aufent-

haltes zu diesem Zweck von der Sozialhilfe ausgeschlossen werden.

Buchstabe d schliesst diese Personen entsprechend der im EFTA-Übereinkommen

vorgesehenen Möglichkeit explizit von der Sozialhilfe aus.

Im Übrigen wird auf die Ausführungen zu den Artikeln 29

a

und 61

a

AIG in der Bot-

schaft vom 4. März 2016

309

zur Änderung des Ausländergesetzes (Steuerung der Zu-

wanderung und Vollzugsverbesserungen bei den Freizügigkeitsabkommen) verwie-

sen.

Abs. 2

Bst. a

Artikel 41

c

VE-AIG bezieht sich auf Personen, die von ihrem Aufenthaltsrecht ledig-

lich zur Stellensuche (EU/EFTA) oder von ihrem Aufenthaltsrecht als Nichterwerbs-

tätige während bis zu drei Monaten (EU) oder während mehr als drei Monaten (EU)

Gebrauch machen.

307

BGE

121

I 367 E. 2d.

308

EuGH, Urteil vom 11. November 2014, Dano, C-333/13, EU:C:2014:2358.

309

BBl

2016

3007, 3053.

303 / 931

Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen, die das

Recht auf Daueraufenthalt erworben haben (neuer Art. 7

e

des FZA sowie Art. 16 und

17 der Richtlinie 2004/38/EG), sind von diesem Artikel nicht betroffen, da dieses

Recht, sobald es erworben ist, nicht unter die in Kapitel III der Richtlinie 2004/38/EG

aufgeführten Voraussetzungen für das Aufenthaltsrecht (Art. 6–15) fällt. Der Klarheit

halber präzisiert Absatz 2 Buchstabe a deshalb, dass Absatz 1 für sie nicht gilt.

Bst. b

Buchstabe b regelt die besondere Situation der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten

der EU oder der EFTA, die eine Niederlassungsbewilligung besitzen. Die Erteilung

und der Widerruf der Niederlassungsbewilligung richten sich ausschliesslich nach

dem AIG. Die Niederlassungsbewilligung wird unbefristet und ohne Bedingungen er-

teilt (Art. 34 AIG) und kann widerrufen werden, wenn die Ausländerin oder der Aus-

länder oder eine Person, für die sie oder er zu sorgen hat, dauerhaft und in erheblichem

Mass auf Sozialhilfe angewiesen ist (Art. 63 Abs. 1 Bst. c AIG). Der Widerruf muss

verhältnismässig sein (Art. 96 AIG). Da Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der EU

und der EFTA mit einer Niederlassungsbewilligung in einem gewissen Masse Sozi-

alhilfeleistungen beziehen können, ist Absatz 1 auf sie nicht anwendbar.

Abs. 3

Nach Artikel 16 Absatz 1 der Richtlinie 2004/38/EG haben Staatsangehörige der EU-

Mitgliedstaaten nach einem rechtmässigen und ununterbrochenen Aufenthalt von fünf

Jahren das Recht auf Daueraufenthalt in der Schweiz.

Für die Berechnung dieser Zeitdauer hält der neue Artikel 7

e

FZA fest, dass die

Schweiz beschliessen kann, Zeiträume von sechs Monaten oder mehr, in denen die

Person vollständig auf Sozialhilfe angewiesen ist, nicht zu berücksichtigen.

Absatz 3 schliesst gemäss der im aufdatierten FZA vorgesehenen Möglichkeit Zeit-

räume von sechs Monaten oder mehr, in denen Staatsangehörige der EU-

Mitgliedstaaten vollständig auf Sozialhilfe angewiesen sind, von dieser Berechnung

aus. Zum Begriff der Sozialhilfe wird auf die Normen der Schweizerischen Konferenz

für Sozialhilfe (SKOS)

310

und das Rundschreiben des SEM «Erläuterungen mit allge-

meinen Ausführungen zur Sozialhilfe»

311

verwiesen: So ist vollumfänglich von der

Sozialhilfe abhängig, wer nicht in der Lage ist, die materielle Grundsicherung aus

eigenen Mitteln zu decken und daher eine finanzielle Unterstützung bezieht. Ziel der

grundversorgenden Sozialhilfe ist die reine Existenzsicherung einer Person ohne wei-

tergehende fachliche Zielsetzungen wie Integration, Aus- und Weiterbildung oder Fa-

milienförderung usw.

310

www.skos.ch > SKOS-Richtlinien.

311

Rundschreiben des SEM vom 2. Februar 2021 «Erläuterungen mit allgemeinen Ausfüh-

rungen zur Sozialhilfe und zur Zustimmungspflicht beim Bezug von Sozialhilfe nach der

Verordnung des EJPD über das ausländerrechtliche Zustimmungsverfahren (ZV-EJPD)»

unter www.sem.admin.ch > Publikationen & Service > Weisungen und Kreisschreiben >

I. Ausländerbereich > 3 Aufenthaltsregelung > Anhang zu Ziffer 3.4.5 und Ziffer 8.11.

304 / 931

Art. 61a

Verlust des Status als Erwerbstätige und des Aufenthaltsrechts von

Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten

Das Ziel von Artikel 61

a

AIG, die Rechtsstellung der Staatsangehörigen der EU-

Mitgliedstaaten bei Beendigung der selbstständigen oder unselbstständigen Erwerbs-

tätigkeit zu regeln, ist nach wie vor gegeben. Der Artikel muss jedoch totalrevidiert

werden, um den Änderungen aus der (Teil-)Übernahme der Richtlinie 2004/38/EG

Rechnung zu tragen. Die Verweise im geltenden Absatz 1 auf die Kurzaufenthaltsbe-

willigung und das Aufenthaltsrecht sind nicht mehr relevant, die Absätze 2, 3 und 4

stehen im Widerspruch zur Richtlinie 2004/38/EG bezüglich der Aufrechterhaltung

des Status als Erwerbstätige, und Situationen nach Absatz 5 sind in der Richtli-

nie 2004/38/EG bereits klar geregelt (vorübergehende Arbeitsunfähigkeit durch Art. 7

Abs. 3 Bst. a und das aktuell geltende Verbleiberecht durch Art. 17 der Richtli-

nie 2004/38/EG).

Betroffen sind hier Erwerbstätigkeiten, die im Aufnahmestaat ausgeübt werden, un-

abhängig von deren Art (selbstständig oder unselbstständig) und von der Art des ge-

schlossenen Arbeitsvertrags

312

, solange es sich um tatsächliche und echte Tätigkeiten

handelt, wobei solche Tätigkeiten ausser Betracht bleiben, die einen so geringen Um-

fang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen

313

.

Personen, die das Recht auf Daueraufenthalt erworben haben oder eine Niederlas-

sungsbewilligung besitzen, verlieren ihren Status als Erwerbstätige, nicht aber ihr

Recht auf Daueraufenthalt oder ihre Niederlassungsbewilligung. Denn das Recht auf

Daueraufenthalt unterliegt nicht den Voraussetzungen nach Kapitel III der Richtli-

nie 2004/38/EG (Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG), und die Niederlassungs-

bewilligung wird unbefristet und ohne Bedingungen erteilt (Art. 34 Abs. 1 AIG).

Abs. 1

Nach Artikel 7 Absatz 3 Buchstabe c der Richtlinie 2004/38/EG bleibt bei Staatsan-

gehörigen der EU-Mitgliedstaaten die Erwerbstätigeneigenschaft während mindes-

tens sechs Monaten erhalten, wenn sie sich bei ordnungsgemäss bestätigter unfreiwil-

liger Arbeitslosigkeit nach Ablauf ihres auf

weniger als ein Jahr

befristeten

Arbeitsvertrags oder bei im Laufe der

ersten zwölf Monate

eintretender unfreiwilliger

Arbeitslosigkeit dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung stellen. Das Aufenthalts-

recht steht ihnen zu, solange sie diese Voraussetzungen erfüllen (Art. 14 Abs. 2 der

Richtlinie 2004/38/EG).

Der Absatz 1 regelt den Verlust des Status als Erwerbstätige und des damit verbunde-

nen Aufenthaltsrechts von mehr als drei Monaten gemäss dem FZA

de lege

, wenn die

selbstständige oder unselbstständige Erwerbstätigkeit während höchstens zwölf Mo-

naten ausgeübt wurde (s. EuGH-Urteil Gusa

314

).

Wenn die Person sich nicht als Stellensuchende beim zuständigen Arbeitsamt anmel-

det, erlischt ihr Aufenthaltsrecht als selbstständig oder unselbstständig erwerbstätige

Person mit Beendigung der Erwerbstätigkeit. Wenn sie sich anmeldet, erlischt es

312

EuGH, Urteil vom 11. April 2019, Tarola, C‑483/17, EU:C:2019:309, Rn 48.

313

EuGH, Urteil vom 23. März 1982, Levin, C-53/81, EU:C:1982:105, Rn 17.

314

EuGH, Urteil vom 20. Dezember 2017, Gusa, C-422/16, EU:C:2017:1004, Rn 36.

305 / 931

sechs Monate nach der Beendigung der Erwerbstätigkeit. Damit macht der Gesetzge-

ber vom Handlungsspielraum der Richtlinie 2004/38/EG («mindestens sechs Mo-

nate») Gebrauch.

Die persönliche Situation muss jeweils nicht im Einzelfall beurteilt werden.

Abs. 2

Nach Artikel 7 Absatz 3 Buchstabe b der Richtlinie 2004/38/EG bleibt Staatsangehö-

rigen der EU-Mitgliedstaaten die Erwerbstätigeneigenschaft erhalten, wenn sie sich

bei ordnungsgemäss bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach

mehr als einjäh-

riger

Beschäftigung dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung stellen.

Absatz 2 regelt den Verlust des Status als Erwerbstätige und des damit verbundenen

Aufenthaltsrechts von mehr als drei Monaten gemäss dem FZA

de lege

, wenn die

selbstständige oder unselbstständige Erwerbstätigkeit im Zeitpunkt der unfreiwilligen

Arbeitslosigkeit während mehr als zwölf Monaten ausgeübt wurde.

Buchstabe a regelt den Fall, in dem Staatsangehörige der EU-

Mitgliedstaaten sich nicht innerhalb der vom Bundesrat festgelegten Frist

als Stellensuchende beim zuständigen Arbeitsamt melden.

Buchstabe b bezieht sich auf den Fall, in dem Staatsangehörige der EU-

Mitgliedstaaten nicht vorhaben, ernsthaft und in gutem Glauben mit dem

zuständigen Arbeitsamt zusammenzuarbeiten, um innerhalb eines angemes-

senen Zeitraums eine Stelle zu finden.

Buchstabe c betrifft den Fall, in dem für Staatsangehörige der EU-

Mitgliedstaaten nach einem längeren Zeitraum ohne Erwerbstätigkeit (ein

bis zwei Jahre Arbeitslosenentschädigung + sechs Monate) objektiv be-

trachtet keine realistische Aussicht mehr darauf besteht, eine neue Stelle zu

finden. In diesem Fall verfehlt die Zusammenarbeit das Ziel, innerhalb eines

angemessenen Zeitraums eine Stelle zu finden.

315

Bevor der Verlust des

Status als Erwerbstätige und des Aufenthaltsrechts festgestellt wird (Fest-

stellungsverfügung über das Nichtbestehen von Rechten, Art. 5 Abs. 1

Bst. b VwVG), hört die Behörde die Person an (Art. 30 Abs. 1 VwVG).

Diese muss glaubhaft machen, dass Aussicht darauf besteht, in absehbarer

Zeit eine neue Stelle zu finden, auch wenn die Situation dies nicht vermuten

lässt, sodass die Behörde die individuelle Situation der Person berücksich-

tigen kann.

Art. 61b

Erlöschen des Aufenthaltsrechts von Staatsangehörigen der EFTA-

Mitgliedstaaten

Die Bestimmungen des bisherigen Artikels 61

a

AIG sind für EFTA-Staatsangehörige

weiterhin gültig. Ihr Inhalt wird daher im neuen Artikel 61

b

VE-AIG übernommen

315

Siehe Änderungsprotokoll vom xx.xx.2025 zum Abkommen zwischen der Schweizeri-

schen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mit-

gliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit, Gemeinsame Erklärung über die Verwei-

gerung der Sozialhilfe und die Aufenthaltsbeendigung vor Erwerb des Daueraufenthalts.

306 / 931

und entsprechend angepasst (kein Verweis mehr auf die Staatsangehörigen der EU-

Mitgliedstaaten). Einzig der Sozialhilfeausschluss nach unfreiwilliger Beendigung

des Arbeitsverhältnisses in den ersten zwölf Monaten des Aufenthalts ist künftig in

Artikel 41

c

VE-AIG geregelt, der die Sozialhilfe betreffend Staatsangehörige der Mit-

gliedstaaten der EU oder der EFTA zum Gegenstand hat.

Im Übrigen wird auf die Ausführungen zum bisherigen Artikel 61

a

AIG der Botschaft

vom 4. März 2016

316

zur Änderung des Ausländergesetzes (Steuerung der Zuwande-

rung und Vollzugsverbesserungen bei den Freizügigkeitsabkommen) verwiesen.

Art.61c

Nichtbestehen oder Erlöschen des Aufenthaltsrechts von

Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten bei Rechtsmissbrauch

Nach Artikel 35 der Richtlinie 2004/38/EG kann die Schweiz die Massnahmen erlas-

sen, die notwendig sind, um die durch diese Richtlinie verliehenen Rechte (d. h. auch

das Recht auf Daueraufenthalt) im Falle von Rechtsmissbrauch oder Betrug – bei-

spielsweise durch Eingehung von Scheinehen – zu verweigern, aufzuheben oder zu

widerrufen.

Ein Rechtsmissbrauch liegt vor, wenn eine Person sich rechtliche Vorteile verschafft,

indem sie dem Anschein nach die Regeln einhält, ohne jedoch tatsächlich deren

Zweck zu verfolgen (s. EuGH-Urteil Emsland-Stärke

317

).

Der neue Artikel 61

c

VE-AIG beinhaltet eine nicht abschliessende Liste von rechts-

missbräuchlichen Situationen, die zur Feststellung des Nichtbestehens oder des Erlö-

schens des (Dauer-)Aufenthaltsrechts führen, wenn es in missbräuchlicher Weise gel-

tend gemacht wird. Diese Bestimmung gilt nicht für Staatsangehörige der EFTA-

Mitgliedstaaten.

Die zuständige Behörde entscheidet jeweils unter Berücksichtigung aller Umstände

im Einzelfall (Verhältnismässigkeitsprüfung; Art. 96 AIG).

Bst. b

Hier geht es um das missbräuchliche Erlangen von Vorteilen, die im Zusammenhang

mit dem Aufenthaltsrecht nach Artikel 7 der Richtlinie 2004/38/EG stehen (insb. So-

zialhilfeleistungen, Recht auf Daueraufenthalt), während der Wohnsitz im Herkunfts-

staat der EU beibehalten wird. Der Wohnsitz einer Person befindet sich in dem Land,

in dem sie die Absicht dauernden Verbleibens hat (s. Art. 23 des Zivilgesetzbu-

ches

318

).

Im Urteil 2C_5/2021 vom 2. Dezember 2021 legte das Bundesgericht die Vorausset-

zungen für die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA oder einer Grenz-

gängerbewilligung EU/EFTA näher dar. Es wurde festgehalten, dass eine erwerbstä-

tige Person für die Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltsbewilli-

gung EU/EFTA gewillt sein muss, sich in der Schweiz niederzulassen. Ist die be-

316

BBl

2016

3007 3054 ff.

317

EuGH, Urteil vom 14. Dezember 2000, Emsland-Stärke, C-110/99, EU:C:2000:695, Rn 52

und 53.

318

SR

210

307 / 931

troffene Person hingegen als Grenzgängerin oder Grenzgänger im Sinne des FZA tä-

tig, besteht der notwendige Wille zur Niederlassung in der Schweiz nicht und eine

allenfalls bestehende Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA muss widerrufen und durch

eine Grenzgängerbewilligung EU/EFTA ersetzt werden (Art. 23 VFP). Durch diese

nachträgliche Präzisierung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung wurde im Be-

reich des FZA Klarheit geschaffen (s. Ziff. 3.1.2 des erläuternden Berichts zur Ände-

rung des AIG «Erleichterung der selbstständigen Erwerbstätigkeit, Berücksichtigung

des Lebensmittelpunkts und Zugriffe auf Informationssysteme»

319

).

Mit der (teilweisen) Übernahme der Richtlinie 2004/38/EG ändert sich nichts am Ziel

des FZA. Die vorgängig genannte Rechtsprechung des Bundesgerichts behält also ihre

Relevanz und wird weiterhin

mutatis mutandis

angewendet. Es wird weiterhin zwi-

schen Personen, die sich in der Schweiz aufhalten, und Personen, die in der Schweiz

als Grenzgängerin oder Grenzgänger erwerbstätig sind, unterschieden (Art. 13

a

VE-

AIG).

Durch

diese

Unterscheidung

erhalten

Staatsangehörige

der

EU-

Mitgliedstaaten, die ihren Wohnsitz im Aufnahmestaat haben, dort auch gewisse

Rechte. Ohne Wohnsitz im Aufnahmestaat können sie sich nicht auf diese Rechte

(z. B. Verbleiberecht) berufen. Die beiden Personenkategorien lassen sich also durch

den Willen, sich in der Schweiz niederzulassen, unterscheiden.

Bst. c

Hier geht es um Aufenthalte von mehr als drei Monaten in der Schweiz, obwohl die

Voraussetzungen dafür nicht erfüllt sind (Status als Erwerbstätige oder ausreichende

finanzielle Mittel; s. Art. 7 der Richtlinie 2004/38/EG).

Nach Artikel 6 der Richtlinie 2004/38/EG haben Staatsangehörige der EU-

Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen das Recht auf Aufenthalt im Hoheits-

gebiet der Schweiz für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten, wobei sie lediglich

im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein müssen und ansons-

ten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen brauchen.

Dem EuGH zufolge müssen Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die ein neuer-

liches Aufenthaltsrecht nach Artikel 6 Absatz 1 der Richtlinie 2004/38/EG in An-

spruch nehmen möchten, das Hoheitsgebiet des Aufnahmestaats nicht nur physisch

verlassen, sondern auch ihren Aufenthalt im betreffenden Hoheitsgebiet tatsächlich

und wirksam beendet haben, sodass bei ihrer Rückkehr in dieses Hoheitsgebiet nicht

davon ausgegangen werden kann, dass ihr vorangegangener Aufenthalt in Wirklich-

keit ununterbrochen fortbesteht. Sie können nicht dazu verpflichtet werden, sich wäh-

rend eines Mindestzeitraums, beispielsweise von drei Monaten, ausserhalb des Auf-

nahmestaats aufzuhalten, um sich auf ein neuerliches Aufenthaltsrecht nach dem

genannten Artikel berufen zu können (EuGH-Urteil Staatssecretaris van Justitie en

Veiligheid

320

).

319

Erläuternder Bericht, abrufbar unter: https://www.sem.admin.ch/sem/de/home.html > Das

SEM > Laufende Rechtsetzungsprojekte > Änderung des Ausländer- und Integrationsge-

setzes (Erleichterung der selbstständigen Erwerbstätigkeit, Berücksichtigung des Lebens-

mittelpunkts und Zugriffe auf Informationssysteme).

320

EuGH, Urteil vom 22. Juni 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid, C-719/19,

EU:C:2021:506, Rn 81 und 89.

308 / 931

Wie im französischen Recht (s. Art. L251-1 Abs. 3 des

Code de l’entrée et du séjour

des étrangers et du droit d’asile

321

) soll diese Bestimmung daher verhindern, dass

Aufenthalte von weniger als drei Monaten aneinandergereiht werden mit dem Ziel,

im betreffenden Hoheitsgebiet zu verbleiben, obwohl die Voraussetzungen für einen

Aufenthalt von mehr als drei Monaten nicht erfüllt sind.

Bst. d

Hier geht es um Fälle, in denen der Anschein erweckt wird, eine (selbstständige oder

unselbstständige) Erwerbstätigkeit auszuüben, mit dem einzigen Ziel, die Lebens-

grundlagen mithilfe von Sozialleistungen zu finanzieren.

Das Bundesgericht hält fest, dass die Einreise in die Schweiz für eine fiktive bezie-

hungsweise zeitlich sehr kurze Erwerbstätigkeit mit dem Ziel, von vorteilhafteren So-

zialleistungen als im Heimat- oder einem anderen Mitgliedstaat der EU oder der

EFTA zu profitieren, als missbräuchlich bezeichnet werden kann.

322

Dies deckt sich

mit der Rechtsprechung des EuGH. In seinem Urteil Ninni-Orasche

323

befand das Ge-

richt, dass eine Situation, in der ein Staatsangehöriger eines EU-Mitgliedstaats eine

kurzfristige unselbstständige Erwerbstätigkeit mit dem einzigen Ziel ausgeübt hat, im

Aufnahmestaat in den Genuss von gewissen Unterstützungsleistungen zu kommen,

als rechtsmissbräuchlich betrachtet werden kann.

Art. 61d

Erlöschen des Aufenthaltsrechts von Staatsangehörigen der EU-

Mitgliedstaaten

Abs. 1

In der geltenden Version ist Artikel 61 Absatz 1 AIG nicht subsidiär (Art. 2 Abs. 2

VE-AIG) auf Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten anwendbar, die ein Aufent-

haltsrecht von mehr als drei Monaten gemäss dem FZA besitzen, da er sich auf das

Erlöschen von «Bewilligungen» bezieht, welche durch die Teilübernahme der Richt-

linie 2004/38/EG jedoch wegfallen. Auf ihre aus Drittstaaten stammenden Familien-

angehörigen ist er hingegen anwendbar, da diese über eine Aufenthaltskarte verfügen

(

Status quo

).

Dieser Absatz regelt das Erlöschen des Aufenthaltsrechts

de lege

. Bezüglich der Lan-

desverweisung sei auf den neuen Artikel 7

h

FZA verwiesen.

Abs. 2

In der geltenden Version ist Artikel 62 Absatz 1 AIG nicht subsidiär (Art. 2 Abs. 2

VE-AIG) auf Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten anwendbar, die ein Aufent-

haltsrecht von mehr als drei Monaten gemäss dem FZA besitzen, da er sich auf den

321

https://www.legifrance.gouv.fr/codes/texte_lc/LEGITEXT000006070158/2024-04-23 >

Partie législative (Articles L110-1 à L837-4) > Livre II: Dispositions applicables aux ci-

toyens de l'union européenne et aux membres de leur famille (Articles l200-1 à l286-2) >

Titre V: décisions d'éloignement (Articles L251-1 à L253-1) > Chapitre I: Obligation de

quitter le territoire français (Articles L251-1 à L251-8) > Section 1: Décision portant obli-

gation de quitter le territoire français (Articles L251-1 à L251-2).

322

S. BGE

131

II 339 E. 3.4 und

141

II 1 E. 2.2.1.

323

EuGH, Urteil vom 6. November 2003, Ninni-Orasche, C-413/01, ECLI:EU:C:2003:600,

Rn 41 und 46.

309 / 931

Widerruf von «Bewilligungen» bezieht, welche durch die Teilübernahme der Richtli-

nie 2004/38/EG jedoch wegfallen. Auf ihre aus Drittstaaten stammenden Familienan-

gehörigen ist er hingegen anwendbar, da diese über eine Aufenthaltskarte verfügen

(

Status quo

).

Absatz 2 regelt die Fälle, in denen die zuständige Behörde das Erlöschen des Aufent-

haltsrechts von mehr als drei Monaten feststellen kann. Sie muss dabei den allgemei-

nen Grundsätzen und den Verfahrensgarantien gemäss den Artikeln 27–33 der Richt-

linie 2004/38/EG Rechnung tragen (vorbehältlich Art. 28 Abs. 2 und 3; s. neuer

Art. 7

h

des FZA, der diese Ausnahme vorsieht).

Abs. 3

Mit dieser Ausschlussklausel soll ein Dualismus vermieden werden, indem es der zu-

ständigen Migrationsbehörde untersagt ist, eine Aufenthaltsbewilligung allein ge-

stützt auf ein Delikt, für das ein Strafgericht bereits eine Strafe verhängt, jedoch keine

Landesverweisung ausgesprochen hat, zu widerrufen (s. Botschaft vom 26. Juni

2013

324

zur Änderung des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzes [Umsetzung

von Art. 121 Abs. 3–6 BV über die Ausschaffung krimineller Ausländerinnen und

Ausländer]).

Art. 61e

Erlöschen, Verweigerung und Widerruf des Rechts auf

Daueraufenthalt

Abs. 1

In der geltenden Version ist Artikel 61 Absatz 1 AIG nicht subsidiär (Art. 2 Abs. 2

VE-AIG) auf Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten anwendbar, die ein Recht auf

Daueraufenthalt gemäss dem FZA besitzen, da er sich auf das Erlöschen von «Bewil-

ligungen» bezieht, welche durch die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG je-

doch wegfallen.

Dieser Absatz regelt das Erlöschen des Rechts auf Daueraufenthalt von Staatsange-

hörigen der EU-Mitgliedstaaten und aus Gründen der Kohärenz auch von ihren Fami-

lienangehörigen

de lege

. Das ist deshalb gerechtfertigt, weil dieses durch die Richtli-

nie 2004/38/EG eingeführte Recht eine Neuerung darstellt, für die es im Schweizer

Recht keine entsprechende Regelung gibt. Bezüglich der Landesverweisung sei auf

den neuen Artikel 7

h

des FZA verwiesen.

Was die Abwesenheiten während mehr als zwei aufeinanderfolgenden Jahren anbe-

langt, sollen einfache Kurzbesuche in der Schweiz nicht genügen, um die Frist zu

unterbrechen.

Abs. 2

In der geltenden Version ist Artikel 62 Absatz 1 AIG nicht subsidiär (Art. 2 Abs. 2

VE-AIG) auf Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten anwendbar, die ein Recht auf

Daueraufenthalt gemäss dem FZA besitzen, da er sich auf den Widerruf von «Bewil-

ligungen» bezieht, welche durch die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG je-

doch wegfallen.

324

BBl

2013

5975, 6046.

310 / 931

Absatz 2 regelt die Fälle, in denen die zuständige Behörde das Recht auf Daueraufent-

halt von Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten und aus den oben genannten Ko-

härenzgründen auch von ihren Familienangehörigen verweigern oder widerrufen

kann. Sie muss dabei den allgemeinen Grundsätzen und den Verfahrensgarantien ge-

mäss den Artikeln 27–33 der Richtlinie 2004/38/EG Rechnung tragen (vorbehältlich

Art. 28 Abs. 2 und 3; s. neuer Art. 7

h

des FZA, der diese Ausnahme vorsieht).

Abs. 3

Mit dieser Ausschlussklausel soll ein Dualismus vermieden werden, indem es der zu-

ständigen Migrationsbehörde untersagt ist, eine Aufenthaltsbewilligung allein ge-

stützt auf ein Delikt, für das ein Strafgericht bereits eine Strafe verhängt, jedoch keine

Landesverweisung ausgesprochen hat, zu widerrufen (s. Botschaft vom 26. Juni

2013

325

zur Änderung des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzes [Umsetzung

von Art. 121 Abs. 3–6 BV über die Ausschaffung krimineller Ausländerinnen und

Ausländer]).

Art. 64 Abs. 1 Bst. d

In der geltenden Version ist Artikel 64 Absatz 1 AIG nicht subsidiär (Art. 2 Abs. 2

VE-AIG) auf Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten anwendbar, die ein Aufent-

haltsrecht gemäss dem FZA besitzen, da er sich auf die ordentliche Wegweisungsver-

fügung gegenüber Ausländerinnen oder Ausländern bezieht, die nicht oder nicht mehr

in Besitz einer «Bewilligung» sind, welche durch die Teilübernahme der Richtli-

nie 2004/38/EG jedoch wegfällt. Auf ihre Familienangehörigen aus Drittstaaten ist er

hingegen anwendbar, da diese über eine Aufenthaltskarte (

Status quo

) oder eine Dau-

eraufenthaltskarte verfügen.

Buchstabe d regelt die Fälle, in denen die zuständige Behörde eine ordentliche Weg-

weisungsverfügung erlässt, wenn Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten ein Auf-

enthaltsrecht gemäss dem FZA (Art. 61

a

, 61

c

und 61

d

VE-AIG) oder ein Recht auf

Daueraufenthalt gemäss dem FZA (Art. 61

e

Abs.1 Bst. b–c und Abs. 2 Bst. c VE-

AIG) nicht oder nicht mehr geltend machen können.

Art. 64d Abs. 2 Bst. g

In der geltenden Version ist Artikel 64

d

Absatz 2 Buchstabe c AIG nicht subsidiär

(Art. 2 Abs. 2 VE-AIG) auf Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten anwendbar, die

ein Aufenthaltsrecht gemäss dem FZA besitzen, da er sich auf die Ablehnung offen-

sichtlich unbegründeter oder missbräuchlicher Gesuche um Erteilung einer «Bewilli-

gung» bezieht, welche durch die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG jedoch

wegfällt. Auf ihre Familienangehörigen aus Drittstaaten ist er hingegen anwendbar,

da diese über eine Aufenthaltskarte verfügen (

Status quo

).

Artikel 30 Absatz 3 der Richtlinie 2004/38/EG legt fest, dass die Frist zum Verlassen

des Hoheitsgebiets des Mitgliedstaats, ausser in ordnungsgemäss begründeten drin-

genden Fällen, mindestens einen Monat betragen muss.

325

BBl

2013

5975, 6046.

311 / 931

Buchstabe g regelt die Möglichkeit, eine Wegweisung sofort zu vollstrecken oder eine

Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen anzusetzen, wenn die zuständige Behörde

das Nichtbestehen des Aufenthaltsrechts gemäss dem FZA feststellt, da das geltend

gemachte Recht offensichtlich unbegründet oder missbräuchlich ist.

Absatz 2 Buchstaben a und b sind subsidiär auf Staatsangehörige der EU-

Mitgliedstaaten anwendbar, die ein Aufenthaltsrecht gemäss dem FZA besitzen.

Art. 97 Abs. 3 Bst. d

bis

, 4 und 5

Abs. 3 Bst. d

bis

Der ergänzte Buchstabe d

bis

verpflichtet die öffentliche Arbeitsvermittlung (öAV)

dazu, den Migrationsbehörden die öAV-Anmeldung sowie die Nichteinhaltung der

Bedingungen nach Artikel 24

a

AVG zu melden. Anhand der gemeldeten Daten kön-

nen die Migrationsbehörden den Status als (selbstständig oder unselbstständig) Er-

werbstätige der betreffenden Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EU oder der

EFTA beurteilen.

Der Bundesrat legt auf Verordnungsstufe die Modalitäten und den Umfang der zu

meldenden Daten fest.

Abs. 4

Absatz 4 wird dahingehend ergänzt, dass die Behörden nach Absatz 1 dem für die

Festsetzung und die Auszahlung der Ergänzungsleistung zuständigen Organ von Am-

tes wegen auch Entscheide melden, wonach Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten

nicht oder nicht mehr über ein Recht gemäss dem FZA verfügen, damit dieses eben-

falls die Ergänzungsleistung überprüfen kann, die es diesen Personen ausrichtet.

Abs. 5

Analog zum geltenden Absatz 4 legt Absatz 5 für die Behörden nach Absatz 1 eine

Meldepflicht gegenüber den Behörden, welche die Sozialleistungen ausrichten, fest.

Mit dieser Bestimmung können diese Behörden die Leistungsausrichtung überprüfen.

Entscheide, wonach Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten nicht oder nicht mehr

über ein Aufenthaltsrecht gemäss dem FZA verfügen, müssen ebenfalls von Amtes

wegen gemeldet werden.

Art. 99 Abs. 1

In der geltenden Version ist Artikel 99 Absatz 1 AIG nicht subsidiär (Art. 2 Abs. 2

VE-AIG) anwendbar, da Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die ein Aufent-

haltsrecht gemäss dem FZA besitzen, keine «Kurzaufenthalts-» oder «Aufenthaltsbe-

willigungen» mehr erhalten, welche durch die Teilübernahme der Richtli-

nie 2004/38/EG wegfallen. Auf ihre aus Drittstaaten stammenden Familienangehöri-

gen ist er hingegen anwendbar, da diese über eine Aufenthaltskarte verfügen (

Status

quo

).

Artikel 99 Absatz 1 wird dahingehend angepasst, dass Entscheide über das Bestehen

eines Aufenthaltsrechts oder eines Rechts auf Daueraufenthalt gemäss dem FZA dem

SEM zur Zustimmung unterbreitet werden können. Dabei handelt es sich zurzeit um

312 / 931

die Fälle nach Artikel 3 Absatz 6 (Zulassung von Kindern zum allgemeinen Unter-

richt sowie zur Lehrlings- und Berufsausbildung) und Artikel 4 (Verbleiberecht) von

Anhang I FZA (Art. 4 Bst. e und f der Verordnung des EJPD über das ausländerrecht-

liche Zustimmungsverfahren

326

). In der Richtlinie 2004/38/EG entspricht dies den Ar-

tikeln 12 und 13 (Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen

in gewissen Fällen wie bei Tod oder Scheidung) sowie 17 (Recht auf Daueraufenthalt

für Personen, die im Aufnahmemitgliedstaat aus dem Erwerbsleben ausgeschieden

sind, und ihre Familienangehörigen).

Art. 118 Abs.1

In der geltenden Version ist Artikel 118 Absatz 1 AIG nicht subsidiär (Art. 2 Abs. 2

VE-AIG) auf Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten anwendbar, die ein Aufent-

haltsrecht gemäss dem FZA besitzen, da er sich darauf bezieht, dass die Erteilung

einer «Bewilligung» erschlichen oder bewirkt wird, dass der Entzug einer «Bewilli-

gung» unterbleibt, welche durch die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG jedoch

wegfällt. Auf ihre Familienangehörigen aus Drittstaaten ist er hingegen anwendbar,

da diese über eine Aufenthaltskarte verfügen (

Status quo

).

Artikel 118 Absatz 1 wird angepasst, damit missbräuchliches Verhalten in Zusam-

menhang mit dem Aufenthaltsrecht und dem Recht auf Daueraufenthalt gemäss dem

FZA strafrechtlich sanktioniert werden kann.

Im Übrigen ist zu präzisieren, dass die Artikel 115 Absatz 1 Buchstabe b (illegaler

Aufenthalt) und 118 Absatz 2 AIG (Scheinehe) subsidiär auf Staatsangehörige der

EU-Mitgliedstaaten anwendbar bleiben.

Art. 120 Abs. 1 Bst. a

Wenn Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten ihre Anwesenheit nicht melden, kann

die Nichterfüllung dieser Meldepflicht nach Artikel 5 Absatz 5 der Richtli-

nie 2004/38/EG mit verhältnismässigen und nichtdiskriminierenden Sanktionen ge-

ahndet werden.

Nach Artikel 8 Absatz 2 und Artikel 9 Absatz 3 der Richtlinie 2004/38/EG kann die

Nichterfüllung der Verwaltungsformalitäten (Registrierung der Staatsangehörigen der

EU-Mitgliedstaaten und Beantragung einer Aufenthaltskarte für aus Drittstaaten

stammende Familienangehörige) mit verhältnismässigen und nichtdiskriminierenden

Sanktionen geahndet werden.

Diese Pflichten werden im neuen Artikel 13

a

VE-AIG für Staatsangehörige der EU-

Mitgliedstaaten geregelt.

Der bisherige Buchstabe a nennt zwei Verpflichtungen (An- und Abmeldepflicht) un-

ter Verweis auf die Artikel 10–16 AIG. Zusätzlich zu den genannten Pflichten betref-

fen diese Artikel ausserdem die Bewilligungspflicht bei Aufenthalt (Art. 10 und 11)

und die Meldepflicht bei gewerbsmässiger Beherbergung (Art. 16).

Vor diesem Hintergrund wird der Buchstabe a neu formuliert.

326

SR

142.201.1

313 / 931

Gemäss Artikel 21 Absatz 1 RHG sind die Kantone für den Erlass der notwendigen

Ausführungsbestimmungen für den Vollzug zuständig. Auf kantonaler Ebene sind

gleichwertige Sanktionen vorgesehen.

327

Art. 122d

Nichteinhaltung der Höchstdauer bei der grenzüberschreitenden

Dienstleistungserbringung

Einige Kantone sind mit Situationen konfrontiert, in denen die im FZA (Art. 5 FZA

und neuer 5

e

FZA) oder EFTA-Übereinkommen (Art. 5 Anhang K) geregelte Dauer

von 90 Arbeitstagen pro Kalenderjahr im Zusammenhang mit der Entsendung oder

der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung umgangen wird.

Die neue Bestimmung soll diese Situationen bekämpfen, indem neue pekuniäre Ver-

waltungssanktionen eingeführt werden, die eine präventive und repressive Wirkung

auf die Sanktionsadressaten haben. Gemäss dem Legalitätsprinzip im Strafrecht set-

zen solche Sanktionen eine formelle gesetzliche Verankerung voraus.

328

Die Bestimmung betrifft sowohl Unternehmen als auch selbstständige Dienstleis-

tungserbringerinnen und Dienstleistungserbringer, die ihren Sitz oder ihren Wohnsitz

in einem Mitgliedstaat der EU oder der EFTA haben.

Abs. 1

Absatz 1 richtet sich an Schweizer Unternehmen, die Staatsangehörige der Mitglied-

staaten der EU oder der EFTA einzig zu dem Zweck beschäftigen, ausländischen Un-

ternehmen oder selbstständigen ausländischen Dienstleistungserbringerinnen und

Dienstleistungserbringern die Umgehung der im FZA vorgesehenen zeitlichen Be-

schränkung der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung (höchstens 90 Ar-

beitstage pro Kalenderjahr) zu ermöglichen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn

das Schweizer Unternehmen keine tatsächliche, effektive und dauerhafte Geschäfts-

tätigkeit ausübt und als Zweigstelle eines ausländischen Unternehmens betrachtet

werden muss (gleiches Tätigkeitsgebiet, gleiche beteiligte Personen, keine spezifische

Infrastruktur im Schweizer Hoheitsgebiet). Die bundesgerichtliche Rechtsprechung

kennt bereits zahlreiche solcher Fälle, insbesondere im Tessin.

329

«Der Gesetzgeber muss daher bei der Festlegung der Sanktionshöhe darauf achten,

dass die Sanktion hoch genug ist, um wirksam zu sein. Zu berücksichtigen sind dabei

die Besonderheiten des jeweiligen Sachbereichs, die Wertigkeit des geschützten

327

Als Beispiel:

Art. 24 Abs. 1

(contraventions)

des

loi du canton de Vaud sur le contrôle des habitants

(LOI 142.01), wonach

«celui qui omet de faire les déclarations qui lui sont imposées, fait

une déclaration inexacte ou incomplète, ou contrevient de toute autre manière aux pres-

criptions de la présente loi, est passible d'une amende de vingt à deux mille francs»,

abrufbar unter: https://prestations.vd.ch/pub/blv-publication/accueil > Recherche

§ 31 (Strafbestimmung) des Gesetzes des Kantons Zürich über das Meldewesen und die

Einwohnerregister (142.1), wonach mit Busse bestraft wird, wer: «a. Melde- und Auskun-

ftspflichten nach §§ 3–10 verletzt», abrufbar unter: https://www.zh.ch/de/politik-staat/ge-

setze-beschluesse/gesetzessammlung.html#zhlex_ls > Suche > Ordnungsnummer > 142.1.

328

BBl

2022

776 (Pekuniäre Verwaltungssanktionen. Bericht des Bundesrates in Erfüllung

des Postulates 18.4100 SPK-N vom 1. November 2018), Ziff. 4.4.4 und 4.6.

329

Urteil 2C_497/2023 vom 8. Januar 2024 E. 4 und 5.

314 / 931

Rechtsguts sowie das Verhältnismässigkeitsprinzip.»

330

Im vorliegenden Fall gilt für

Unternehmen, welche die Höchstdauer von 90 Arbeitstagen pro Kalenderjahr und da-

mit ausländerrechtliche Bestimmungen, einschliesslich des FZA, umgehen, eine ma-

ximale Sanktionshöhe von 30 000 Franken. Damit kann weniger schwerwiegenden,

schwerwiegenden und Wiederholungsfällen unter Beachtung des Verhältnismässig-

keitsprinzips Rechnung getragen werden. Dieser Höchstbetrag entspricht jenem, der

in Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe b EntsG bei Verstössen gegen die minimalen Arbeits-

und Lohnbedingungen vorgesehen ist.

Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der EU oder der EFTA, die auf betrügerische

Weise ein Aufenthaltsrecht gemäss dem FZA erschleichen, sind ihrerseits nach Arti-

kel 118 Absatz 1 VE-AIG (Täuschung der Behörden) sanktionierbar.

Abs. 2

Im Rahmen des FZA darf ein ausländisches Unternehmen nur für höchstens 90 tat-

sächliche Arbeitstage pro Kalenderjahr Arbeitnehmende in die Schweiz entsenden,

damit sie dort eine Dienstleistung erbringen. Diese Beschränkung gilt ebenfalls für

selbstständige ausländische Dienstleistungserbringerinnen und Dienstleistungserbrin-

ger. Bei Dienstleistungen bis zu 90 Tagen Dauer müssen die entsandten Arbeitneh-

menden gemäss EntsG angemeldet werden und die selbstständigen ausländischen

Dienstleistungserbringerinnen und Dienstleistungserbringer müssen sich anmelden

(Art. 6 und 6

a

VE-EntsG). Ab einem längeren Zeitraum müssen sie eine Kurzaufent-

halts- oder Aufenthaltsbewilligung nach dem AIG beantragen (neuer Art. 5

d

des

FZA).

Die maximale Sanktionshöhe von 30 000 Franken entspricht jener in Absatz 1. Auch

in diesem Fall wird die Nichteinhaltung der Höchstdauer von 90 Arbeitstagen pro Ka-

lenderjahr und damit die Umgehung ausländerrechtlicher Bestimmungen, einschliess-

lich des FZA, sanktioniert. Mit dem Betrag kann weniger schwerwiegenden, schwer-

wiegenden und Wiederholungsfällen unter Beachtung des Verhältnismässigkeitsprin-

zips Rechnung getragen werden.

Das AIG enthält bereits Sanktionsmöglichkeiten für entsandte Arbeitnehmerinnen

und Arbeitnehmer (Art. 115 AIG) und Leistungsbeziehende (Art. 117 AIG), aller-

dings noch nicht für Entsendeunternehmen oder selbstständige ausländische Dienst-

leistungserbringerinnen und Dienstleistungserbringer. Dies soll mit dem neuen Absatz

behoben werden.

Abs. 3

Bei Nichtbezahlung einer rechtskräftigen pekuniären Sanktion nach Absatz 2 können

die betreffenden Entsendeunternehmen oder selbstständigen Dienstleistungserbringe-

rinnen und Dienstleistungserbringer mit einem Verbot zur Erbringung von Dienstleis-

tungen belegt werden, wobei das Verbot mit der Zahlung des Betrags oder, bei Nicht-

bezahlung, nach zehn Jahren endet (Bst. a). In diesem Fall hat die Sanktion keinen

Strafcharakter.

330

BBl

2022

776 (Pekuniäre Verwaltungssanktionen. Bericht des Bundesrates in Erfüllung

des Postulates 18.4100 SPK-N vom 1. November 2018), Ziff. 4.4.2.

315 / 931

Diese Möglichkeit besteht auch für Wiederholungsfälle (Bst. b), zusätzlich zur peku-

niären Sanktion nach Absatz 2. In diesem Fall hat die Sanktion einen Strafzweck.

Ein solches Verbot besteht auch im EntsG (Art. 9 Abs. 2 Bst. b Ziff. 2). Bei dessen

Anordnung muss der Grundsatz der Verhältnismässigkeit beachtet werden.

Abs. 4

Der Vollzug dieser Bestimmung obliegt den Kantonen. Deshalb ist hier das kantonale

Verwaltungsverfahrensrecht anwendbar.

Die Behörden werden künftig die Möglichkeit haben, natürliche und juristische Per-

sonen sowohl nach dem AIG als nach dem EntsG mit einem Verbot zur Erbringung

von Dienstleistungen zu belegen. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass verschiedene

Behörden kurz nacheinander wegen unterschiedlicher Sachverhalte gegen ein- und

dieselbe Person ein Verbot aussprechen (z. B. Überschreitung der Höchstdauer von

90 Arbeitstagen und Verstoss gegen die minimalen Lohnbedingungen). Aus diesem

Grund wird eine Bestimmung vorgesehen, wonach sich die Behörden (sofern es meh-

rere sind) untereinander koordinieren. Sie soll sicherstellen, dass das Gebot der

Rechtsgleichheit und das Verhältnismässigkeitsprinzip gewahrt werden, wenn meh-

rere Verbote ausgesprochen werden.

Abs. 5

Die Daten zu den Verwaltungssanktionen sind besonders schützenswerte Daten im

Sinne von Artikel 5 Buchstabe c Ziffer 5 des Datenschutzgesetzes

331

(DSG). Für ihre

Bearbeitung bedarf es einer formellen gesetzlichen Grundlage (Art. 34 Abs. 2 Bst. a

DSG).

Die Vollzugsbehörden des EntsG (SECO und Kontrollorgane nach Art. 7 Abs. 1

EntsG) und die für die Umsetzung des AIG zuständigen Behörden müssen die Daten

zu den nach Artikel 122

d

VE-AIG sanktionierten Unternehmen bearbeiten können,

um die Einhaltung der ausländerrechtlichen Bestimmungen, einschliesslich jener des

FZA in Bezug auf Aufenthalt und Dienstleistungserbringung (Art. 5 FZA und neuer

Art. 5

a

ff. FZA), sowie die Koordination zwischen den Behörden gewährleisten zu

können – Letzteres, um sicherzustellen, dass sie nicht kurz nacheinander zwei Verbote

zur Erbringung von Dienstleistungen, eines gestützt auf das AIG und das andere ge-

stützt auf das EntsG, gegenüber demselben Unternehmen oder der- oder demselben

selbstständigen Dienstleistungserbringenden aussprechen.

2.3.8.1.2

Arbeitsvermittlungsgesetz (AVG)

Die Wiedereingliederungsstrategie (WES) stellt ein Instrument der öffentlichen Ar-

beitsvermittlung (öAV) dar, welches die Vorgehensziele zur raschen und dauerhaften

Wiedereingliederung des Stellensuchenden in den Arbeitsmarkt festlegt. Die WES ist

derzeit auf Weisungsstufe geregelt

332

. Aufgrund ihrer zentralen Stellung in der öAV

331

SR

235.1

332

SECO, Weisung AVG öAV (AVG-Praxis öAV), Stand am 1. Januar 2024, Rz. C6; abruf-

bar unter arbeit.swiss. > Publikationen / AVIG-Praxis.

316 / 931

ist es angezeigt, dafür eine formalgesetzliche Grundlage zu schaffen. Die Konkreti-

sierung obliegt dem Bundesrat, welcher nach Anhörung der Kantone und der betei-

ligten Organisationen die Ausführungsbestimmungen erlässt (Art. 41 Abs. 1 AVG).

Art. 24a

Die WES wird zwischen dem Arbeitsamt (i.d.R. dem Personalberatenden im RAV)

und dem Stellensuchenden vereinbart, kann aber andere Akteure einbeziehen (wie

z.B. die Invalidenversicherung oder die Sozialhilfe im Rahmen der interinstitutionel-

len Zusammenarbeit). Die WES muss schriftlich verfasst werden (Abs. 1). Die Aus-

arbeitung und die Unterzeichnung der Strategie findet im Rahmen eines RAV-

Beratungsgesprächs statt. Nach der Unterzeichnung wird diese im Informationssys-

tem der öAV abgelegt. Die Kantone sind in der Formulierung der WES frei, müssen

sich aber an den vom SECO gegebenen Rahmen halten

333

.

Die WES legt die Massnahmen fest, welche zugunsten der Wiedereingliederung des

Stellensuchenden in den Arbeitsmarkt ergriffen werden sollen (Abs. 2). Sie wird unter

Berücksichtigung des Profils und der Bedürfnisse des Stellensuchenden individuell

ausgestaltet, um die Chancen der raschen und dauerhaften Wiedereingliederung zu

erhöhen.

Der Einsatz der WES dient ebenfalls der Umsetzung von Artikel 7 Absatz 3 Buch-

stabe b-d der Richtlinie 2004/38/EG: In der Schweiz genügt es nicht, dass eine stel-

lensuchende Person sich dem Arbeitsamt nur zur Verfügung stellt, sondern sie muss

aktiv mit diesem kooperieren. Die Europäischen Kommission kennt eine ähnliche Pra-

xis.

334

Die WES wird für die Wiedereingliederung aller Stellensuchenden eingesetzt,

unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit. Es besteht damit keine Diskriminierung

zwischen Schweizer Staatsangehörigen und EU-Bürgern.

Das Arbeitsamt (bzw. der Personalberatende) muss den Stellensuchenden über die

möglichen Konsequenzen der Nichteinhaltung der WES informieren. Diese Informa-

tion erfolgt direkt in dem der WES verbriefenden Dokument. Ist der Stellensuchende

ein EU-Bürger, wird er darüber informiert, dass die Nichteinhaltung der WES Konse-

quenzen auf seinen migrationsrechtlichen Status haben kann (Art. 61

a

Abs. 2 Bst. b

VE-AIG). Das Arbeitsamt selbst nimmt keine migrationsrechtlichen Abklärungen

vor. Die möglichen Merkmale einer Nichteinhaltung der WES werden auf Verord-

nungsstufe spezifiziert. Die Beurteilung dieser Merkmale durch das Arbeitsamt und

das anschliessende Vorgehen werden mittels Weisung genauer geregelt.

333

SECO, Strategie öffentliche Arbeitsvermittlung 2030, aufrubar auf arbeit.swiss > Instituti-

onen / Medien > Aktuelle Projekte und Massnahmen > Strategie öffentliche Arbeitsver-

mittlung 2030.

334

Bekanntmachung der Kommission, Leitfaden zum Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger

und ihrer Familien, ABl C/2023/1392 vom 22. Dezember 2023, Ziff. 5.1.2.

317 / 931

Art. 34a Abs. 2 Bst. e

Ähnlich zu Artikel 33 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2000

335

über den Allge-

meinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) sieht Artikel 34

a

AVG vor, dass

die Durchführungsstellen der öAV der Schweigepflicht unterstehen. Diese Pflicht gilt

gegenüber Dritten, auch anderen Ämtern in derselben Verwaltung (kantonale oder

Bundesverwaltung). Nur mit einer ausdrücklichen Bestimmung in einem Gesetz im

formellen Sinne darf von diesem Grundsatz abgewichen werden. Artikel 34

a

Absatz 1

Buchstabe e VE-AVG ermöglicht damit die Übermittlung von Daten zwischen der

öAV und den zuständigen Migrationsbehörden, wenn Staatsangehörige der EU-

Mitgliedstaaten die WES nicht einhalten. Dabei handelt es sich um eine äquivalente

Bestimmung zu Artikel 97

a

Absatz 1 Buchstabe b

ter

des Arbeitslosenversicherungs-

gesetzes vom 25. Juni 1982

336

(AVIG), welche auch die Datenübermittlung zwischen

den Durchführungsstellen der Arbeitslosenversicherung und den Migrationsbehörden

vorsieht.

2.3.8.1.3

ETH-Gesetz

Nach dem Inkrafttreten des Änderungsprotokolls zum FZA sind universitäre Hoch-

schulen und Fachhochschulen verpflichtet, für Studierende, die Staatsangehörige ei-

nes EU-Mitgliedstaates sind, und zwar unabhängig von ihrem Wohnsitz, die gleichen

Studiengebühren wie für Schweizer Studierende zu erheben. Der Nichtdiskriminie-

rungsgrundsatz gilt auch für allfällige Unterstützungsmechanismen der Hochschulen

bezüglich Studiengebühren (z.B. Massnahmen zum Erlass von Studiengebühren). Das

ETH-Gesetz muss betreffend Studiengebühren angepasst werden.

Art. 34d Abs. 2 und 2

bis

Für Studierende, die Staatsangehörige eines EU-Mitgliedstaates sind, und zwar unab-

hängig von ihrem Wohnsitz, sind neu die gleichen Studiengebühren wie für Schweizer

Studierende zu erheben. Der ETH-Rat kann für Studierende aus Drittstaaten höhere

Studiengebühren vorsehen. Er wird seine Gebührenverordnung entsprechend anpas-

sen.

Mit der vorgeschlagenen Regelung wird die von der Bundesversammlung am 27. Sep-

tember 2024

337

beschlossene Anpassung des ETH-Gesetzes geändert und mit dem

Abkommen in Übereinstimmung gebracht. Der Bundesrat sieht auch vor, die Kompe-

tenz zur Festlegung der Studiengebühren für Studierende aus Drittstaaten wieder dem

ETH-Rat zu übertragen. Er erwartet, dass der ETH-Rat den Beschluss der Bundesver-

sammlung für eine höhere Nutzerbeteiligung von ausländischen Studierenden (siehe

oben) in seinen Analysen weiterhin berücksichtigen wird, auch ohne eine konkrete

Vorgabe im Gesetz.

335

SR

830.1

336

SR

837.0

337

BBl

2024

2497.

318 / 931

2.3.8.1.4

Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz (HFKG)

Art. 47 Abs. 1

bis

Für die bundesseitigen Kompensationszahlungen wird eine neue Beitragsart geschaf-

fen.

Art. 48 Abs. 2 Bst. c

Für die Bundesbeiträge nach Artikel 47 Absatz 1

bis

wird ein Zahlungsrahmen be-

schlossen.

5a. Abschnitt: Beiträge zur Umsetzung des Gleichbehandlungsgebots nach ...

Art. 61a

Mit den Zahlungsrahmen nach Artikel 48 Absatz 2 Buchstabe c HFKG werden die

kantonalen Hochschulen (die kantonalen Universitäten, universitären Institute und

Fachhochschulen) bei der Umsetzung des Nichtdiskriminierungsgrundsatzes betref-

fend Studiengebühren unterstützt. Der Gesamtbetrag entspricht den Einbussen, die

sich aus der Gleichbehandlung ergeben. Massgebend für die Berechnung sind die Stu-

diengebühren zum Zeitpunkt der Eröffnung der Vernehmlassung zum Änderungspro-

tokoll sowie die beim BFS verfügbaren Zahlen der Studierenden aus den EU-

Mitgliedstaaten. Der Bund übernimmt 50 Prozent dieses Betrages, die Kantone eben-

falls 50 Prozent.

Im ersten Jahr sollen 80 Prozent des Bundesanteils gemäss den konkreten Einbussen

auf die betroffenen Hochschulen verteilt werden. Die restlichen 20 Prozent sollen den

Hochschulen nach ihrem jeweiligen Anteil an Studierenden aus EU-Mitgliedstaaten

ausbezahlt werden, wobei die vom BFS verfügbaren Zahlen des Vorjahres berück-

sichtigt werden. In den drei Folgejahren wird die prozentuale Aufteilung dynamisch

angepasst. Die Ausrichtung der Beiträge ist auf vier Jahre befristet. Der Bundesrat

wird in der V-HFKG das Verfahren zur Berechnung und zur Auszahlung der Beiträge

regeln.

2.3.8.2

Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit

2.3.8.2.1

Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen-

und Invalidenvorsorge

Art. 49 Abs. 2 Ziff. 27

In dieser Bestimmung ist zu präzisieren, dass der Teil internationale Koordination des

Gesetzes in Bezug auf die EU-Staaten auch für die weitergehende berufliche Vorsorge

gilt. Dies geschieht mittels Verweis auf die entsprechenden Gesetzesartikel.

Schlussbestimmung

319 / 931

Mit der EU konnte eine vierjährige Übergangsfrist für die Unterstellung der weiter-

gehenden Vorsorge unter die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und die Umsetzung der

Richtlinie 2014/50/EU vereinbart werden. Artikel 49 Absatz 2 Ziffer 27 BVG wird

daher am ersten Tag des 49. Monates nach Inkrafttreten des Änderungsprotokolls zum

FZA in Kraft treten.

2.3.8.2.2

Freizügigkeitsgesetz

Art. 25f Sachüberschrift, Abs. 1 Bst. a, Abs. 1

bis

sowie 2 und 3

Sachüberschrift.

Der vorliegende Entwurf bietet Gelegenheit, die Bezeichnung Euro-

päische Gemeinschaft durch Europäische Union, wie sie mittlerweile heisst, zu erset-

zen.

Abs. 1 Bst. a und Abs. 1

bis

(neu).

Weil künftig für die Barauszahlung der weitergehen-

den Vorsorge bei Wohnsitz in EU-Mitgliedstaaten andere Regelungen gelten (einge-

schränkte Barauszahlung) als in den EFTA-Staaten, werden die entsprechenden Best-

immungen neu getrennt aufgeführt. Absatz 1 Buchstabe a wird gestrichen. Die

Regelung für die EU-Staaten findet sich neu in Absatz 1

bis

.

Abs. 2 und 3.

Diese beiden Absätze können gestrichen werden, da sie infolge Zeitab-

laufs keine Bedeutung mehr haben.

Schlussbestimmung

Mit der EU konnte eine vierjährige Übergangsfrist für die Unterstellung der weiter-

gehenden Vorsorge unter die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und die Umsetzung der

Richtlinie 2014/50/EU vereinbart werden. Artikel 25

f

Sachüberschrift, Absatz 1

Buchstabe a, Absätze 1

bis

sowie 2 und 3 FZG wird daher am ersten Tag des 49. Mo-

nates nach Inkrafttreten des Änderungsprotokolls zum FZA in Kraft treten.

2.3.8.2.3

Zivilgesetzbuch

Art. 89a Abs. 6 Ziff. 24

Auch für Personalfürsorgestiftungen, die auf dem Gebiet der Alters-, Hinterlassenen-

und Invalidenvorsorge tätig sind und die dem Freizügigkeitsgesetz unterstellt sind,

gelten die BVG-Regelungen zur internationalen Koordination in Bezug auf die EU-

Mitgliedstaaten. Ziffer 24 wird daher durch einen entsprechenden Verweis angepasst.

Schlussbestimmung

Mit der EU konnte eine vierjährige Übergangsfrist für die Unterstellung der weiter-

gehenden Vorsorge unter die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und die Umsetzung der

Richtlinie 2014/50/EU vereinbart werden. Artikel 89

a

Absatz 6 Ziffer 24 ZGB wird

daher am ersten Tag des 49. Monates nach Inkrafttreten des Änderungsprotokolls zum

FZA in Kraft treten.

320 / 931

2.3.8.3

Anerkennung von Berufsqualifikationen

Seit dem Inkrafttreten 2002 ist der Anhang III FZA direkt anwendbar, da die Rege-

lungen ausreichend ausführlich sind und somit keine Umsetzungsgesetzgebung erfor-

dern. Die Änderungen durch die vorliegende Revision von Anhang III FZA sind ins-

besondere in der Richtlinie 2013/55/EU, aber auch in den in Kapitel 2.3.6.2.5

genannten EU-Rechtsakten klar geregelt. Die Verfahren und Änderungen der Aner-

kennungsregeln sind grundsätzlich alle ausreichend präzise, um sie direkt anzuwen-

den. Die Richtlinie 2005/36/EG, geändert durch die Richtlinie 2013/55/EU, behält

infolgedessen unverändert ihre unmittelbare Anwendbarkeit.

Die Schweiz kennt jedoch zwei Umsetzungserlasse. Erstens gilt das Bundesgesetz

vom 23. Juni 2000

338

über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte

(

BGFA).

Zweitens gilt das Bundesgesetz vom 14. Dezember 2012

339

über die Meldepflicht und

die Nachprüfung der Berufsqualifikationen von Dienstleistungserbringerinnen und -

erbringern in reglementierten Berufen (BGMD) als einziger Umsetzungserlass im Be-

reich der Richtlinie 2005/36/EG. Die Formulierung in Artikel 7 Absatz 1 der Richtli-

nie 2005/36/EG machte die Umsetzung der Meldepflicht erforderlich, weil die

Schweiz ansonsten seit 2013 die ausländischen Berufsqualifikationen von Dienstleis-

tungserbringerinnen und -erbringern in reglementierten Berufen nicht mehr hätte

nachprüfen dürfen. Deshalb wurden das BGMD und die entsprechende Verordnung

340

erlassen, um den Titel II der Richtlinie 2005/36/EG (Dienstleistungsfreiheit) umzu-

setzen. Aufgrund des neuen Abkommen muss das BGMD leicht angepasst werden (s.

Ziff. 2.3.8.3.1).

Die Verwaltungszusammenarbeit mittels IMI, namentlich die Übermittlung von War-

nungen, unterliegt hingegen einer anderen Logik und gilt nicht als direkt anwendbares

Recht. Der Austausch von Personendaten, einschliesslich besonders schützenswerter

Personendaten, mit ausländischen Behörden auf elektronischem Weg erfordert eine

neue formell-gesetzliche Rechtsgrundlage (s. Ziff. 2.3.8.3.2). Der Umsetzungserlass

stützt sich auf das revidierte Datenschutzgesetz vom 25. September 2020

341

(DSG).

Neben dem Austausch besonders schützenswerter Personendaten gilt es auch, die Mo-

dalitäten für eine Teilnahme am IMI festzulegen und zu definieren, welche Behörde

die Aufgabenerfüllung sicherstellt. Die materiellen Bestimmungen hingegen bedürfen

keiner Umsetzungsregelung, denn sie sind direkt anwendbar. Auch die bisherigen

Verantwortlichkeiten der Behörden bleiben bestehen.

2.3.8.3.1

Bundesgesetz über die Meldepflicht und die Nachprüfung

der Berufsqualifikationen von

Dienstleistungserbringerinnen und -erbringern in

reglementierten Berufen (BGMD)

Die Richtlinie 2013/55/EU bringt eine leichte Änderung der Regelungen zum Melde-

verfahren für Dienstleistungserbringerinnen und -erbringer mit sich. Zur Erinnerung:

338

SR

935.61

339

SR

935.01

340

SR

935.011

341

SR

235.1

321 / 931

Seit 2013 steht Staatsangehörigen der EU, die in der Schweiz einen reglementierten

Beruf als Dienstleistungserbringerinnen und -erbringer ausüben möchten – also ohne

Niederlassungsabsicht in der Schweiz und unter Beibehaltung ihrer beruflichen Tä-

tigkeit im Herkunftsland – ein beschleunigtes Verfahren zur Verfügung. Dieses Ver-

fahren wurde in der Schweiz durch das Bundesgesetz über die Meldepflicht und die

Nachprüfung der Berufsqualifikationen von Dienstleistungserbringerinnen und -er-

bringern in reglementierten Berufen (BGMD) umgesetzt. Dieses Gesetz schreibt eine

vorgängige Meldung vor. Ohne diese Meldung wäre die Erbringung von Dienstleis-

tungen auch in reglementierten Berufen – etwa im Gesundheitsbereich – ohne jegliche

Überprüfung der Berufsqualifikationen möglich. Um den im Abkommen vorgesehe-

nen Anpassungen Rechnung zu tragen, muss das BGMD in folgenden Punkten geän-

dert werden:

Art. 4

Verfahren bei reglementierten Berufen ohne Auswirkung auf die öffentliche

Gesundheit oder Sicherheit

Artikel 4 sieht eine Vereinfachung für Verfahren ohne Auswirkungen auf die öffent-

liche Gesundheit oder Sicherheit vor. Da eine Nachprüfung der Berufsqualifikation

nicht möglich ist, kann die Meldung direkt an die für die Berufsausübung zuständige

Behörde übermittelt werden, welche die formale Überprüfung übernimmt. In einem

zweiten Schritt muss auch die Verordnung zum BGMD entsprechend angepasst wer-

den.

Art. 5

Beginn der Berufsausübung

Artikel 5 muss angepasst werden, um den unmittelbaren Beginn der Tätigkeit ab dem

Zeitpunkt der erfolgten Meldung zu ermöglichen (Abs. 1). Zudem ist dem Bundesrat

die Kompetenz zu übertragen, das Verfahren im Falle einer Sistierung zu regeln – sei

es wegen fehlender Unterlagen oder weil eine Eignungsprüfung erforderlich ist, wenn

die Ausübung des Berufs Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit oder Sicher-

heit hat (Abs. 2).

2.3.8.3.2

Bundesgesetz über die Verwaltungszusammenarbeit im

Bereich der Anerkennung von Berufsqualifikationen

1. Abschnitt:

Allgemeine Bestimmungen

Art. 1

Gegenstand

Artikel 1 begrenzt den Gegenstand des Gesetzes auf die Verwaltungszusammenarbeit

im Bereich der Anerkennung von Berufsqualifikationen und die Verwendung des IMI

durch die Schweiz. Die Verwaltungszusammenarbeit ist in Titel V der Richtlinie

2005/36/EG verankert. Absatz 1 Buchstaben a - c listet die drei Bereiche auf, in denen

IMI genutzt wird. In Buchstabe b wird die englische Abkürzung EPC für den Europä-

ischen Berufsausweis in allen Amtssprachen eingeführt, um Verwechslungen mit dem

Eidgenössischen Berufsattest EBA zu vermeiden. In der deutschen Fassung der EU-

Rechtstexte wird der Europäische Berufsausweis offiziell mit EBA abgekürzt. Das

kann in der Praxis zu Problemen führen.

322 / 931

Art. 2

Geltungsbereich

Artikel 2 regelt den Geltungsbereich des Gesetzes. Absatz 1 unterscheidet zwischen

dem Geltungsbereich von Anhang III FZA und von Anhang K Anlage 3 des EFTA-

Übereinkommens. Da die Anpassungen des EFTA-Übereinkommens in einem späte-

ren Zeitpunkt durch Bundesratsbeschluss erfolgen werden, trägt diese Differenzierung

dem gestaffelten Inkrafttreten des Gesetzes Rechnung.

Bis zum Inkrafttreten einer allfälligen Anpassung von Anhang K Anlage 3 des EFTA-

Übereinkommens zwischen der Schweiz und der EFTA an den revidierten Anhang III

des FZA und dem entsprechenden Beschluss über das Inkrafttreten der relevanten

Bestimmungen dieses Gesetzes gilt es nur für EU-Mitgliedstaaten. Erst sobald diese

Anpassungen am EFTA-Übereinkommen vorgenommen worden sind und die ent-

sprechenden Bestimmungen des Gesetzes in Kraft treten, gelten die Ausführungen zu

Artikel 2 Buchstabe e, Artikel 4, Artikel 5, Artikel 8, Artikel 9, Artikel 13 und Artikel

15 sowie im Anhang des Umsetzungserlasses zu Artikel 50 Absatz 1 Buchstabe d

bis

und Absatz 3 MedBG, zu Art. 10 Absatz 5 GesBG sowie Artikel 37 Absatz 4 PsyG

bezüglich EFTA-Staatsangehörigen.

Absatz 2 zeigt auf, welche Stellen vom Gesetz betroffen sind:

Buchstabe a: Anerkennungsstellen, die je nach Beruf für das Verfahren und die An-

erkennung ausländischer Berufsqualifikationen bereits heute zuständig sind. Dabei

handelt es sich um eidgenössische, kantonale und interkantonale Stellen (wie z. B.

MEBEKO für die universitären Medizinalberufe, das ESTI für den Elektroinstallati-

onsbereich, die EDK für die Lehrpersonen) sowie Dritte, denen Aufgaben im Aner-

kennungsverfahren übertragen wurden (z. B. SRK gemäss GesBG).

Buchstabe b: Bezieht sich auf die für die Berufsausübung zuständigen Stellen auf

Bundes- und Kantonsebene, die einerseits über die Zulassung von Berufsangehörigen

zur Ausübung eines reglementierten Berufes entscheiden. Das geschieht unter ande-

rem in Form einer Berufsausübungsbewilligung, eines Berufszulassungsentscheids,

eines Eintrags in ein Berufsregister. Als zuständige Stellen gelten unter anderem die

kantonalen Gesundheitsdirektionen im Gesundheitswesen, die kantonalen Veterinär-

dienste für die reglementierten Berufe im Bereich der Tierschutz oder die kantonalen

Ämter der Wirtschaft bzw. des Tourismus z. B. für die Bergführer und Bergführerin-

nen. Andererseits fallen auch diejenigen Stellen unter diese Bestimmung, die die Aus-

übung der beruflichen Tätigkeiten beaufsichtigen und darüber entscheiden, sie ganz

oder teilweise – auch vorübergehend – zu verbieten oder zu beschränken. In der Praxis

wäre dies z. B. der Fall, wenn ein kantonales Jugendamt einer Sozialpädagogin die

Betriebsbewilligung für ihre Kita entzieht. Als Beispiel im Gesundheitswesen sind bei

den Medizinal- und Gesundheitsberufen die Tätigkeiten der Aufsichtsbehörden ge-

mäss Artikel 41 MedBG bzw. Artikel 17 GesBG zu nennen.

Buchstabe c: Gemeint sind diejenigen Stellen, welche für die Reglementierung einer

Ausbildung zuständig sind. Sie sind für den behördlichen Informationsaustausch und

den Berufsausweis von Bedeutung. Derzeit betrifft dies hauptsächlich das SBFI.

Wenn die Ausbildung auf kantonaler Ebene reglementiert ist, ist im Normalfall die

kantonale Stelle für die Auskunft zuständig.

323 / 931

Buchstaben d und e: Mit dieser Bestimmung wird die Koordinationszuständigkeit von

Bund und Kantonen im Vollzug von Anhang III FZA oder Anhang K Anlage 3 des

EFTA-Übereinkommens explizit erwähnt. Diese Aufteilung ist erforderlich, um ein

gestaffeltes Inkrafttreten des Gesetzes zu ermöglichen (vgl. Abs.1). Diese Buchstaben

betreffen insbesondere die Tätigkeiten, auf die im 2. Abschnitt eingegangen wird.

Buchstabe f: Bezieht sich auf die Gerichte, die darüber entscheiden, ob die Berufsaus-

übung zu beschränken oder zu verbieten ist. In der Praxis wäre dies der Fall, wenn

jemandem die berufliche Tätigkeit gestützt auf Artikel 67 StGB verboten wird.

Ebenso werden mit diesem Buchstaben jene Gerichte angesprochen, die aufgrund ei-

ner Fälschung von Berufsqualifikationen eine Verurteilung nach Artikel 251 bis 255

StGB aussprechen.

Art. 3

Reglementierte Berufe

Artikel 3 verankert den Begriff der reglementierten Berufe (Abs. 1).

Da die Verhältnismässigkeitsprüfung gemäss Richtlinie 2018/968/EU bei Erlass

neuer Reglementierungen stattfinden muss, werden im 2. Absatz die entsprechenden

Abläufe verankert. Die Stellen gemäss Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe b sind für die

Prüfung der Verhältnismässigkeit gemäss den materiellen Vorgaben der Richtlinie

2018/968/UE verantwortlich. Das SBFI trägt die Resultate der Prüfung und der Reg-

lementierung im IMI ein, sodass vermieden wird, dass eine grosse Anzahl von Stellen

Zugang zum IMI haben muss. Die Übermittlung der Resultate hat spätestens bis zur

Eröffnung der Vernehmlassung zu erfolgen, um einen Austausch zwischen den Be-

hörden vor der formellen Eingabe ins IMI zu ermöglichen.

Absatz 3 verpflichtet jede kantonale koordinierende Stelle, das SBFI mindestens ein-

mal pro Jahr über neue oder geänderte Reglementierungen von Berufen auf Kantons-

und Gemeindeebene zu informieren. Dies dient der Transparenz und ist vor allem aus

technischen Gründen erforderlich. Denn die reglementierten Berufe der Schweiz sind

im IMI in einer Datenbank aufgelistet und erfordern eine Behördenzuteilung im Sys-

tem.

2. Abschnitt

Koordination und Zusammenarbeit

Der

2. Abschnitt (Art. 4 und 5) klärt die Aufgaben, die das SBFI in der Funktion als

sektorieller IMI-Koordinator für den Vollzug von Anhang III FZA übernimmt. Das

SBFI wirkt als IMI-Koordinationsstelle unterstützend und koordiniert die Tätigkeiten

in Bezug auf die Verwendung von IMI. Bei Bedarf werden Arbeitsgruppen geschaf-

fen, Schulungen und auch Treffen auf nationaler oder regionaler Ebene organisiert.

Art. 4

IMI-Koordination

Artikel 4 überträgt die Funktion der IMI-Koordination im Bereich der Anerkennung

von Berufsqualifikationen dem SBFI, das seit 2002 die Federführung für den An-

hang III FZA innehat. Das SBFI übernimmt die Aufgabe, die zuständigen Stellen und

deren Berechtigungen im IMI zu erfassen. Alle Funktionen, die keiner spezifischen

Stelle zugewiesen sind, übernimmt ebenfalls das SBFI. Absatz 3 beauftragt das SBFI

324 / 931

ausserdem, neue sektorale Ausbildungsgänge zu notifizieren. Dies wird künftig elekt-

ronisch mittels IMI erfolgen. Weil die Schweiz auch an IMI im Bereich der Entsen-

dung (Anhang I FZA) teilnehmen wird, ist eine Stelle als nationaler Koordinator zu

bestimmen (Art. 6 der Richtlinie 1024/2012/EU). Die Bestimmung dieser Stelle wird

an den Bundesrat delegiert; in einem ersten Schritt ist vorgesehen, dass das SBFI diese

Funktion wahrnehmen wird. Drei Jahren nach Inkrafttreten wird die Schweiz ihre

Teilnahme im Bereich Entsendung ausdehnen, künftig allenfalls auch auf weitere Be-

reiche, sollte die dynamische Übernahme des EU-Rechts dies vorsehen. In solchen

Fällen kann die Funktion als nationaler IMI-Koordinator per Bundesratsverordnung

neu zugeteilt werden.

Art. 5

Verwaltungszusammenarbeit

Artikel 5 regelt explizit die Verpflichtung zur Zusammenarbeit zwischen dem SBFI

und den Kantonen. Die Koordination erfolgt bereits seit dem Inkrafttreten des FZA

im Jahre 2002. Aufgrund der Komplexität der Rechtsentwicklungen ist künftig eine

verstärkte Verwaltungszusammenarbeit unerlässlich. Die Vielfalt der kantonalen

Reglementierungen von Berufen sowie die erforderliche Kommunikation und Trans-

parenz gegenüber der EU machen diese gesetzliche Bestimmung notwendig. Ziel ist

es, dass die Verwaltungszusammenarbeit künftig regelmässiger, detaillierter und

strukturierter erfolgt. Darüber hinaus benötigt das SBFI für die Umsetzung der Neue-

rungen ein etabliertes und koordiniertes Netzwerk von Ansprechpersonen (koordinie-

rende Stellen) auf kantonaler Ebene. Diese tragen dazu bei, die in der geänderten

Richtlinie 2005/36/EG vorgesehenen Verpflichtungen einzuhalten. Mit der Einfüh-

rung von IMI in der Schweiz sollen die Zusammenarbeit der in- und ausländischen

Behörden sowie die Kontrollmöglichkeiten koordiniert genutzt werden, was innerhalb

der EU/EFTA-Staaten mittels IMI bereits seit Jahren erfolgt.

Absatz 1 verankert die Verwaltungszusammenarbeit mittels IMI im Bereich der An-

erkennung von Berufsqualifikationen. Die aktive und regelmässige Nutzung von IMI

sowie die Einhaltung der vorgesehenen Fristen sind zentral.

Absatz 2 legt fest, dass jeder Kanton eine koordinierende Stelle ernennt. In allen 26

Kantonen werden mehrere Behörden für verschiedenste Berufe das IMI nutzen. Be-

reits aus diesem Grund ist eine verlässliche Stelle, die innerhalb des Kantons die Ver-

wendung von IMI koordiniert, unabdingbar. Je nach Grösse des Kantons kann es sich

um eine einzelne Ansprechperson handeln oder aber auch um eine Organisationsein-

heit, die sich bereits mit transversalen Themen im Vollzug von EU-Recht beschäftigt.

Grundsätzlich ist es auch möglich, dass sich Kantone zusammenschliessen. Wichtig

ist, dass die Stelle auf kantonaler Ebene departements- bzw. amtsübergreifend tätig

ist (z. B. in der Staatskanzlei oder EU-Koordinationsstelle). In jedem Kanton werden

die Gesundheits-, Sozial-, Jugend- und Bildungsdirektionen, aber auch die Arbeits-

marktbehörden von IMI tangiert sein und aktive Rollen übernehmen müssen.

Jeder Kanton wird dafür zusätzliche Personalressourcen benötigen und falls nötig eine

neue Stelle schaffen müssen. Je nach Bedarf und Notwendigkeit wird eine enge Zu-

sammenarbeit und ein regelmässiger Austausch mit dem SBFI in der Funktion als

IMI-Koordinator stattfinden.

325 / 931

3. Abschnitt:

Behördlicher Informationsaustausch

Art. 6

Artikel 6 regelt den Zugang zum behördlichen Informationsaustausch im IMI und das

Vorgehen, wenn eine Behörde ohne Zugang zum IMI verbleibt. Gemäss Empfehlung

mehrerer EU-Mitgliedstaaten ist es effizienter, wenn nur diejenigen zuständigen Stel-

len einen Zugang zum IMI erhalten, die ihn regelmässig benötigen. Also jene, die

voraussichtlich mehrmals monatlich Anträge bearbeiten müssen. Diese Bestimmung

ermöglicht eine schrittweise Einführung des IMI im Verlauf der Zeit. So kann ver-

mieden werden, dass Behörden ausgebildet werden und die Accounts verwalten müs-

sen, wenn IMI nur ein- bis zweimal pro Jahr zur Nutzung käme. Es geht keineswegs

darum, einer Behörde den Zugang zu verhindern, sondern den administrativen Auf-

wand so gering wie möglich zu halten und sicherzustellen, dass ein effizienter Ablauf

gewährleistet ist. Diese Einschränkungen gelten nicht für die Bereiche Europäischer

Berufsausweis (Art. 7 ff.) und Vorwarnmechanismus (Art. 12 ff.), denn bei diesen

sind die zuständigen Stellen verpflichtet, IMI zu verwenden.

Hat die zuständige Stelle keinen Zugang zu IMI, kommt Absatz 2 zur Anwendung. In

diesem Fall erfolgt der behördliche Informationsaustausch über das SBFI. IMI sieht

zwingend vor, dass für jeden reglementierten Beruf eine Stelle eingetragen werden

muss. Erfolgt eine Anfrage im IMI, so nimmt das SBFI Kontakt zur zuständigen Stelle

auf.

4. Abschnitt

Europäischer Berufsausweis (EPC)

Der 4. Abschnitt (Art. 7–11) regelt das Verfahren und die Aufgaben der Bundesbe-

hörden oder Dritter, die für die Bearbeitung der Europäischen Berufsausweise «

Euro-

pean Professional Card

» (EPC) zuständig sind. Angesichts der Komplexität des Ver-

fahrens und zur Klarheit wird auf die Rechtsakte in Anhang III FZA verwiesen, die

das Verfahren detailliert umschreiben. Es handelt sich dabei um Artikel

4a

ff. der ge-

änderten Richtlinie 2005/36/EG und insbesondere die Durchführungsverordnung

(EU) 2015/983. Diese Bestimmungen sind direkt anwendbar (self-executing).

Art. 7

Zugang zum IMI-Bereich für EPC

Artikel 7 regelt den Zugang zum IMI. Das EPC-Verfahren ist derzeit für fünf Berufe

vorgesehen. Betroffen sind das SBFI, die MEBEKO und das SRK, dem diese Aufgabe

als zuständige Anerkennungsstelle übertragen wird.

Art. 8

Bearbeitung der EPC-Anträge in Bezug auf schweizerische Abschlüsse

Artikel 8 regelt die Bearbeitung der EPC-Anträge von Personen, die einen schweize-

rischen Abschluss in einem EU -Staat anerkennen lassen möchten. Das SBFI wird die

Anträge von Pflegefachfrauen/Pflegefachmännern, Physiotherapeutinnen/Physiothe-

rapeuten,

Immobilienmaklerinnen/Immobilienmaklern

und

die

Bergführerin-

nen/Bergführer behandeln. Die MEBEKO wird die EPC-Anträge für Diplome als

Apothekerinnen/Apotheker im IMI bearbeiten. Der MEBEKO werden die Aufgabe

326 / 931

im Zusammenhang mit dem EPC durch eine gesetzliche Anpassung des MedBG über-

tragen.

Art. 9

Bearbeitung der EPC-Anträge in Bezug auf ausländische Abschlüsse

Artikel 9 regelt die Bearbeitung der EPC-Anträge für Inhaber und Inhaberinnen von

EU -Abschlüssen, die in der Schweiz tätig sein möchten. Die bestehenden Zuständig-

keiten für die Anerkennung bleiben im EPC-Verfahren erhalten (MEBEKO für Apo-

theker/innen, SRK für Physiotherapeutinnen/-therapeuten sowie Pflegefachpersonen,

SBFI für Bergführerinnen/Bergführer und Immobilienmaklerinnen/Immobilienmak-

ler). Je nach Beruf kann es in der Praxis sinnvoll sein, dass der EPC-Antrag direkt an

die für die Berufsausübung zuständige Stelle gemäss Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe b

gelangt. Betrifft der EPC-Antrag die Erbringung von Dienstleistungen in einem reg-

lementierten Beruf, der keine Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit oder Si-

cherheit hat (Immobilienmaklerinnen/Immobilienmakler), oder in einem sektoralen

Beruf (Apothekerin/Apotheker und Pflegefachperson), ist keine Nachprüfung der

Berufsqualifikationen möglich. Das EPC-Zertifikat wird im Herkunftsstaat ausge-

stellt.

Die MEBEKO bzw. das SRK als zuständige Anerkennungsstellen gemäss Artikel 2

Absatz 2 Buchstabe a erhalten die Dokumente mittels IMI. Dadurch wird sicherge-

stellt, dass die Daten im entsprechenden Register, namentlich dem Medizinalberufe-

register (MedReg) und Gesundheitsberuferegister (GesReg) eingetragen werden.

Wenn die Dienstleistungen die öffentliche Gesundheit oder Sicherheit tangieren und

es sich nicht um sektorale Berufe handelt (Physiotherapeutin/Physiotherapeut, Berg-

führerin/Bergführer) oder auch bei Niederlassung, wird der EPC-Antrag von der zu-

ständigen Anerkennungsstelle (Art. 2 Abs. 2 Bst. a) bearbeitet. Das EPC-Zertifikat

wird dann im Aufnahmestaat, d. h. in der Schweiz, ausgestellt.

Art. 10 EPC-Zertifikate

Artikel 10 umschreibt die Wirkung eines EPC-Zertifikats, das im IMI generiert wird.

Von dieser Bestimmung sind auch die kantonalen Behörden betroffen, die über die

Zulassung zur Berufsausübung entscheiden (Art. 2 Abs. 2 Bst. b).

Absatz 1 besagt, dass das EPC-Zertifikat zwecks Niederlassung dieselbe Wirkung wie

eine formale Anerkennung von Berufsqualifikationen (Verfügung) hat, da es von der-

selben Behörde nach denselben Modalitäten bearbeitet wurde. Die Inhaberin oder der

Inhaber kann das EPC-Zertifikat folglich gegenüber Arbeitgebern oder Behörden ver-

wenden. Das EPC-Zertifikat ist im IMI einsehbar, sofern die Nummer der Identitäts-

karte oder des Passes der Inhaberin oder des Inhabers bekannt ist.

Absatz 2 befreit Dienstleistungserbringerinnen und -erbringer, die ein EPC-Zertifikat

zwecks Dienstleistungserbringung vorweisen und maximal 90 Arbeitstage pro Kalen-

derjahr in der Schweiz tätig werden möchten, von der Meldepflicht beim SBFI gemäss

BGMD. Zum EPC-Verfahren gehört nämlich bereits eine Überprüfung der Berufs-

qualifikationen. Eine Meldepflicht gemäss BGMD würde bedeuten, dass ein materiell

identisches Verfahren von den Dienstleistungserbringerinnen und -erbringern doppelt

327 / 931

verlangt wird, was nicht sinnvoll ist. Bei Dienstleistungen ohne Auswirkungen auf die

öffentliche Gesundheit und Sicherheit schliesst Artikel 4

a

Absatz 4 der geänderten

Richtlinie 2005/36/EG explizit eine Meldung aus. Die Meldepflicht gemäss BGMD

gilt daher nicht.

Art. 11 Zulassung zur Berufsausübung beim Vorweisen eines EPC-Zertifikats

Artikel 11 sieht explizit vor, dass ein Entscheid für die Zulassung zur Berufsausübung

erforderlich ist, wenn Berufsangehörige ein EPC-Zertifikat zwecks Niederlassung

oder zwecks Dienstleistungserbringung vorweisen. Eine Berufsausübungsbewilli-

gung wird nicht über IMI erteilt, sondern muss in einem separaten Schritt erfolgen.

Im Rahmen dieser Zuständigkeit dürfen die zuständigen Stellen gemäss Artikel 2 Ab-

satz. 2 Buchstabe b prüfen, ob spezifische Voraussetzungen für die Zulassung erfüllt

sind, beispielweise einen Sprachnachweis verlangen. Die im EPC-Verfahren einge-

forderten Unterlagen

342

sind im Übrigen dieselben, die bereits heute beizufügen sind

(Art. 7 der Richtlinie 2005/36/EG für die Erbringung von Dienstleistungen und An-

hang VII für die Niederlassung). Auf diese Weise wird das Verfahren vereinfacht und

der Aufwand der zuständigen Stellen verringert, ohne die inhaltlichen Prüf- und Kon-

trollmöglichkeiten einzuschränken. Wenn für den Registereintrag zudem Sprach-

kenntnisse vorausgesetzt sind, erfolgt der Eintrag erst nach Vorweisen des erforderli-

chen Sprachnachweises.

5. Abschnitt

Vorwarnmechanismus

Der 5. Abschnitt (Art. 12-14) bildet die gesetzliche Grundlage für die Umsetzung des

Vorwarnmechanismus.

Art. 12 Zugang zum IMI-Bereich für den Vorwarnmechanismus

Artikel 12 regelt den Zugang zum IMI. Beim Vorwarnmechanismus ist die Verwen-

dung des IMI zwingend. Zugang erhalten die Stellen gemäss Artikel 2 Absatz 2 Buch-

staben a und b im Bereich des Gesundheitswesens und im Bereich der Erziehung Min-

derjähriger. Je nach Zuständigkeit gemäss geltendem Recht werden die

entsprechenden Stellen im IMI erfasst. Die eingehenden Warnungen bei gefälschten

Berufsqualifikationsnachweisen im IMI erhalten die zuständigen Stellen gemäss Ar-

tikel 2 Absatz 2 Buchstabe a.

Art. 13 Warnung bei Verbot oder Beschränkung der Ausübung eines reglementier-

ten Berufs

Artikel 13 bezweckt, dass die zuständigen Stellen des Bundes, der Kantone, der inter-

kantonalen Organe oder Dritter die zuständigen Behörden der EU -Staaten über jedes

Verbot oder jede Beschränkung der Ausübung der beruflichen Tätigkeit im Sinne von

Artikel 56

a

der geänderten Richtlinie 2005/36/EG mittels IMI benachrichtigen. Dies

gilt auch dann, wenn das Verbot nur teilweise oder vorübergehend erfolgt. Was bei-

342

Vgl. Art. 10 ff. und Anhang II der Durchführungsverordnung (EU) 2015/983 (ABl. L 159

vom 25.6.2015, S. 27-42).

328 / 931

spielsweise die Berufe nach MedBG und GesBG anbelangt, sind vom Vorwarnme-

chanismus die Disziplinarmassnahmen (provisorische Massnahmen während der

Dauer des Disziplinarverfahrens sowie befristete oder definitive Berufsausübungsver-

bote) erfasst.

Die Mitteilung der Warnung hat gestützt auf die Frist gemäss Artikel 56

a

Absatz 2

der geänderten Richtlinie 2005/36/EG spätestens drei Tage nach der Entscheidung

über die vollständige oder teilweise Beschränkung oder das Verbot der Ausübung der

beruflichen Tätigkeit zu erfolgen. Die zuständige Stelle hat die EU -Behörden mittels

IMI auch unverzüglich zu unterrichten, wenn die Geltungsdauer eines Verbots oder

einer Beschränkung abgelaufen ist oder das Enddatum der Befristung sich ändert. Die

Durchführungsverordnung (EU) 2015/983 ist direkt anwendbar und regelt das Ver-

fahren für die Bearbeitung von Warnungen.

Grundsätzlich erfassen die Stellen (Art. 2 Abs. 2 Bst. b), die für Zulassung zur Be-

rufsausübung zuständig sind, deren Beschränkung oder Verbot die Warnungen im

IMI.

Absatz 2 bezieht sich auf die eingehenden Warnungen mittels IMI. Die zuständigen

Stellen gemäss Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe b beurteilen, wie die Informationen zu

werten sind. Es liegt in ihrem Ermessen, zu entscheiden, ob die eingehende Warnung

für die Berufstätigkeit in der Schweiz relevant ist. Allenfalls sind jeweils auch Ver-

bote, Beschränkungen, Massnahmen oder Auflagen in der Schweiz erforderlich. Mit-

tels IMI kann nachgefragt werden, ob die/der Berufsangehörige Rechtsmittel gegen

die Entscheidung eingelegt hat.

Absatz 3 verpflichtet die Gerichte, die zuständigen Stellen nach Artikel 2 Absatz 2

Buchstabe b und das SBFI – in seiner Funktion als sektorieller IMI-Koordinator –

über die Gerichtsurteile hinsichtlich der Beschränkung oder des Verbotes der Berufs-

ausübung zu informieren.

Absatz 4 stellt sicher, dass auch interkantonale Organe und beauftragte Dritte, die mit

der Erfassung der Warnungen im IMI nach Absatz 1 beauftragt sind, die Entscheide

nach Absatz 3 von den Gerichten erhalten. Diese Bestimmung eröffnet zudem die

Möglichkeit, dass auch interkantonale Organe sowie beauftragte Dritte Meldungen

erfassen können, obwohl sie keine Stellen im Sinne von Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe

b sind (vgl. Abs. 1), sofern ihnen ein entsprechender Auftrag erteilt wird. Der EDK

könnte derzeit eine entsprechende Funktion zugewiesen werden: Im schulischen Be-

reich führt die EDK bereits eine Liste über Lehrpersonen, denen im Rahmen eines

kantonalen Entscheides die Unterrichtsberechtigung oder die Berufsausübungsbewil-

ligung entzogen wurde. Die Kantone sind gestützt auf die interkantonale Diploman-

erkennungsvereinbarung verpflichtet, dem Generalsekretariat der EDK die Personen-

daten nach Rechtskraft des entsprechenden Entscheides mitzuteilen. Da die EDK die

329 / 931

oben erwähnte Liste gestützt auf die interkantonale Diplomanerkennungsvereinba-

rung

343

führt, ist es naheliegend, dass die Kantone auch Aufgaben im Vorwarnmecha-

nismus an die EDK delegieren werden. Delegieren die Kantone diese Aufgabe an die

EDK, wird diese nach Absatz 4 Warnungen im Schulbereich zentral erfassen können.

Solche interkantonalen Lösungen sind auch im Gesundheitswesen durch die GDK und

im sozialen Bereich durch die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und So-

zialdirektoren (SODK) denkbar.

Art. 14 Warnung bei gefälschten Berufsqualifikationsnachweisen

Artikel 14 regelt die Warnungen beim Vorliegen gefälschter Berufsqualifikations-

nachweise (Abschlüsse, Diplome etc.). Die Schweiz ist verpflichtet, die zuständigen

Behörden der EU-Staaten mittels IMI zu informieren, wenn bei einem/r Berufsange-

hörigen, der/die die Anerkennung in der Schweiz beantragt hat, gerichtlich festgestellt

wurde, dass er/sie gefälschte Berufsqualifikationen verwendet hat. Die Information

hat binnen drei Tagen nach Vorliegen der gerichtlichen Entscheidung zu erfolgen. Das

SBFI wird in diesen Fällen zentralisiert die Einträge im IMI erfassen. Es wäre nicht

zweckmässig, im IMI alle Justizbehörden zu erfassen, die eine Massnahme oder Sank-

tionen verhängen. Da Fälschungen im Endeffekt nur sehr selten vorkommen, wären

es zu viele Justizbehörden. Die Justizbehörden informieren die Stellen gemäss Arti-

kel 2 Absatz 2 Buchstabe a und das SBFI über die Urteile, damit die Warnung frist-

gerecht im IMI erfolgen kann.

6

. Abschnitt

Datenaustausch

Der 6. Abschnitt regelt den Datenaustausch und legt fest, welche Stellen, welche Per-

sonendaten zu welchem Zweck austauschen. Die zuständigen Stellen rufen Daten ab

und bearbeiten sie mittels IMI zur Erfüllung ihrer Aufgabe. Dabei werden Daten an-

deren Mitgliedstaaten zum Zwecke der Verwaltungszusammenarbeit über IMI be-

kanntgegeben. Der angepasste Anhang III FZA und die darin übernommenen Rechts-

akte

der

EU,

die

direkt

anwendbar

sind

(

self-executing),

regeln

die

datenschutzrechtlichen Aspekte materiell. In den einzelnen Rechtsakten sind Perso-

nendaten, einschliesslich besonders schützenswerter Personendaten, genannt, die mit-

tels IMI ausgetauscht werden. Somit deckt das vorliegende Gesetz den gesamten Da-

tenaustausch auch auf kantonaler Ebene ab. Den Kantonen steht es jedoch frei, wenn

sie es als nützlich erachten, ihre Gesetzgebung auf kantonaler bzw. interkantonaler

344

Ebene anzupassen.

Art. 15 Austausch von Personendaten

343

Interkantonale Vereinbarung über die Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen vom 18.

Februar 1993, www.edk.ch > Dokumentation > Rechtstexte und Beschlüsse > Rechts-

sammlung > 4. Diplomanerkennung > 4.1 Grundlagen > 4.1.1 Interkantonale Vereinba-

rung vom 18. Februar 1993 über die Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen.

344

Z.B. die interkantonale Vereinbarung über die Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen

vom 18. Februar 1993, www.edk.ch > Dokumentation > Rechtstexte und Beschlüsse >

Rechtssammlung > 4. Diplomanerkennung > 4.1 Grundlagen > 4.1.1 Interkantonale Ver-

einbarung vom 18. Februar 1993 über die Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen.

330 / 931

Nach Artikel 15 Absatz 1 tauschen die zuständigen Stellen Personendaten, ein-

schliesslich besonders schützenswerter Personendaten, mittels IMI aus. Der Aus-

tausch erfolgt mittels IMI in den Bereichen des behördlichen Informationsaustau-

sches, des EPC-Verfahrens und des Vorwarnmechanismus. In Absatz 2 wird die

Verarbeitung besonderer Datenkategorien geregelt. Dieser Absatz widerspiegelt in-

haltlich Artikel 16 Absatz 2 der IMI-Verordnung.

Absatz 3

verweist direkt auf die anwendbaren Rechtsakte, die ausreichend bestimmt

sind und Teil der schweizerischen Rechtsordnung werden. Es betrifft die Rechtsakte,

die gestützt auf Anhang III FZA gelten. Nach Artikel 7 und Anhang VII der Richtlinie

2005/36/EG, Artikeln 4

e

und 56

a

der geänderten Richtlinie 2005/36/EG und Arti-

kel 4, 10 und 24 der Durchführungsverordnung 2015/983 werden insbesondere fol-

gende Daten bearbeitet:

Informationen zur Berufsqualifikation (Gültigkeit und Echtheit des Ab-

schlusses, berufliche Tätigkeiten, die die Person mit dem entsprechenden

Abschluss ausüben darf, Dauer und Inhalt der absolvierten Ausbildung);

Adresse, Geburtsort, Staatsangehörigkeit, Nummer des Identitätsausweises;

Informationen über die Art und die Dauer der Berufserfahrung, beispiels-

weise in Form eines Lebenslaufs;

Informationen über die rechtmässige Niederlassung (Berechtigung bzw.

Bewilligung zur Berufsausübung, einschliesslich einer Begründung im Fall

einer Einschränkung derselben);

Informationen zur körperlichen und geistigen Gesundheit, finanziellen

Leistungsfähigkeit, Versicherungsdeckung oder Konkursfreiheit, sofern

dies Voraussetzungen für die Berufsausübung sind;

Informationen über allfällige disziplinarische oder gerichtliche Massnah-

men, wie das Verbot oder die Beschränkung der Berufsausübung, ein-

schliesslich Begründung, Dauer und Modalitäten der Massnahmen, sowie

Strafurteile betreffend gefälschter Berufsqualifikationsnachweisen.

Art. 16 Zugriff auf Personendaten im IMI

In Artikel 16 wird der elektronische Zugriff zum IMI auf diejenigen Personendaten,

einschliesslich besonders schützenswerter Personendaten, beschränkt, welche die zu-

ständigen Stellen zur Erfüllung ihrer Aufgaben im behördlichen Informationsaus-

tausch, EPC-Verfahren und Vorwarnmechanismus benötigen.

Art. 17 Information über eine Warnung

Artikel 17 betrifft den Vorwarnmechanismus und verpflichtet die zuständigen Stellen,

die betroffene Person zu informieren, wenn eine ausgehende Warnung im IMI erfasst

worden ist. Diese Verpflichtung ist in Artikel 56

a

Absatz 6 der geänderten Richtlinie

2005/36/EG verankert.

331 / 931

Art. 18 Auskunfts- und Berichtigungsrecht

Das Auskunftsrecht, das Recht auf Berichtigung und das Recht auf Löschung ist ein

wesentlicher Bestandteil im Zusammenhang mit dem Datenschutz. Artikel 18 bezieht

sich auf die schweizerische Datenschutzgesetzgebung und widerspiegelt Artikel 19

der IMI-Verordnung. Die Möglichkeit, Personendaten einzusehen oder unrichtige Da-

ten zu berichtigen, ist explizit gegeben. Es braucht ein schriftliches Gesuch beim

SBFI. Allfällige Beschwerden sind gestützt auf Absatz 2 beim SBFI einzureichen.

Beschwerden richten sich nach Artikel 41 des Datenschutzgesetzes.

7. Abschnitt

Aufsicht über die Bearbeitung von Daten

Der 7. Abschnitt regelt die Aufsicht über die Bearbeitung von Daten. Die rechtliche

Grundlage des IMI wurde durch die IMI-Verordnung geschaffen. Wie Artikel 21 Ab-

satz 3 der IMI-Verordnung entnommen werden kann, gewährleisten die nationalen

Datenschutzbehörden (Kontrollstellen) und der oder die Europäische Datenschutzbe-

auftragte (EDSB) im Rahmen ihrer jeweiligen Befugnisse eine koordinierte Überwa-

chung des IMI und seiner Nutzung durch die IMI-Akteure und Akteurinnen. Um dies

gewährleisten zu können, treffen sich die Datenschutzbehörden betreffend das IMI im

Rahmen des CSC (

Coordinated Supervision Committee)

des Europäischen Daten-

schutzausschusses (EDSA). Es gelten sowohl der Eidgenössische Datenschutz- und

Öffentlichkeitsbeauftragte (EDÖB) als auch die kantonalen Datenschutzbehörden in

diesem Zusammenhang als nationale Kontrollstellen. Der EDÖB und die kantonalen

Datenschutzbehörden arbeiten im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten zusam-

men und koordinieren die Aufsicht über die Bearbeitung von Personendaten in der

Schweiz. Dabei handelt es sich um eine koordinierte Zusammenarbeit und Überwa-

chung (wie dies auch auf europäischer Ebene gemäss Art. 21 Abs. 3 IMI-Verordnung

vorgesehen ist). Der EDÖB ist die nationale Ansprechstelle für den Europäischen Da-

tenschutzbeauftragten.

8. Abschnitt:

Schlussbestimmungen

Art. 20 Internationale Abkommen

Artikel 20 enthält eine Delegationsnorm an den Bundesrat zum Abschluss internatio-

naler Abkommen. Sie soll die künftige Übernahme des EU-

Acquis

in einem sehr tech-

nischen Bereich erleichtern und eine Ausweitung der von diesem Gesetz erfassten

Bereiche für die Beteiligung am IMI ermöglichen. Zu denken ist hier insbesondere an

EPCs für neue Berufe.

2.3.8.3.3

Änderung anderer Erlasse

Die Änderungen anderer Erlasse werden im Anhang des Umsetzungserlasses aufge-

führt. Auf Bundesebene gibt es einen Änderungsbedarf für folgende Bundesgesetze:

MedBG, PsyG, GesBG und BGMD.

Im BGMD wird ein neuer Artikel 2 Absatz 1

bis

eingefügt. Dienstleistungserbringerin-

nen und -erbringer, die ein EPC-Zertifikat zwecks Dienstleistungserbringung vorwei-

sen können, werden von der Meldepflicht befreit. So wird eine unnötige Doppelspu-

rigkeit vermieden. Die Bestimmungen für ein EPC-Zertifikat sehen die gleichen

332 / 931

Unterlagen vor wie beim Meldeverfahren gemäss BGMD. Dabei sind auch dieselben

Behörden involviert.

Das MedBG, PsyG und GesBG werden für die Verwendung des IMI für die Verwal-

tungszusammenarbeit mit einer entsprechenden Bestimmung ergänzt. Zudem wird die

Möglichkeit des EPC-Verfahrens für die Diplome als Apothekerinnen und Apotheker

im MedBG (Art. 15 Abs. 1

bis

) verankert und für die Physiotherapeutinnen und Physi-

otherapeuten sowie für die Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner im GesBG

(Art. 10 Abs. 1

bis

). Ziel der Anpassung ist, dass ein EPC-Zertifikat direkt von den Be-

hörden akzeptiert wird, ohne dass weitere schriftliche Unterlagen verlangt werden.

Ausserdem wird in allen drei Gesetzen eine neue Bestimmung über die Verwaltungs-

zusammenarbeit verankert (Art. 50 Abs. 1, Bst. d

bis

und Abs. 3 MedBG, Art. 10

Abs. 5 GesBG, Art. 37 Abs. 4 PsyG). Diese wird die Behörden dazu verpflichten, die

Verwaltungszusammenarbeit einschliesslich der Verarbeitung der besonders schüt-

zenswerter Personendaten mit EU/EFTA-Staaten mittels IMI durchzuführen (s. zum

Geltungsbereich Ausführungen zu Art. 2 Bundesgesetz über die Verwaltungszusam-

menarbeit im Bereich der Anerkennung von Berufsqualifikationen Ziff. 2.3.8.3.2).

Artikel 35 Absatz 1

bis

MedBG und Artikel 15 Absatz 1

bis

GesBG regeln das Verfah-

ren für Dienstleistungserbringerinnen und -Dienstleistungserbringer, die ein EPC-

Zertifikat zwecks Dienstleistungserbringung vorweisen.

Das Bundesgesetz vom 17. Dezember 2010 über das Bergführerwesen und Anbieten

weiterer Risikoaktivitäten wird nicht geändert. Die rechtliche Umsetzung des EPC-

Verfahrens für Bergführer und Bergführerinnen erfordert lediglich eine Anpassung

auf Verordnungsstufe

.

2.3.8.4

Lohnschutz

2.3.8.4.1

Entsendegesetz (EntsG)

1. Abschnitt: Gegenstand und Begriff

Art. 1 Abs. 2

bis

Neu werden in Absatz 2

bis

in Ergänzung des Gesetzesgegenstandes die Meldepflichten

der Arbeitgeber bei Entsendungen und kurzfristigen Stellenantritten in der Schweiz

sowie die Meldepflicht von selbstständig erwerbstätigen Dienstleistungserbringerin-

nen und Dienstleistungserbringern mit Niederlassung im Ausland aufgeführt. Unter

die Meldepflicht fallen zudem neu auch im Ausland wohnhafte Personen, die bis zu

drei Monaten innerhalb eines Kalenderjahres in der Schweiz eine selbstständige Er-

werbstätigkeit ausüben, die im Ausland jedoch keine Niederlassung haben (siehe be-

treffend Aufenthaltsberechtigung gestützt auf die Richtlinie 2004/38/EG Ziffer

2.3.5.2.1 und die Erläuterungen zur Gemeinsamen Erklärung über die Meldung be-

treffend Stellenantritte und Einseitige Erklärung der Schweiz über die bei Selbststän-

digen zu ergreifenden Massnahmen im Rahmen des Meldeverfahrens für kurzfristige

Erwerbstätigkeit ).

2. Abschnitt: Arbeitgeberpflichten

Art. 2 Abs. 2

ter

333 / 931

Gemäss dem neuen Artikel 5h des FZA können die PK von allgemeinverbindlich er-

klärten GAV von einem Arbeitgeber, welcher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer

entsendet, in von der Schweiz aufgrund einer Risikoanalyse autonom definierter Bran-

chen vor Arbeitsbeginn die Hinterlegung einer verhältnismässigen Kaution verlangen,

wo ein ave GAV die Hinterlegung einer Kaution vorsieht und wenn dieser Arbeitge-

ber offene finanzielle Verpflichtungen gegenüber den paritätischen Kommissionen

hat, weil namentlich eine Konventionalstrafe nicht beglichen wurde. Der Wortlaut des

bisherigen Artikel 2 Absatz 2

ter

EntsG muss entsprechend angepasst werden. Neu gilt

eine Kautionspflicht, wo ein ave GAV die Hinterlegung eine Kaution vorsieht, somit

nur noch im Wiederholungsfall. Im Wiederholungsfall bedeutet, dass nach einem

Verstoss und einer daraus resultierenden Konventionalstrafe, die nicht beglichen wird,

der Arbeitgeber bei einer erneuten (wiederholten) Entsendung eine Kaution hinterle-

gen muss. Die Kaution gelangt bereits heute nur in Risikobranchen wie namentlich

dem Baunebengewerbe oder der privaten Sicherheitsdienstleistungsbranche zur An-

wendung. In die Bestimmung der Risikobranchen sollen die Erkenntnisse aus der

Vollzugs- und Kontrollpraxis einbezogen werden. Diese Prüfung kann im Rahmen

der Verfahren um Allgemeinverbindlicherklärung von GAV erfolgen. Im Falle der

Nichtzahlung der Kaution können die kantonalen Behörden verhältnismässige Sank-

tionen bis hin zu einer Dienstleistungssperre verhängen. Gestützt auf den neuen Arti-

kel 9 Absatz 2 Buchstabe b

bis

EntsG kann die kantonale Behörde bei Verstössen gegen

Artikel 2 Absatz 2

ter

EntsG eine Verwaltungssanktion bis 30 000 CHF aussprechen

(Ziffer 1), oder den betreffenden Unternehmen verbieten, bis zur Hinterlegung der

Kaution nach Artikel 2 Absatz 2

ter

EntsG in der Schweiz ihre Dienste anzubieten (Zif-

fer 2). Zu beachten ist, dass eine neu ausgerichtete Kaution nicht für die Begleichung

offener finanzieller Verpflichtungen aus früheren Einsätzen des Arbeitgebers verwen-

det werden kann.

Art. 2 Abs. 3 und 5 zweiter Satz

Die Auslagenentschädigung, welche bisher in Artikel 2 Absatz 3 geregelt war, wird

neu in einem eigenen Artikel 2

a

aufgenommen und Artikel 2 Absatz 3 aufgehoben.

Der in Artikel 2 Absatz 5 zweiter Satz enthaltene Verweis auf die Auslangeentschä-

digung wird entsprechend angepasst.

Art. 2a

Die Pflicht zur dynamischen Rechtsübernahme beinhaltet auch die EU-

Spesenregelung gemäss Artikel 3 Absatz 7 Unterabsatz 2 der Richtlinie 96/71/EG,

wie durch Richtlinie (EU) 2018/957 geändert. Gemäss dem Wortlaut dieser Bestim-

mung ist der Arbeitgeber verpflichtet, die Kosten im Zusammenhang mit der Entsen-

dung im Einklang mit den auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren nationalen Rechts-

vorschriften und/oder Gepflogenheiten zu erstatten. Die in der Schweiz seit 1. April

2020 geltende Spesenregelung (Artikel 2 Absatz 3 EntsG) wird nun mit Artikel 2a

dahingehend an die revidierte Richtlinie 96/71/EG angepasst und in Absatz 1 wird

entsprechend geregelt, dass sich die notwendig entstehenden Auslagen nach den auf

das Arbeitsverhältnis anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften oder nationalen

Gepflogenheiten richten. Es gilt wie bisher der Grundsatz, dass Entschädigungen für

Auslagen wie Reise, Unterkunft und Verpflegung nicht als Lohnbestandteil gelten.

334 / 931

Absatz 2 statuiert eine Pflicht zur Auszahlung des Differenzbetrags, wenn durch die

Entschädigung nach Absatz 1 die notwendig entstehenden Auslagen nicht gedeckt

sind. Als notwendig entstehende Auslagen können die tatsächlich im Zusammenhang

mit der Entsendung entstandenen Kosten betrachtet werden. Der Begriff der notwen-

dig entstehenden Auslagen richtet sich nach Artikel 327

a

OR und somit nach Schwei-

zer Recht. Aus Sicht des Bundesrates wird dadurch der Grundsatz «gleicher Lohn für

gleiche Arbeit am gleichen Ort» verwirklicht, den die Schweiz und die EU als ge-

meinsames Ziel und Prinzip im Bereich des Lohnschutzes definiert haben (vgl. die

Gemeinsame Erklärung zum Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen

Ort» und zu einem angemessenen und ausreichenden Schutzniveau für entsandte Ar-

beitnehmende). Bietet das auf das Arbeitsverhältnis der entsandten Arbeitnehmerin-

nen oder des entsandten Arbeitnehmers anwendbare nationale Recht oder die natio-

nalen Gepflogenheiten keine ausreichende Kostenerstattung und gehen die Auslagen

für Reise, Unterkunft und Verpflegung ganz oder teilweise zulasten der entsandten

Arbeitnehmerin oder des entsandten Arbeitnehmers, wäre das Prinzip «Gleicher Lohn

für gleiche Arbeit am gleichen Ort» nicht gewährleistet. Artikel 3 Absatz 10 der revi-

dierten Entsenderichtlinie erlaubt es, unter Einhaltung des Abkommens auf Unterneh-

men aus den EU-Mitgliedstaaten in gleicher Weise wie für inländische Unternehmen

Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für andere als die in Artikel 3 Absatz 1 Un-

terabsatz 1 der revidierten Entsenderichtlinie aufgeführten Aspekte vorzuschreiben,

soweit es sich um Vorschriften im Bereich der öffentlichen Ordnung handelt. Es ist

folglich möglich, zusätzlich zum abschliessenden Katalog der Arbeits- und Beschäf-

tigungsbedingungen in Artikel 3 Absatz 1 Unterabsatz 1 der revidierten EU-

Entsenderichtlinie, weitere Vorschriften zum Arbeitnehmerschutz zu definieren. Da-

von macht Absatz 2 Gebrauch. Diese weiteren Vorschriften müssen nichtdiskriminie-

rend und verhältnismässig sein sowie zum Bereich der öffentlichen Ordnung gehören.

Für inländische Arbeitsverhältnisse ist die Spesenregelung von Artikel 327a OR an-

wendbar, die den Arbeitgeber verpflichtet, alle durch die Ausführung der Arbeit not-

wendig entstehenden Auslagen zu ersetzen, bei Arbeit an auswärtigen Arbeitsorten

auch die für den Unterhalt erforderlichen Aufwendungen. Damit ist die Gleichbehand-

lung zwischen in- und ausländischen Betrieben sichergestellt. Der Grundsatz der Ver-

hältnismässigkeit ist gewahrt, indem primär das auf das Arbeitsverhältnis der entsand-

ten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anwendbare nationale Recht oder die

nationalen Gepflogenheiten anwendbar sind und nur wenn die notwendig entstehen-

den Auslagen nicht gedeckt sind, die Erstattungspflicht nach Absatz 2 zur Anwendung

gelangt.

Vor dem Hintergrund, dass die Schweiz im Vergleich zu den EU-

Mitgliedstaaten ein deutlich höheres Preisniveau und damit deutlich höhere Lebens-

haltungskosten aufweist, ist eine Massnahme wie in Artikel 2a Absatz 2 VE-EntsG

vorgesehen für den Erhalt des sozialen Standards und des sozialen Friedens und für

die Garantie von fairen Wettbewerbsbedingungen zwischen in- und ausländischen

Unternehmen unabdingbar. Sie ist somit als Vorschrift zum Erhalt der öffentlichen

Ordnung zu qualifizieren.

Zu Absatz 3: Zur Entschädigung der Auslagen können zwischen Arbeitgeber und Ar-

beitnehmerinnen und Arbeitnehmern ortsübliche Pauschalen oder ortsübliche Tages-

oder Monatsvergütungen vereinbart werden. Die Höhe der in ave GAV vereinbarten

Entschädigungen dürfte als ortsüblich gelten. Wo solche fehlen, werden in der Ver-

waltungsweisung zum Lohnvergleich Beträge festgelegt. Im Vollzug des EntsG wird

335 / 931

die Kostenentschädigung in die Kontrolle der Einhaltung der Mindestlöhne miteinbe-

zogen, und vom Arbeitgeber wird der Nachweis der Vergütung der Kosten verlangt.

An diesem Vorgehen wird sich auch künftig nichts ändern.

Art 5 Abs. 1

bis

, 2 zweiter Satz und 3 erster Satz

In

Absatz 1

bis

wird der Gegenstand der Haftung des Erstunternehmers auf die von den

PK eines ave GAV gegenüber den Subunternehmern ausgesprochenen Konventional-

strafen und Kontrollkosten erweitert. Diese erstreckt sich wie die bereits bestehende

Haftung für Arbeitnehmerforderungen auf alle dem Erstunternehmer nachfolgenden

Subunternehmer. Die Durchsetzung der Haftung richtet sich wie die bestehende nach

Zivilrecht und beschränkt sich auf das Bauhaupt- und Baunebengewerbe. Sie kommt

nicht zur Anwendung, wenn die Subunternehmer eine Kaution hinterlegt haben.

In

Absatz 2

wird die Haftungserweiterung an die Bedingung geknüpft, dass der Sub-

unternehmer zuvor erfolglos belangt wurde oder nicht belangt werden kann. Dieser

Subsidiaritätsgrundsatz gilt auch heute im Zusammenhang mit den Forderungen der

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Er bedeutet, dass die Haftung erst dann zum

Zuge kommt, wenn die Forderungen beim Subunternehmer nicht erhältlich sind. Im

internationalen Kontext kann grundsätzlich von einer Uneinbringlichkeit der Forde-

rungen beim Subunternehmer ausgegangen werden, wenn die Zahlung nach Zah-

lungsaufforderung und Mahnung ausbleibt und die zivilrechtliche Verfolgung auf

dem Gerichtsweg im Einzelfall nicht möglich oder nicht erfolgreich ist. Der Entscheid

der Zivilgerichte zu diesem Punkt auf der Grundlage der besonderen Umstände eines

konkreten Falls bleibt vorbehalten.

Zu Absatz 3:

Die Exkulpationsmöglichkeit des Erstunternehmers aufgrund der Erfül-

lung seiner Sorgfaltspflicht wird auch im Falle einer Haftung für die Forderungen der

PK anwendbar sein und Absatz 3 entsprechend ergänzt. Inhaltlich ist keine Anpassung

der Anforderungen an die Sorgfaltspflicht des Erstunternehmers notwendig. Es gelten

dieselben Anforderungen wie bei der Haftung des Erstunternehmers für die Arbeit-

nehmerforderungen gegenüber den Subunternehmern. Der Bundesrat hat in der EntsV

(Art. 8

a

bis 8

c

) in nicht abschliessender Weise definiert, mit welchen Dokumenten

und Belegen die Einhaltung der minimalen Arbeits- und Lohnbedingungen glaubhaft

dargelegt und die Sorgfaltspflicht erfüllt werden kann. Eine von den Sozialpartnern,

den Kantonen und dem SECO ausgearbeitete Empfehlung zur Erfüllung der Sorg-

faltspflicht sieht vor, dass der Erstunternehmer in Branchen mit ave GAV vom Sub-

unternehmer eine durch die PK ausgestellte Bescheinigung verlangt, die Auskunft

darüber gibt, ob der Subunternehmer kontrolliert wurde und ob er die Arbeits- und

Lohnbedingungen einhält (Art 8b Abs. 1 Bst. c EntsV).

Es obliegt jedoch den Gerich-

ten, diese Frage aufgrund der Umstände des Einzelfalles zu beurteilen.

Vor dieser Ausgangslage sind in der EntsV keine Anpassungen notwendig.

Art. 5a

Zu Absatz 1:

Bei einer Entsendung in die Schweiz soll der Arbeitgebende neu eine

Ansprechpartnerin oder einen Ansprechpartner benennen, welche oder welcher als

dessen Vertreterin oder Vertreter in der Schweiz von den Behörden und Organen nach

336 / 931

Artikel 8

o

Absatz 1 VE-EntsG kontaktiert werden kann. Analog zu Artikel 9 Ab-

satz 1 Buchstabe e Richtlinie 2014/67/EU soll die Ansprechpartnerin oder der An-

sprechpartner in Vertretung des Arbeitgebenden in der Schweiz rechtsgültig für die-

sen Dokumente und Mitteilungen betreffend die minimalen Lohn- und

Arbeitsbedingungen entgegennehmen und weiterleiten.

Absatz 2:

Der Bundesrat wird in Artikel 5

a

Absatz 2 VE-EntsG ermächtigt, die Ein-

zelheiten zur Ansprechpartnerin bzw. zum Ansprechpartner, insbesondere die Anfor-

derungen an die Ansprechpartnerin oder den Ansprechpartner, den Zeitraum, während

dem sie oder er verfügbar sein muss und die Ausnahmen von der Pflicht zur Benen-

nung einer solchen Person zu regeln. Dabei dürfen keine unverhältnismässigen oder

diskriminierenden Anforderungen an die Ansprechpartnerin oder den Ansprechpart-

ner gestellt werden. Es kann aber bestimmt werden, dass diese Person während des

gesamten Ansprechzeitraumes in der Schweiz anwesend ist. Zudem kann bestimmt

werden, dass die Ansprechpartnerin oder der Ansprechpartner sowohl eine natürliche

wie auch eine juristische Person sein kann. Weiter kann der Ansprechzeitraum korre-

lierend zur Dauer des Kontrollverfahrens definiert werden, aufgrund des Verhältnis-

mässigkeitsprinzips jedoch nicht länger als zwei Jahre nach Abschluss der Entsen-

dung. Ausnahmen von der Pflicht zur Benennung einer Ansprechpartnerin oder eines

Ansprechpartners können insbesondere für Tätigkeiten von kurzer Dauer und aus-

serhalb von Branchen nach Artikel 6 Absatz 2 EntsV vorgesehen werden. Weiter kön-

nen Ausnahmen auch bei Notfällen bestimmt werden. Als Notfälle sind insbesondere

unvorhersehbare Ereignisse denkbar, die eines unverzüglichen Arbeitseinsatzes be-

dürfen.

Art. 6 Sachüberschrift, Abs. 1 Einleitungssatz und Bst. d-f sowie Abs. 1

bis

, 3, 4, 5

Bst. b und 6

Zu Absatz 1 Einleitungssatz und Bst. d-f

: Nach geltendem Wortlaut muss der Arbeit-

gebende der vom Kanton bezeichneten Behörde die für die Durchführung der Kon-

trollen erforderlichen Angaben melden. In der Regel erfolgt die Meldung online via

Webapplikation. Die Meldung wird an das Zentrale Migrationsinformationssystem

des Staatssekretariats für Migration übermittelt und dort von der zuständigen kanto-

nalen Behörde bearbeitet. Anschliessend werden die Meldedaten an die kantonalen

Systeme übermittelt und von dort triagiert. Die kantonale Behörde übermittelt darauf

eine Kopie der Meldung an das zuständige Kontrollorgan. Um die Übermittlung der

Meldung möglichst effizient zu gestalten und der Kontrollplanung infolge der Ver-

kürzung der Voranmeldefrist gerecht zu werden, wird die Weiterleitung der Meldung

neu auf Ebene Bund direkt an die zuständigen Kontrollorgane erfolgen.

Im Meldeverfahren sollen neu auch Angaben zur Ansprechpartnerin bzw. zum An-

sprechpartner und den im Inland vorzuweisenden Dokumente gemacht werden (siehe

dazu die neuen Art. 5

a

und Art. 7 Abs. 2

bis

und 2

ter

VE-EntsG).

Die zu machenden

Angaben zum Datum des Tätigkeitsbeginns und die voraussichtliche Dauer der Tä-

tigkeit werden neu auf Gesetzesstufe geregelt.

Zu Absatz 1

bis

: Nach geltendem Recht können sich meldepflichtige Personen auf zwei

Arten bei der zuständigen kantonalen Behörde melden. Es kann eine Online-Meldung

(Normalverfahren) oder eine Meldung auf dem Postweg oder per Fax (schriftliches

337 / 931

Verfahren) vorgenommen werden. Neu wird eine Meldung nur noch über das Nor-

malverfahren erfolgen können. Die Richtlinie 2014/67/EU steht einer Beschränkung

der Meldung über das Internet nicht entgegen.

Zu Absatz 3

: Nach geltendem Recht darf die Arbeit grundsätzlich frühestens acht Ka-

lendertage, nachdem der Einsatz gemeldet worden ist, aufgenommen werden. Neu soll

diese Frist auf vier Arbeitstage verkürzt werden und nur noch für Tätigkeiten in be-

stimmten Branchen gelten. Zu den Arbeitstagen zählen die Werktage ohne Samstage.

Die Voranmeldefrist nach Absatz 3 und deren Anwendung auf spezifische Branchen

stützt sich auf den neuen Artikel 5g des FZA und hat zum Ziel, Kontrollen vor Ort zu

ermöglichen. Für die übrigen Branchen soll die Voranmeldefrist wegfallen. Für sie

gilt, dass die Meldung vor Beginn des Einsatzes erfolgen muss.

Analog zur Regelung der Branchen, in welchen die acht meldefreien Tage nicht gelten

(Art. 6 Abs. 2 EntsV), soll auch die Bestimmung bestimmter Branchen, in welchen

die viertägigen Voranmeldefrist gelten soll, auf Verordnungsstufe erfolgen. Artikel 6

Absatz 3 VE-EntsG ermächtigt den Bundesrat deshalb, diese Branchen festzulegen.

Die Bestimmung dieser Branchen soll dabei basierend auf einer Risikoanalyse erfol-

gen und die Erkenntnisse aus der Vollzugs- und Kontrollpraxis einbeziehen. Infrage

kommen namentlich die Branchen nach Artikel 6 Absatz 2 EntsV, insbesondere das

Baunebengewerbe.

Zu Absatz 4

: Diese Änderung betrifft die zuständige Behörde, welche gemäss Absatz

1 neu eine Bundesbehörde sein wird. Zudem wird die vom Kanton nach Artikel 7

Absatz 1 Buchstabe d VE-EntsG bezeichnete Behörde in Absatz 4 aufgenommen,

weil gemäss Absatz 1 nicht mehr die kantonale Behörde Adressatin der Meldung ist,

sondern die zuständige Behörde des Bundes.

Zu Absatz 5 Buchstabe b

: Aufgrund der Verkürzung der Voranmeldefrist auf vier Ar-

beitstage muss der Wortlaut angepasst werden.

Zu Absatz 6

: Der Bundesrat wird ermächtigt, die Bundesbehörde zu bestimmen, an

die die Meldung eines Einsatzes in der Schweiz erfolgen muss und die für die Über-

mittlung der Meldung nach Absatz 4 zuständig ist. Aus Effizienzgründen soll in Zu-

kunft auch möglich sein, dass die Weiterleitung der Meldung basierend auf den in

einem Triage-Instrument hinterlegten kantonalen Parametrisierungen automatisiert

über eine elektronische Schnittstelle (bspw. über die Plattform für elektronische Kom-

munikation nach Art. 8

r

VE-EntsG) erfolgt. Aus diesem Grund wird der Bundesrat

auch befugt, eine automatisierte Übermittlung über eine elektronische Schnittstelle

vorzusehen.

Art. 6a

Artikel 6

a

regelt die Meldepflicht von Schweizer Arbeitgebern für die Anstellung im

Rahmen eines Arbeitsverhältnisses von im Ausland wohnhaften Personen bis zu drei

Monaten innerhalb eines Kalenderjahres. Da die Anmelde- bzw. Registrierungspflicht

im Rahmen des FZA erst bei einem Aufenthalt bzw. einer Erwerbstätigkeit von über

drei Monaten besteht, behalten Personen mit einem Stellenantritt von bis zu drei Mo-

naten ihren Wohnsitz im Ausland. Der Gesetzestext spricht nicht von Arbeitnehme-

rinnen und Arbeitnehmern, sondern Personen, damit nicht der Eindruck entsteht, es

338 / 931

handle sich um bereits im Herkunftsland tätige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Dies muss nicht der Fall sein.

Die Meldung muss spätestens am Tag vor dem Beginn der Erwerbstätigkeit gemacht

werden (Abs. 2) und enthält folgende Angaben: Die für die Meldung verantwortliche

Person; die Identität der gemeldeten Person; das Datum des Tätigkeitsbeginns und die

voraussichtliche Dauer; die in der Schweiz ausgeübte Tätigkeit und den Ort, an dem

die Arbeit ausgeführt wird (Abs. 1 Bst. a bis e). Der Bundesrat wird die Angaben

präzisieren, welche die Meldung enthalten muss (Abs. 3). Die Angaben müssen online

und in der Amtssprache des Einsatzortes übermittelt werden und werden den zustän-

digen Kontrollorganen weitergeleitet (Abs. 4). Die Kontrolle dieser sogenannten kurz-

fristigen Stellenantritte erfolgt wie bei allen Schweizer Arbeitgebern durch die für den

Vollzug von ave GAV zuständigen paritätischen Organe oder im Rahmen der Arbeits-

marktbeobachtung durch die tripartiten Kommissionen nach Artikel 360

b

OR. Aus

diesem Grund sind keine spezifischen Regelungen zur Kontrolle oder zur Auskunfts-

und Mitwirkungspflicht erforderlich.

3. Abschnitt: Selbstständige Erwerbstätigkeit

Art. 6b

Artikel 6

b

regelt die neue Meldepflicht von selbstständigen Dienstleistungserbringe-

rinnen und Dienstleistungserbringern mit Niederlassung im Ausland. Aus Gründen

der Gleichbehandlung wird die Meldepflicht

auf alle Dienstleistungserbringerinnen

und Dienstleistungserbringern unabhängig ihrer Nationalität als Staatsangehörige der

EU- und EFTA-Mitgliedstaaten oder als Schweizer Staatsangehörige anwendbar sein,

weshalb der Begriff «ausländische» gestrichen wird. Analog der Entsendung von Ar-

beitnehmerinnen und Arbeitnehmern gilt für selbstständige Dienstleistungserbringe-

rinnen und Dienstleistungserbringern in bestimmten Branchen eine viertägige Voran-

meldefrist. Die Festlegung dieser Branchen wird an den Bundesrat delegiert (vgl.

Art. 6 Abs. 3 VE-EntsG). Es wird sich um dieselben Branchen wie bei der Entsendung

von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern handeln. Die Meldung muss folgende

Angaben enthalten: Die für die Meldung verantwortliche Person; die Identität der ge-

meldeten Person; das Datum des Tätigkeitsbeginns und die voraussichtliche Dauer;

die in der Schweiz ausgeübte Tätigkeit und den Ort, an dem die Arbeit ausgeführt

wird (Abs. 1 Bst. a bis e). Der Bundesrat wird die Angaben präzisieren, welche die

Meldung enthalten muss (Abs. 3). Die Angaben müssen online und in der Amtsspra-

che des Einsatzortes übermittelt werden und werden den zuständigen Kontrollorganen

weitergeleitet (Abs. 4). Zudem gelten die Absätze 1

bis

, 4, 5 und 6 von Artikel 6 sinn-

gemäss, weshalb auf die entsprechenden Ausführungen zu Artikel 6 oben verwiesen

wird.

Die Voranmeldefrist nach Absatz 2 und deren Anwendung auf spezifische Branchen

stützt sich auf den neuen Artikel 5g des FZA und hat zum Ziel, Kontrollen vor Ort zu

ermöglichen. Die Schweiz legt die Branchen, in denen die Voranmeldefrist zur An-

wendung gelangt, eigenständig fest.

Art. 6c

339 / 931

Die bisherige Dokumentationspflicht nach Artikel 1

a

wird in Artikel 6

c

Absätze 1 bis

5 verschoben. Abgesehen von redaktionellen Anpassungen erfährt die Bestimmung

keine inhaltlichen Anpassungen. Die Dokumentationspflicht für selbstständige

Dienstleistungserbringerinnen und Dienstleistungserbringer, die sich auf selbststän-

dige Erwerbstätigkeit berufen, stützt sich auf den neuen Artikel 5i des FZA und hat

die Bekämpfung von Scheinselbstständigkeit und die damit verbundenen Umgehung

der schweizerischen Lohn- und Arbeitsbedingungen zum Ziel.

Art. 6d

Die bisherigen Massnahmen bei Verletzung der Dokumentationspflicht werden von

Artikel 1

b

in den neuen Artikel 6

d

verschoben. Abgesehen von redaktionellen Anpas-

sungen erfährt die Bestimmung keine inhaltlichen Anpassungen.

Art. 6e

Artikel 6

e

Absatz 1 enthält neu die Meldepflicht für Personen ohne Niederlassung im

Ausland, die in der Schweiz eine selbstständige Erwerbstätigkeit bis zu drei Monate

im Kalenderjahr ausüben. Die Meldepflicht gilt unabhängig von der Nationalität als

Staatsangehörige der EU--Mitgliedstaaten oder der Schweiz und soll die Kontrolle der

Einhaltung der drei Monate und des Vorliegens einer selbstständigen Erwerbstätigkeit

ermöglichen. Was oben zu Artikel 6

b

ausgeführt wurde zu den Angaben, die die Mel-

dung enthalten und dass die Meldung online und in der Amtssprache des Einsatzortes

übermittelt werden muss, gilt auch hier. Es gilt ausserdem, dass der Bundesrat die

Angaben präzisieren wird, welche die Meldung enthalten muss. Diese Angaben müs-

sen sich auf die Kontrollzwecke fokussieren. Die Kontrollen bezwecken die Aufde-

ckung und Verhinderung von Scheinselbstständigkeit. Die Meldung muss spätestens

am Tag vor dem Beginn der Erwerbstätigkeit erfolgen (Abs. 2). Wie bei Personen mit

einem kurzfristigen Stellenantritt in der Schweiz haben auch Personen, die im Aus-

land wohnhaft sind und in die Schweiz einreisen, um eine kurzfristige selbstständige

Erwerbstätigkeit auszuüben, keine geschäftliche Niederlassung im Ausland. Dem-

nach liegt auch keine grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung vor. Es ist da-

her gerechtfertigt, die Selbstständigen ohne Niederlassung im Ausland bezüglich der

Meldefristen gleich zu behandeln wie Personen, die in der Schweiz eine Stelle von bis

zu drei Monaten antreten. Hinzu kommt, dass es sich um eine Personengruppe han-

delt, bei welcher die Kontrollen mangels Geschäftssitzes schwieriger durchzuführen

sind und daher die Meldung am Tag vor der Erwerbstätigkeit auch aus diesem Grund

gerechtfertigt ist.

Selbstständig Erwerbstätige ohne Niederlassung im Ausland müs-

sen ihre selbstständige Erwerbstätigkeit in der Schweiz nachweisen können (Abs. 3).

Dazu müssen sie den Kontrollorganen die erforderlichen Dokumente und Unterlagen

zur Verfügung stellen, die für die Überprüfung ihres Status erforderlich sind. Wie bei

den selbstständigen Dienstleistungserbringerinnen und Dienstleistungserbringern mit

Niederlassung im Ausland richtet sich der Begriff der selbstständigen Erwerbstätig-

keit nach schweizerischem Recht (Abs. 1 durch Verweis auf Artikel 6

c

Abs. 1). Auch

bei selbstständig Erwerbstätigen ohne Niederlassung im Ausland wird die Verletzung

der Nachweispflicht sanktioniert (Art. 9 Abs. 2 i.V.m. Art. 6

e

Abs. 3 VE-EntsG).

340 / 931

Anders als bei den selbstständigen Dienstleistungserbringerinnen und Dienstleis-

tungserbringern mit Niederlassung im Ausland wird auf Massnahmen wie eine Doku-

mentationspflicht vor Ort und ein Arbeitsunterbruch für Personen mit selbstständiger

Erwerbstätigkeit in der Schweiz ohne Niederlassung im Ausland verzichtet. Zum ei-

nen fallen sie anzahlmässig deutlich weniger ins Gewicht als die selbstständigen

Dienstleistungserbringerinnen und Dienstleistungserbringer und zum anderen sind sie

nicht in denselben Branchen wie diese tätig. Personen ohne Niederlassung im Ausland

betätigen sich beispielsweise im Erotikgewerbe, im Coiffeurgewerbe, als Fahrende

oder als Handelsreisende in der Schweiz. Kontrollen zur Verhinderung von Schein-

selbstständigkeit sind trotzdem möglich.

3a. Abschnitt: Informationsplattform

Art. 6f

Mit Artikel 6

f

wird eine explizite gesetzliche Grundlage für die bereits bestehende

Entsendeplattform des SECO

345

und den nationalen Lohnrechner

346

geschaffen, die

im Entwurf als Informationsplattform bezeichnet wird. Gleichzeitig werden die EU-

Vorgaben nach Artikel 5 der Richtlinie 2014/67/EU für einen besseren Zugang zu In-

formationen und zur Schaffung einer einzigen offiziellen nationalen Informations-

plattform umgesetzt. Webzugangsstandards, die den Zugang für Personen mit Behin-

derungen sicherstellen, werden gestützt auf die gesetzliche Bestimmung errichtet.

Auf der Informationsplattform wird in detaillierter und nutzerfreundlicher Art und

Weise sowie in einem zugänglichen Format klare Angaben über die Arbeits- und Be-

schäftigungsbedingungen und über die rechtlichen Bestimmungen, die auf entsandte

Arbeitnehmer anwendbar sind, gemacht. Weiter werden Links zu Webseiten und

Kontaktstellen der Kontrollorgane des Entsendegesetzes und Informationen zu den

anwendbaren Verfahren zur Ahndung von Verstössen und zur Durchsetzung von Ar-

beits- und Beschäftigungsbedingungen leicht und kostenlos zugänglich gemacht.

Die Informationsplattform wird einen Lohnrechner und weitere Hilfsinstrumente ent-

halten. Bei den Hilfsinstrumenten handelt es sich um Werkzeuge und Anwendungen

auf der Informationsplattform, mit welchen die Besucher der Website den massgebli-

chen Mindestlohn berechnen können. Durch Eingabe der geforderten Angaben kann

auf der Informationsplattform mit dem Hilfsinstrument «Mindestlohnrechner» mit

Suchbegriffen oder durch die Direktwahl des GAV der massgebliche Mindestlohn

eruiert werden.

4. Abschnitt: Kontrolle

Art. 7 Abs. 2, 2

bis

, 2

te

und 2

quater

Zu Absatz 2: In Artikel 7 Absatz 2 bis 2

ter

soll die Pflicht zur Bereithaltung und/oder

Verfügbarmachung von Dokumenten in Papier- oder elektronischer Form vorgesehen

345

www.entsendung.admin.ch.

346

www.entsendung.admin.ch > Lohn und Arbeit > Löhne in der Schweiz > Übliche Lohn-

spanne berechnen.

341 / 931

werden. Diese neuen Regelungen setzen die Dokumentationspflicht vor Ort gemäss

Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe c der Richtlinie 2014/67 um. Unter geltendem Recht

muss der Arbeitgebende den Kontrollorganen erst auf Verlangen alle Dokumente zu-

stellen, welche die Einhaltung der Arbeits- und Lohnbedingungen der Arbeitnehme-

rinnen und Arbeitnehmer belegen (Art. 7 Abs. 2 EntsG). Die neu geregelt Pflicht zur

Bereithaltung und/oder Verfügbarmachung von Dokumenten unterscheidet sich je

nach Dokument hinsichtlich des Ortes sowie des Zeitpunktes und der Zeitdauer der

Bereithaltung und/oder Verfügbarmachung der Dokumente.

Artikel 7 Absatz 2 VE-EntsG sieht vor, dass die entsandten Arbeitnehmerinnen und

Arbeitnehmer am Einsatzort in der Schweiz ihre Identitätspapiere vorweisen müssen.

Diese Pflicht besteht ab Beginn bis zum Abschluss des Einsatzes in der Schweiz.

Zu Absatz 2

bis

:

Artikel 7 Absatz 2

bis

VE-EntsG listet diejenigen Dokumente auf, wel-

che der Arbeitgebende ab Beginn des Einsatzes in der Schweiz in Papierform oder in

elektronischer Form vorweisen können muss. Diese müssen in jedem Falle und nicht

erst auf Verlangen verfügbar sein. Der Ort der Bereithaltung oder Zugänglichma-

chung der Dokumente muss im Meldeverfahren angegeben werden (Art. 6 Abs. 1

Bst. e VE-EntsG). Die Dokumentationspflicht umfasst gemäss Artikel 7 Absatz 2

bis

Buchstabe a VE-EntsG insbesondere den Arbeitsvertrag oder ein gleichwertiges Do-

kument. Ein gleichwertiges Dokument kann die schriftliche Information des Arbeit-

gebenden nach Artikel 7 Absatz 1 der Richtlinie (EU) 2019/1152

347

über transparente

und vorhersehbare Arbeitsbedingungen in der Europäischen Union oder das Formu-

lar A1 sein. Diese Dokumente müssen in einer Amtssprache der Schweiz vorgewiesen

werden.

Zu Absatz 2

2ter

:

Artikel 7 Absatz 2

ter

VE-EntsG sieht vor, dass Arbeitgebende den

Kontrollorganen auf Verlangen weitere Dokumente zur Überprüfung der Einhaltung

der Arbeits- und Lohnbedingungen vorweisen muss. Anders als die Dokumente ge-

mäss Artikel 7 Absatz 2

bis

VE-EntsG müssen die Dokumente nach Artikel 7 Ab-

satz 2

ter

VE-EntsG nicht bereits ab Beginn des Einsatzes in der Schweiz bereitgehalten

oder verfügbar gemacht werden, sondern erst auf Verlangen im Rahmen eines Kon-

troll- oder Sanktionsverfahrens. Unter Absatz 2

ter

fallen auch die Dokumente nach

Absatz 2

bis

, wenn diese nicht wie vorgeschrieben ab Beginn des Einsatzes bereitge-

halten werden oder zu Beginn noch nicht vorliegen.

Zu Absatz 2

quater

(Rechtsetzungsdelegation):

Artikel 7 Absatz 2

quater

VE-EntsG er-

mächtigt den Bundesrat, die Einzelheiten der Dokumentationspflicht, insbesondere

Ausnahmen und Dauer der Pflicht zur Vorweisung der Dokumente, zu regeln. Aus-

nahmen können insbesondere für Tätigkeiten von kurzer Dauer und ausserhalb von

Branchen nach Artikel 6 Absatz 2 EntsV vorgesehen werden. Weiter können Ausnah-

men auch bei Notfällen bestimmt werden. Als Notfälle sind insbesondere unvorher-

sehbare Ereignisse denkbar, die eines unverzüglichen Arbeitseinsatzes bedürfen. Un-

ter

Berücksichtigung

des

Verhältnismässigkeitsprinzips

soll

die

347

Richtlinie (EU) 2019/1152 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019

über transparente und vorhersehbare Arbeitsbedingungen in der Europäischen Union, Fas-

sung gemäss ABl. L 186 vom 11.7.2019, S. 105.

342 / 931

Dokumentationspflicht nur so lange wie notwendig betragen, aber nicht länger als

zwei Jahre nach Abschluss der Entsendung.

5. Abschnitt: Grenzüberschreitende Verwaltungszusammenarbeit: Grundsatz

Art. 8

In Artikel 8 wird die Verpflichtung und die Berechtigung der Vollzugsorgane des

EntsG zur Zusammenarbeit mit den ausländischen Behörden verankert, um die Durch-

führung des Entsenderechts gemäss Artikel 6 der Richtlinie 2014/67 (EU) einerseits

und des Vollzugs des EntsG andererseits sicherzustellen. Die Amtshilfe soll nur sub-

sidiär in Anspruch genommen werden, etwa wenn der betroffene Arbeitgeber nicht

reagiert und die anderen Möglichkeiten wie die Ansprechpartnerin oder der Ansprech-

partner in Artikel 5

a

Absatz 1 VE-EntsG nicht greifen. Auch Vollstreckungsersuchen

von Verwaltungssanktionen sollen nur gestellt werden, wenn diese beim Arbeitgeber

oder bei der selbstständig erwerbstätigen Person nicht vollstreckt werden können.

6. Abschnitt: Grenzüberschreitende Verwaltungszusammenarbeit: Ersuchen auslän-

discher Behörden

Art. 8a

In

Absatz 1

sind die Inhalte der Amtshilfe der ersuchenden ausländischen Behörden

geregelt: die Auskünfte über Arbeitgeber, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so-

wie selbstständige Erwerbstätige aus der Schweiz (Bst. a), die Durchführung von

Kontrollen (Bst. b), die Vollstreckung von rechtskräftigen Verwaltungssanktionen

des ersuchenden Staates (Bst. c) und die Zustellung von Entscheiden und Dokumen-

ten im Zusammenhang mit einer Entsendung (Bst. d).

Absatz 2:

Eine Delegation an den Bundesrat ist vorgesehen, um die Modalitäten der

Ersuchen ausländischer Behörden an die kantonale Behörde nach Artikel 7 Absatz 1

Buchstabe d zu regeln.

Das Ersuchen muss insbesondere folgende Angaben enthalten: (1) die relevanten In-

formationen zur Identifizierung des Empfängers des Ersuchens (zum Beispiel: Name

und Adresse), (2) eine Zusammenfassung des Sachverhalts und der Umstände des

Verstosses, der Art der Zuwiderhandlung und der einschlägigen geltenden Vorschrif-

ten, (3) das Instrument zur Vollstreckung in der Schweiz und alle sonstigen relevanten

Informationen oder Dokumente auch gerichtlicher Art bezüglich der zugrunde liegen-

den Forderung, der Verwaltungssanktion und/oder Geldbusse und (4) Name, Adresse

und sonstige Kontaktdaten der zuständigen Stelle, die für die Beurteilung der Sanktion

und/oder Geldbusse verantwortlich ist, und, falls nicht identisch, der zuständigen

Stelle, bei der weitere Informationen über die Sanktion und/oder Geldbusse oder die

Möglichkeit zur Anfechtung der Zahlungsverpflichtung oder der einschlägigen Ent-

scheidung eingeholt werden können.

Insbesondere müssen bei einem Vollstreckungsersuchen von Verwaltungssanktionen

die folgenden Informationen enthalten sein: das Datum, an dem das Urteil oder die

Entscheidung vollsteckbar oder rechtskräftig wurde, eine Beschreibung der Art und

343 / 931

der Höhe der Sanktion und/oder Geldbusse, alle für den Vollstreckungsprozess sach-

dienlichen Daten, einschliesslich ob und gegebenenfalls wie die Entscheidung oder

das Urteil dem/den Beklagten zugestellt wurde und/oder ob es sich um eine Versäum-

nisentscheidung/ein Versäumnisurteil handelt, sowie eine Bestätigung der ersuchen-

den Behörde, dass gegen die Sanktion und/oder Geldbusse keine weiteren Rechtsmit-

tel eingelegt werden können sowie die dem Ersuchen zugrunde liegende Forderung

und deren verschiedene Bestandteile. Darüber hinaus muss das Ersuchen um Mittei-

lung einer Verwaltungsstrafe oder um Auskunft auch den Gegenstand der Mitteilung

und die Frist, innerhalb derer diese zu erfolgen hat, enthalten.

In der EntsV wird auch die Frist für die Bearbeitung geregelt, diese soll gemäss Arti-

kel 6 Absatz 6 der Richtlinie 2014/67/EU in der Regel längstens 25 Arbeitstage nach

Erhalt des Ersuchens betragen. In dringenden Fällen, die nur eine Einsichtnahme in

ein Register erfordern, soll die Frist spätestens zwei Tage nach Erhalt des Ersuchens

dauern.

Die Mitteilung der Behörden und paritätischen Organe nach Artikel 7 zu den aufgrund

des Ersuchens getroffenen Massnahmen sowie die zu verwendende Währung sind in

der EntsV angegeben.

Schliesslich stützen sich Gegenstand und Modalität des Ersuchens auf Artikel 16 der

Richtlinie 2014/67/EU.

Art. 8b Abs. 2 Bst. a–d und Abs. 3

Diese Bestimmung regelt die Voraussetzungen für die Ablehnung eines Ersuchens.

Diese sind abschliessend. Darüber hinaus sieht die Richtlinie 2014/67/EU kein Aner-

kennungsverfahren des ausländischen Entscheids vor. Falls also die ausländische Be-

hörde von der zuständigen kantonalen Behörde einen Entscheid zur Ablehnung des

Ersuchens verlangt, ist das kantonale Verwaltungsverfahren anwendbar.

Absatz 2 Buchstabe c

sieht einen Mindestbetrag von 350 Euro vor, damit die ersu-

chende ausländische Behörde die kantonale Behörde nach Artikel 7 Absatz 1 Buch-

stabe d um die Vollstreckung ersuchen kann. Für den Wechselkurs wird auf die von

der ESTV veröffentlichten Kurse verwiesen.

348

Absatz 3:

Eine Delegation an den Bundesrat für die Sistierung des Verfahrens ist vor-

gesehen. Eine Sistierung des Verfahrens in der Schweiz wird möglich sein, falls die

Verwaltungssanktion und/oder Geldbusse vom betreffenden Dienstleistungserbringer

oder einer betroffenen Partei im ersuchenden Mitgliedstaat der Europäischen Union

angefochten wird. In der Schweiz hingegen werden keine Rechtsmittel bestehen, um

die Sistierung des Verfahrens zu verlangen.

Schliesslich stützen sich die Ablehnungsgründe auf Artikel 17 der Richtlinie

2014/67/EU und die Aussetzung des Verfahrens auf Artikel 18 der Richtlinie

2014/67/EU.

348

www.estv.admin.ch > Mehrwertsteuer > Mehrwertsteuer abrechnen > Fremdwährungs-

kurse > Monatsmittelkurse.

344 / 931

Art. 8c Abs. 2 und 3

Absatz 2:

Vor Einleitung eines Betreibungsverfahrens muss die kantonale Behörde

nach Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe d VE-EntsG dem Schuldner oder der Schuldnerin

eine letzte Gelegenheit geben, die rechtskräftige Verwaltungssanktion zu begleichen.

Daher muss sie dem Schuldner eine Frist einräumen, nach deren Ablauf das Betrei-

bungsverfahren eingeleitet wird, falls sie nicht genutzt wird. Die von der kantonalen

Behörde nach Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe d VE-EntsG festgelegte Frist muss ange-

messen sein. Die Angemessenheit der Frist wird anhand der jeweiligen Umstände des

Falles beurteilt, wobei insbesondere der Komplexität des Falles, der Bedeutung des

Streitfalls für den Empfänger oder die Empfängerin, seinem oder ihrem Verhalten so-

wie dem Verhalten der zuständigen Behörden Rechnung zu tragen ist.

Absatz 3:

Ein Schuldner, der mit dem Vollzug des Entscheids in der Schweiz nicht

einverstanden ist, kann seine Einwendungen im Rahmen des Betreibungsverfahrens

nach Artikel 81 Absatz 3 SchKG geltend machen. Folglich kann bei der zuständigen

kantonalen Behörde kein Rechtsmittel eingelegt werden.

Art. 8d Abs. 1 und 2

Absatz 1:

Diese Bestimmung sieht vor, dass die kantonale Behörde nach Artikel 7

Absatz 1 Buchstabe d das Betreibungsbegehren direkt an das zuständige Betreibungs-

amt zu richten hat. Das Verfahren, um die Vollstreckung des Begehrens zu erlangen,

richtet sich nach Artikel 67 ff. SchKG. Im Übrigen ist für die Bestimmung des Betrei-

bungsortes Artikel 46 SchKG anwendbar.

Absatz 2:

Die kantonale Behörde nach Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe d VE-EntsG hat

die gleichen Rechte und Pflichten wie ein Gläubiger. So muss sie, wenn nötig, das

Betreibungsverfahrens selbst vorantreiben. Falls der Schuldner beispielsweise

Rechtsvorschlag erhebt (Art. 74 und 75 SchKG), muss die kantonale Behörde nach

Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe d die Aufhebung des Rechtsvorschlags erlangen (mit-

tels eines Ersuchens um definitive Rechtsöffnung gemäss Art. 80 SchKG), indem sie

sich vor Ablauf der Gültigkeit des Zahlungsbefehls an die für Betreibungen zustän-

dige kantonale Behörde wendet.

Art. 8e Abs. 2

Der Bund vergütet den kantonalen Behörden die Betreibungskosten nach Abzug der

Einnahmen aus dem Betreibungsverfahren.

Art. 8

f

Da sie die Stellung des Gläubigers einnimmt, erhält die kantonale Behörde nach Ar-

tikel 7 Absatz 1 Buchstabe d den Erlös aus dem Betreibungsverfahren, bei einer Pfän-

dung im Einklang mit Artikel 144 SchKG und bei einem Konkurs im Einklang mit

den Artikeln 261 ff. SchKG.

Art. 8g

345 / 931

Artikel 8

g

VE-EntsG regelt das Verfahren zur Bearbeitung von Auskunftsersuchen

von ausländischen Behörden. Primär müssen die erforderlichen Auskünfte und Doku-

mente beim Arbeitgeber oder bei der selbstständig erwerbstätigen Person eingeholt

werden, nur subsidiär sind die Behörden gemäss Artikel 8

o

Absatz 1 und gemäss Ar-

tikel 8

p

Absatz 2 VE-EntsG anzufragen (Abs. 2), wobei diese nur Auskünfte erteilen

können, soweit sie über die entsprechenden Informationen verfügen.

Nötigenfalls erfordert die Beantwortung eines Amtshilfeersuchens auch Kontrollen

(Abs. 4). Diese sollen durch die kantonalen Behörden nach Artikel 7 Absatz 1 Buch-

stabe d EntsG durchgeführt werden. Der Gegenstand solcher Kontrollen beschränkt

sich auf Fragen im Zusammenhang mit dem Vollzug der Entsendevorschriften des

ersuchenden Staates (vgl. Art. 8

a

Abs. 1 Bst. b VE-EntsG). Die kantonalen Behörden

können bei Bedarf die Organe und weitere Behörden nach Artikel 7 beiziehen, bei-

spielsweise die zuständige PK, wenn ein Arbeitgeber einem ave GAV unterstellt ist.

Absatz 4 Satz 3 verweist für die Auskunfts- und Mitwirkungspflicht des Arbeitgebers

und der selbstständig Erwerbstätigen auf Artikel 7 Absatz 4 EntsG. Die Sprache der

zu liefernden Dokumente richtet sich nach den Vorgaben des ersuchenden Staates

(Abs. 5). Verstösse gegen die Auskunfts- und Mitwirkungspflicht des Arbeitgebers

oder der selbstständig erwerbstätigen Person werden mit Verwaltungssanktionen von

maximal 5000 Franken geahndet werden (siehe Art. 9 Abs. 2 Bst. g VE-EntsG).

Art. 8h

Die Amtshilfe an ausländische Behörden muss kostenlos gewährt werden, Absatz 2

sieht jedoch vor, dass die kantonalen Behörden und die paritätischen Organe von ave

GAV für ihren Aufwand bei der Gewährung von Amtshilfe durch den Bund entschä-

digt werden. Die PK von kantonalen ave GAV werden wie üblich im Vollzug des

EntsG durch den Kanton entschädigt. Die neuen Pflichten im Zusammenhang mit der

Amtshilfe werden in den Inspektionsaufgaben gemäss Artikel 16

c

EntsV aufgenom-

men.

7. Abschnitt: Grenzüberschreitende Verwaltungszusammenarbeit: Ersuchen inländi-

scher Behörden

Art. 8i

Artikel 8

i

bildet das Gegenstück zu Artikel 8

a

und regelt die Ersuchen von kantonalen

Behörden und PK an ausländische Behörden um Auskünfte, Durchführung von Kon-

trollen, Zustellung und Vollstreckung von Verwaltungssanktionen nach Artikel 9 so-

wie wie um die Zustellung von Dokumenten.

Art. 8j, Abs

.

2

Eine Delegation an den Bundesrat zur Regelung der Modalitäten der durch die kanto-

nalen Behörden und die PK nach Artikel 7 Absatz 1 EntsG an die ausländische Be-

hörde übermittelten Ersuchen ist vorgesehen. Diese Ersuchen enthalten dieselben An-

gaben, die in Artikel 8

a

Absatz 2 VE-EntsG aufgeführt sind.

Art. 8k

346 / 931

Die kantonalen Behörden können die ausländischen Behörden auch von sich aus und

ohne Ersuchen informieren, wenn Anhaltspunkte auf einen Verstoss gegen das EntsG

vorliegen, der auf eine Unregelmässigkeit im Herkunftsstaat hindeutet.

8. Abschnitt: Grenzüberschreitende Verwaltungszusammenarbeit:

Binnenmarktinfor-

mationssystem

Art. 8l

Dieser Artikel legt in Absatz 1 fest, dass die Verwaltungszusammenarbeit mit EU-

Mitgliedsaaten im Entsendebereich mittels IMI zu erfolgen hat.

Absatz 2 hält fest, dass die Kantone eine zentrale Behörde, resp. koordinierende Stelle

ernennen und dem SECO melden müssen. In der Regel wird dies die kantonale Ar-

beitsmarktbehörde sein. Die kantonalen IMI-Koordinationsstellen sind befugt - im

Einverständnis mit dem SECO als nationaler IMI-Koordinator im Bereich Entsendung

– weitere, zuständige kantonale Behörden im IMI-System aufzunehmen. Dies könn-

ten z. B. die kantonale Migrationsbehörde oder das kantonale Arbeitsinspektorat sein.

Falls Behörden oder Organe, die am Vollzug des Entsendegesetzes beteiligt sind, kei-

nen Zugriff auf IMI haben, so ist gemäss Absatz 3 die kantonale Koordinationsstelle

zuständig im IMI die grenzüberschreitende Verwaltungszusammenarbeit gemäss Ar-

tikel 8 EntsG sicherzustellen.

Art. 8m

Absatz 1 sieht vor, dass das SECO die Rolle des IMI-Koordinators im Bereich Ent-

sendung von Arbeitnehmenden wahrnimmt.

Gemäss Absatz 2 kann das SECO IMI-Koordinatoren und zuständige Behörden im

System registrieren. Diesen können abgestufte Berechtigungen im IMI-System zuge-

sprochen werden.

Absatz 3 delegiert die Benennung eines nationalen IMI-Koordinators an den Bundes-

rat.

Art. 8n

Die jährlichen Kosten für den Anschluss und den Betrieb von IMI werden vom Bund

übernommen.

9. Abschnitt: Datenschutz

Art. 8o

Zu Absatz 1

: In Artikel 8

o

Absatz 1 VE-EntsG werden die nach Artikel 7 Absatz 1

EntsG mit der Durchführung der Kontrolle oder dem Vollzug des Entsendegesetzes

beauftragten Organe, die tripartiten Kommissionen und das SECO ermächtigt, Daten

zu bearbeiten, welche sie für die Erfüllung entsendegesetzlicher Aufgaben und der

Beobachtungsaufgaben nach Art. 360

b

OR benötigen. Die Datenbearbeitung umfasst

347 / 931

sowohl Personendaten wie auch Daten juristischer Personen, einschliesslich Daten

über verwaltungs- und strafrechtliche Verfolgungen oder Sanktionen nach Artikel 9

und 12 EntsG.

Zu Absatz 2 (Rechtsetzungsdelegation):

Der Bundesrat wird in Artikel 8

o

Absatz 2

VE-EntsG ermächtigt, die Aufbewahrungsdauer der Daten zu regeln. Vorbehalten

bleiben kantonale Bestimmungen.

Art. 8p

Zu Absatz 1

: Damit der Vollzug des Entsendegesetzes koordiniert erfolgen kann, ist

die gegenseitige Bekanntgabe von Daten zwischen den Behörden und Organen nach

Artikel 8

o

Absatz 1 VE-EntsG unerlässlich. Diese Datenbekanntgabe soll deshalb in

Artikel 8

p

Absatz 1 VE-EntsG als Verpflichtung aufgenommen werden, sofern die

Datenbekanntgabe für die Erfüllung der Aufgaben nach Artikel 8

o

Absatz 1 VE-

EntsG erforderlich ist.

Zu Absatz 2

: Den Behörden und Organen nach Artikel 8

o

Absatz 1 VE-EntsG wird in

Artikel 8

p

Absatz 2 VE-EntsG die Möglichkeit eingeräumt, anlässlich der gesetzli-

chen Aufgabenerfüllung erhaltene Hinweise auf Verstösse gemäss Buchstabe a - e

den zuständigen Behörden und Organe von sich aus oder auf Anfrage mitzuteilen. Die

Anhaltspunkte auf diese Verstösse müssen sich dabei im Rahmen der Erfüllung be-

stehenden gesetzlichen Aufgaben ergeben. Artikel 8

p

Absatz 2 VE-EntsG soll nicht

zu einer Erweiterung bestehender Aufgaben und Kompetenzen führen.

Zu Absatz 3

: Artikel 8

p

Absatz 3 VE-EntsG entspricht inhaltlich dem geltenden Arti-

kel 8 Absatz 2 Satz 2 EntsG.

Zu Absatz 4

: Analog zu Artikel 8

p

Absatz 2 VE-EntsG sollen auch die Behörden und

Organe nach Artikel 8

p

Absatz 2 Buchstabe a bis e VE-EntsG die Möglichkeit haben,

Daten nach Buchstabe a- c den Behörden und Organen nach Artikel 8

o

Absatz 1 VE-

EntsG bekannt zu geben.

Zu Absatz 5

: Artikel 8

p

Absatz 5 VE-EntsG entspricht dem geltenden Artikel 8 Ab-

satz 4 EntsG. Es wurden lediglich redaktionelle Änderungen vorgenommen.

Art. 8q

Der Vollzug des Entsendegesetzes wird es künftig zu einem verstärkten Austausch

mit ausländischen Behörden kommen, weshalb in Artikel 8

q

VE-EntsG die Behörden

und Organe nach Artikel 8

o

Absatz 1 VE-EntsG zur Bekanntgabe von Daten ins Aus-

land im Entsendebereich verpflichtet werden.

10. Abschnitt: Plattform für elektronische Kommunikation

Art. 8r Abs. 1

Diese Anpassung betrifft lediglich den Verweis auf Artikel 8

p

VE-EntsG, welcher

aufgrund der Neunummerierung angepasst werden muss.

348 / 931

11. Abschnitt: Sanktionen und Strafen

Art. 9 Abs. 2 Einleitungssatz sowie Bst. a, b, b

bis

, h und g

Vorausschickend sei angemerkt, dass Sanktionen wirksam, verhältnismässig und ab-

schreckend sein müssen. Aus der ständigen Rechtsprechung des EuGH geht hervor,

dass solche Sanktionen zulässig sein können, wenn sie zwingenden Gründen des All-

gemeininteresses entsprechen, wenn sie geeignet sind, die Verwirklichung des mit

ihnen verfolgten Ziels zu gewährleisten, und wenn sie nicht über das hinausgehen,

was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.

349

Das bedeutet, dass die Härte der

verhängten Sanktion der Schwere des mit ihr geahndeten Verstosses entsprechen

muss. Diese Bedingungen sind erfüllt, da Artikel 9 Absatz 2 EntsG zwei Kategorien

von Verwaltungssanktionen vorsieht: Bussen bis 5000 Franken (Bst. a, d, g und h)

beziehungsweise bis 30 000 Franken (Bst. b, bbis und f) sowie ein Verbot für die be-

treffenden Unternehmen, während ein bis fünf Jahren in der Schweiz ihre Dienste

anzubieten. Die kantonale Behörde nach Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe d EntsG kann

je nach Sachverhalt (geringer oder schwerwiegender Verstoss) eine der beiden Sank-

tionen verhängen (Bst. b, bbis und d). Das Verbot, ihre Dienste in der Schweiz anzu-

bieten, ist nicht nur geeignet, die betroffenen Unternehmen von erneuten Verstössen

gegen das EntsG abzuhalten, sondern auch erforderlich, da eine Verwaltungssanktion

in Form einer Busse in gewissen Fällen nicht ausreicht, um den Verstössen ein Ende

zu setzen. Somit wird auch der Grundsatz der Verhältnismässigkeit gewahrt. Schliess-

lich kommt nur bei besonders schwerwiegenden Verstössen (Bst. c) und bei Verstös-

sen im Sinne von Artikel 12 Absatz 1 Buchstabe a oder b EntsG oder bei Nichtbezah-

lung des Betrags der rechtskräftigen Verwaltungssanktion nach Buchstabe a, b oder d

(Bst. e) ausschliesslich das Dienstleistungsverbot in Frage: In solchen Fällen ent-

spricht diese Lösung auch dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit, da die verhängte

Sanktion für den jeweiligen Sachverhalt angemessen sein muss und es sich hier um

die einzig mögliche wirksame und abschreckende Sanktion handelt.

Die Sanktion in Buchstabe

a

wird ergänzt um Verstösse gegen die Pflicht zur Bereit-

haltung von Dokumenten gemäss Artikel 7 Absatz 2 oder 2

bis

. Verstösse gegen die

Herausgabepflicht von Dokumenten gemäss Artikel 7 Absatz 2

ter

, die nur auf Verlan-

gen vorgelegt oder zugänglich gemacht werden müssen, sollen wie heute mit einer

Busse gemäss Artikel 12 EntsG bestraft werden.

Buchstabe a wird ferner ergänzt um Verstösse gegen die Meldepflicht von:

Schweizer Arbeitgebern, die im Ausland wohnhafte Arbeitnehmerinnen

und Arbeitnehmer bis zu drei Monaten innerhalb eines Kalenderjahres an-

stellen (Art. 6

a

).

im Ausland niedergelassenen Dienstleistungserbringerinnen und Dienst-

leistungserbringer, die bis zu 90 Arbeitstagen innerhalb eines Kalenderjah-

res in der Schweiz eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausüben (Art. 6

b

)

349

EuGH, Urteil vom 12. September 2019, C-64/18, Maksimovic, EU:C:2019:723, Rz. 35 so-

wie die ebd. in Rz. 39 erwähnte Rechtsprechung.

349 / 931

im Ausland wohnhaften Personen, die dort keine Niederlassung haben, und

die bis zu drei Monaten innerhalb eines Kalenderjahres in der Schweiz

selbstständig erwerbstätig sind (Art. 6

e

)

Auch bei selbstständig Erwerbstätigen ohne Niederlassung im Ausland wird die Ver-

letzung der Nachweispflicht sanktioniert (Art. 9 Abs. 2 i.V.m. Art. 6

e

Abs. 3 VE-

EntsG).

Buchstabe b

bis

sieht bei Verstössen gegen Artikel 2 Absatz 2

ter

EntsG eine Verwal-

tungssanktion bis 30 000 CHF vor (Ziffer 1) oder eine Dienstleistungssperre bis zur

Hinterlegung der Kaution nach Artikel 2 Absatz 2

ter

vor (Ziffer 2). Eine Dienstleis-

tungssperre wegen Nichtleisten der Kaution ist folglich aufzuheben, wenn die Zah-

lung der Kaution erfolgt ist.

Buchstabe g

sieht eine Verwaltungssanktion bis zu einem Betrag von 5000 CHF vor,

wenn ein Arbeitgeber im Rahmen eines Amtshilfeersuchens seine Auskunfts- und

Mitwirkungspflicht gemäss Artikel 8

g

Absatz 4 und 5 VE-EntsG verweigert.

Buchstabe h

sieht ebenfalls eine Verwaltungssanktion bis 5000 CHF gegen den Ar-

beitgebenden vor, wenn die Ansprechpartnerin oder der Ansprechpartner die Voraus-

setzungen nach Artikel 5

a

VE--EntsG trotz vorgängiger Mahnung nicht erfüllt.

12. Abschnitt: Klagerecht

Art. 13a

Der bisherige Artikel 11 wird unverändert in Artikel 13a verschoben.

13. Abschnitt: Aufsicht über den Vollzug

Art. 14

In Artikel 14 VE-EntsG wird lediglich eine redaktionelle Änderung vorgenommen.

14. Abschnitt: Schlussbestimmungen

Römische Ziffer III

In Ziffer III wird die Bestimmung über das Inkrafttreten des revidierten EntsG an den

Bundesrat delegiert. Die Umsetzung der Richtlinien 2014/67/EU und (EU) 2018/957

sowie der neuen Artikel 5g, h und i des FZA muss innerhalb von 36 Monaten nach

Inkrafttreten des Änderungsprotokoll zum FZA erfolgen. Das EntsG ist auf Arbeitge-

ber, entsandte Arbeitnehmer und auf selbstständige erwerbstätige unabhängig von ih-

rer Herkunft anwendbar. Gewisse Bestimmungen wie die zum Meldeverfahren nach

Artikel 6, 6

a, 6b

und 6

e

VE-EntsG gelten nicht nur für Staatsangehörige aus der EU,

sondern auch der EFTA. Bis zum Inkrafttreten eines allfälligen angepassten EFTA-

Übereinkommen gelten die Bestimmungen über die Amtshilfe via IMI nur für Ange-

hörige aus den EU-Staaten. Die anderen Anpassungen im EntsG sind auch auf Ange-

hörige aus den EFTA-Staaten anwendbar, da keine Unvereinbarkeiten mit dem heuti-

gen EFTA-Übereinkommen bestehen.

350 / 931

2.3.8.4.2

Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB)

Art. 26 Abs. 2bis und 3

Bisher steht es allein im Ermessen der öffentlichen Auftraggeberin festzulegen, wel-

che Nachweise sie wann verlangt, um die Einhaltung der Teilnahmebedingungen

durch die Anbieterinnen und ihre Subunternehmerinnen sicherzustellen; das Gesetz

nennt beispielhaft eine Selbstdeklaration oder die Aufnahme in ein Verzeichnis (Art.

26 Abs. 2 und 3 BöB). Artikel 26 Absatz 2

bis

BöB verpflichtet die Auftraggeberin, bei

der Vergabe von Bauleistungen immer dann einen zusätzlichen Nachweis in Form

einer GAV-Bescheinigung zu verlangen, wenn eine Anbieterin einem ave GAV für

Bauleistungen unterstellt ist. Soweit im Zeitpunkt des Zuschlags bereits Subunterneh-

merinnen gemeldet werden müssen und sofern diese einem ave GAV unterstehen,

reicht die Anbieterin auch für sie die GAV-Bescheinigung ein. Damit kann geprüft

werden, ob die betreffende Anbieterin oder Subunternehmerin bereits einer Kontrolle

durch die zuständigen paritätischen Organe unterzogen worden ist und ob allfällige

Verstösse gegen die massgeblichen Arbeitsschutzbestimmungen und Arbeitsbedin-

gungen innert Frist geheilt oder noch offen sind. Bei offenen Verstössen ist die An-

bieterin aus dem Verfahren auszuschliessen, sofern sich dies mit dem Verhältnismäs-

sigkeitsprinzip verträgt. In Branchen ohne GAV-Bescheinigung, ist weiterhin primär

auf die Selbstdeklaration abzustellen. Schon heute sind die GAV-Bescheinigungen

für ausländische Betriebe, die bereits Leistungen in der Schweiz erbracht haben, zu

den gleichen Bedingungen erhältlich wie für Schweizer Betriebe. Um eine diskrimi-

nierungsfreie Umsetzung sicherzustellen, werden die paritätischen Kommissionen

auch für Firmen, die noch nie in der Schweiz tätig waren, eine Bescheinigung ausstel-

len müssen.

Es bleibt weiterhin Sache der Auftraggeberin, den Zeitpunkt der Einreichung der

GAV-Bescheinigung zu bestimmen (vgl. Abs. 3). Die redaktionelle Änderung von

Absatz 3 wirkt sich nicht materiell aus.

2.3.8.4.3

Obligationenrecht (OR)

Art. 335l

Diese Bestimmung definiert den Geltungsbereich der neuen Regeln. Mit diesen Re-

geln soll ein spezifisches Verfahren geschaffen werden, das zur Anwendung kommt,

wenn Arbeitnehmervertreterinnen und -vertretern, Mitglieder eines Organs einer pa-

ritätischen Personalvorsorgeeinrichtung sowie Mitglieder nationaler Branchenvor-

stände, gekündigt wird. Die in Artikel 3 des Mitwirkungsgesetzes vorgesehene

Grenze von mindestens fünfzig Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern soll hier auch

gelten. Die Begrenzung auf Arbeitgebende mit mindestens fünfzig Arbeitnehmerin-

nen und Arbeitnehmern steht in Einklang mit der Grenze, welche in Artikel 3 des

Mitwirkungsgesetzes vorgesehen ist. Darüber hinaus kann sie Fragen hinsichtlich des

nach Artikel 8 der Bundesverfassung (BV) garantierten Gleichbehandlungsgrundsat-

zes aufwerfen. Es gilt jedoch auch, die finanzielle Belastbarkeit der Unternehmen zu

berücksichtigen, besonders von Kleinunternehmen mit weniger als 10 Angestellten,

welche 90 Prozent der Unternehmen der Schweiz im Jahr 2022 ausmachten. Diese

351 / 931

Belastungen sind gegen einen anderen Schutz (in diesem Fall die bereits in Art. 336

OR vorgesehenen) für einen Teil der Arbeitnehmervertreterinnen und Arbeitnehmer-

vertreter und dessen Auswirkungen auf ihre Tätigkeit abzuwägen.

Die neuen Regeln gelten bei der Kündigung des Arbeitsvertrags durch den Arbeitge-

ber, wobei sie sich auf die ordentliche Kündigung beschränken. Die fristlose Kündi-

gung gemäss den Artikeln 337 ff. OR bleibt vorbehalten (Abs. 2).

Absatz 1 legt die Kategorien von Personen fest, für die das Verfahren zur Anwendung

kommt: Das Verfahren gilt in erster Linie für Arbeitnehmervertreterinnen und -ver-

treter, die gemäss dem Mitwirkungsgesetz

gewählt wurden (Abs. 1 Bst. a Ziff. 1). Zu

dieser ersten Kategorie von Personen, die auch die Mitglieder von Personalkommis-

sionen umfasst, kommen Vertreterinnen und Vertreter hinzu, die ad hoc, das heisst für

eine bestimmte Angelegenheit, gewählt wurden (Abs. 1 Bst. a Ziff. 2). Dies betrifft

beispielsweise Situationen, in denen die Arbeitnehmenden eine Vertretung wählen,

die im Falle einer Massenentlassung mit dem Arbeitgeber verhandelt, insbesondere

wenn der Betrieb keine Personalkommission hat. Die Bestimmungen des Mitwir-

kungsgesetzes über die Modalitäten der Wahl gelten sinngemäss für die Ad-hoc-

Wahl, soweit sie für diese Art von Wahl relevant sind. Es handelt sich hierbei um die

Artikel 5, 6, 7 Absätze 1 und 8. Absatz 1 Buchstabe a Ziffer 3 erfasst die in paritäti-

schen Verwaltungsorganen von Vorsorgeeinrichtungen tätigen Arbeitnehmervertrete-

rinnen und -vertreter gemäss Artikel 51 BVG. Auch andere Gesetzesbestimmungen

sehen solche paritätischen Organe vor, beispielsweise Artikel 9 des PUBLICA-

Gesetzes vom 20. Dezember 2006

350

. Für die Arbeitnehmervertreterinnen und -vertre-

ter in diesen Organen gilt das Verfahren somit ebenfalls, soweit die Bestimmungen

des OR auf ihr Arbeitsverhältnis Anwendung finden. Absatz 1 Buchstabe b schliess-

lich sieht vor, dass auch die Mitglieder nationaler Branchenvorstände eingeschlossen

sind. Diese Branchenvorstände, die durch die Arbeitnehmerorganisationen eingesetzt

werden, bestehen aus Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Arbeitgeber aus

derselben Branche. Der Anwendungsbereich beschränkt sich jedoch auf die Vor-

stände von Branchen mit einem ave GAV, wodurch sich die Anzahl der betroffenen

Personen deutlich reduziert.

Die betroffenen Personen werden die neuen Regeln ausschliesslich während der

Dauer ihres Mandats geltend machen können. Vorbehalten bleiben Fälle, in denen

eine Kündigung vor Beginn oder nach Beendigung des betreffenden Mandats ausge-

sprochen wurde, um die neuen Regeln zu umgehen.

Art. 335m

Das neue Verfahren beginnt mit einer Ankündigung der Kündigung. Diese Ankündi-

gung ist der Arbeitnehmerin bzw. dem Arbeitnehmer zuzustellen, bevor die Kündi-

gung ausgesprochen wird. Die betroffene Person kann auf diese Ankündigung reagie-

ren und eine Aussprache verlangen. So ist es möglich, Gespräche zu führen und nach

Lösungen zu suchen. Das vorgeschlagene Verfahren stützt sich auf Abläufe, die in

bestimmten GAV bereits vorgesehen sind, etwa in Artikel 38.5 des GAV der Maschi-

nen-, Elektro- und Metall-Industrie (MEM-Industrie).

350

SR

172.222.1

352 / 931

Artikel 335

m

regelt die Ankündigung der Kündigung und die darauffolgende Aus-

sprache.

Was den Zeitpunkt der Ankündigung betrifft, wird die Formulierung von Artikel 335

f

OR übernommen, gemäss dem die Ankündigung bei einer Massenentlassung zu dem

Zeitpunkt zu erfolgen hat, zu dem der Arbeitgeber diese «beabsichtigt». Damit handelt

es sich klar um einen Zeitpunkt, der eintritt, bevor die Kündigung ausgesprochen wird.

In Absatz 3 geht es um eine Drittperson, die die Arbeitnehmerin bzw. den Arbeitneh-

mer oder den Arbeitgeber allenfalls begleitet und die als «Vertrauensperson» bezeich-

net wird. Diese Person hat keine Vertretungsbefugnis, da die Parteien persönlich an-

wesend sein müssen.

Gemäss

Absatz 4 ist für die Aussprache und die Bemühung um eine Lösung der

Grundsatz von Treu und Glauben anzuwenden. Das Angebot einer vergleichbaren Ar-

beitsstelle wird als Beispiel genannt, aber es wird weder in diesem Punkt noch gene-

rell eine Ergebnisverpflichtung definiert.

Art. 335n

Dieser Artikel regelt das weitere Vorgehen. Nach der Aussprache ist zu prüfen, ob

weitere Treffen oder andere Schritte erforderlich sind, um das Ziel, nämlich die Ver-

meidung der Kündigung, zu erreichen. Absatz 2 sieht für das Verfahren eine maxi-

male Dauer von zwei Monaten vor. Die Parteien können das Verfahren im gegensei-

tigen Einvernehmen verkürzen oder verlängern. Eine Verkürzung des Verfahrens

durch den Arbeitgeber ist beispielsweise dann denkbar, wenn sich die Parteien bereits

nach wenigen Tagen bzw. vor Ablauf von zwei Monaten auf den Abschluss des Ver-

fahrens einigen oder gemeinsam übereinkommen, dass das Verfahren nicht weiterge-

führt werden soll. Der Grundsatz von Treu und Glauben gilt auch für das weitere Vor-

gehen.

Art. 335o

Diese Bestimmung hält fest, dass eine Kündigung nicht vor Abschluss des in den vor-

hergehenden Artikeln beschriebenen Verfahrens ausgesprochen werden darf. Es liegt

auf der Hand, dass eine Kündigung nicht erfolgen darf, während das Verfahren zur

Vermeidung ebendieser Kündigung noch läuft. Damit regelt diese Bestimmung

a contrario

den Zeitpunkt, ab dem die Kündigung ausgesprochen werden darf.

Art. 335p

Artikel 335

p

sieht die Nichtigkeit der Kündigung vor, wenn das Verfahren, das der

Kündigung vorausgehen muss, nicht eingehalten wurde.

Der Arbeitgeber und die Arbeitnehmerin bzw. der Arbeitnehmer haben sich während

des gesamten Verfahrens nach dem Grundsatz von Treu und Glauben zu verhalten

(Art. 335

m

). Spricht ein Arbeitgeber die Kündigung aus, ohne das vorgeschriebene

Verfahren eingehalten zu haben, so muss er das Verfahren mit Ankündigung der Kün-

digung wiederholen. Sobald das Verfahren eingehalten wurde, kann die Kündigung

durch den Arbeitgeber erfolgen. Die Arbeitnehmerin bzw. der Arbeitnehmer muss

353 / 931

sich ebenfalls nach Treu und Glauben verhalten und darf etwa das Verfahren nicht

unbegründet hinauszögern oder einer geplanten Aussprache fernbleiben.

Art. 335q

Ein zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden abgeschlossener GAV kann

von den Artikeln 335

l

o

abweichen, sofern er eine gleichwertige Lösung vorsieht.

Mit dieser Bestimmung wird den Sozialpartnern die notwendige Flexibilität gegeben,

um andere Vorgehensweisen festzulegen, wobei die Gleichwertigkeit der vereinbar-

ten Regelungen mit der gesetzlich vorgesehenen gewährleistet sein muss.

Die Gleichwertigkeit betrifft die Gesamtlösung. Es geht nicht darum, für jede einzelne

Gesetzesbestimmung eine gleichwertige Regel zu finden, sondern insgesamt eine Re-

gelung zu vereinbaren, die einen gleichwertigen Rechtsschutz bietet.

Als Grundlage zur Beurteilung der Gleichwertigkeit dienen die mit den rechtlichen

Bestimmungen verfolgten Zwecke. Das in den Artikeln 335

m

ff. vorgesehene Verfah-

ren soll impulsive und unüberlegte Kündigungen verhindern. Arbeitnehmerinnen oder

Arbeitnehmer, die eine Vertretungsfunktion wahrnehmen, dürfen nicht aufgrund die-

ser Funktion entlassen werden. Die entsprechenden Funktionen sind zudem bei der

Entscheidung, die zur Kündigung führt, zu berücksichtigen. Ebenso darf die Kündi-

gung nicht dazu eingesetzt werden können, einen laufenden Verhandlungsprozess zu

beeinflussen. Gleichzeitig muss eine begründete Kündigung trotzdem möglich sein.

Die gesetzliche Lösung sieht zu diesem Zweck eine Frist vor, innert der ein Dialog zu

führen ist. Eine in einem GAV vereinbarte Regelung ist somit dann gleichwertig,

wenn sie ebenfalls eine Frist vorsieht, um Gespräche führen und eine Lösung aushan-

deln zu können.

Die Gleichwertigkeit kann aber auch dann gegeben sein, wenn für die Arbeitnehmerin

bzw. den Arbeitnehmer nachteilige Abweichungen durch andere Massnahmen kom-

pensiert werden. Möchten beide Parteien weder ein vorgängiges Verfahren noch eine

Ankündigung vereinbaren, können sie beispielsweise eine längere Kündigungsfrist,

etwa von sechs Monaten, vorsehen. Denkbar ist auch, dass eine Kündigung, die vor

Abschluss des Verfahrens erfolgt oder bei der das Verfahren nicht eingehalten wurde,

zwar nicht nichtig ist, aber zu einer finanziellen Entschädigung führt, die ausreichend

hoch ausfällt, damit sie als gleichwertig betrachtet werden kann.

In dieser Hinsicht können bereits bestehende Regelungen als gleichwertig betrachtet

werden. Gewisse GAV-Lösungen, die eine vorgängige Ankündigung vorsehen –

wenn auch mit einer teilweise kürzeren Frist als in der vorgeschlagenen Gesetzesbe-

stimmung –, können dennoch als gleichwertig angesehen werden, da die sich daraus

ergebenden Nachteile durch einen stärkeren Schutz der Arbeitnehmervertreterinnen

und -vertreter in anderen Situationen, etwa bei einer Umstrukturierung, ausgeglichen

werden (Art. 38.5 GAV der MEM-Industrie).

Art. 336a

Wird einer Arbeitnehmervertreterin bzw. einem Arbeitnehmervertreter oder einem

Mitglied eines Organs einer Personalvorsorgeeinrichtung oder eines Branchenvor-

354 / 931

stands gemäss Artikel 335

l

missbräuchlich gekündigt, so muss die Sanktion eine ab-

schreckende Wirkung haben. Diese ist vom Gericht unter Würdigung aller Umstände

und im Einklang mit Artikel 336

a

Absatz 2 OR festzusetzen. Die von der Rechtspre-

chung herausgearbeiteten Kriterien müssen in diesem Fall vollumfänglich zur Anwen-

dung kommen und der jeweiligen spezifischen Situation ist gebührend Rechnung zu

tragen. So muss das Gericht insbesondere folgende Aspekte berücksichtigen: die fi-

nanziellen Möglichkeiten des Betriebs, das Alter und die bisherige Beschäftigungs-

dauer der Arbeitnehmervertreterin bzw. des -vertreters oder des Mitglieds eines Or-

gans einer Personalvorsorgeeinrichtung oder eines Branchenvorstands gemäss

Artikel 335

l

sowie die Bemühungen und die Möglichkeiten des Arbeitgebers, der Per-

son eine andere vergleichbare Arbeitsstelle anzubieten. Das Höchstmass der Sanktion

liegt bei zehn Monatslöhnen. Grundsätzlich – und sofern keine besonderen Gründe

vorliegen – muss die Entschädigung höher sein als bei anderen Fällen missbräuchli-

cher Kündigung. Denn sie muss aufgrund des besonderen Status der Arbeitnehmer-

vertreterin bzw. des Arbeitnehmervertreters gemäss Artikel 335

l

Absatz 1 eine aus-

reichende abschreckende Wirkung entfalten.

2.3.8.4.4

Bundesgesetz über die Allgemeinverbindlicherklärung von

Gesamtarbeitsverträgen (AVEG)

Art. 2 Ziff. 3

Es gilt weiterhin der Grundsatz, dass am Gesamtarbeitsvertrag mehr als die Hälfte

aller Arbeitnehmer, auf die der Geltungsbereich des Gesamtarbeitsvertrages ausge-

dehnt werden soll, beteiligt sein müssen (Arbeitnehmerquorum). Wie bisher kann nur

beim Vorliegen von besonderen Verhältnissen vom Erfordernis dieser Mehrheit ab-

gewichen werden, die neue Regelung führt nicht zu einer Erleichterung der Allge-

meinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen. Gestrichen wird der Begriff

«

ausnahmsweise

»

. Die GAV-Parteien müssen weiterhin in ihrem gemeinsamen An-

trag auf Allgemeinverbindlicherklärung das Vorliegen der besonderen Umstände

nachweisen, welche die Organisierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in

der Branche erschweren und die Abweichung vom Arbeitnehmerquorum rechtferti-

gen. Dadurch soll die heute gängige und unter den Sozialpartnern breit abgestützte

Praxis der zuständigen Behörden auf Bundes- und Kantonsebene im Gesetz abgebil-

det und die Rechtssicherheit für die gesuchstellenden GAV-Parteien verbessert wer-

den. Gemäss der heutigen Praxis der zuständigen Behörden können dies namentlich

sein: ein hoher Anteil jüngerer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Branche,

viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit zeitlich befristeten Arbeitsverträgen,

eine hohe Fluktuation und Austritte aus der Branche, ein erschwerter Zugang der Ge-

werkschaften zu den Arbeitsplätzen, weil diese aus Sicherheitsgründen nicht öffent-

lich zugänglich sind, zahlreiche Kleinbetriebe in ländlichen Gebieten, in denen ein

persönliches Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmerinnen und Arbeit-

nehmern herrscht oder eine grosse Anzahl von Saisonbetrieben.

355 / 931

Art. 2a

Die am GAV beteiligten Arbeitgeber müssen mindestens 40 Prozent aller Arbeitgeber

auf die der Geltungsbereich des Gesamtarbeitsvertrages ausgedehnt werden soll, aus-

machen (Bst. b), während der erforderliche Anteil der bei den beteiligten Arbeitgebern

beschäftigten Arbeitnehmer (gemischtes Quorum) mindestens so viel Prozent über 50

Prozent liegt, wie der Anteil der beteiligten Arbeitgeber (Arbeitgeberquorum) unter

50 Prozent liegt. (Bst. c). Zusammen müssen die beiden Beteiligungen immer min-

destens 100 Prozent betragen. Beispiel: Beträgt das Arbeitgeberquorum 45 Prozent,

muss das gemischte Quorum mindestens 55 Prozent betragen. Die Parteien eines

GAV müssen neu bei den Anträgen auf Allgemeinverbindlicherklärung darauf hin-

weisen, dass sie sich auf die Regelung zur besonderen Mehrheit beziehen. Alle wei-

teren Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung (Art. 2 und 3 AVEG)

gelten weiterhin. Die Regelung der besonderen Mehrheit kommt nur zur Anwendung

bei der Weiterführung von bereits ave GAV. Darunter fallen auch diejenigen GAV,

die für eine gewisse Zeit nicht allgemeinverbindlich erklärt waren, weil sich die Par-

teien beispielsweise nicht auf einen neuen GAV einigen und deshalb die Allgemein-

verbindlicherklärung nicht weitergeführt werden konnte. Die Zeitspanne ohne Allge-

meinverbindlicherklärung darf höchstens 18 Monate betragen und wird gezählt ab

dem Moment, ab dem der Gültigkeit der Allgemeinverbindlicherklärung ausläuft und

dauert bis zur Beantragung einer erneuten Allgemeinverbindlicherklärung des GAV

bei der zuständigen Behörde (Bst. a).

Art. 4a

Die vorgeschlagene Bestimmung bezieht sich auf die Organe, die für die gemeinsame

Durchführung nach Artikel 357

b

Absatz 1 des Obligationenrechts verantwortlich

sind. In der Praxis handelt es sich bei diesen Vollzugsorganen in den allermeisten

Fällen um die paritätischen Kommissionen. Die Klage richtet sich gegen diejenige

paritätische Kommission, welche die Unterstellungsabklärungen eingeleitet hat, wenn

die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind bzw. gegen die beteiligten

Vertragsparteien. Auf das Verfahren kommt die Zivilprozessordnung zur Anwen-

dung.

Die negative Feststellungsklage gemäss Artikel 88 der schweizerischen Zivilprozess-

ordnung

351

kann grundsätzlich jederzeit nach Einleitung von Unterstellungabklärun-

gen erhoben werden, sofern ein schutzwürdiges Interesse vorliegt. Von einem rechts-

genüglichen Feststellungsinteresse ist insbesondere dann auszugehen, wenn die

zuständige paritätische Kommission Unterstellungsabklärungen eingeleitet hat und

ihre Abklärungen nicht innert einer angemessenen Frist seit der ersten Kontaktauf-

nahme mit dem betreffenden Betrieb (bspw. 3 - 4 Monate) abgeschlossen. Gleichzei-

tig soll es den paritätischen Kommissionen möglich sein, die notwendigen Abklärun-

gen für die Prüfung der Unterstellung eines Betriebes vorzunehmen. Die paritätischen

Kommissionen überprüfen beispielsweise die Handelsregistereinträge, Webseiten

von Firmen, Telefonbücher oder Gewerberegister. Insbesondere bei Mischbetrieben

351

SR

272

356 / 931

können unter Umständen weitere Auskünfte oder Unterlagen für die Klärung der Un-

terstellungsfrage notwendig sein. Die geforderte Mitwirkung muss jedoch stets ver-

hältnismässig und dem Stand der Unterstellungsabklärungen angemessen sein.

Die rasche Klärung der Unterstellungsfrage ist auch für die Frage der Rückwirkung

relevant. Ein ave GAV gilt für einen nicht beteiligten Arbeitgeber ab dem Zeitpunkt,

in dem er Tätigkeiten im Geltungsbereich des ave GAV aufnimmt. Die Arbeitgeber-

und Arbeitnehmerbeiträge (bspw. Vollzugs- und Weiterbildungskostenbeiträge,

FAR-Beiträge) sind ebenfalls ab diesem Zeitpunkt geschuldet. Bei länger dauernden

Unterstellungsabklärungen kann es deshalb zu rückwirkenden Forderungen von Ar-

beitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen kommen. In diesem Zusammenhang ist zu be-

achten, dass eine rückwirkende Unterstellung sowohl für die Arbeitgeber wie auch für

die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer finanziell tragfähig sein soll.

Art. 11 Abs. 2

Bereits heute kann die zuständige Behörde ein Gutachten einholen zu den Auswirkun-

gen einer Allgemeinverbindlicherklärung, sofern sich dieses nicht von vornherein als

überflüssig erweist. Auch kann bereits heute gegen einen Antrag auf Allgemeinver-

bindlicherklärung während der Publikationsfrist beim Glaubhaftmachen eines Interes-

ses Einsprache eingereicht werden (Art. 10 AVEG). Diese Einsprachemöglichkeit

kommt auch gegen Gesuche, die sich auf die besondere Mehrheit gemäss Artikel 2

a

VE-AVEG stützen, zur Anwendung und steht grundsätzlich auch Dachverbänden of-

fen. Bei der Veröffentlichung des Antrags auf Allgemeinverbindlicherklärung im

Schweizerischen Handelsamtsblatt (SHAB) soll ein Hinweis auf die beantragte Aus-

nahme vom Arbeitgeberquorum (besondere Mehrheit) aufgenommen werden. Um je-

doch die Befürchtung auszuräumen, dass bei Gesuchen mit der besonderen Mehrheit

unerwünscht Auswirkungen der Allgemeinverbindlicherklärung entstehen können,

muss die zuständige Behörde bei jedem Antrag die Notwendigkeit eines Gutachtens

eines unabhängigen Experten zu den Voraussetzungen von Artikel 2 Ziffern 1 und 2

des Gesetzes prüfen. Gleich wie in Artikel 11 Absatz 1 ist dies nur notwendig, sofern

es sich nicht von vornherein als überflüssig erweist.

Art. 12 Abs. 5 und 6

Zu Absatz 5:

Eine Vertragspartei eines nicht ave GAV kann bei der zuständigen Be-

hörde beantragen, dass im Geltungsbereich der Allgemeinverbindlicherklärung eine

Klarstellung für die am nicht ave GAV beteiligten Arbeitgeber aufgenommen wird.

Bedingung ist, dass der nicht ave GAV bereits seit vor Inkrafttreten des AVEG (1956)

abgeschlossen wurde und seither im Wesentlichen ohne Unterbruch Bestand und na-

tionale Geltung hat sowie mindestens Bestimmungen über Mindestlöhne, Arbeitszei-

ten und Vollzug enthält. Die Klarstellung im Geltungsbereich der Allgemeinverbind-

licherklärung soll jedoch nur für Betriebe und Betriebsteile gewährt werden, die ihre

überwiegende Tätigkeit im Tätigkeitsfeld des nicht ave GAV haben. Die Klarstellung

gemäss Absatz 5 hat deklaratorische Wirkung und soll die geltende Rechtspraxis und

Rechtsprechung zur Unterstellung wiedergeben. Sie stellt daher eine Klarstellung,

aber keine Änderung der Unterstellungspraxis dar. Im Einzelfall ist nach wie vor ein

357 / 931

Zivilgericht zuständig für die Klärung, ob ein spezifischer Betrieb unter einen ave

GAV fällt.

Es ist Aufgabe der Behörde, den Geltungsbereich einer Allgemeinverbindlichkeit

festzusetzen (Art. 12 Abs. 2 AVEG) und sicherzustellen, dass die Allgemeinverbind-

lichkeit nur für den Wirtschaftszweig oder Beruf angeordnet wird, für den der GAV

abgeschlossen wurde und die GAV-Parteien tarifzuständig sind. Wer ein Interesse

glaubhaft macht (bspw. Arbeitgeber, Verbände oder GAV-Parteien), kann sich im

Rahmen einer Einsprache (Art. 10 AVEG) auch zum Geltungsbereich äussern und

Anpassungen beantragen, falls sich dieser als nicht genügend klar erweist. Die neuen

Bestimmungen haben darauf keinen Einfluss.

Für Vertragsparteien von Firmen-GAV kommt Absatz 5

nicht zur Anwendung. Weiter

kann sich eine Klarstellung nur auf den betrieblichen, nicht aber auf den persönlichen

Geltungsbereich beziehen. Bei identischen betrieblichen Geltungsbereichen ist eine

Klarstellung im Geltungsbereich der Allgemeinverbindlicherklärung nicht möglich

(siehe auch Art. 4 Abs. 2 AVEG).

Zu Absatz 6:

Eine Klarstellung im Geltungsbereich der Allgemeinverbindlicherklä-

rung soll auch möglich sein für Betriebe, die einem Wirtschaftsverband angehören,

der mit dem Arbeitgeberverband des nicht ave GAV gemäss Absatz 5 strukturell und

bezüglich der Branchenausrichtung eng verbunden ist. Die Klarstellung soll jedoch

nur für Betriebe und Betriebsteile gewährt werden, die ihre überwiegende Tätigkeit

im Tätigkeitsfeld des nicht ave GAV haben. Im Übrigen gelten für die Anwendung

und Wirkung des Absatzes 6 die gleichen Grundsätze wie vorstehend zu Absatz 5

ausgeführt. Absatz 6 kommt nur in Verbindung mit Absatz 5 zur Anwendung.

2.3.8.4.5

Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs

(SchKG)

Art. 80 Abs. 2 Ziff. 6

Der Entscheid über die Vollstreckung einer Verwaltungssanktion muss rechtskräftig

sein. Es darf kein Rechtsmittel mehr dagegen eingelegt werden können.

Für die Eintreibung der Forderung muss der Gläubiger, d. h. die kantonale Behörde

nach Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe d VE-EntsG zunächst eine Betreibung bei der zu-

ständigen Betreibungsbehörde einleiten (Art. 46 SchKG). Falls der Schuldner Rechts-

vorschlag erhebt, muss sie auf der Grundlage von Artikel 80 Absatz 2 Ziffer 6 VE-

SchKG beim Rechtsöffnungsrichter des Kantons, in dem die Betreibung stattfindet,

die definitive Rechtsöffnung gemäss Artikel 80 Absatz 1 SchKG beantragen. Der

Schuldner kann die Einwendungen nach Artikel 81 Absatz 3 SchKG geltend machen.

2.3.9

Auswirkungen des Paketelements

Das FZA wurde im Rahmen der Bilateralen I zwischen der Schweiz und der EU sowie

ihren Mitgliedstaaten ausgehandelt. Es ist somit Bestandteil der Verhandlungen zum

Paket Stabilisierung und Weiterentwicklung der Beziehungen Schweiz–EU. Im Rah-

men dieser Verhandlungen haben sich die Schweiz und die EU unter anderem auf die

Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG und auf die Übernahme des dazugehörigen

EU-

Acquis

geeinigt.

358 / 931

Die Stabilisierung mit der Aufdatierung des FZA sichert die Personenfreizügigkeit für

die Staatsangehörigen der Vertragsparteien und garantiert den Zugang zu Arbeitskräf-

ten aus der EU für hiesige Unternehmen, was die Attraktivität des Schweizer Wirt-

schaftsstandorts sichert. Ohne Aufdatierung des FZA bestünde die Gefahr, dass die

bilateralen Abkommen mit der EU zunehmend erodieren, was negative Folgen für die

Schweizer Wirtschaft zur Folge hätte (s. Ziff. 3.3).

Verwaltungsexterne RFA-Studie von Ecoplan

Um die Auswirkungen der Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG genauer ab-

schätzen zu können, hat das SEM eine externe Studie zur Regulierungsfolgenabschät-

zung (RFA)

352

an das Büro Ecoplan in Bern in Auftrag gegeben

353

. Die Analyse der

Prüfpunkte zur RFA zeigte auf, dass die Auswirkungen der Teilübernahme der Richt-

linie 2004/38/EG hauptsächlich den Bund, die Kantone und Gemeinden betreffen

werden. Im Mittelpunkt der Studie standen dabei die Auswirkungen auf den Sozial-

staat (Sozialhilfe, Arbeitslosenversicherung, Ergänzungsleistungen), auf die Voll-

zugsbehörden in den Kantonen und Gemeinden sowie auf das Hochschulwesen

(Gleichstellung der Studierenden aus der EU mit solchen aus der Schweiz betreffend

Studiengebühren). Der Studienauftrag beinhaltet einzig die Schätzung der potentiel-

len zusätzlichen Kosten durch die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG und

weist deshalb den Unterschied zwischen dem FZA von 1999 und dem Änderungspro-

tokoll zum FZA aus. Der Schwerpunkt wurde auf die Prüfpunkte I (Notwendigkeit

und Möglichkeit staatlichen Handelns) und II (Auswirkungen auf die einzelnen ge-

sellschaftlichen Gruppen) gelegt. Nicht ausführlich behandelt wird hingegen der Prüf-

punkt V (Zweckmässigkeit im Vollzug). Die Studie verwendet sowohl quantitative

als auch qualitative Daten. Insbesondere für die qualitativen Teile der Studie wurden

Gespräche mit dem SEM, dem SECO, dem BSV, der SODK, der SKOS, der VKM

und dem VSAA geführt.

Die konkreten Resultate der Studie werden nachfolgend in den entsprechenden Kapi-

teln dargestellt.

Nicht Teil der RFA-Studie zur Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG sind die

volkswirtschaftlichen und finanziellen Auswirkungen auf die Schweiz beim Wegfall

der bilateralen Abkommen (u.a. der Personenfreizügigkeit). Diese werden in einer se-

paraten Studie geschätzt und unter Ziffer 3.3 vorgestellt.

Für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Anhang II FZA) und die

Anerkennung von beruflichen Qualifikationen (Anhang III FZA) sowie auch für den

Lohnschutz wurden keine verwaltungsexternen RFA-Studien in Auftrag gegeben.

352

Siehe Richtlinien des Bundesrates für die Regulierungsfolgenschätzung bei Rechtsset-

zungsvorhaben des Bundes (RFA-Richtlinien, BBl

2024

664).

353

www.sem.admin.ch> Publikation & Service > Service > Forschung und Evaluation > Stu-

die von Ecoplan vom 09.05.2025: «RFA zur Teilübernahme der Unionsbürgerrichtlinie

UBRL. Auswirkungen auf die staatlichen Institutionen».

359 / 931

2.3.9.1

Auswirkungen auf den Bund

2.3.9.1.1

Finanzielle Auswirkungen

Nebst den voraussichtlichen Einführungsaufwänden (Schulung der Vollzugsbehör-

den, Anpassungen der Weisungen, Anpassungen am Zentralen Migrationsinformati-

onssystem ZEMIS und dem Online-Meldeverfahren für kurzfristige Erwerbstätigkeit,

etc.) führt das Änderungsprotokoll zum FZA zu keinen finanziellen Auswirkungen im

SEM und im BSV. Dagegen führt die Pflicht zur Gleichbehandlung von EU-

Studierenden bei den Studiengebühren an universitären Hochschulen und Fachhoch-

schulen zu finanziellen Auswirkungen für den Bund (siehe unten).

Zudem fallen jährliche Beiträge an die Informationssysteme der EU an (s. Tabelle

2.3.9.1.1 (1) unten). Der Mechanismus für diese Beiträge wird in Artikel 13 des IP-

FZA geregelt. Der jährliche finanzielle Beitrag der Schweiz für die Nutzung der In-

formationssysteme setzt sich aus einem operativen Beitrag und einer Teilnahmege-

bühr zusammen. Der operative Beitrag basiert auf einem Verteilschlüssel, der als das

Verhältnis des Bruttoinlandprodukts (BIP) der Schweiz zu Marktpreisen zum BIP der

EU zu Marktpreisen definiert ist. Dieser Verteilschlüssel wird auf das EU-

Jahresbudget für das jeweilige Informationssystem angewandt. Zu diesem operativen

Beitrag wird eine Teilnahmegebühr addiert, welche vier Prozent des erwähnten ope-

rativen Beitrags entspricht. Die Höhe des Beitrags kann sich also je nach Entwicklung

des BIP oder des EU-Jahresbudgets ändern. Dadurch wird die Schweiz die Kosten –

auch für Entwicklungs- und Investitionskosten – mittragen müssen, was zu jährlich

höheren Beiträgen führen könnte. Die EU ist aber für jeden Beitrag an ein Informati-

onssystem verpflichtet, der Schweiz die entsprechenden Informationen vorgängig zu

liefern, sodass die Schweiz diese prüfen kann. Allfällige Kostensteigerungen müssen

erklärbar sein und werden auch von den EU-Mitgliedstaaten mitgetragen.

360 / 931

Tabelle 2.3.9.1.1 (1): Beiträge, die die Schweiz an Informationssysteme der EU

zu bezahlen hätte

Informa-

tions-systeme

EU-Budget in Euro Schweizer Bei-

trag in Euro

Kommentar

EURES

354

20 029 978

999 897

s. Ziff.2.3.5.2.1

EESSI

355

7 084 122

353 639

Dieser Beitrag wird von den

einzelnen Sozialversiche-

rungszweigen mittels Gebüh-

ren gedeckt werden (Art. 75

c

ATSG).

IMI

356

2 140 000 (2025)

106 829 (2025)

Beitrag deckt alle IMI-

Module ab (Entsendungen,

berufliche Qualifikationen,

Europäischer Berufsausweis,

Datenbank über reglemen-

tierte Berufe, Single Digital

Gateway)

Quelle: Interne Abklärungen der Bundesverwaltung mit der Europäischen Kommis-

sion (Stand Mai 2025)

Bezüglich der Übernahme der Kosten für das IMI handelt es sich rechtlich um eine

Subvention. Es muss ein neuer Subventionskredit eingerichtet werden. Es ist darauf

hinzuweisen, dass zum Zeitpunkt der Zahlung genauere Informationen über die Bei-

tragshöhe erforderlich sein werden und dass es wünschenswert wäre, die finanziellen

Prognosen frühzeitig zu erhalten, damit sie in die Budgetierungsprozesse integriert

werden können (Ende 2026 für eine Zahlung im Jahr 2028). Auf Basis der bisherigen

Entwicklung kann davon ausgegangen werden, dass die Beitragshöhe im Durchschnitt

jährlich um etwa 9 Prozent steigen wird.

354

Die EU-Budgets für EURES unterlagen in den letzten Jahren Schwankungen. Der Betrag

für das Jahr 2024 entspricht einer konservativen Annahme für die künftige Entwicklung

des EU-Budgets für EURES basierend auf dem durchschnittlichen Wert der letzten fünf

Jahre.

355

Die EU-Budgets für EESSI unterlagen in den letzten Jahren Schwankungen. Um dies zu

berücksichtigen, wird für EESSI ein Durchschnittswert angegeben, der auf den Budgets

von 2022-2026 beruht.

356

Betrag für das Jahr 2025, da es bei IMI ein durchschnittliches Wachstum von ca. 9 % pro

Jahr in den letzten fünf Jahren gab.

361 / 931

Auswirkungen auf die öffentliche Arbeitsvermittlung

Die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG bringt keinen Systemwechsel und

keine neuen Kompetenzen für die öAV. Die RAV beraten Stellensuchende weiterhin

nach denselben Grundsätzen. Es werden hingegen höhere Fallzahlen erwartet.

Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die länger als ein Jahr in der Schweiz er-

werbstätig sind und danach unfreiwillig arbeitslos werden, behalten durch die neuen

Bestimmungen aus dem Änderungsprotokoll zum FZA den Erwerbstätigenstatus, so-

lange sie mit der öAV kooperieren. Die Anmeldung der Stellensuchenden bei der öAV

und die daraus entstehende Kooperation sind gemäss der Richtlinie 2004/38/EG Vo-

raussetzungen, um weiterhin das Aufenthaltsrecht als Erwerbstätige oder Erwerbstä-

tiger aufrechterhalten zu können. Neu werden die öAV verpflichtet, den zuständigen

Migrationsbehörden zu melden, wenn Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten die

Wiedereingliederungsstrategie (s. Art. 24

a

und Art. 34

a

Abs. 2 Bst. e VE-AVG) nicht

einhalten. Durch diese Neuerungen werden sich einerseits mehr Personen bei der öAV

anmelden und dies unabhängig davon, ob sie Leistungen aus der Arbeitslosenversi-

cherung beziehen. Andererseits müssen die öAV im Rahmen der bestehenden Pro-

zesse zusätzliche Daten weitergeben. Dazu ist es zielführend, IT- und Prozessanpas-

sungen vorzunehmen und die Digitalisierung konsequent weiterzuführen, um die

Vollzugsstellen administrativ zu entlasten.

Gestützt auf die Daten von 2018 und 2019 schätzt die Ecoplan-Studie, dass die Teil-

übernahme der Richtlinie 2004/38/EG im Jahresdurchschnitt zu einer Zunahme von

zwischen rund 3 700 und 8 300 Personen bei der öAV führen wird. Gemäss der Schät-

zung von Ecoplan führt dies zu zusätzlichen Vollzugskosten von zwischen 9 Mio.

(plus 1,9 %) und 22 Mio. Franken (plus 4,4 %). Gemäss dem im AVIG verankerten

Mechanismus wird dieser Betrag den Kantonen anteilsmässig automatisch ausgegli-

chen (siehe AVIG-Vollzugskostenentschädigungsverordnung vom 29. Juni 2001

357

).

Auswirkungen auf die Erneuerung des Zentralen

Migrationsinformationssystems

Zurzeit läuft die Erneuerung des Zentralen Migrationsinformationssystems

(ZEMIS

358

), wofür das Parlament am 7. März 2022

359

einen Verpflichtungskredit von

50,66 Mio. Franken genehmigt hat. Das ZEMIS ist das umfassende Arbeitsinstrument

im Bereich des FZA und AIG und enthält über 10 Millionen Personendatensätze. Um

die Einführung und Umsetzung der neuen Bestimmungen im FZA für die Vollzugs-

behörden möglichst ressourcenschonend zu gewährleisten, sollen im Rahmen der Er-

neuerung des ZEMIS (Programm ERZ) die nötigen Anpassungen antizipiert werden.

Sollte das Änderungsprotokoll zum FZA am 1. Januar 2028 in Kraft treten, müssten

die ersten Anpassungen im ZEMIS bis zu diesem Datum bereits umgesetzt sein. Die

konkreten Änderungen im Vergleich zur aktuellen Programmplanung umfassen fol-

gende Punkte:

357

SR

837.023.3

358

BBl

2021

1056.

359

BBl

2022

778.

362 / 931

Grenzgängerbescheinigung EU: Die Beantragung dieser Bescheinigung soll

künftig ausschliesslich durch den Arbeitgeber erfolgen. Die Umsetzung ist

für den 1. Januar 2028 geplant und wird über das Portal EasyGov

360

abge-

wickelt. Diese Anpassung hat eine hohe Dringlichkeit und wird daher un-

verzüglich in die Planung aufgenommen sowie im Programm ERZ priori-

siert.

Verfahren zum Einholen der Aufenthaltstitel für Staatsangehörige der EU-

Mitgliedstaaten: Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten erhalten neu eine

Frist von drei Monaten für die Anmeldung bei der Wohngemeinde und be-

kommen einen Aufenthaltstitel. Für diese Änderung gilt eine Übergangsfrist

von zwei Jahren, sodass die neuen Prozesse spätestens ab dem 1. Januar

2030 umgesetzt werden sollen. Zudem ist sicherzustellen, dass diese An-

passung vollständig in das neue Kundenportal von ERZ integriert wird. Das

neue Daueraufenthaltsrecht wird erstmals im Jahr 2035 gewährt. Diese Ein-

führung wird nicht mehr Teil des Programms ERZ sein, welches zu diesem

Zeitpunkt bereits abgeschlossen sein wird.

Nach Abschluss der Verhandlungen konnten die ersten Planungsarbeiten für die

ZEMIS-Anpassungen aufgenommen werden. Erste Einschätzungen deuten darauf

hin, dass die erforderlichen Änderungen im Rahmen des Programms zur Erneuerung

des ZEMIS ohne zusätzliche Mittel umgesetzt werden können. Weitere Analysen sind

erforderlich, um diese Einschätzung zu bestätigen.

Auswirkungen auf die AHV/IV (1. Säule)

Das Änderungsprotokoll zum FZA führt hinsichtlich des Koordinierungsrechts im So-

zialversicherungsbereich zu keinen Änderungen. Die Ergebnisse der im November

2023 publizierten BSV-Studie «Migration und Sozialversicherungen. Eine Betrach-

tung der ersten Säule und der Familienzulagen»

361

zeigen jedoch auf, dass die Zuwan-

derung die Sozialwerke der 1. Säule nicht zusätzlich belastet. Im Gegenteil: Bis 2070

wirkt sich die Zuwanderung weiterhin positiv auf die Sozialversicherungen aus.

Grund dafür ist, dass die Zuwanderung die Bevölkerungsstruktur verjüngt und über

Beitragszahlungen den ansteigenden Leistungsbezug kompensiert. Diese Wirkung der

Zuwanderung wird sich zwar bis 2070 abschwächen, aber immer noch positiv bleiben.

Die Beiträge von Staatsangehörigen der EU/EFTA-Mitgliedstaaten übersteigen deren

Leistungsbezug deutlich, weil sie im Vergleich zu anderen Zuwanderungsgruppen hö-

here Einkommen erzielen und ihre Erwerbsbeteiligung grösser ist. Im Jahr 2020 leis-

teten Staatsangehörige der EU/EFTA-Mitgliedstaaten über 25 Prozent der Beiträge

der ersten Säule, sie erhielten aber weniger als 15 Prozent der Leistungen. Im Jahr

2070 werden knapp 35 Prozent der Beiträge und nur etwas über 25 Prozent der Leis-

tungen auf Zugewanderte aus EU- und EFTA-Staaten entfallen.

360

www.easygov.swiss.

361

www.aramis.admin.ch > Projektsuche > Eingabe G20_01.

363 / 931

Auswirkungen im Bereich des Entsendegesetzes (EntsG)

Im Rahmen der Anpassung des EntsG ist gemäss dem Änderungsprotokoll zum FZA

vorgesehen, dass die heute für alle Einsatzbranchen geltende Meldefrist von acht Ka-

lendertagen für die Dienstleistungserbringer aus der EU auf vier Arbeitstage reduziert

wird und nur noch für Risikobranchen gilt. Auf der Grundlage des Änderungsproto-

kolls sieht das EntsG zudem die Erhebung der Kaution vor Beginn der Tätigkeit nur

noch für den Fall vor, dass ein Unternehmen einem Anspruch, den eine paritätische

Kommission (PK) bei einem früheren Einsatz geltend gemacht hatte, nicht Folge ge-

leistet hat. Diese Änderungen wirken sich potenziell auf die Kontrolltätigkeit der

Vollzugsorgane bzw. die Organisation der Kontrollverfahren aus und könnten fall-

weise einen zusätzlichen Personalbedarf verursachen. Allerdings ist eine Gesamtbe-

urteilung schwierig, namentlich aufgrund der kantonalen Unterschiede (Arbeitsmarkt-

grösse, Organisationsstrukturen, Wirtschaftsgefüge, Grenznähe usw.) und der

künftigen Reaktionen der Dienstleistungserbringer auf die neuen Bestimmungen zur

Meldefrist. Gemäss dem aktuellen Finanzierungsmodell wird der Bund einen Teil der

zusätzlichen Kosten der kantonalen und paritätischen Organe zu tragen haben. Gleich-

zeitig werden diese finanziellen Auswirkungen durch die Massnahme zur Optimie-

rung und Weiterentwicklung des Meldeverfahrens abgeschwächt.

Die Revision des EntsG beinhaltet auch die Integration der Schweiz in das IMI-

System, für die eine finanzielle Beteiligung (s. Tabelle 2.3.9.1.1 (1)) vorzusehen ist.

In diesem Rahmen wird ein nationaler IMI-Koordinator eingesetzt (s. Ziff. 2.3.9.1.2).

Im Bereich der Entsendung tritt die Teilnahme am IMI erst nach einer Übergangsfrist

von drei Jahren in Kraft. Der zusätzliche Personalbedarf beim Bund (s. Ziff. 2.3.9.1.2)

wird jedoch aufgrund der Vorbereitungsarbeiten, zur Anpassung der Instrumente für

den Gesetzesvollzug und für die Schulung der zukünftigen IMI-Nutzerinnen

und -Nutzer bereits während dieser Übergangsfrist anfallen. Dabei wird das SBFI in

den ersten drei Jahren der IMI-Nutzung die gesamten Kosten für die Teilnahme am

IMI tragen (s. Ziff. 2.3.9.1.1). Ausserdem ist mit der Schaffung einer Koordinations-

stelle pro kantonalem Vollzugsorgan zu rechnen, also insgesamt 22, was zu Kosten

für den Bund führen wird. Zudem könnten die neuen Bestimmungen zur Verwaltungs-

zusammenarbeit mit den EU-Mitgliedstaaten einen administrativen Mehraufwand für

die Kantone verursachen, der ebenfalls zu berücksichtigen ist. Die neuen Koordinati-

onsstellen sowie der genannte Mehraufwand könnten zu zusätzlichen Ausgaben für

den Bund führen, die auf 1,08 Millionen Franken pro Jahr geschätzt werden, während

die Kantone gemäss der aktuellen Gesetzgebung zur Entschädigung der kantonalen

Vollzugsorgane den gleichen Betrag finanzieren werden. Angesichts der relativ ge-

ringen Zahl von Schweizer Betrieben, die Personal in die EU entsenden, ist heute al-

lerdings davon auszugehen, dass die kantonalen Behörden eher mehr Ersuchen um

Zusammenarbeit versenden als erhalten werden.

Kompensationsmassnahmen im Bereich des EntsG

Dank der in Ziffer 2.3.7.3.2 beschriebenen Optimierung und Weiterentwicklung des

Meldeverfahrens werden die Vollzugsorgane die Kontrollen auch nach der Verkür-

zung der Voranmeldefrist weiterhin angemessen planen können. Die dazu notwendi-

364 / 931

gen Weiterentwicklungen erfolgen grundsätzlich im Rahmen des gemeinsamen Pro-

jekts des SEM, des SECO und der für den Vollzug der Begleitmassnahmen zuständi-

gen Behörden. Dennoch bleibt zwischen den betroffenen Bundesstellen sowie den

Vertreterinnen und Vertretern der Kantone und der Sozialpartner zu klären, wie und

in welchen Systemen die verschiedenen Etappen des Verfahrens möglichst effizient

umgesetzt werden können. Dafür sollen verschiedene Ansätze vertieft geprüft werden.

Die finanziellen Auswirkungen für den Bund werden von den Ergebnissen dieser

Analysen abhängen. Eine Schätzung wird deshalb erst im Rahmen der Verordnungs-

anpassungen möglich sein. Dies gilt auch für die Anpassungen beim Meldeverfahren,

die nötig sein werden, damit im Wiederholungsfall eine Kaution geleistet werden

kann.

Zur Kompensation der nur noch bei Wiederholungsfällen zu hinterlegenden Kaution

und ergänzend zu Artikel 5 EntsG besteht die Möglichkeit, im Baugewerbe eine er-

weiterte Haftung des Erstunternehmers einzuführen, damit dieser zivilrechtlich für die

durch eine PK gegen seine Subunternehmer verhängten Konventionalstrafen und

Kontrollkosten haftet. Eine erweiterte Haftung des Erstunternehmers kann in das be-

stehende Haftungssystem integriert werden. Der Erstunternehmer ist zwar der Ver-

tragspartner der Bauherrschaft, führt die Arbeit jedoch nicht oder nur teilweise selbst

aus, sondern beauftragt einen oder mehrere Subunternehmer. Er könnte deshalb für

die Einhaltung der GAV-Bestimmungen durch die Subunternehmer haftbar gemacht

werden. Eine solche Mithaftung besteht bereits hinsichtlich der Forderungen der Ar-

beitnehmenden im Rahmen der Haftung der Subunternehmer gemäss Artikel 5 EntsG.

Die Mithaftung wird lediglich auf die Konventionalstrafen und die Kontrollkosten

ausgedehnt. Diese Massnahme hat keine besonderen Auswirkungen auf den Bund.

Auswirkungen im Bereich der Allgemeinverbindlicherklärung von

Gesamtarbeitsverträgen

Die Anpassungen des Bundesgesetzes über die Allgemeinverbindlicherklärung von

Gesamtarbeitsverträgen (AVEG) sollen die Beibehaltung der heute allgemeinverbind-

lich erklärten GAV sicherstellen. Diese Massnahme hat sehr wahrscheinlich keine

Auswirkungen auf den Bund. Denn die Verfahren für die Allgemeinverbindlicherklä-

rung auf Bundesebene dürften nicht komplexer werden und es ist auch nicht mit einem

Anstieg der Verfahren zu rechnen.

Weitere Folgen oder Kompensationsmassnahmen im Bereich des EntsG oder der All-

gemeinverbindlicherklärung von GAV könnten zusätzliche finanzielle Auswirkungen

für den Bund nach sich ziehen, die jedoch zurzeit noch nicht bezifferbar sind.

Auswirkungen im öffentlichen Beschaffungswesen

Für den Bund wird die Aufwertung der GAV-Bescheinigungen im Rahmen des öf-

fentlichen Beschaffungswesens bei der Vergabe von Bauaufträgen in gewissem

Masse zu Vereinfachungen führen. Das obligatorische Mitführen von Baustellenaus-

weisen wird zudem die Kontrollen erleichtern. Bei der Umsetzung dieser Massnah-

men ist mit geringen indirekten Folgen für den Bund zu rechnen, da die Kontrollen

365 / 931

der Vollzugsorgane vereinfacht werden. Allerdings erfordert die Einführung der Mas-

snahmen einen gewissen Schulungs- und Initialaufwand vonseiten der Vergabestel-

len.

Beteiligung der Schweiz an EU-Instanzen: Europäische Arbeitsbehörde

(ELA)

Der Bund wird keinen finanziellen Beitrag zur ELA zu leisten haben, solange die ak-

tuelle Situation (d. h. eine Beteiligung als Beobachterin ohne weiteren Einbezug in

die Tätigkeiten der Organisation) bestehen bleibt.

Beteiligung der Schweiz an EU-Instanzen: European Employment Services

(EURES)

Für die Teilnahme am EURES wird die Schweiz Informationssysteme der EU nutzen.

Die Kosten für diese Nutzung (siehe Ziffer 2.3.9.1.1) werden über den Ausgleichs-

fonds der Arbeitslosenversicherung finanziert.

Zusammenfassung der Auswirkungen im Bereich des EntsG auf den Bund

Insgesamt sind zunächst zusätzliche Ausgaben infolge der verkürzten Meldefrist zu

erwarten, die der Bund zwischen den Kantonen und den Paritätischen Kommissionen

aufteilen muss. Zusätzlich hat der Bund die Projektkosten zur Optimierung des Mel-

deverfahrens zu tragen, die zurzeit noch unbekannt sind. Schliesslich wird die Integra-

tion der Schweiz in das IMI-System im Bereich der Entsendung von Arbeitnehmen-

den zusätzliche Kosten verursachen, vor allem aufgrund der Schaffung verschiedener

Stellen für sektorale Koordinatorinnen und -Koordinatoren, der zusätzlichen Arbeit

für die Kantone und des jährlichen Beitrags an die EU. Es ist darauf hinzuweisen, dass

gemäss Artikel 16

d

EntsV einerseits und Artikel 9 EntsV andererseits die Kosten im

Zusammenhang mit dem kantonalen Vollzug gleichmässig zwischen dem Bund und

den Kantonen aufgeteilt werden. Hingegen wird der Bund alle zusätzlichen Kosten in

Verbindung mit dem Vollzug des EntsG durch die Paritätischen Kommissionen über-

nehmen. Die definitive Finanzplanung für die Jahre 2027‒2029 sieht bisher noch

keine zusätzlichen Ressourcen vor. 1,08 Millionen Franken pro Jahr werden nötig

sein, um die zusätzlichen Kosten zu decken, die von den IMI-Koordinationsaufgaben

und den durch die Kantone geleisteten Vollzugsaufgaben verursacht werden. Eine

entsprechende Erhöhung des Kredits A231.0191 für das Entsendegesetz ist somit ins

Auge zu fassen.

Auswirkungen im Hochschulbereich (ETH-Gesetz und HFKG)

Die Verpflichtung zur Gleichbehandlung der Studierenden aus der EU bei den Stu-

diengebühren an den universitären Hochschulen (kantonale Universitäten, universi-

täre Institute und ETH) und den Fachhochschulen hat finanzielle Auswirkungen für

den Bund: Einerseits hat er die daraus resultierenden Mindereinnahmen der beiden

ETH mitzutragen. Bezogen auf die Studierendenzahlen 2023 und die Studiengebüh-

ren gemäss ETH-Ratsbeschluss vom Dezember 2024 würden sich diese gemäss den

Berechnungen von Ecoplan auf rund 23,3 Mio. CHF/Jahr belaufen. Andererseits wird

sich der Bund auch an den finanziellen Mindereinnahmen der kantonalen universitä-

ren Hochschulen, der universitären Institute und der Fachhochschulen beteiligen müs-

366 / 931

sen, die sich aus dem Gleichbehandlungsgebot ergeben. Im Jahr 2024 hätte dies ge-

mäss der Ecoplan-Studie zu Mindereinnahmen der öffentlichen Hochschulen in der

Höhe von 21,8 Mio. CHF geführt. Auf Basis dieser Zahlenwerte müsste sich der Bund

mit Begleitmassnahmen über einen Zeitraum von vier Jahren mit 34,2 Mio. CHF pro

Jahr an den Mindereinnahmen beteiligen.

2.3.9.1.2

Personelle Auswirkungen

Personalbedarf im Bereich der Anerkennung von Berufsqualifikationen

Damit das SBFI die neuen Aufgaben im Zusammenhang mit den neuen EU-

Rechtsakten, die im Anhang III FZA übernommen werden, erfüllen kann, sind zusätz-

liche personelle Ressourcen erforderlich. Es ist mit zusätzlich maximal 270 Stellen-

prozenten zur Wahrnehmung der neu entstehenden gesetzlichen Verpflichtungen zu

rechnen, wovon 100 Stellenprozente auf zwei Jahre befristet sind (Einführungsauf-

wand). Diese Aufgaben sind neu und ersetzen keine anderen Tätigkeiten. Zudem ste-

hen die politischen Erwartungen hinsichtlich der Integration von Personen mit Schutz-

status S, das Bestreben des Bundesrates, die Anerkennung ihrer Berufsqualifikationen

zu beschleunigen, sowie die bestehenden Herausforderungen im Zusammenhang mit

dem Fachkräftemangel einem Verzicht auf andere Aufgaben entgegen. Schliesslich

sind Synergien mit bestehenden Aufgaben nicht möglich, da bereits ein starker An-

stieg der Gesuche ohne zusätzliche personelle Ressourcen bewältigt werden muss

(2022: 5020; 2023: 5841; 2024: 6530).

Es ist vorgesehen, dass die zusätzlichen Stellen seitens WBF (SBFI) kompensiert wer-

den. Da infolge der Aufdatierung des Anhangs III FZA keine Aufgaben wegfallen, ist

eine Verzichtsplanung erforderlich. Ergänzend ist bei der Ressourcensteuerung zu

prüfen, in welchen Bereichen über den Entwicklungsrahmen zusätzliche Finanzmittel

zuzuteilen sind.

Tabelle 2.3.9.1.2 (1): Aufgaben im Zusammenhang mit der Anpassung von An-

hang III FZA

Bereich

Aufgaben

% befristet

% unbefris-

tet

A. Verwaltungszu-

sammenarbeit

Verwendung des IMI für das

Meldeverfahren für Dienst-

leistungserbringer/innen

-

15 %

B. Sektorielle Ko-

ordination des IMI

im Bereich der An-

erkennung von

Berufsqualifikatio-

nen (ABQ)

Aufgabe als IMI-Koordinator

im Bereich der ABQ

Benutzerverwaltung und Ver-

waltung der Systemnutzung

40 %

wäh-

rend 2 Jahren

40 %

367 / 931

Basisschulung

der

IMI-

Benutzer/innen

C. European Pro-

fessional

Card

(EPC)

Ausstellung

ausgehender

EPC-Zertifikate für den Beruf

Immobilienmakler/in

(vo-

rübergehende Mobilität)

Überprüfung der Gültigkeit

und der Echtheit von hochge-

ladenen Abschlüssen für die

Berufe Bergführer/in und Im-

mobilienmakler/in

-

15 %

Aufstockung

alle

zwei

Jahre

(Zu-

nahme

der

Anzahl

An-

träge)

D. Vorwarnmecha-

nismus

Bearbeitung der ein- und aus-

gehenden Warnungen zu ge-

fälschten Abschlüssen

Verwaltung aller Änderungen

und Löschungen, Information

der Berufstätigen

Koordination mit den zustän-

digen Behörden, insbesondere

bei Auskunftsersuchen

-

10 %

E. Erhöhung der

Transparenz

Abklärungen, vertiefte Analy-

sen der Praxis und Berichte:

Erarbeitung und/oder Koordi-

nation

60 % für zwei

Jahre

zur

Durchführung

einer

ersten

Analyse

der

geltenden

Reglementie-

rungen

40 %

unbe-

fristet für die

Aktualisie-

rung

F. Beratungszent-

rum

Ausbau der Kontaktstelle und

Umwandlung in ein Bera-

tungszentrum

Verwaltung der Online-Infor-

mationsplattform

Partnermanagement

-

50 %

368 / 931

Total:

100 %

auf

2 Jahre

befristet

170 %

unbefristet

Dazu kommen neue Aufgaben im Bereich der gesamten nationalen IMI-Koordination

(übergreifende Koordination, d.h. zurzeit für die Anerkennung von Berufsqualifikati-

onen und Entsendung). Diese Aufgabe ist neu und wurde in den 270 Stellenprozenten

nicht berücksichtigt. Sie wird vom SBFI übernommen, allerdings ist der Aufwand für

diese Tätigkeit zurzeit schwer abschätzbar. Die Zuweisung dieser Aufgabe wird dem

Bundesrat übertragen (siehe Art. 4 Abs. 4 VE-BGVB und Art. 8

m

Abs. 3 VE-EntsG).

Der Bundesrat wird den ausgewiesenen Ressourcenbedarf zu gegebener Zeit überprü-

fen und darauf achten, dass ein allfälliger Mehrbedarf an Personalaufwand innerhalb

des Eigenbereichs des Bundes kompensiert wird.

Personalbedarf im Bereich des EntsG

Drei zusätzliche Stellen, von denen zwei befristet für die Jahre 2025–2026 schon be-

setzt wurden, sind im Bereich des EntsG erforderlich, noch bevor das Abkommen in

Kraft tritt. Die entsprechenden Personen sind zuständig für die Vorbereitungsarbeiten

im Bereich der Gesetzgebung sowie die Anpassung der verschiedenen Instrumente

für den Vollzug, insbesondere die Weisungen und Empfehlungen, die Leistungsver-

einbarungen und die Vollzugshilfen sowie für die Schulung der zukünftigen IMI-

Nutzerinnen und -Nutzer. Das SECO muss in der Lage sein, seinem gesetzlichen Auf-

trag zur Überwachung des EntsG-Vollzugs weiterhin nachzukommen. Somit werden

die bestehenden Stellen mit den bisher in diesem Bereich anfallenden Aufgaben be-

traut sein, während die neuen Personen für die IMI-Sektorkoordination im Bereich

der Entsendung, für Aufgaben der Verwaltungszusammenarbeit und neue Vollzugs-

aufgaben sowie für die dynamische Übernahme von europäischem Recht verantwort-

lich sein werden. Die auf nationaler Ebene vorgesehenen neuen Kompensationsmass-

nahmen und ganz generell die Annahme des Pakets Schweiz-EU führen zu neuen

Aufgaben, die in die Vollzugsüberwachung des SECO zu integrieren sind. Sollte es

beim Vollzug zu Vereinfachungen kommen, werden diese in erster Linie den direkten

EntsG-Vollzug und somit die Kantone und paritätischen Kommissionen betreffen.

Der Bundesrat wird den ausgewiesenen Ressourcenbedarf zu gegebener Zeit überprü-

fen und darauf achten, dass ein allfälliger Mehrbedarf an Personalaufwand innerhalb

des Eigenbereichs des Bundes kompensiert wird.

Tabelle 2.3.9.1.2 (2): Aufgaben im Zusammenhang mit der Anpassung im Be-

reich der Entsendungen

Bereich

Aufgaben

% befristet

% unbefris-

tet

A. IMI-

Koordinator/-in im

Koordinationsaufgaben

im

Bereich Entsendung von Ar-

beitnehmenden

100 %

369 / 931

Bereich Entsen-

dung von Arbeit-

nehmenden

Schulung der (künftigen) IMI-

Nutzer/-innen

Vorbereitungsarbeiten für den

Vollzug des EntsG (während

der Übergangsphase)

B. Wissenschaftli-

che/-r Mitarbei-

ter/-in im Bereich

Entsendung von

Arbeitnehmenden

Vorbereitungsarbeiten für den

Vollzug

des

geänderten

EntsG:

- Erarbeitung bzw. Anpassung

neuer bzw. bestehender Wei-

sungen

- Empfehlungen zuhanden der

Vollzugsorgane und Schulun-

gen für die Vollzugsorgane

- Neuverhandlung der Leis-

tungsvereinbarungen zur Fi-

nanzierung der Kontrolltätig-

keit

- Anpassung / Überarbeitung

der Audits zu den FlaM

- komplexe Arbeiten zur Wei-

terentwicklung und Zentrali-

sierung des Meldeverfahrens

im Zusammenhang mit der

verkürzten

Voranmeldefrist

und den neuen Anforderungen

für die Hinterlegung der Kau-

tion (Informatikprojekt)

100 %

C. Wissenschaftli-

che/-r Mitarbei-

ter/-in im Bereich

Entsendung von

Arbeitnehmenden

Aufgaben im Zusammenhang

mit der dynamischen Über-

nahme von EU-Recht:

- Analyse der Entwicklungen

im EU-Recht

- juristische Recherchearbei-

ten

100 %

370 / 931

- Empfehlungen zuhanden der

Vollzugsorgane und Schulun-

gen für die Vollzugsorgane

- komplexe Arbeiten zur Wei-

terentwicklung und Zentrali-

sierung des Meldeverfahrens

im Zusammenhang mit der

verkürzten

Voranmeldefrist

und den neuen Anforderungen

für die Hinterlegung der Kau-

tion (Informatikprojekt)

Total:

300 % unbe-

fristet

Personalbedarf beim SEM

Beim SEM sind mit der Genehmigung und dem Inkrafttreten des aufdatierten FZA

neue Aufgaben zu erfüllen (wie bspw. Aufbau Monitoring für Schutzklausel, Schu-

lung der Kantone, Teilnahme am

Decision Shaping

), welche zu einem Mehrbedarf

führen. Es ist von rund 2-4 Vollzeitstellen auszugehen. Der Bundesrat wird den aus-

gewiesenen Ressourcenbedarf zu gegebener Zeit überprüfen und darauf achten, dass

ein allfälliger Mehrbedarf an Personalaufwand innerhalb des Eigenbereichs des Bun-

des kompensiert wird

Personalbedarf bei den weitern Bundesbehörden

Bei den weiteren Bundesbehörden sind keine personellen Auswirkungen durch das

Änderungsprotokoll zum FZA zu erwarten. Die Aufgaben können mit den bestehen-

den personellen Mitteln ausgeführt werden.

2.3.9.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf

urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

2.3.9.2.1

Auswirkungen auf Kantone im Zuwanderungsbereich

Die Aufgaben der zuständigen kantonalen Vollzugsbehörden im Bereich der Zuwan-

derung bleiben durch das Änderungsprotokoll zum FZA im Wesentlichen unverän-

dert. Für das Daueraufenthaltsrecht für Erwerbstätige nach einem Aufenthalt von fünf

Jahren wird kein separater Aufenthaltstitel ausgestellt, das Daueraufenthaltsrecht wird

einzig auf dem bereits bestehenden Titel vermerkt. Prüfen müssen die kantonalen

Vollzugstellen einerseits die Aufenthaltsdauer von fünf Jahren sowie ob die Person

während dieser Periode als erwerbstätige Person gemäss der Richtlinie 2004/38/EG

galt und nicht sechs Monate oder länger vollständig von der Sozialhilfe abhängig war.

Es dürfte in Einzelfällen Bedarf an weitergehenden Abklärungen bestehen.

371 / 931

Das Daueraufenthaltsrecht wird auf Gesuch hin geprüft und allenfalls gewährt. 2021

hielten sich gemäss der RFA-Studie von Ecoplan rund 690 000 Personen in der

Schweiz auf, die die Voraussetzungen für das Daueraufenthaltsrecht in den Jahren

2017 bis 2021 erfüllten und demnach theoretisch ein Gesuch stellen könnten (in der

Annahme, dass das Daueraufenthaltsrecht 2012 eingeführt worden wäre). Diesen Be-

rechnungen zufolge könnten jährlich rund 50 000 bis 70 000 Personen dazukommen,

die die Voraussetzungen zusätzlich erfüllen. Angenommen, von diesen Personen stel-

len nur jene ein Gesuch, die sich in einer unsicheren Arbeitssituation befinden und

deshalb von einem Daueraufenthaltsrecht profitieren würden (mind. zwei Monate

kein Einkommen aufweisen), so wäre mit jährlich zwischen 4000 und 20 000 Anträ-

gen zu rechnen. Der dadurch entstehende Mehraufwand kann langfristig durch eine

Vereinfachung der Bewilligungsverfahren (weniger Wechsel zwischen der Aufent-

haltsbewilligung und der Niederlassungsbewilligung) kompensiert werden. Kurzfris-

tig besteht die Möglichkeit das Daueraufenthaltsrecht zumindest bei offensichtlicher

Erfüllung der Voraussetzungen gemeinsam mit der Erteilung einer Niederlassungsbe-

willigung zu prüfen, womit beide Verfahren zusammengelegt würden. Es gilt festzu-

halten, dass das Daueraufenthaltsrecht für Personen, die sich bereits langjährig und

insbesondere mit einer Niederlassungsbewilligung in der Schweiz aufhalten, keinen

unmittelbaren Mehrwert bietet. Wie viele Gesuche daher tatsächlich gestellt werden,

wird erst die Praxis zeigen.

Auch die Abklärungen zur Überprüfung des Aufenthaltsrechts von unfreiwillig ar-

beitslosen Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten dürften für die kantonalen Mig-

rationsbehörden aufwändiger und komplexer werden. Dort dürfte insbesondere der

erhöhte Koordinationsaufwand zwischen den Migrationsbehörden und der öAV ins

Gewicht fallen. Denn für die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft bei un-

freiwilliger Arbeitslosigkeit sind die Anmeldung bei und die Kooperation mit der

öAV Voraussetzungen. Den Aufwand mindern dürfte hingegen die Bestimmung aus

Artikel 61

a

Absatz 2 Buchstabe c VE-AIG. Gemäss dieser Bestimmung verlieren die

betroffenen Personen ihre Erwerbstätigeneigenschaft und das damit verbundene Auf-

enthaltsrecht gemäss FZA bei unfreiwilliger Beendigung der Erwerbstätigkeit mit ei-

ner Dauer von mehr als zwölf Monaten, wenn sie nicht innerhalb von sechs Monaten

nach dem Ende der Arbeitslosenentschädigung eine andere Arbeit gefunden haben.

Über diese sechs Monate hinaus besteht die Erwerbstätigeneigenschaft nur weiter, so-

fern sie gegenüber der Migrationsbehörde glaubhaft machen, dass Aussicht darauf

besteht, in absehbarer Zeit eine neue Stelle zu finden. Ebenso entstehen durch die

engere Koordination der Behörden Chancen für eine ganzheitliche Betreuung und Un-

terstützung bei der nachhaltigen Erwerbsintegration, die sich ebenfalls kostendämp-

fend auswirken kann.

Bei Grenzgängerinnen und Grenzgängern wird neu der Arbeitgeber die Bescheini-

gung systematisch über das Portal EasyGov beantragen. Bereits heute stellen in den

meisten Fällen die Arbeitgeber das Gesuch für die Grenzgängerbescheinigung, wes-

halb hier nicht mit zusätzlichem Aufwand bei den kantonalen Behörden gerechnet

wird. Im Gegenteil: die Erteilung der Grenzgängerbescheinigung dürfte zu leichten

Einsparungen bei den Vollzugskosten führen, da bei unterjährigen Arbeitsverträgen

jeweils eine einjährige Bescheinigung ausgestellt wird. Unter dem FZA von 1999 ent-

372 / 931

spricht hingegen die Dauer der Grenzgängerbescheinigung der Dauer der unterjähri-

gen Arbeitsverträge, was dazu führt, dass mehrmals jährlich Bescheinigungen ausge-

stellt werden müssen.

Anwendung der Schutzklausel

Bei den Kantonen und Gemeinden können personelle Zusatzaufwände entstehen, um

allfällige Schutz- oder Ausgleichsmassnahmen umzusetzen. Der Aufwand variiert

stark je nach Art der Massnahmen. Die kantonalen Vollzugsstellen im Migrationsbe-

reich haben bereits Erfahrungen bei der Anwendung der Zulassungsvoraussetzungen

aus dem AIG (z.B. Prüfung des Inländervorrangs), falls in diesem Bereich Schutz-

oder Ausgleichsmassnahmen ergriffen würden. Gleichzeitig wird je nach ergriffenen

Massnahmen eine finanzielle Entlastung erwartet, insbesondere bei den Sozialversi-

cherungen oder der Sozialhilfe.

Auswirkungen auf die Sozialhilfe

Durch die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG erhalten im Vergleich zum FZA

von 1999 potentiell mehr Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten und ihre Familien-

angehörigen Zugang zur Sozialhilfe. Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, denen

das Daueraufenthaltsrecht nach einem Aufenthalt mit Erwerbstätigkeit von fünf Jah-

ren gewährt wird, können Sozialhilfe beziehen, ohne dass das Aufenthaltsrecht entzo-

gen werden kann. Ebenso erhalten Selbstständigerwerbende denselben Anspruch auf

Gleichbehandlung wie Arbeitnehmende, was auch den Zugang zur Sozialhilfe um-

fasst. Ausserdem behalten Personen, die länger als ein Jahr in der Schweiz erwerbs-

tätig sind und danach unfreiwillig arbeitslos werden, den Erwerbstätigenstatus, so-

lange sie mit der öAV kooperieren. Während dieser Zeit dürfen diese Personen

Sozialhilfe beziehen, ohne dass dies zum Verlust des Aufenthaltsrechts führt. Perso-

nen mit weniger als einem Jahr Aufenthalt haben ebenfalls neu Anspruch auf Sozial-

hilfe während sechs Monaten, wenn sie während dieser Zeit mit der öAV kooperieren.

Gemäss den Schätzungen von Ecoplan dürften durch das Änderungsprotokoll zum

FZA jährlich zwischen 3000 und 4000 Personen zusätzlich Sozialhilfe beziehen. Ge-

stützt auf die Zahlen von 2015 bis 2019 könnten dadurch jährliche Mehrkosten von

schätzungsweise 56 bis 74 Mio. CHF verursacht werden, was rund 2,0 - 2,7 Prozent

der totalen Sozialhilfekosten ausmacht. Diese Zahlen bedeuten jedoch nicht, dass

diese Personen tatsächlich auch Sozialhilfe beziehen werden. Die Studie quantifiziert

einzig die Anzahl Personen, die mit der Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG mit

einer gewissen Wahrscheinlichkeit ihren potenziellen Anspruch auf Sozialhilfe gel-

tend macht. Für die Betreuung dieser zusätzlichen Personen in der Sozialhilfe schätzt

Ecoplan einen personellen Bedarf zwischen 13,5 und 18 zusätzlichen Vollzeitstellen

schweizweit. Diese Kosten gilt es in den Gesamtkontext der volkswirtschaftlichen

Auswirkungen des FZA und der bilateralen Abkommen zu stellen. Der Wegfall der

Bilateralen I hätte bis im Jahr 2045 einen Rückgang des BIP von 4.9 Prozent zur

Folge, wobei das FZA aus volkwirtschaftlicher Perspektive das wichtigste bilaterale

Abkommen mit der EU ist (s. Ziff. 2.3.9.3). Zudem soll mit den Umsetzungs- und

Begleitmassnahmen im Zuwanderungsbereich (s. Ziff. 2.3.7.1.1 und 2.3.7.2.1) das

Kostenrisiko bei der Sozialhilfe weiter gesenkt werden.

373 / 931

Die Sozialdienste werden öfter im Austausch mit Migrationsbehörden und der öAV

stehen müssen. Dies kann Doppelbetreuungen auslösen, aber auch Synergien schaf-

fen, sofern eine gut koordinierte Interinstitutionelle Zusammenarbeit (IIZ) etabliert

wird.

Ecoplan hat in Bezug auf langfristige Entwicklungen eine Literaturrecherche durch-

geführt. Diese zeigt, dass tendenziell innerhalb der EU die Aufnahmeländer von der

Zuwanderung profitieren, während in den Emigrationsländern die Kosten aufgrund

der Abwanderung überwiegen. Weiter zeigen wissenschaftliche Befunde überwie-

gend, dass ein Sogeffekt vernachlässigbar ist. Es ist deshalb nicht davon auszugehen,

dass es im Zuge der Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG aufgrund der zusätzli-

chen Sozialhilfeansprüche zu einer erhöhten Zuwanderung kommt.

Auswirkungen auf die Ergänzungsleistungen (EL)

Durch die Richtlinie 2004/38/EG können Arbeitnehmende der EU-Mitgliedstaaten

auch beim Vorbezug der Altersrente gemäss Artikel 40 AHVG und damit ab dem

63. Altersjahr ein Daueraufenthaltsrecht geltend machen (s. Ziff. 2.3.6.2.2, Erläute-

rungen zu Art. 7

e

FZA). Diese zusätzlichen Kosten schätzt Ecoplan auf jährlich rund

7 Mio. Franken, was 2022 rund 0,22 Prozent der Gesamtausgaben der EL ausmachte.

Die Studie kommt zum Schluss, dass sich kein systemischer Wandel oder erhebliche

Mehrbelastungen für Bund und Kantone abzeichnen. Weiter wird der Bund beobach-

ten, ob und wie viele Personen, die nach Erhalt des Daueraufenthaltsrechts Sozialhilfe

beziehen, später nach Erreichen des Rentenalters auch auf EL angewiesen sind.

Personelle Auswirkungen bei der öffentlichen Arbeitsvermittlung

Um die zusätzlich beim RAV eingeschriebenen Personen zu betreuen, schätzt die

RFA-Studie von Ecoplan einen zusätzlichen personellen Mehrbedarf von schweizweit

zwischen 31 und 70 RAV-Beraterinnen und -Beratern. Dieser Personalaufwand ist

aber über die Vollzugskostenentschädigung des Bundes gemäss Artikel 1 und 2 der

AVIG-Vollzugskostenentschädigungsverordnung gedeckt (s. Ziff. 2.3.9.1.1).

Auswirkungen auf die Kantone durch die Einführung biometrischer

Identitätskarten

Heute haben einige Kantone gestützt auf Artikel 4

a

des Ausweisgesetzes vom 22. Juni

2001

362

ihre Wohnsitzgemeinden ermächtigt, Anträge von Identitätskarten ohne Chip

entgegen zu nehmen. Die Bearbeitung der Anträge für biometrische Identitätskarten

muss jedoch mit der kantonalen Erfassungsinfrastruktur erfolgen, da wie für Pässe ein

direkter Zugang auf die Informationssysteme des Bundes und die Erfassung von zwei

Fingerabrücken notwendig sind. Betroffene Kantone müssen deshalb ihre Erfassungs-

infrastruktur für biometrische Identitätskarten erweitern und ihre kantonalen Rechts-

akte anpassen. Nichtbiometrische Identitätskarten können weiterhin auf den Gemein-

den beantragt werden, sofern der Kanton dies vorsieht.

Mit der zur Einführung der

biometrischen Identitätskarte geplanten Revision der Ausweisverordnung sollen kos-

tendeckende Gebühren festgelegt werden.

362

SR

143.1

374 / 931

Auswirkungen auf die Kantone im Bereich der Anerkennung von

beruflichen Qualifikationen (Anhang III FZA)

Anhang III FZA kommt bei der Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen

nur zur Anwendung, wenn die Ausübung eines Berufs in der Schweiz reglementiert

ist. Ist ein Beruf nicht reglementiert, brauchen ausländische Berufstätige ihre Berufs-

qualifikationen nicht anerkennen zu lassen, um in der Schweiz zu arbeiten.

Die Reglementierung eines Berufs fällt grundsätzlich in die Zuständigkeit der Kan-

tone. Aus diesem Grund spielen sie eine wichtige Rolle bei der Zulassung zur Aus-

übung eines reglementierten Berufes von Berufstätigen aus der EU.

Selbst wenn der Bund die Berufsausübung aufgrund des Artikels 95 BV reglemen-

tiert, bleiben die Kantone in den meisten Fällen für die Erteilung der Berufsaus-

übungsbewilligung zuständig. Sie sorgen dabei für die Einhaltung des Bundesrechts

und prüfen bei der Erteilung der Bewilligung unter anderem, ob die betreffenden Per-

sonen im Besitz der nach Bundesrecht erforderlichen Berufsqualifikationen (Diplome

und Ausweise) sind. Die Kantone sind dadurch vom FZA direkt betroffen.

Die Anpassung von Anhang III FZA hat mehrere Auswirkungen auf den Ressourcen-

bedarf der Kantone. Die Kantone müssen neu bei der Erhöhung der Transparenz

(Art. 59 der Richtlinie 2005/36/EG in der durch die Richtlinie 2013/55/EU geänderten

Fassung) mitwirken und eine koordinierende Stelle für den Vollzug von Anhang III

FZA schaffen. Sie sind verpflichtet, Informationen über die Reglementierungen der

Berufe auf kantonaler Ebene aufzubereiten. Dabei ist es erforderlich, dass sie eine

aktive Rolle übernehmen und das SBFI regelmässig darüber informieren. Im Hinblick

auf die Erhöhung der Transparenz müssen sie die entsprechenden personellen Res-

sourcen bereitstellen.

Gegenwärtig sind auf Bundesebene Beschränkungen oder Verbote der Berufsaus-

übung z. B. bei den Medizinal- und Gesundheitsberufen im Regelungsbereich des

MedBG und GesBG verankert. Auf kantonaler und interkantonaler Ebene sind Erlasse

im Gesundheits-, Schul- und im Sozialbereich sowie im Bereich der Kinderbetreuung

(Erziehung Minderjähriger) betroffen. Daher werden die kantonalen Stellen, die für

den Bereich der Gesundheit und der Erziehung Minderjähriger, einschliesslich Kin-

derbetreuungseinrichtungen und frühkindliche Erziehung zuständig sind, den Vor-

warnmechanismus umsetzen müssen. Es müssen dafür die benötigten Ressourcen ge-

sprochen und gegebenenfalls die rechtlichen Grundlagen erlassen werden. Die vom

Vorwarnmechanismus betroffene Stellen sind:

375 / 931

Tabelle 2.3.9.2.1 (1): vom Vorwarnmechanismus betroffene Stellen

Betroffene Berufe

Zuständigkeit

Berufe im Gesundheitswesen

Kantonale Gesundheitsdirektionen

Berufe im Bereich der Erziehung

Minderjähriger (einschliesslich

Kinderbetreuung in Einrichtungen

und frühkindliche Erziehung)

Kantonale Jugend- und Sozialämter

Berufe im Unterrichtsbereich

Kantonale Bildungsämter bzw. Konferenz

der kantonalen

Erziehungsdirektorinnen und -direktoren

(EDK) gemäss interkantonaler Vereinba-

rung über die Anerkennung von Ausbil-

dungsabschlüssen vom 18. Februar

1993

363

(«interkantonale Diplomanerken-

nungsvereinbarung»)

Auswirkungen auf die Kantone im Hochschulbereich

Die Verpflichtung zur Gleichbehandlung der Studierenden aus der EU bei den Stu-

diengebühren an den kantonalen universitären Hochschulen, den universitären Insti-

tuten und Fachhochschulen hat finanzielle Auswirkungen für die Kantone und Hoch-

schulen: Diese müssen die Ausfälle tragen, die sich aus der Gleichbehandlung

ergeben. Im Jahr 2024 hätte diese gemäss der Ecoplan-Studie zu Mindereinnahmen

der öffentlichen Hochschulen in der Höhe von 21,8 Mio. CHF geführt. Der Bund soll

sich im Rahmen von Begleitmassnahmen befristet an diesen Ausfällen beteiligen. Da

das Gleichbehandlungsgebot auch allfällige öffentliche Unterstützungsmechanismen

für Studiengebühren umfasst, können den Kantonen und Hochschulen auch in diesem

Bereich Mehrkosten entstehen. Die Gleichbehandlung bei den Studiengebühren kann

die Attraktivität des Studiums für Studierende aus der EU an jenen Hochschulen zu-

sätzlich erhöhen, welche die Studiengebühren auf das Niveau der Gebühren für

Schweizer Studierende senken.

Anpassungen kantonaler Gesetzgebung

Durch die Erweiterung der Datenbekanntgabe zwischen den Vollzugsbehörden (Mig-

rationsämtern, öAV, Sozialhilfebehörden) bei unfreiwillig arbeitslosen Staatsangehö-

rigen der EU-Mitgliedstaaten, die nicht mehr mit öAV kooperieren (Art. 34

a

Abs. 2

Bst. e VE-AVG), dürften die kantonalen Ausführungsbestimmungen mit materiellem

363

www.edk.ch > Dokumentation > Rechtstexte und Beschlüsse > Rechtssammlung > 4. Dip-

lomanerkennung > 4.1 Grundlagen > 4.1.1 Interkantonale Vereinbarung vom 18. Februar

1993 über die Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen.

376 / 931

datenschutzrechtlichem Inhalt (z.B. im Bereich der Sozialhilfe) per Inkrafttretens des

Änderungsprotokolls zum FZA notwendig sein. Die Neuerungen im Bereich der öAV

dürften weiter zu einer Prüfung und allenfalls Anpassung der kantonalen Ausfüh-

rungsgesetzgebung (inkl. Organisationserlasse) führen. Vom Bundesrecht vorge-

schriebenen Anpassungen kantonaler Erlasse sind jedoch

a priori

keine zu erwarten.

Da die Ansprüche auf Sozialhilfe durch die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG

ausgeweitet werden, werden die Kantone ihre Sozialhilfegesetze überprüfen und al-

lenfalls anpassen müssen.

Durch die Einführung der biometrischen Identitätskarte besteht bei einigen Kantonen

Änderungsbedarf in ihren Verordnungen für die Ausstellung von solchen Identitäts-

karten.

Im Bereich der Anerkennung von Berufsqualifikationen werden namentlich für den

Vorwarnmechanismus im Bereich der Gesundheit und der Erziehung Minderjähriger,

einschliesslich Kinderbetreuungseinrichtungen und frühkindliche Erziehung, rechtli-

che Grundlagen für die Übermittlung von persönlichen Daten ins Ausland erlassen

werden müssen.

Im Hochschulbereich wird die Verpflichtung zur Gleichbehandlung der Studierenden

aus der EU betreffend Studiengebühren an den kantonalen universitären Hochschulen

und Fachhochschulen in verschiedenen Kantonen zu Anpassungen der entsprechen-

den Ausführungserlasse führen.

Das Änderungsprotokoll zum FZA hat keine spezifischen Auswirkungen auf Gemein-

den, urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete.

2.3.9.2.2

Auswirkungen auf Kantone im Bereich des Lohnschutzes

Auswirkungen im Bereich des EntsG

Die Verkürzung der Voranmeldefrist zwingt die kantonalen Vollzugsorgane wahr-

scheinlich dazu, ihre Strategie zu überdenken und möglicherweise auch zusätzliches

Personal anzustellen. Die Auswirkungen und der Personalbedarf hängen angesichts

der jeweiligen kantonalen Besonderheiten von verschiedenen Faktoren ab (z. B. geo-

grafische Lage, Wirtschaftsgefüge), was eine Kostenabschätzung schwierig macht.

Gemäss den geltenden Leistungsvereinbarungen zwischen dem Bund und den Kanto-

nen werden die Kantone 50 Prozent dieser zusätzlichen Kosten zu tragen haben. Die

Optimierung des Online-Meldeverfahrens sollte den zusätzlichen Personalbedarf al-

lerdings beschränken.

Wie oben erwähnt erfordert die Integration in das IMI-System die Schaffung einer

Koordinationsstelle bei jedem kantonalen Vollzugsorgan. Im Fall von Kooperations-

ersuchen von ausländischen Behörden müssen die Kantone auch mit einem höheren

administrativen Aufwand rechnen. Dieser Mehraufwand sollte allerdings vor allem in

der ersten Zeit nach der Integration der Schweiz ins IMI-System spürbar sein und

dürfte angesichts der geringen Zahl von Schweizer Entsendungen in die EU gering

bleiben. Gemäss der aktuellen Praxis zur finanziellen Entschädigung durch den Bund

werden diese Kosten zu 50 Prozent von den Kantonen getragen werden müssen, was

377 / 931

ein Gesamtbetrag von zusätzlichen 1,08 Millionen Franken ausmachen würde. Zu be-

achten ist auch, dass die auf diesem Weg durch die Kantone verhängten Geldbussen

durch das betroffene andere Land eingezogen werden können, was zu einem Rück-

gang der Einnahmen für die Kantone führt.

Kompensationsmassnahmen im Bereich des EntsG

Das Projekt zur Optimierung und Weiterentwicklung des Meldeverfahrens sollte den

Kantonen die Möglichkeit geben, die Kontrollen weiterhin so zu planen, dass sie den

neuen, durch die verkürzte Anmeldefrist entstandenen zeitlichen Vorgaben entspre-

chen. Dank der Weiterentwicklungen, die das Verfahren optimieren und die Effizienz

steigern sollen, dürfte sich der zusätzliche Ressourcenbedarf bei den Kantonen je nach

der definitiven Ausgestaltung in Grenzen halten; allenfalls kann in einzelnen Kanto-

nen sogar eine Umteilung von aktuell für die Verwaltung der Meldungen im Entsen-

debereich zuständigen Ressourcen hin zu anderen Bereichen möglich werden.

Die neue Bestimmung im EntsG, die eine erweiterte Haftung des Erstunternehmers

für Forderungen der PK einführt, dürfte für die Kantone keinen zusätzlichen Aufwand

verursachen. So können die Kantone schon heute veranlasst sein, die Einhaltung der

Sorgfaltspflicht durch den Erstunternehmer zu überprüfen. Es ist allerdings möglich,

dass die Kantone diese Überprüfung in Zukunft häufiger vornehmen und gegebenen-

falls die Nichteinhaltung der Sorgfaltspflicht sanktionieren müssen.

Auswirkungen im öffentlichen Beschaffungswesen

Die Aufwertung der GAV-Bescheinigungen bei kantonalen und kommunalen Bau-

aufträgen wird das Vergabeverfahren und die Kontrolle der Einhaltung der Arbeits-

und Lohnbedingung vor dem Zuschlag vereinfachen, wenn ein Unternehmen im Be-

reich des Bauhaupt- und Baunebengewerbe tätig ist. Darüber hinaus wird das obliga-

torische Mitführen von Baustellenausweisen die Kontrollen auf kantonalen und kom-

munalen öffentlichen Baustellen und damit während der Ausführung des Auftrags

erleichtern. Bei Umsetzung dieser Massnahmen ist abgesehen von einem gewissen

Schulungs- und Initialaufwand mit geringen indirekten Folgen für die Kantone und

Gemeinden zu rechnen, da die Kontrollen der Vollzugsorgane vereinfacht werden.

Die Massnahmen sollen insbesondere verhindern, dass die am inländischen Ort der

Leistung massgeblichen Arbeits- und Lohnbedingungen unterschritten werden. Sie

haben ansonsten keine besonderen Auswirkungen auf die Situation in urbanen Zen-

tren und Agglomerationen sowie der Berggebiete.

2.3.9.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Für Unternehmen in der Schweiz bringt die Aufdatierung des FZA und die Umsetzung

im nationalen Recht gegenüber der heutigen Regelung keine bedeutenden Verände-

rungen. Die Schweizer Wirtschaft kann weiterhin bei Bedarf Arbeitskräfte aus der EU

rekrutieren, was für den Wirtschaftsstandort und die Planungssicherheit der Unterneh-

men von grosser Bedeutung ist. Damit wird gewährleistet, dass die Zuwanderung auch

in Zukunft arbeitsmarktorientiert bleibt. Unternehmen in der Schweiz werden zwar

378 / 931

neu gesetzlich verpflichtet, die Grenzgängerbescheinigung für ihre Arbeitnehmenden

aus der EU zu beantragen (s. Ziff. 2.3.8.1.1, Erläuterungen zu Art. 13

a

VE-AIG), dies

entspricht jedoch bereits heute der bestehenden Praxis. 2024 wurden rund 77 500

Grenzgängerbewilligungen erteilt

364

.

Die gegenseitige Anerkennung von Qualifikationen bleibt gewährleistet und in den

reglementierten Berufen werden die Qualifikationen der Arbeitskräfte aus der EU ge-

mäss den bestehenden Bestimmungen überprüft. Damit bleibt die Schweizer Wirt-

schaft wettbewerbsfähig und innovativ. Auch bleiben beispielsweise Rentenanwart-

schaften, die auf Beitragszahlungen in einem anderen Land beruhen, gemäss den

geltenden Bestimmungen gesichert. Neu wird die Schweiz rechtliche Weiterentwick-

lungen der EU-Koordinationsregeln dynamisch übernehmen.

Was den Beitrag des FZA zum Wachstum der Schweizer Wirtschaft betrifft, wird auf

die Ecoplan-Studie

365

(2025) «Volkswirtschaftliche Auswirkungen eines Wegfalls

der Bilateralen I» verwiesen. Der Wegfall der Bilateralen I hätte gemäss dieser Studie

bis im Jahr 2045 einen Rückgang des BIP von -4,9 Prozent zur Folge und würde eine

Schwächung der Schweizer Wirtschaft und vermehrt Standortverlagerungen verursa-

chen. Das FZA ist aus einer volkswirtschaftlichen Perspektive das wichtigste bilate-

rale Abkommen mit der EU. In einer isolierten Betrachtung entspricht der Wegfall

des FZA rund drei Vierteln der Summe der Effekte der einzelnen Abkommen der Bi-

lateralen I.

366

Insgesamt rechnet die Studie mit Einkommenseinbussen beim Arbeits-

und Kapitaleinkommen im Jahr 2045 von - 22,64 Mrd. CHF, wenn das FZA wegfal-

len würde. Auch aus Sicht der Schweizer Wirtschaftsverbände ist das FZA im Kontext

der demografischen Entwicklung in der Schweiz und der sich verstärkenden Nach-

frage nach Arbeitskräften von eminenter Bedeutung für die Wirtschaft.

Schutzklausel

Die konkretisierte Schutzklausel bietet der Schweiz die Möglichkeit, geeignete

Schutzmassnahmen zu ergreifen, wenn die Anwendung des FZA zu schwerwiegenden

wirtschaftlichen oder sozialen Schwierigkeiten führt. Die Schweiz kann das Verfah-

ren zur Aktivierung der Schutzklausel eigenständig einleiten. Sofern es im GA des

FZA keine Einigung über das Vorliegen schwerwiegender Probleme gibt, kann die

Schweiz das Schiedsgericht neu ohne Zustimmung der EU anrufen. In bestimmten

Situationen, namentlich wenn die Nettozuwanderung gestützt auf das FZA bezie-

hungsweise die Zunahme der Beschäftigung von Grenzgängerinnen und Grenzgän-

gern, der Arbeitslosigkeit oder des Sozialhilfebezugs einen bestimmten Schwellen-

wert überschreitet, muss der Bundesrat die Anrufung der Schutzklausel immer prüfen.

Da die Anrufung der Schutzklausel für die Schweiz je nach Konstellation Vor- und

Nachteile hat und je nachdem auch mit Ausgleichsmassnahmen der EU zu rechnen

364

www.sem.admin.ch > Publikation & Service > Statistiken > Ausländerstatistik > Statistik

Zuwanderung > 2024 > Jahresstatistik Zuwanderung 2024.

365

www.seco.admin.ch > Wirtschaftslage & Wirtschaftspolitik > Grundlagen für die Wirt-

schaftspolitik.

366

Siehe S.69 Ecoplan (2025) Volkswirtschaftliche Auswirkungen eines Wegfalls der Bilate-

ralen I. Abrufbar unter: www.seco.admin.ch > Wirtschaftslage & Wirtschaftspolitik >

Grundlagen für die Wirtschaftspolitik.

379 / 931

ist, muss die Schweiz fallweise abwägen, ob eine Abweichung von Bestimmungen

des FZA notwendig und geeignet ist, um vorliegende Probleme zu entschärfen. Im

Schutzklauselverfahren sind die Vorgaben für allfällige Ausgleichsmassnahmen bei-

der Vertragsparteien definiert. Damit werden für die Schweiz die volkswirtschaftli-

chen Konsequenzen von allfälligen Massnahmen der EU kalkulierbarer.

Auswirkungen im Bereich des EntsG auf die Schweizer Unternehmen

Gestützt auf das Änderungsprotokoll zum FZA haben die Verkürzung der Voranmel-

defrist und die Anpassung des Kautionssystems keine Auswirkungen auf die Schwei-

zer Unternehmen. So betreffen die Änderungen nicht direkt die hiesigen Unterneh-

men, sondern die europäischen Dienstleistungserbringer. Sollten diese Änderungen

zu einer signifikanten Zunahme von Betrieben mit Meldepflicht auf dem Schweizer

Markt führen, könnten Schweizer Betriebe in den betreffenden Branchen mit einem

zunehmenden Wettbewerb konfrontiert sein.

Hinsichtlich der neuen Bestimmungen zur Verwaltungszusammenarbeit mit den aus-

ländischen Behörden im Rahmen des Vollzugs der Begleitmassnahmen, sind die

Schweizer Unternehmen ebenfalls nicht direkt von diesen Massnahmen betroffen, so-

lange sie auf nationalem Gebiet tätig sind oder bei der Entsendung von Arbeitneh-

menden die in den EU-Ländern geltenden Arbeits- und Lohnbedingungen einhalten.

Hingegen wird die Verwaltungszusammenarbeit bei einer Dienstleistungserbringung

in der EU durch Schweizer Unternehmen direkte Auswirkungen auf fehlbare Unter-

nehmen haben. Aufgrund der geringen Zahl von Schweizer Unternehmen, die Perso-

nal in die EU entsenden, sowie des hohen Lohnniveaus in der Schweiz werden die

neuen Bestimmungen zur Verwaltungszusammenarbeit jedoch nur geringfügige Fol-

gen für die Schweizer Unternehmen nach sich ziehen.

Die Massnahmen zur Optimierung und Weiterentwicklung des Meldeverfahrens ha-

ben keine Auswirkungen auf die Schweizer Unternehmen.

Für die Unternehmen hat die Einführung einer erweiterten Haftung des Erstunterneh-

mers bei Forderungen der PK vor allem zur Folge, dass die präventive Natur der be-

stehenden Solidarhaftung verstärkt wird. Denn diese Lösung umfasst keine neuen

Massnahmen, mit denen sich die Unternehmen von ihrer Haftung befreien könnten.

Falls die Erstunternehmer allerdings ihre Vergabeverfahren anpassen sollten, indem

sie etwa lieber Subunternehmer auswählen, die eine Kaution hinterlegt haben, könnte

diese neue Bestimmung einen gewissen Mehraufwand verursachen. Dieser wäre al-

lerdings geringfügig und dürfte mit der Zeit verschwinden.

Auswirkungen im Bereich des EntsG auf die anderen Wirtschaftsakteure

Die PK der betroffenen Wirtschaftszweige müssen die erforderlichen Anpassungen

am Kautionsverfahren vornehmen, um sich an die neuen Bestimmungen zu halten.

Falls das aktuelle Kontrollvolumen sowie die geltenden Bedingungen auch nach der

Verkürzung der Voranmeldefrist beibehalten werden sollen, ist es möglich, dass den

PK der ave GAV auf Bundesebene zusätzliche Ressourcen gewährt werden müssen.

Die zusätzlichen Kosten würden gemäss dem aktuellen Entschädigungsmodus durch

den Bund getragen.

380 / 931

Die PK können künftig die ausländischen Behörden um Auskünfte ersuchen, wenn

ein Arbeitgeber, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entsendet oder ein selbst-

ständiger Dienstleistungserbringer seine Auskunftspflicht nicht erfüllt. Dazu wird den

PK dank dem aufdatierten FZA ein Zugriff auf IMI gewährt. Der Initialaufwand für

die Einrichtung von IMI bei den regionalen oder zentralen PK dürfte kompensiert

werden durch die verbesserten Vollzugsmöglichkeiten gegenüber Dienstleistungser-

bringern, die wegen Verweigerung von Auskünften eine Kontrolle verunmöglichen.

Die Massnahmen zur Optimierung des Meldeverfahrens werden vor allem durch eine

schnellere und effizientere Übermittlung der Meldungen zur Verbesserung der Voll-

zugstätigkeit der PK beitragen.

Auswirkungen im Bereich des EntsG auf die Gesamtwirtschaft

Die Ergebnisse der Verhandlungen im Rahmen des Änderungsprotokolls zum FZA

betreffend die Anpassung des Kautionssystems und die Verkürzung der Voranmelde-

frist haben keine wesentlichen Auswirkungen auf die Schweizer Wirtschaft insge-

samt. So ist die grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung weiterhin ein relativ

beschränktes Phänomen. Das durch diese Dienstleistungserbringer geleistete Arbeits-

volumen – gemessen an der Anzahl Leistungstage – hat in den letzten zwanzig Jahren

nie mehr als knapp 1 Prozent der Beschäftigung in Vollzeitäquivalenten ausgemacht.

Die grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung konzentriert sich zudem auf be-

stimmte Wirtschaftszweige und wirkt sich daher nicht auf alle Schweizer Branchen

aus. Gestützt auf das Änderungsprotokoll zum FZA ist keine starke Zunahme der

Dienstleistungserbringung und damit des Wettbewerbs zu erwarten. Der Entscheid,

Dienstleistungen in der Schweiz zu erbringen, ist von zahlreichen Faktoren abhängig

– wie etwa der Konjunktur in der Schweiz oder im Herkunftsland – und nicht nur von

der Meldefrist oder der Kautionspflicht.

So werden sich die Anpassungen zur Kautionspflicht für Unternehmen, die in Bran-

chen tätig sind, welche dieses Instrument vorsehen, mit Sicherheit nur geringfügig auf

die Gesamtwirtschaft auswirken. Einzig ein Teil der im Baunebengewerbe tätigen

Branchen kennen heute eine Kautionspflicht. Ausserdem deuten die mit der Melde-

frist von 8 Kalendertagen gemachten Erfahrungen darauf hin, dass die Verkürzung

der Voranmeldefrist auf 4 Arbeitstage nicht zu einer starken Zunahme von Unterneh-

men führen wird, die Dienstleistungen in der Schweiz erbringen. Schon heute meldet

eine wesentliche Zahl der Dienstleistungserbringer ihre Einsätze deutlich mehr als

8 Kalendertage vor Beginn, was nahelegt, dass die aktuelle Frist für die Unternehmen

kein Hindernis für die Dienstleistungserbringung in der Schweiz darstellt. Zudem bie-

ten die aktuellen Bestimmungen den Entsendeunternehmen bereits jetzt die Möglich-

keit, ihre Tätigkeit im Notfall auch ohne Voranmeldung auszuüben.

Die neuen Bestimmungen zur Verwaltungszusammenarbeit mit den ausländischen

Behörden im Rahmen des Vollzugs des Entsendegesetzes haben keine Auswirkungen

auf die Schweizer Unternehmen und die Gesamtwirtschaft.

Die für Entsendeunternehmen neu eingeführte Pflicht, in der Schweiz eine Vertretung

des Arbeitgebers zu bezeichnen, die als Ansprechpartnerin oder Ansprechpartner der

Vollzugsbehörden dient, verursacht zusätzlichen Aufwand für die Entsendeunterneh-

381 / 931

men. Zudem wird die Pflicht, dass die entsandten Arbeitnehmenden vor Ort über Do-

kumente verfügen müssen, die die Einhaltung der geltenden Arbeitsbedingungen

nachweisen, die Kontrolle der Einhaltung der Schweizer Arbeits- und Lohnbedingun-

gen vereinfachen und indirekt zu einem fairen Wettbewerb beitragen.

Die zusätzlichen Verbesserungen des Meldeverfahrens werden die Abschwächung

der präventiven Wirkungen durch die Anpassungen bei der Kautionspflicht und die

Verkürzung der Voranmeldefrist teilweise kompensieren. Die Optimierung des Mel-

deverfahrens hat jedoch keine Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft.

Auswirkungen im Bereich des AVEG auf die Gesamtwirtschaft

Die Gesamtarbeitsverträge (GAV) als Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern

tragen zur Stabilisierung der potenziell konfliktbehafteten Beziehungen zwischen Ar-

beitgebern und Arbeitnehmenden bei. Die GAV haben damit eine regulierende Funk-

tion und entlasten indirekt den Staat. Der breite Handlungsspielraum der Sozialpartner

in Bezug auf die zwingenden Bestimmungen eines GAV erlaubt zudem eine weniger

starke Arbeitsmarktregulierung durch den Staat.

Da die Allgemeinverbindicherklärung von GAV durch den Staat den Abschluss von

GAV begünstigt, besteht ihr Zweck vor allem darin, den sozialen Frieden sowie ge-

wisse Mindeststandards bei den Arbeits- und Lohnbedingungen zu fördern. Die All-

gemeinverbindlicherklärung eines GAV verfolgt zwei Ziele: einerseits die bestehen-

den Verträge gegen Niedriglohnkonkurrenz zu schützen, andererseits auch eine

wirtschaftliche Benachteiligung der Aussenseiter zu vermeiden. Denn während die

wirtschaftlichen Auswirkungen bei der Allgemeinverbindlicherklärung eines GAV

für die Mitgliedsbetriebe der Unterzeichnerverbände des Vertrags auf den ersten Blick

erträglich sein sollten, kann die Situation für die Aussenseiterbetrieben schwieriger

sein. Die Allgemeinverbindlicherklärung eines GAV und der entsprechenden Min-

destlöhne bedeutet für diese Aussenseiterbetriebe gewissermassen, dass der Grund-

satz der freien Lohnverhandlung aufgegeben wird. Da es nicht das Ziel der Allge-

meinverbindlicherklärung ist, unliebsame Konkurrenten zu eliminieren oder

Hindernisse für den Marktzugang zu errichten, hat der Gesetzgeber die Voraussetzun-

gen, unter denen ein GAV allgemeinverbindlich erklärt werden kann, im Gesetz

(AVEG) klar festgelegt.

Die neue Massnahme zur Stabilisierung der Anzahl ave GAV wird die Sozialpartner-

schaft stärken. Sie hat keinerlei Auswirkungen auf Unternehmen und Wirtschafts-

zweige, die keinem ave GAV unterstehen. Aussenseiterbetriebe werden zwar von der

Massnahme betroffen sein, müssen aber bei einem ave GAV auch heute schon dessen

zwingenden Bestimmungen einhalten. Die neue Massnahme führt nicht zu mehr Un-

ternehmen, die einem ave GAV unterstellt sind, wird aber helfen zu vermeiden, dass

gewisse Wirtschaftszweige über gar keine zwingenden Bestimmungen für die Ar-

beits- und Lohnbedingungen verfügen, obwohl sie bisher solchen unterstanden. Ab-

gesehen davon bleiben die sonstigen Voraussetzungen für die Allgemeinverbindli-

cherklärung eines GAV unverändert. Eine Allgemeinverbindlicherklärung darf dem

Gesamtinteresse nicht zuwiderlaufen und die berechtigten Interessen anderer Wirt-

schaftsgruppen und Bevölkerungskreise nicht beeinträchtigen. Mit dieser Massnahme

382 / 931

zur Stabilisierung der aktuellen Situation sind insgesamt nur geringe Auswirkungen

zu erwarten.

Auswirkungen im Bereich des öffentlichen Beschaffungswesens

Die Massnahmen zur Aufwertung der GAV-Bescheinigungen für Anbieterinnen im

Bauhaupt- und Baunebengewerbe sowie für ihre allfälligen Subunternehmerinnen und

die Pflicht zum Mitführen von Baustellenausweisen auf öffentlichen Baustellen dürf-

ten nur geringe Auswirkungen auf die Unternehmen haben.

Den Anbieterinnen in den genannten Branchen steht das Instrument der GAV-

Bescheinigung bereits heute zur Verfügung, um beim Einsatz einer Subunternehmerin

im Rahmen der Solidarhaftung nachzuweisen, dass die geltenden Arbeits- und Lohn-

bedingungen eingehalten werden. Ebenso besteht für Anbieterinnen in den genannten

Branchen schon jetzt die Möglichkeit, Baustellenausweise zu bestellen. Sie werden

somit auf bereits bestehende Instrumente zurückgreifen können, während Anbieterin-

nen, die in Branchen tätig sind, in denen dieses Instrument nicht verfügbar ist, sich

weiterhin auf die Selbstdeklaration stützen können. Durch die Verwendung der GAV-

Bescheinigung kann jedoch sichergestellt werden, dass beim Vergabeverfahren nur

Firmen ohne offene Verstösse berücksichtigt werden.

Die Sozialpartner haben ein ausweisbasiertes Kontrollsystem eingerichtet. Sie sorgen

selbst dafür, dass die Ausweise aktuell sind, und stellen dabei sicher, dass die Bedin-

gungen stets eingehalten werden. Das obligatorische Mitführen von Baustellenaus-

weisen in den Branchen des Bauhaupt- und Baunebengewerbes vereinfacht die Kon-

trollen für die paritätischen Kommissionen vor Ort und verringert damit den

administrativen Aufwand für die kontrollierten Unternehmen. Die Baustellenaus-

weise müssen zudem auch für ausländische Unternehmen einfach erhältlich sein und

dürfen keinen Hinderungsgrund für eine Teilnahme an öffentlichen Ausschreibungen

sein.

Auswirkungen einer Verbesserung des Kündigungsschutzes

Die Auswirkungen auf die Volkswirtschaft lassen sich nicht im Detail beziffern, dürf-

ten sich aber in einem sehr geringen Mass bewegen. Ein verbesserter Kündigungs-

schutz für gewählte Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter, Mitglieder eines Or-

gans einer Personalvorsorgeeinrichtung und Mitglieder nationaler Branchen-

vorstände, die im Rahmen eines allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsvertra-

ges tätig sind, wird nur Unternehmen mit mehr als 50 Beschäftigten betreffen (ent-

spricht rund 2% der Unternehmen in 2022) und sofern überhaupt eine Arbeitnehmer-

vertretung im Betrieb besteht. Die Massnahme dürfte den flexiblen Arbeitsmarkt in

der Schweiz kaum einschränken.

2.3.9.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Es ist nicht davon auszugehen, dass das Änderungsprotokoll zum FZA die Zuwande-

rung von der EU in die Schweiz im Vergleich zu heute verstärkt und die soziale Si-

cherheit in grösserem Ausmass zusätzlich belastet. Die Zuwanderung im Rahmen des

FZA bleibt arbeitsmarktorientiert. Ausschlaggebend für die Höhe der Zuwanderung

383 / 931

ist demnach insbesondere der Bedarf der Wirtschaft an Arbeitskräften, welcher auf-

grund des in der Schweiz herrschenden Arbeitskräftemangels sowie des demografi-

schen Wandels (Alterung der Gesellschaft) nicht im Inland gedeckt werden kann.

Im Rahmen des jährlichen Observatoriumsberichts zum Freizügigkeitsabkommen

Schweiz–EU

367

kann bis anhin keine Verdrängung von Schweizer Arbeitskräften

durch Arbeitnehmende aus der EU festgestellt werden. Durch die Personenfreizügig-

keit wandern Personen im erwerbsfähigen Alter aus der EU in die Schweiz ein, was

positive Effekte auf die Finanzierung der Altersvorsorge hat. Gemäss dem am 24. Juni

2024

publizierten

20. Observatoriumsbericht

zum

Freizügigkeitsabkommen

Schweiz–EU finanzierten 2021 Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten beispiels-

weise die 1. Säule (AHV und IV) mit 26,3 Prozent der Beiträge, sie beziehen jedoch

nur 13,4 Prozent der individuellen Leistungen der 1. Säule.

Das Änderungsprotokoll zum FZA führt nicht nur zu weitergehenden Rechten von

Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten in der Schweiz, es führt auch zu einer Ver-

besserung der Rechtstellung der fast 466 000 Schweizerinnen und Schweizer

368

, die

in der EU ihren Ruhestand verbringen, dort erwerbstätig sind oder studieren. Auch sie

profitieren von weitergehenden Ansprüchen und Rechten aus dem Änderungsproto-

koll zum FZA, wenn sie beispielsweise arbeitslos werden oder das Daueraufenthalts-

recht erlangen. Dadurch werden die Karriere- und Lebensgestaltungsmöglichkeiten

von Schweizer Staatsangehörigen und ihren Familienangehörigen erweitert und ver-

einfacht.

2.3.9.5

Auswirkungen auf die Umwelt

Die Vorlage hat namentlich in Bezug auf die Umwelt keine weiteren Auswirkungen.

2.3.10

Rechtliche Aspekte der Protokolle

Dieser Abschnitt behandelt das Änderungsprotokoll zum FZA. Ausführungen zum

IP - FZA finden sich unter Ziffer 2.1.9, es sei denn es wird nachstehend ausdrücklich

auf das IP-FZA Bezug genommen.

2.3.10.1

Verfassungsmässigkeit der Protokolle

2.3.10.1.1

Zuständigkeit

Das Änderungsprotokoll zum FZA stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 BV, wonach

der Bund für die auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV

ermächtigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu ratifi-

zieren. Nach Artikel 166 Absatz 2 BV ist die Bundesversammlung für die Genehmi-

gung völkerrechtlicher Verträge zuständig, sofern für deren Abschluss nicht aufgrund

von Gesetz oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (Art. 24

367

www.seco.admin.ch > Publikationen & Dienstleistungen > Publikation > Arbeit > Perso-

nenfreizügigkeit und Arbeitsbeziehungen > Observatoriumsberichte.

368

Siehe Ausländerschweizerstatistik des BFS, www.bfs.admin.ch > Statistiken > Bevölke-

rung > Migration und Integration > Auslandschweizer/-innen.

384 / 931

Abs. 2 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 2002

369

[ParlG]; Art. 7

a

Abs. 1 des

Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 1997

370

[RVOG]).

Beim Änderungsprotokoll zum FZA handelt es sich nicht um einen Vertrag, für des-

sen selbstständigen Abschluss der Bundesrat aufgrund eines Gesetzes oder eines von

der Bundesversammlung genehmigten völkerrechtlichen Vertrags ermächtigt ist. Ins-

besondere geht das Änderungsprotokoll über die in Artikel 100 AIG vorgesehenen

Geltungsbereiche hinaus, in denen der Bundesrat Abkommen im Migrationsbereich

abschliessen kann. Es handelt sich des Weiteren auch nicht um einen völkerrechtli-

chen Vertrag von beschränkter Tragweite nach Artikel 7

a

Absatz 2 RVOG. Zudem

erfordert die Umsetzung des Änderungsprotokoll zum FZA die Anpassung von Bun-

desgesetzen. Das Änderungsprotokolls zum FZA ist folglich der Bundesversammlung

zur Genehmigung zu unterbreiten.

Die Verfassungsmässigkeit des Institutionellen Protokolls zum FZA wird in Ziffer

2.1.9.1 erläutert.

2.3.10.1.2

Verfassungsbestimmungen zur strafrechtlichen

Landesverweisung (Art. 121 BV)

Das Änderungsprotokoll zum FZA schliesst die Anwendung neuer Verpflichtungen

der Schweiz im Bereich der strafrechtlichen Landesverweisung aus (s. neuer Art. 7

h

e contrario

FZA und Art. 5 Abs. 7 des IP-FZA). So haben sich die EU und die

Schweiz darauf geeinigt, dass die Schweiz den verstärkten Ausweisungsschutz aus

der Richtlinie 2004/38/EG (Art. 28 Abs. 2 und 3) sowie die einschlägige Rechtspre-

chung des EuGH nicht übernimmt. Weiter muss die Schweiz die in Artikel 33 Ab-

satz 2 der Richtlinie 2004/38/EG vorgesehenen Verfahren zur Überprüfung einer

Ausweisungsverfügung von Amtes wegen nicht anwenden, da es sich in Bezug auf

das geltende FZA (von 1999) um neue Verpflichtungen handelt. Das Änderungspro-

tokoll verlangt, dass anstelle von Artikel 33 Absatz 2 der Richtlinie 2004/38/EG die

im geltenden FZA vorgesehenen Garantien, namentlich Artikel 3 der Richtli-

nie 64/221/EWG

371

und die einschlägige Rechtsprechung des EuGH im Sinne von

Artikel 16 des FZA von 1999, Anwendung finden. Durch diese zwei vertraglich zu-

gesicherten Ausnahmen (zu den Art. 28 Abs. 2 und 3 und Art. 33 Abs. 2 der Richtli-

nie 2004/38/EG) behält die Schweiz in diesem Bereich die Verpflichtungen aus dem

geltenden FZA bei, geht aber nicht darüber hinaus. Damit ist das Änderungsprotokoll

auch verfassungskonform.

Die Verpflichtungen aus dem FZA von 1999 wurden mit der Richtlinie 2004/38/EG,

insbesondere in deren Artikeln 27 und 32, kodifiziert und präzisiert. Es ist bekannt,

dass diese bereits vor dem Änderungsprotokoll vorhandenen Verpflichtungen in ei-

nem Spannungsverhältnis zur Vorgabe von Artikel 121 Absätze 3 und 5 BV stehen.

369

SR

171.10

370

SR

172.010

371

Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sonder-

vorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen

der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, ABl. 56 vom

4.4.1964, S. 850.

385 / 931

So verlangt Artikel 27 Absatz 2 der Richtlinie 2004/38/EG zu prüfen, ob eine Aus-

weisung aufgrund einer tatsächlichen, gegenwärtigen und erheblichen Gefahr, die ein

Grundinteresse der Gesellschaft berührt, erforderlich ist, so wie dies in Artikel 5 An-

hang I des FZA von 1999 in Verbindung mit der einschlägigen Rechtsprechung des

EuGH vorausgesetzt wird (s. Art. 16 FZA von 1999). Nach derselben Bestimmung

begründen strafrechtliche Verurteilungen nicht automatisch eine Ausweisung; der

Grundsatz der Verhältnismässigkeit muss gewahrt werden, auch bei der Bestimmung

der Dauer des Einreiseverbots. Diese Bedingungen stehen im Widerspruch zum Wort-

laut von Artikel 121 Absätze 3 und 5 BV, insbesondere in Bezug auf die automatische

Ausweisung und das Einreiseverbot von mindestens fünf Jahren bei bestimmten straf-

rechtlichen Verurteilungen (s. auch Erläuterungen unter Ziff. 2.3.6.2.2). Ein Wider-

spruch, der sich übrigens in den innerstaatlichen Umsetzungsbestimmungen zu einem

grossen Teil wiederfindet (s. Art. 66

a

ff. StGB und Art. 49

a

ff. MStG). Dabei handelt

es sich jedoch um Spannungen, die bereits vor dem vorliegenden Änderungsprotokoll

zum FZA bestanden.

Die Frage, ob die strafrechtliche Landesverweisung mit dem geltenden FZA vereinbar

sei, wurde bereits im Zusammenhang mit der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative

aufgeworfen.

372

Es wurde bewusst in Kauf genommen (und auch transparent kommu-

niziert), dass die Bestimmungen zur strafrechtlichen Landesverweisung möglicher-

weise nicht FZA-konform seien und hieraus Vertragsverletzungen resultieren könn-

ten.

373

Die Spannungen gegenüber dem bestehenden Recht befinden sich jedoch

hauptsächlich auf normativer Ebene. Bisher hat das Bundesgericht keine Unverein-

barkeit zwischen dem geltenden FZA und den Massnahmen festgestellt, die auf der

Grundlage der Bundesverfassung und des Strafgesetzbuches ergriffen wurden. Dies

ist insbesondere auf die Anwendung der Härtefallklausel (Art. 66

a

Abs. 2 StGB) zu-

rückzuführen.

Die vertraglich verankerten Ausnahmen betreffen ausserdem nicht das Recht der be-

troffenen Person, nach einem angemessenen Zeitraum, spätestens aber drei Jahre nach

Vollzug der Landesverweisung, ein Gesuch auf Überprüfung und Aufhebung des Ein-

reiseverbots zu stellen (Art. 32 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG). Das Recht auf

Überprüfung innerhalb eines angemessenen Zeitraums ergibt sich aus der einschlägi-

gen Rechtsprechung des EuGH, die für die Schweiz nach Artikel 16 des FZA von

1999 verbindlich ist. Artikel 32 Absatz 1 der Richtlinie 2004/38/EG begründet dem-

nach keine neuen Verpflichtungen für die Schweiz, sondern kodifiziert lediglich eine

bestehende Überprüfungspflicht mit vorgegebenen Fristen.

Dieses Recht steht möglicherweise in einem Spannungsverhältnis zur Vorgabe von

Artikel 121 Absatz 5 BV, wonach Ausländerinnen und Ausländer, die ihr Aufent-

haltsrecht nach Artikel 121 Absatz 3 BV verlieren, mit einem Einreiseverbot von min-

destens fünf Jahren zu belegen sind. Artikel 121 Absatz 5 BV regelt jedoch nur den

372

Bundesratsbeschluss über das Ergebnis der Volksabstimmung vom 28. November 2010

(«Ausschaffungsinitiative» und Gegenentwurf der Bundesversammlung; «Steuergerechtig-

keits-Initiative»), BBl

2011

2771.

373

S. Botschaft zur Änderung des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzes (Umsetzung

von Art. 121 Abs. 3–6 BV über die Ausschaffung krimineller Ausländerinnen und Auslän-

der), BBl

2013

5975, 6056 f. und 6059.

386 / 931

(anfänglichen) Entscheid über die Ausweisung und das Einreiseverbot. Eine spätere

Überprüfung oder die Aufhebung eines solchen Entscheids können als separate

Rechtsfragen betrachtet werden, die nicht durch Artikel 121 Absatz 5 BV geregelt

sind. Letzterer schliesst also die Möglichkeit der Überprüfung eines Einreiseverbots

nicht aus. Die bestehenden Spannungen gegenüber Artikel 121 Absätze 3 und 5 BV

bleiben hingegen in Bezug auf die in Artikel 32 Absatz 1 der Richtlinie 2004/38/EG

vorgesehenen Überprüfungskriterien vorhanden. Diese Überprüfung setzt nämlich

eine Analyse der Gültigkeit des Ausweisungsentscheids anhand der Kriterien des FZA

voraus (s. insb. Art. 27 der Richtlinie 2004/38/EG), wobei diese in einem Spannungs-

verhältnis zu Artikel 121 Absätze 3 und 5 BV stehen.

Da die Bestimmungen des Änderungsprotokolls zum FZA die Verpflichtungen aus

dem FZA von 1999 nur kodifizieren und keine materielle Änderung des Abkommens

im Bereich der strafrechtlichen Landesverweisung vorsehen, kann die Schweiz die

Verpflichtungen der Richtlinie 2004/38/EG (insb. die Art. 27 und 32 Abs. 1) ohne

Verfassungsänderung übernehmen.

Diese Bestimmungen der Richtlinie 2004/38/EG sind direkt anwendbar und es obliegt

wie bis anhin den Gerichten, die Einhaltung der internationalen Verpflichtungen zu

prüfen.

2.3.10.1.3

Verfassungsbestimmungen zur Steuerung der

Zuwanderung (Art. 121a BV)

Gemäss Artikel 121

a

Absatz 4 BV

«dürfen keine völkerrechtlichen Verträge abge-

schlossen werden, die gegen diesen Artikel verstossen»

. Diese Bestimmung betrifft

nur neue Verträge beziehungsweise alle völkerrechtlichen Verträge zwischen der

Schweiz und anderen Staaten oder internationalen Organisationen, die neue völker-

rechtliche Verpflichtungen oder Änderungen von bestehenden Verträgen enthalten.

Verträge verstossen gegen Artikel 121

a

BV, wenn sie mit den in Absatz 1, 2 oder 3

verankerten Anforderungen nicht vereinbar sind. Es dürfen also keine Verträge abge-

schlossen werden, welche die Schweiz daran hindern würden, die Zuwanderung über

die Anwendung von Höchstzahlen und Kontingenten eigenständig zu steuern, oder

welche die Anwendung der in Absatz 3 verankerten Kriterien verbieten würden. Ob

internationale Verpflichtungen im Widerspruch zu Artikel 121

a

BV stehen, hängt

folglich von der Auslegung dieses Verfassungsartikels ab.

Absatz 1 beschränkt den persönlichen Anwendungsbereich der Bestimmung auf Aus-

länderinnen und Ausländer, die in die Schweiz zuwandern, das heisst diejenigen, die

ihr Land verlassen, um sich dauerhaft in der Schweiz aufzuhalten, nicht aber auf jene,

die bereits in die Schweiz eingewandert sind. Artikel 121

a

Absatz 4 BV verbietet

folglich nicht den Abschluss von Verträgen zu anderen Aufenthaltsarten, welche nicht

unter den Begriff der «Zuwanderung» fallen. So ist es mit Artikel 121

a

BV insbeson-

dere auch vereinbar, völkerrechtliche Verträge abzuschliessen, wenn diese bezwe-

cken, die Rechtsstellung von ausländischen Personen zu verbessern, welche sich be-

reits in der Schweiz befinden.

Die in Artikel 121

a

Absatz 1 BV geforderte Eigenständigkeit bei der Steuerung der

Zuwanderung bedeutet, dass die Schweiz selbst über die Art und den Umfang der

387 / 931

Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern entscheidet, ohne andere Staaten,

internationale Organisationen oder supranationale Gemeinschaften miteinzubeziehen.

Mit eigenständiger Steuerung der Zuwanderung ist gemeint, dass die Schweiz in

quantitativer und qualitativer Hinsicht alleine entscheidet und nicht durch völkerrecht-

liche Verpflichtungen dazu gebracht werden kann, die Kontrolle über die Zuwande-

rung zu verlieren oder zu übertragen. Artikel 121

a

BV bezweckt die eigenständige

Steuerung der Zuwanderung, sieht aber keine fixe Obergrenze der Zuwanderung vor.

Es ist insbesondere auch zulässig, bestehende Kompensationsmöglichkeiten innerhalb

des dualen Zulassungssystems der Schweiz zu nutzen (s. dazu die nachfolgenden Aus-

führungen zur Teilübernahme der Richtlinie 2004/38 EG in diesem Kapitel).

Verträge, in denen es hauptsächlich oder teilweise um die Regelung der Zuwanderung

geht, sind also nicht grundsätzlich verboten. Selbst im Zuwanderungsbereich verbietet

diese Verfassungsbestimmung nicht jeden neuen Vertrag, der Ausländerinnen und

Ausländern von der Anwendung von Höchstzahlen oder Kontingenten ausnimmt oder

ihnen Freizügigkeitsrechte verleiht. Abkommen, die einem eng begrenzten Personen-

kreis Freizügigkeitsrechte einräumen, stellen die Eigenständigkeit der Schweiz nicht

in Frage. Solche Abkommen können mit der in Artikel 121

a

Absatz 2 BV geforderten

Begrenzung der Zuwanderung durch Höchstzahlen und Kontingente vereinbar sein,

wenn die Zuwanderung gering ist und eine allfällige Zunahme derselben im Rahmen

der Kontingentierung für Drittstaatsangehörige berücksichtigt werden kann. Es ist so-

mit zulässig, völkerrechtliche Abkommen abzuschliessen, solange die Schweiz die

Kontrolle über die Zuwanderung nicht verliert und solange diese Verträge die Mög-

lichkeit der Schweiz, die Zuwanderung durch Höchstzahlen und Kontingente zu steu-

ern, weitgehend unberührt lassen

374

.

Artikel 121

a

Absatz 3 BV legt gewisse Kriterien für eine qualitative Steuerung der

Zuwanderung von erwerbstätigen Personen fest. Die Kontingente sind auf die gesamt-

wirtschaftlichen Interessen der Schweiz unter Berücksichtigung eines Vorranges für

Inländerinnen und Inländer auszurichten. Der betreffende Absatz 3 enthält überdies

eine nicht abschliessende Liste von massgebenden Kriterien für die Erteilung von

Aufenthaltsbewilligungen zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit (Gesuch eines Arbeit-

gebers, Integrationsfähigkeit und eine ausreichende, eigenständige Existenzgrund-

lage; s. Ziff. 2.3.6.2.2, Erläuterungen zu Art. 5

f

FZA). Diese Kriterien sind auch im

Lichte von Absatz 1 auszulegen, der mit der eigenständigen Steuerung der Zuwande-

rung das Hauptziel der Bestimmung festhält. Wenn die neuen internationalen Ver-

pflichtungen nur eine geringe Anzahl von Personen betreffen, haben sie nur eine ge-

ringfügige Auswirkung auf die globale Zuwanderung und dementsprechend auf die

Zuwanderung von erwerbstätigen Personen.

Im vorliegenden Fall geht es also darum zu prüfen, ob durch das Inkrafttreten des

Änderungsprotokolls neue Ansprüche auf Zuwanderung geschaffen werden und ob

diese neuen Ansprüche im Vergleich zum FZA von 1999 mit einer eigenständigen

374

Dies war beispielsweise der Fall bei den Freihandelsabkommen mit Japan

(SR

0.946.294.632

) und China (SR

0.946.292.492

). Zudem wurde davon ausgegangen,

dass auch Migrationspartnerschaften und Stagiaires-Abkommen die Eigenständigkeit nicht

beeinträchtigen.

388 / 931

Steuerung der Zuwanderung, die sich auf quantitative und qualitative Massnahmen

stützt, in Einklang gebracht werden können.

Im Rahmen des vorliegenden Abkommenspakets mit der EU schafft, in Bezug auf das

FZA von 1999, einzig die Übernahme der Richtlinie 2004/38/EG neue Aufenthalts-

rechte für Ausländerinnen und Ausländer, die im Sinne von Artikel 121

a

BV in die

Schweiz einwandern. Die Übernahme der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 über die

Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union betrifft zwar auch den Zugang

zur Erwerbstätigkeit in der Schweiz, sie bringt jedoch keine neuen Verpflichtungen

für die Schweiz mit sich, da sie nur die Bestimmungen der Verordnung (EWG)

Nr. 1612/68

375

kodifiziert, die inhaltlich im Anhang I des geltenden FZA übernom-

men wurden. Das Protokoll zu Bewilligungen für Langzeitaufenthalte (Niederlas-

sungsbewilligungen) wird in das FZA aufgenommen, Bewilligungen für Langzeitau-

fenthalte (Niederlassungsbewilligungen) liegen gemäss diesem Protokoll aber

ausserhalb des Geltungsbereichs des FZA. Auch dieses Protokoll verstösst nicht ge-

gen Artikel 121

a

BV, da nicht die Zuwanderung in die Schweiz betrifft, sondern die

Voraussetzungen für die Erlangung einer Niederlassungsbewilligung nach einem

Aufenthalt von fünf Jahren für Personen, die bereits in die Schweiz eingewandert sind.

Die übrigen in das FZA aufgenommenen Erlasse der EU betreffen andere Aspekte der

Personenfreizügigkeit wie das Ausweisformat, den gerichtlichen Schutz der Freizü-

gigkeitsrechte, die soziale Sicherheit oder die Entsendung von Arbeitnehmenden.

Durch die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG geht die Schweiz neue Ver-

pflichtungen ein, die sich im Sinne von Artikel 121

a

BV auf die Zuwanderung in die

Schweiz auswirken können, nämlich Artikel 2 Absatz 2 und Artikel 3 Absatz 2 der

Richtlinie 2004/38/EG. Die anderen Bestimmungen der Richtlinie beziehen sich hin-

gegen auf Rechte, die entweder nicht die Zuwanderung im Sinne von Artikel 121

a

BV betreffen oder materiell den Rechten des geltenden FZA entsprechen. Folglich

muss nur die Vereinbarkeit dieser beiden Bestimmungen aus der Richtlinie

2004/38/EG mit Artikel 121

a

BV geprüft werden.

Im Vergleich zum FZA von 1999 erweitert oder erleichtert die Richtlinie 2004/38/EG

den Familiennachzug und die damit verbundenen Rechte in verschiedenen Punkten.

Der Kreis der Personen, die Anspruch auf Familiennachzug haben, wurde erweitert

auf eingetragene Partner (Art. 2 Nr. 2 Bst. b der Richtlinie 2004/38/EG), unterhalts-

berechtigte Verwandte in aufsteigender Linie von Personen in eingetragener Partner-

schaft (Art. 2 Nr. 2 Bst. d der Richtlinie 2004/38/EG) sowie auf Nachkommen von

Personen in eingetragener Partnerschaft, die unter 21 Jahre alt sind oder denen Unter-

halt gewährt wird (Art. 2 Nr. 2 Bst. c der Richtlinie 2004/38/EG). Weiter wird der

Personenkreis, der einen erleichterten Familiennachzug geltend machen kann, erwei-

tert (Art. 3 Abs. 2 UAbs. 1 Bst. a und b der Richtlinie 2004/38/EG) und die Pflichten

des Aufnahmestaates bei der Prüfung der persönlichen Umstände und Begründung

von Ablehnungen ausgeweitet. Ausserdem erwähnt die Richtlinie 2004/38/EG die Be-

dingung einer angemessenen Wohnung beim Familiennachzug nicht mehr.

375

Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit

der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, ABl. L 257 vom 19.10.1968, S. 2–12.

389 / 931

Die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG enthält daher Bestimmungen, die sich

im Vergleich zum FZA von 1999 auf die Zuwanderung in die Schweiz im Sinne von

Artikel 121

a

BV auswirken können. Im Vergleich zur Anzahl der Personen, die ge-

stützt auf das FZA von 1999 Anspruch auf Einreise und Aufenthalt haben, ist davon

auszugehen, dass es sich um eine vernachlässigbare Anzahl von zusätzlichen Perso-

nen handelt, die aufgrund der neuen Rechte aus der Richtlinie 2004/38/EG in die

Schweiz einwandern würden. Auf jeden Fall wird diese Zahl nicht so gross sein, dass

sie eine eigenständige Steuerung der Zuwanderung im Sinne von Artikel 121

a

Ab-

satz 1 BV unmöglich machen würde. Im dualen Zulassungssystem der Schweiz kann

zudem einer allfälligen, daraus entstehenden Zunahme der Zuwanderung durch

Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten durch eine Anpassung der jährlichen

Höchstzahlen oder der Kontingente für Drittstaatsangehörige Rechnung getragen wer-

den.

Die neuen Rechte, die sich aus der Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG ergeben,

stehen deshalb nicht im Widerspruch zu den Verfassungsbestimmung über die Steue-

rung der Zuwanderung.

Das geänderte FZA verpflichtet die Schweiz und die EU auch zur dynamischen In-

tegration künftiger Rechtsakte der EU in die Anhänge des Abkommens, wenn diese

in den Geltungsbereich des Abkommens fallen und keine zwischen den Vertragsstaa-

ten vereinbarten Ausnahmen betreffen. Dieser vom GA getroffene Integrationsent-

scheid hat zur Folge, dass der betreffende Rechtsakt in die schweizerische Rechtsord-

nung übernommen wird. Dabei wird es sich jeweils um einen internationalen

Rechtsakt zur Änderung des vorliegenden Abkommens handeln. Die Übernahme ge-

schieht allerdings nicht automatisch, da jeder im Anhang des Abkommens hinzuge-

fügte Rechtsakt der EU nur nach einvernehmlichem Beschluss durch die Vertretungen

der beiden Vertragsparteien im GA übernommen werden kann. Die Schweiz kann also

beschliessen, auf die Übernahme eines Rechtsakts zu verzichten. In diesem Fall

könnte es allerdings zu Streitigkeiten zwischen den beiden Vertragsparteien kommen,

die dann im GA behandelt werden müssten. Gelingt es dem GA nicht, die Streitigkei-

ten innerhalb von drei Monaten beizulegen, könnte die EU von einem Schiedsgericht

feststellen lassen, dass die Schweiz gegen ihre Verpflichtungen verstossen hat, worauf

die EU Ausgleichsmassnahmen gegen die Schweiz ergreifen könnte, die nicht nur das

FZA, sondern auch alle anderen Binnenmarktabkommen zwischen der Schweiz und

der EU betreffen können. Mit dieser neuen völkerrechtlichen Verpflichtung wird die

Schweiz also nicht automatisch alle neuen Rechtsakte der EU übernehmen müssen,

wenn diese mit Artikel 121

a

BV nicht vereinbar sind. Daraus ergibt sich, dass die

Schweiz durch die Genehmigung des Änderungsprotokolls zum FZA neue internati-

onale Verpflichtungen nicht eingeht, wenn diese zu einem Verlust oder einer Über-

tragung der Kontrolle über die Zuwanderung führen würden. Sie bleibt dadurch in der

Lage, die Zuwanderung in quantitativer und qualitativer Hinsicht zu steuern. Diese

Änderung des FZA ist somit auch mit Artikel 121

a

Absatz 4 BV vereinbar.

390 / 931

2.3.10.2

Verfassungsmässigkeit der Umsetzungsgesetzgebung und

Begleitmassnahmen

2.3.10.2.1

Zuständigkeit

Die Erlassentwürfe zur Umsetzung des Änderungsprotokolls zum FZA stützen sich

im Wesentlichen auf Artikel 121 BV, welcher dem Bund die Kompetenz im Auslän-

derbereich erteilt. Im Bereich des Anhangs II FZA (berufliche Vorsorge) stützen sie

sich auf Artikel 113 BV sowie auf Artikel 122 BV (Personalfürsorgestiftungen), und

im Bereich der Anerkennung der Berufsqualifikationen auf Artikel 95 Absatz 1 sowie

Artikel 117

a

Absatz 2 Buchstabe a BV.

Die Entwürfe zum EntsG stützen sich auf Artikel 110 Absatz 1 Buchstaben a und b

BV, jene zum Bundesgesetz über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtar-

beitsverträgen hingegen auf Artikel 110 Absatz 1 Buchstaben d BV.

2.3.10.2.2

Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV)

Durch die Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG wird die Meldepflicht für kurz-

fristige Erwerbstätigkeit auch für Schweizer Staatsangehörige gelten (s.

Ziff. 2.3.8.4.1). Neu unter die Meldepflicht fallen Schweizerinnen und Schweizer, die

entweder in einem EU-Mitgliedstaat wohnen und in der Schweiz für höchstens 90 Ar-

beitstage im Kalenderjahr eine grenzüberschreitende Dienstleistung erbringen, oder

die für höchstens drei Monate in der Schweiz einer Erwerbstätigkeit nachgehen.

Zweck der Meldung ist es, den Status von Selbstständigen oder bei Arbeitnehmenden

die Lohn- und Arbeitsbedingungen zu überprüfen und Scheinselbstständigkeit zu be-

kämpfen. Damit erhalten Schweizer Staatsangehörige denselben Schutz wie Staatsan-

gehörige der EU-Mitgliedstaaten.

Es handelt sich dabei um ein deklaratorisches Verfahren, was bedeutet, dass das Feh-

len einer Meldung nicht dazu führt, dass die Ausübung der Erwerbstätigkeit einge-

schränkt oder verboten würde. Diese Meldepflicht behindert weder den freien Wett-

bewerb noch schützt sie gewisse Wirtschaftsbranchen. Somit verstösst die

Ausweitung der Meldepflicht auf Schweizer Staatsangehörige auch nicht gegen Arti-

kel 94 Absatz 4 BV.

Damit werden die freie Berufswahl sowie der freie Zugang zu einer Erwerbstätigkeit

und deren freie Ausübung nicht tangiert und die Wirtschaftsfreiheit bleibt gewährleis-

tet.

2.3.10.2.3

Zuständigkeit des Bundes im Bereich der Sozialhilfe

Die Sozialhilfe liegt grundsätzlich im Kompetenzbereich der Kantone (Art. 115 BV).

Der Bund kann jedoch sozialhilferechtliche Bestimmungen erlassen, sofern die be-

treffende Massnahme zur Durchsetzung eines wichtigen ausländerpolitischen Ziels

notwendig erscheint, nicht im Konflikt steht mit anderen ausländerpolitischen Zielen,

in ihrer inhaltlichen und zeitlichen Wirkung begrenzt ist und den Kernbereich der

kantonalen Sozialhilfekompetenz unberührt lässt (Art. 121 Abs. 1 BV). Als wichtige

ausländerpolitische Ziele anerkannt sind insbesondere die Senkung der Attraktivität

der Schweiz als Zuwanderungsland (für bestimmte Personengruppen) oder auch die

391 / 931

rasche Integration von Personengruppen mit Aussicht auf einen längerfristigen Ver-

bleib in der Schweiz. Es muss sich also um ein besonders gewichtiges Ziel handeln,

das eine breite Unterstützung geniesst.

376

Die Senkung der Attraktivität der Schweiz für bestimmte Personenkategorien, die eine

finanzielle Belastung darstellen, kann als Ziel der Ausländerpolitik betrachtet werden

und steht nicht im Konflikt mit anderen ausländerpolitischen Zielen.

Folglich kann der Bund gestützt auf Artikel 121 Absatz 1 BV Einschränkungen des

Anspruches auf Sozialhilfe für zusätzliche Personenkategorien gesetzlich regeln,

wenn damit das oben erwähnte Ziel verfolgt wird. Artikel 41

c

VE-AIG regelt, welche

Personenkategorien auch mit der Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG von der

Sozialhilfe ausgeschlossen werden können und bewegt sich innerhalb der Zuständig-

keit des Bundes im Bereich der Sozialhilfe (s. Ziff. 2.3.8.1.1, Erläuterungen zu

Art. 41

c

VE-AIG). Der Sozialhilfeausschluss von bestimmten Kategorien von Staats-

angehörigen der EU-Mitgliedstaaten während den ersten Monaten ihres Aufenthalts

ist in seiner inhaltlichen und zeitlichen Wirkung begrenzt und lässt den Kernbereich

der kantonalen Kompetenz unberührt. Artikel 41

c

VE-AIG verankert den Sozialhil-

feausschluss ebenfalls für Personen, die sich mehr als drei Monate in der Schweiz

aufhalten (und dabei weder den Status als Erwerbstätige haben noch Familienangehö-

rige sind oder das Recht auf Daueraufenthalt erworben haben). Indem das Bundesge-

setz vorsieht, dass die Kantone Ausnahmen in ihrer Gesetzgebung festlegen, wird die

kantonale Gesetzgebungskompetenz im Bereich der Sozialhilfe angemessen berück-

sichtigt.

2.3.10.3

Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen

der Schweiz

2.3.10.3.1

Bilaterale Abkommen mit EU-Mitgliedstaaten in anderen

Bereichen als der sozialen Sicherheit und der

Steuerabkommen

Das Änderungsprotokoll zum FZA hat keine Auswirkungen auf das Verhältnis zu an-

deren bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und EU-Mitgliedstaaten. Diese

bleiben weiterhin in Kraft und unverändert bestehen.

Die Schweiz und die EU haben sich auf eine Harmonisierung bezüglich der Erteilung

der

Niederlassungsbewilligung

geeinigt.

Alle

Staatsangehörigen

der

EU-

Mitgliedstaaten erhalten diese neu nach einem rechtmässigen und ununterbrochenen

Aufenthalt von fünf Jahren (s. Ziff. 2.3.6.4). Von der Harmonisierung betroffen ist

376

Siehe Bericht des Bundesrates von Juni 2019 «Kompetenzen des Bundes im Bereich der

Sozialhilfe für Ausländerinnen und Ausländer aus Drittstaaten», Bericht des Bundesrates

in Erfüllung des Postulates der Staatspolitischen Kommission des Ständerates 17.3260

vom 30. März 2017, S. 12, https://www.parlament.ch/de > Suche > 17.3260 > Bericht in

Erfüllung des parlamentarischen Vorstosses.

392 / 931

jedoch einzig der vorgängige Aufenthalt von fünf Jahren. Hingegen bleiben die beste-

henden Niederlassungsvereinbarungen, die die Schweiz mit verschiedenen EU-

Mitgliedstaaten

377

abgeschlossen hat, weiterhin in Kraft.

In Bereichen, in denen ein spezielles Dienstleistungsabkommen zwischen der

Schweiz und der EU bereits besteht (z.B. das Abkommen über das öffentliche Be-

schaffungswesen) oder künftig abgeschlossen wird, darf die gestützt auf diese Ab-

kommen erfolgende Dienstleistungserbringung nicht durch Bestimmungen über den

freien Personenverkehr behindert werden.

In Bezug auf die bilateralen Sozialversicherungs- und Steuerabkommen gilt die aktu-

elle Regelung des FZA (Art. 20 und 21) unverändert weiter. Mit den rein formellen

Änderungen von Artikel 21 wird lediglich bezweckt, die Bestimmung an den aktuel-

len internationalen Steuerkontext anzupassen. Diese Änderungen, insbesondere jene

im Artikel 21 Absatz 2 des Änderungsprotokolls zum FZA, haben keine Auswirkun-

gen auf den materiellen Geltungsbereich der Bestimmung.

2.3.10.3.2

EFTA-Übereinkommen

Das Änderungsprotokoll zum FZA ist vereinbar mit dem revidierten EFTA-

Übereinkommen vom 21. Juni 2001. Das Protokoll findet nur im Verhältnis zwischen

der Schweiz und der EU und ihren Mitgliedstaaten, nicht aber im Verhältnis zu den

EFTA-Staaten Anwendung. Zwischen der Schweiz und den EFTA-Staaten gelten im

Bereich der Personenfreizügigkeit daher weiterhin die im Anhang K des EFTA-

Übereinkommens enthaltenen Bestimmungen, die mit dem geltenden FZA weitge-

hend übereinstimmen.

Um weiterhin möglichst einheitliche Regeln zwischen den EU- und EFTA-

Mitgliedstaaten zu gewährleisten, wird eine Anpassung des Anhangs K des EFTA-

Übereinkommens an die im Rahmen des Pakets Schweiz-EU vorgenommen Ände-

rungen des FZA zu prüfen sein.

2.3.10.3.3

GATS/WTO

Das Allgemeine Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) der Welt-

handelsorganisation (WTO) schreibt die Anwendung der Meistbegünstigungsklausel

(Art. II) vor, unter welcher jedem anderen Mitgliedstaat der WTO eine gleich vorteil-

hafte Behandlung zu gewähren ist, vorbehaltlich eines Abkommens zwischen den

Vertragsparteien, das den Handel mit Dienstleistungen im Sinne von Artikel V GATS

horizontal abdeckt, oder einer Ausnahme im Sinne von Artikel II Absatz 2 GATS.

Sowohl die Schweiz als auch die EU haben in Bezug auf die Massnahmen ihrer bila-

teralen Abkommen zur grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung durch na-

türliche Personen eine solche Ausnahme geltend gemacht. Das Änderungsprotokoll

zum FZA kann somit als mit den Verpflichtungen der Schweiz aus dem GATS ver-

einbar betrachtet werden.

377

Siehe Ziffer 0.2.1.3.1 der Weisungen und Erläuterungen des Staatssekretariats für Migra-

tion SEM zum I. Ausländerbereich (Weisungen AIG), Stand am 1. Januar 2025, abrufbar

unter www.sem.admin.ch > Publikationen & Service > Weisungen und Kreisschreiben > I.

Ausländerbereich.

393 / 931

2.3.10.3.4

EMRK und UNO-Pakt II

Die Verpflichtungen der Schweiz aus der Konvention vom 4. November 1950

378

zum

Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) sowie auch aus dem In-

ternationalen Pakt vom 16. Dezember 1966

379

über bürgerliche und politische Rechte

(UNO-Pakt II) bleiben durch das neue Abkommen mit der EU unberührt.

2.3.10.3.5

Übereinkommen Nr. 98 der Internationalen

Arbeitsorganisation (IAO)

Die Schweiz hat 1999 das Übereinkommen Nr. 98 der Internationalen Arbeitsorgani-

sation (IAO) über die Anwendung der Grundsätze des Vereinigungsrechtes und des

Rechtes zu Kollektivverhandlungen von 1949

380

ratifiziert. 2003 hat der Schweizeri-

sche Gewerkschaftsbund (SGB) bei einem der IAO-Kontrollorgane, dem Ausschuss

für Vereinigungsfreiheit, gegen die Schweiz eine Klage wegen Verletzung der Ge-

werkschaftsrechte eingereicht. Gestützt auf das IAO-Übereinkommen Nr. 98 bean-

standet der SGB den unzureichenden Schutz der Delegierten sowie der Vertreterinnen

und Vertreter von Gewerkschaften in der Schweiz.

Schon 2004 anerkannte die IAO die Vorwürfe des SGB als begründet und forderte die

Schweiz auf, ihr privates Arbeitsrecht anzupassen. 2006 wurde dieser Fall an der In-

ternationalen Arbeitskonferenz im Rahmen des Normenausschusses behandelt.

Im Jahr 2010 schickte der Bundesrat einen Vorentwurf zur Teilrevision des Obligati-

onenrechts in die Vernehmlassung, der die Erhöhung der Sanktion von sechs auf

zwölf Monatslöhne vorsah. Dieser Vorentwurf wurde äusserst kontrovers beurteilt

und führte zu diametral entgegengesetzten Stellungnahmen.

Nachdem im Jahr 2015 mehrere Studien in Auftrag gegeben sowie 2017 verschiedene

Seminare organisiert worden waren und ein Versuch, eine Einigung zwischen den

Sozialpartnern zu erzielen, erfolglos verlaufen war, wurde 2020 eine unabhängige ex-

terne Mediation eingeleitet. Ende 2023 wurde diese Mediation ausgesetzt, obwohl ein

konkretes Ergebnis auf dem Tisch lag.

Gemäss den letzten Äusserungen der IAO zu dieser Angelegenheit hofft der Aus-

schuss, dass die laufende Mediation zu einer Einigung führen werde, und fordert die

Regierung auf, die notwendigen Massnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass

die Gesetzgebung und die Rechtspraxis zum Schutz vor gewerkschaftsfeindlichen

Kündigungen vollumfänglich mit dem Übereinkommen Nr. 98 im Einklang stehen.

Sofern kein Konsens gefunden werden kann, sei es an der Regierung, die notwendigen

Entscheidungen zu treffen, damit die von ihr ratifizierten internationalen Überein-

kommen eingehalten werden.

378

SR

0.101

379

SR

0.103.2

380

SR

0.822.719.9

394 / 931

Gestützt auf die Ergebnisse der Mediation und die letzten Äusserungen der IAO

schlägt der Bundesrat eine Änderung des Obligationenrechts vor, um den Kündi-

gungsschutz für Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter zu verbessern.

(s. Ziff. 2.3.7.2.2).

2.3.10.4

Erlassform

Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV unterliegen völkerrechtliche Ver-

träge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige rechtsetzende Bestimmungen

enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Nach Ar-

tikel 22 Absatz 4 ParlG sind unter rechtsetzenden Normen jene Bestimmungen zu ver-

stehen, die in unmittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten auf-

erlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen. Als wichtig gelten

Bestimmungen, die auf der Grundlage von Artikel 164 Absatz 1 BV in der Form eines

Bundesgesetzes erlassen werden müssten.

Das Änderungsprotokoll sowie das Institutionelle Protokoll enthalten wichtige recht-

setzende Bestimmungen. Zudem erfordert die Umsetzung des Änderungsprotokolls

die Änderung von Gesetzen. Der Bundesbeschluss über die Genehmigung des Vertra-

ges untersteht deshalb dem fakultativen Referendum nach Artikel 141 Absatz 1 Buch-

stabe d Ziffer 3 BV (s. Varianten in Ziff. 4.2)

.

Zur Frage der Bündelung der Umset-

zungsgesetzgebung, siehe Ziffer 4.3.

2.3.10.5

Vorläufige Anwendung

Das Änderungsprotokoll zum FZA sieht keine vorläufige Anwendung vor.

2.3.10.6

Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass

2.3.10.6.1

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Mit der Vorlage werden weder neue Subventionsbestimmungen noch neue Verpflich-

tungskredite oder Zahlungsrahmen beschlossen. Die Vorlage ist somit nicht der Aus-

gabenbremse (Art. 159 Abs. 3 Bst. b BV) unterstellt.

2.3.10.6.2

Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der

fiskalischen Äquivalenz

Die Vorlage führt zu keiner Verschiebung der Aufgabenzuweisungen zwischen dem

Bund und den Kantonen und das Subsidiaritätsprinzip wird gewahrt. Der Vollzug im

Ausländerrecht bleibt Sache der Kantone, der Bundesrat beaufsichtigt den Vollzug

des AIG (Art. 124 AIG).

2.3.10.6.3

Delegation von Rechtssetzungsbefugnissen

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen im AIG

Der Gesetzesentwurf sieht vor, dem Bundesrat im AIG die Kompetenz zur Festlegung

der Fristen und des Verfahrens einzuräumen, welche sich im Zusammenhang mit den

Pflichten bei der Einreise und dem Aufenthalt von Staatsangehörigen der EU-

Mitgliedstaaten und ihren Familienangehörigen ergeben (Art. 13

a

VE-AIG). Die

395 / 931

Festlegung der Fristen und der Verfahren wird der Bundesrat auf Verordnungsstufe

ausführen.

Gemäss Artikel 21

b

VE-AIG ist der Bundesrat für das gesamte Verfahren vor dem

GA des FZA und dem Schiedsgericht, einschliesslich für die Genehmigung eines Be-

schlusses des GA über Schutzmassnahmen und die Festlegung der Schutzmassnah-

men bei einem positiven Entscheid des Schiedsgerichts zuständig (Art. 21

b

Abs. 1

und 2 VE-AIG). Er hat demnach die Kompetenz, Beschlüsse des GA über Schutzmas-

snahmen zu genehmigen und sie umzusetzen, soweit sie nicht direkt anwendbar sind

(Art. 21

b

Abs. 1 VE-AIG), sowie Schutzmassnahmen nach den Absätzen 6 und 7 zu

ergreifen, wenn das Schiedsgericht feststellt, dass die im neuen Artikel 14a Absätze 3

und 5 FZA genannten Voraussetzungen vorliegen (Art. 21

b

Abs. 2 VE-AIG). Der

Bundesrat hat ausserdem die Kompetenz, Ausgleichsmassnahmen vorzusehen, wenn

die EU Schutzmassnahmen ergreift, die zu einem Ungleichgewicht zwischen den

Rechten und Pflichten der Vertragsparteien aus dem FZA führen (Art. 21

b

Abs. 4 VE-

AIG). Artikel 21

b

Absatz 5 VE-AIG sieht weiter vor, dem Bundesrat die Kompetenz

zur Festlegung der Höhe der Schwellenwerte einzuräumen, welche zu einer obligato-

rischen Prüfung des Vorliegens schwerwiegender wirtschaftlicher oder sozialer Prob-

leme im Sinne des neuen Artikels 14a Absatz 1 FZA führen.

Gemäss Artikel 21

b

Absatz 3 VE-AIG kann der Bundesrat trotz einem negativen Ent-

scheid des Schiedsgerichts selbst vorübergehende geeignete Schutzmassnahmen ge-

mäss Absatz 6 und 7 ergreifen, wenn er zum Schluss kommt, dass die Probleme derart

gross sind, dass Massnahmen erforderlich erscheinen. Sollen diese Massnahmen län-

ger als 12 Monate dauern, muss der Bundesrat innerhalb dieser Frist der Bundesver-

sammlung eine entsprechende Vorlage unterbreiten. Die Massnahmen des Bundesra-

tes gelten jedoch über diese Frist hinaus bis zum Entscheid des Parlaments über die

Vorlage.

Weiter wird die bestehende Kompetenz des Bundesrates zur Bestimmung der Daten-

bekanntgabe zwischen den Behörden erweitert (Art. 97 Abs. 3 Bst. d

bis

AIG).

Dadurch wird sichergestellt, dass die mit dem Vollzug des AIG betrauten Behörden

(z.B. Migrationsbehörden) und die für die öffentliche Arbeitsvermittlung zuständigen

Behörden, sich bei der Erfüllung der Aufgaben gegenseitig unterstützen.

Anerkennung von Berufsqualifikationen

Im Geltungsbereich von Anhang III FZA ermöglicht der Entwurf des Bundesgesetzes

über die Verwaltungszusammenarbeit im Bereich der Anerkennung von Berufsquali-

fikationen dem Bundesrat, die Behörden zu benennen, die die verschiedenen Koordi-

nationsfunktionen im Rahmen des IMI wahrnehmen sollen. Dabei handelt es sich so-

wohl um die Funktion des nationalen Koordinators als auch um jene des sektoriellen

Koordinators für die Anerkennung von Berufsqualifikationen. Der Bund ist zuständig

für die Koordination der verschiedenen IMI-Nutzer, da diese Aufgabe mit den aus-

wärtigen Angelegenheiten verknüpft ist (Art. 54 Abs. 1 BV). Zudem obliegt es gemäss

Artikel 8 Absatz 1 RVOG dem Bundesrat, eine zweckmässige Organisation der Bun-

desverwaltung sicherzustellen. Indem ihm die Kompetenz übertragen wird, festzule-

gen, welches Amt welche Koordinationsrolle im IMI übernimmt, bleibt er in der Lage,

diese Zuständigkeiten bei Bedarf flexibel den sich ändernden Umständen anzupassen.

396 / 931

Die Bestimmungen zum Datenschutz entsprechen dem DSG. Die erforderlichen Re-

gelungen wurden auf Gesetzesstufe vorgesehen. Die vorgängige Risikoprüfung hat

kein hohes Risiko für die Grundrechte der betroffenen Personen ergeben.

Die geringfügigen Anpassungen des BGMD beinhalten keine Delegation von Gesetz-

gebungskompetenzen und stehen in keinem Zusammenhang mit dem Datenschutz.

Im Übrigen enthalten die Umsetzungsakte im Bereich der Anerkennung von Berufs-

qualifikationen keine Bestimmungen über die Gewährung von finanzhilfen oder Ab-

geltungen.

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen im Bereich des EntsG

Im Zusammenhang mit der Meldepflicht wird der Bundesrat ermächtigt, die spezifi-

schen Branchen zu bestimmen, in welchen eine viertägige Voranmeldefrist gelten

soll. Es handelt sich um diese Meldepflichtigen:

Artikel 6

b

Absatz 2: selbstständige im Ausland niedergelassene Dienstleis-

tungserbringerinnen und Dienstleistungserbringer, die bis zu 90 Arbeitsta-

gen innerhalb eines Kalenderjahres in der Schweiz eine selbstständige Er-

werbstätigkeit ausüben;

Artikel 6

Absatz 3: Arbeitgebende mit Wohnsitz oder Sitz im Ausland, die

ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in die Schweiz entsenden.

Schweizer Arbeitgeber, die im Ausland wohnhafte Personen während höchstens drei

Monaten pro Kalenderjahr einstellen, Personen, die eine selbstständige Erwerbstätig-

keit ausüben, ohne im Ausland niedergelassen zu sein, und im Ausland niedergelas-

sene Dienstleistungserbringer, die eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausüben, müs-

sen spätestens am Tag vor Beginn der Erwerbstätigkeit (Artikel 6

a

Absatz 1 und 2

VE-EntsG und Artikel 6

e

Absatz 1 und 2 VE-EntsG) bzw. vor dem Beginn der Tätig-

keit (Artikel 6

b

Absatz 1 und 2 VE-EntsG) der zuständigen Bundesbehörde die für

die Durchführung der Kontrollen notwendigen Angaben melden. In diesem Zusam-

menhang präzisiert der Bundesrat, welche Angaben die Meldung enthalten muss (Ar-

tikel 6

a

Abs. 3 VE-EntsG, Artikel 6

b

Absatz 3 VE-EntsG und Artikel 6

e

Absatz 4

VE-EntsG). Weiter wird der Bundesrat in Artikel 6 Absatz 6 VE-EntsG ermächtigt,

die zuständige Behörde des Bundes zu bestimmen, welcher die Meldung eines Ein-

satzes in der Schweiz zu melden ist. Zudem wird er befugt, die automatisierte Über-

mittlung der Meldung über eine elektronische Schnittstelle vorzusehen.

Der Bundesrat wird zudem ermächtigt, Ausnahmen von der Pflicht zur Bereithaltung

und Zugänglichmachung von Dokumenten zu regeln. Ausnahmen können insbeson-

dere für Tätigkeiten von kurzer Dauer und ausserhalb von Branchen nach Artikel 6

Absatz 2 EntsV vorgesehen werden. Weiter können Ausnahmen auch bei Notfällen

bestimmt werden. Als Notfälle sind insbesondere unvorhersehbare Ereignisse denk-

bar, die eines unverzüglichen Arbeitseinsatzes bedürfen. Unter Berücksichtigung des

Verhältnismässigkeitsprinzips soll die Dokumentationspflicht eine Dauer von zwei

Jahren nach Abschluss der Entsendung nicht übersteigen. Analog zur Regelung der

Branchen, in welchen die acht meldefreien Tage nicht gelten (Art. 6 Abs. 2 EntsV),

397 / 931

soll auch die Bestimmung der spezifischen Branchen, in welchen die viertägige Vo-

ranmeldefrist gelten soll, auf Verordnungsstufe erfolgen. Artikel 6 Absatz 3 VE-

EntsG ermächtigt den Bundesrat deshalb, die Einzelheiten zur Bestimmung dieser

Branchen zu regeln. Die Bestimmung der spezifischen Branchen soll dabei basierend

auf einer Risikoanalyse erfolgen und die Erkenntnisse aus der Vollzugs- und Kon-

trollpraxis einbeziehen.

Artikel 8

m

Absatz 3 delegiert die Benennung des nationalen IMI-Koordinators an den

Bundesrat.

In der römischen Ziffer III wird die Bestimmung über das Inkrafttreten des revidierten

EntsG an den Bundesrat delegiert. Die Umsetzung der Richtlinien 2014/67/EU und

(EU) 2018/957 muss innerhalb von 36 Monaten nach Inkrafttreten des Änderungspro-

tokolls zum FZA erfolgen. Das EntsG ist auf Arbeitgeber und entsandte Arbeitnehmer

unabhängig von ihrer Herkunft anwendbar. Gewisse Bestimmungen wie die zum Mel-

deverfahren nach Artikel 6, 6

a

, 6

b

und 6

e

EntsG gelten nicht nur für Staatsangehörige

aus der EU, sondern auch der EFTA. Bis zum Inkrafttreten eines allfälligen angepass-

ten EFTA-Übereinkommens gelten die Bestimmungen über die Amtshilfe via IMI

nach Artikel 8ff. nur für Staatsangehörige aus den EU-Staaten. Die anderen Anpas-

sungen im EntsG sind auch auf Staatsangehörige aus den EFTA-Staaten anwendbar,

da keine Unvereinbarkeiten mit dem heutigen EFTA-Übereinkommen bestehen.

2.3.10.7

Datenschutz

Für Datenschutzfragen bezüglich der institutionellen Elemente gelten die allgemeinen

Erwägungen (s. Ziff. 2.1.8.6., Datenschutz).

Anforderungen an den Datenschutz im Bereich des EntsG

Bei den Artikeln 8

o

bis 8

q

VE-EntsG handelt es sich um eine Präzisierung des bishe-

rigen Artikels 8 EntsG, der den heutigen Anforderungen an die Grundlagen für die

Datenbearbeitung und -bekanntgabe im Vollzug des Entsendegesetzes nicht mehr ge-

nügt. Bei den neuen Datenschutzbestimmungen handelt es sich insbesondere um eine

Kodifizierung der Gerichts- und Vollzugspraxis. Aus diesem Grund muss auch keine

Datenschutz-Folgenabschätzung nach Artikel 22 DSG durchgeführt werden.

Die Bestimmung in Artikel 6

f

VE-EntsG zur elektronischen Informationsplattform ist

mit dem DSG konform. Die Informationsplattform erhebt oder bearbeitet keine Per-

sonendaten. Bei den abrufbaren Daten handelt es sich nicht um vertrauliche Informa-

tionen, da sie auf anderen Webseiten resp. Dokumenten öffentlich abrufbar sind. Da-

ten zu Besucherzahlen oder Aufrufe von bestimmten Inhalten werden nur zu

statistischen Zwecken erhoben.

Anforderungen an den Datenschutz im Bereich des AVG

Mit Artikel 34

a

Absatz 2 Buchstabe e VE-AVG soll die heute vorgesehene Datenbe-

kanntgabe auf Ausländerbehörden erweitert werden. Die Bearbeitung dieser Daten

durch die öAV stützt sich auf Artikel 33

a

AVG. Der datenschutzrechtliche Grundsatz

der Verhältnismässigkeit (Art. 6 Abs. 2 DSG) ist gewährt, indem ausschliesslich die

Nichteinhaltung der Wiedereingliederungsstrategie mitgeteilt wird. Die Bekanntgabe

wird in einer formell-gesetzlichen Grundlage vorgesehen und erfüllt damit die Anfor-

398 / 931

derung von Artikel 36 Absatz 1 DSG. Vor diesem Hintergrund erübrigt sich eine Da-

tenschutz-Folgenabschätzung nach Artikel 22 DSG. Die vorgeschlagene Anpassung

steht im Einklang mit dem DSG.

399 / 931

2.4

Technische Handelshemmnisse (MRA)

2.4.1

Zusammenfassung

Mit dem Abkommen vom 21. Juni 1999

381

über die gegenseitige Anerkennung von

Konformitätsbewertungen (MRA), das im Rahmen der Bilateralen I abgeschlossen

wurde, sollen technische Hemmnisse beim Handel mit Industrieprodukten mit der EU

beseitigt werden. Das MRA soll in den 20 vom Abkommen abgedeckten Produktbe-

reichen

(z. B. Maschinen, Medizin- oder Bauprodukte) einen erweiterten Zugang zum

EU-Binnenmarkt gewährleisten. Dank des Abkommens lassen sich kostspielige, dop-

pelt durchgeführte Konformitätsbewertungen (Prüfungen, Inspektionen, Zertifizie-

rungen, Anmeldungen und Zulassungen) vermeiden, was wesentliche Erleichterun-

gen mit sich bringt und den Unternehmen in für die Schweiz wichtigen

Produktbereichen des Industriesektors administrativen Mehraufwand erspart. So müs-

sen beispielsweise keine Bevollmächtigten auf dem Hoheitsgebiet der anderen Ver-

tragspartei benannt und die Produkte nicht mit den Koordinaten eines Wirtschaftsak-

teurs mit Niederlassung im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei neu

gekennzeichnet werden. Das MRA deckt etwa zwei Drittel des Werts der zwischen

der Schweiz und der EU gehandelten Industrieprodukte ab, was einem Exportvolumen

von 96,6 Milliarden Franken entspricht (Stand 2023).

382

Ziel der Verhandlungen war es, institutionelle Elemente (s. Ziff. 2.1) in das MRA auf-

zunehmen, um dessen vollständige Anwendung und regelmässige Aktualisierung si-

cherzustellen. Die neuen institutionellen Bestimmungen sehen unter anderem die

Pflicht zur dynamischen Integration relevanter Rechtsakte der EU in das Abkommen

vor. Somit ist die EU neu verpflichtet, die Kapitel zu den einzelnen Produktbereichen

zu aktualisieren. Dadurch lässt sich künftig vermeiden, dass die erforderlichen Aktu-

alisierungen des Abkommens vom guten Willen der EU abhängen. Eine Situation wie

die fehlende Aktualisierung des MRA im Bereich der Medizinprodukte seit 2021 wäre

somit nicht mehr möglich. Zudem gewährleisten die ins MRA aufgenommenen insti-

tutionellen Bestimmungen für die im Abkommen geregelten Bereiche den Einbezug

der Schweiz beim

Decision Shaping

der EU sowie bei der Umsetzung des EU-Rechts

(Zusammenarbeit bei der Marktüberwachung sowie Teilnahme an Ausschüssen und

Arbeitsgruppen, die für eine einheitliche Rechtsumsetzung sorgen).

Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt. Er beantragt

im Rahmen des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU die Genehmigung des

Änderungsprotokolls und des Institutionellen Protokolls zum MRA.

2.4.2

Ausgangslage

Da sich das MRA auf die Gleichwertigkeit der Gesetzgebungen der Vertragsparteien

stützt, passt die Schweiz heute im Falle grundlegender Überarbeitungen der EU-

Gesetzgebung in den im Abkommen geregelten Bereichen ihre Gesetzgebung jeweils

381

SR

0.946.526.81

382

Abrufbar unter: www.seco.admin.ch > Aussenwirtschaft & Wirtschaftliche Zusammenar-

beit > Wirtschaftsbeziehungen > Technische Handelshemmnisse > Staatsvertragliche Ver-

einbarungen (Mutual Recognition Agreements – MRA) > MRA Schweiz–EU > Handels-

statistik.

400 / 931

an diejenige der EU an, um eine Aktualisierung des Abkommens zu ermöglichen und

weiterhin von den damit verbundenen Vorteilen zu profitieren. Doch selbst wenn die

Gesetzgebungen gleichwertig sind, besteht für die Vertragsparteien heute keinerlei

rechtliche Pflicht zur Aktualisierung des MRA. Nach dem Beschluss des Bundesrates,

den Entwurf für ein institutionelles Rahmenabkommen nicht zu unterzeichnen, hat die

EU 2021 denn auch entschieden, das MRA im Bereich der Medizinprodukte trotz der

Gleichwertigkeit des Schweizer Rechts nicht zu aktualisieren. Ausserdem besteht der

einzige Streitbeilegungsmechanismus zurzeit darin, den für die Durchführung des

MRA zuständigen Gemischten Ausschuss mit einer Streitigkeit zu befassen, der im

gegenseitigen Einvernehmen handelt.

De facto

kann die Schweiz ihre Rechte somit

nicht geltend machen.

Die Teilnahme der Sachverständigen der Schweiz an den Ausschüssen und Arbeits-

gruppen der EU, die für die Umsetzung der EU-Gesetzgebung in den unter das Ab-

kommen fallenden Bereichen zuständig sind, ist derzeit nicht vertraglich geregelt.

Was Erleichterungen bezüglich der Pflichten der Wirtschaftsakteure anbelangt (etwa,

dass keine Bevollmächtigten in der EU benannt oder die Produkte für das Inverkehr-

bringen nicht mit den Koordinaten eines Wirtschaftsakteurs in der EU gekennzeichnet

werden müssen, wenn es in der Schweiz bereits einen solchen Wirtschaftsakteur gibt),

so müssen diese für jeden Produktbereich im MRA einzeln ausgehandelt werden. Das

gilt auch für die Teilnahme der Schweiz am Marktüberwachungssystem der EU,

wodurch für die Konsumentinnen und Konsumenten in der Schweiz die Produktsi-

cherheit gewährleistet wird.

Da das MRA einen Bestandteil der Bilateralen I bildet, war es Teil der Verhandlungen

zwischen der Schweiz und der EU, die im März 2024 aufgenommen wurden.

2.4.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

Das Schweizer Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 sah die Aufnahme von insti-

tutionellen Elementen ins MRA vor, mit denen künftig dessen vollständige Anwen-

dung und regelmässige Aktualisierung gewährleistet ist. (s. Ziff. 2.1.3). Dieses Ziel

wurde im Rahmen der Verhandlungen erreicht. Ebenfalls vereinbart wurde die Bei-

behaltung der Äquivalenzmethode (s. Ziff. 2.1.5.2.2), um eine dynamische Rechts-

übernahme zu garantieren (s. Ziff. 2.4.6.1 zu Art. 5). Zudem wurden Bestimmungen

aufgenommen, die in den vom Abkommen geregelten Bereichen den Einbezug der

Schweiz bei der Umsetzung von EU-Recht sicherstellen, sowie Erleichterungen für

die Wirtschaftsakteure eingeführt (s. Ziff. 2.4.6.2).

Die institutionellen Elemente werden in Form eines Institutionellen Protokolls (nach-

stehend das «Institutionelle Protokoll») ins MRA übernommen; das Institutionelle

Protokoll ist Bestandteil des Abkommens (s. Ziff. 2.4.6.1). Im Einklang mit den aus-

gehandelten institutionellen Bestimmungen werden ferner durch ein Änderungspro-

tokoll zum MRA (nachstehend das «Änderungsprotokoll») gewisse Artikel des MRA

angepasst und neue Bestimmungen in das Abkommen aufgenommen (s. Ziff. 2.4.6.2).

401 / 931

2.4.4

Vorverfahren

In Bezug auf das Vorverfahren gibt es für das MRA nichts Spezielles zu erwähnen.

Die Aussenpolitischen Kommissionen (APK), die anderen interessierten parlamenta-

rischen Kommissionen und die Kantone (Konferenz der Kantonsregierungen KdK)

sowie Sozial- und Wirtschaftspartner haben bei der Erarbeitung des Verhandlungs-

mandats für das Paket Stellung genommen; das Paket umfasst auch die zwei Proto-

kolle zum MRA (s. Ziff. 2.1.4).

2.4.5

Grundzüge der Protokolle

Die institutionellen Elemente werden in Form eines Institutionellen Protokolls ins

MRA übernommen, welches künftig Bestandteil des MRA sein wird. Das Institutio-

nelle Protokoll fürs MRA ist gemäss der horizontal ausgehandelten Vorlage struktu-

riert (s. Ziff. 2.1.5). Es umfasst 20 Artikel, einen Anhang zu den Umsetzungsmodali-

täten für den finanziellen Beitrag an die Agenturen und die Informationssysteme der

EU, an denen die Schweiz teilnimmt, sowie eine Anlage über das Schiedsgericht.

Im Einklang mit den ausgehandelten institutionellen Bestimmungen werden ferner

durch das Änderungsprotokoll zum MRA gewisse Artikel des MRA angepasst und

neue Bestimmungen in das Abkommen aufgenommen (s. Ziff. 2.4.6.2).

2.4.6

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der Protokolle

2.4.6.1

Institutionelles Protokoll

Die institutionellen Bestimmungen zum MRA weichen von den in Ziffer 2.1.6 erläu-

terten Bestimmungen nur unwesentlich ab. Die nachfolgenden Erläuterungen betref-

fen die Artikel des Institutionellen Protokolls, die MRA-spezifische Bestimmungen

oder Erklärungen enthalten.

Artikel 2 – Beziehung zum Abkommen

Artikel 2 regelt die Beziehung zwischen den im MRA bereits bestehenden und den im

Institutionellen

Protokoll

neu

vereinbarten

institutionellen

Bestimmungen

(s. Ziff. 2.1.6.1.3). Artikel 2 listet die Artikel des MRA auf, die aufgehoben werden,

da sie aufgrund des Inkrafttretens des Institutionellen Protokolls obsolet sind. Es han-

delt sich um die folgenden Artikel:

– Artikel 1 Absatz 3: siehe Erläuterungen unter Ziff. 2.4.6 zu Art. 1;

– Artikel 14: Dieser Artikel betrifft die Streitbeilegung und wird durch die Bestim-

mungen von Artikel 10 des Institutionellen Protokolls (

Verfahren bei Auslegungs-

oder Anwendungsschwierigkeiten

) und die Anlage über das Schiedsgericht ersetzt

(s. Ziff. 2.1.6.4.2);

– Artikel 19: Dieser Artikel sieht für eine Vertragspartei die Möglichkeit vor, bei

Nichteinhaltung der Bestimmungen des Abkommens nach Konsultation im Gemisch-

ten Ausschuss die Anwendung von Anhang 1 des MRA ganz oder teilweise auszuset-

402 / 931

zen. Diese Bestimmung wird durch die Bestimmungen von Artikel 10 des Institutio-

nellen Protokolls (

Verfahren bei Auslegungs- oder Anwendungsschwierigkeiten

) und

die Anlage über das Schiedsgericht ersetzt (s. Ziff. 2.1.6.4.2).

Artikel 3 – Bilaterale Abkommen in den Bereichen betreffend den Binnenmarkt, an

denen die Schweiz teilnimmt

Artikel 3 Absatz 2 präzisiert, dass das MRA ein bilaterales Abkommen in einem Be-

reich betreffend den Binnenmarkt ist, an dem die Schweiz teilnimmt (s.

Ziff. 2.1.6.1.4).

Artikel 4 – Mitwirkung bei der Erarbeitung von Rechtsakten der Union (Mitsprache-

recht)

Artikel 4 gewährleistet für die Sachverständigen der Schweiz, dass sie am Verfahren

zur Erarbeitung der Rechtsakte der EU durch die Europäische Kommission (Mitspra-

cherecht, sog.

Decision Shaping

), die unter dieses Abkommen fallen, möglichst breit

mitwirken können (s. Ziff. 2.1.6.2.1).

Was das MRA anbelangt, so stellt

Artikel 4 Absatz 4

sicher, dass die Sachverständigen

der Schweiz, wenn dies zur Gewährleistung des ordnungsgemässen Funktionierens

des Abkommens erforderlich ist, ebenfalls in die Arbeiten von «Ausschüssen» im

weiteren Sinne einbezogen werden, also von Ausschüssen, die nicht in Artikel 4 Ab-

sätze 1–3 geregelt sind. Hierbei geht es um die Ausschüsse und Arbeitsgruppen, die

in den unter das MRA fallenden Produktbereichen für die Umsetzung des EU-Rechts

zuständig sind. Dabei handelt es sich beispielsweise um Arbeitsgruppen im Bereich

der Marktüberwachung, in denen die Marktüberwachungsbehörden der Mitgliedstaa-

ten Erfahrungen und Informationen über nichtkonforme oder gefährliche Produkte

austauschen. Oder es geht um Arbeitsgruppen wie die Koordinierungsgruppe Medi-

zinprodukte (

Medical Device Coordination Group

MDCG), die durch die Verordnun-

gen über Medizinprodukte

383

geschaffen wurde und die insbesondere Anleitungen für

eine wirksame Rechtsanwendung erarbeitet, Empfehlungen unterbreitet und bei der

Evaluation von Stellen mitarbeitet, die als Konformitätsbewertungsstellen anerkannt

werden möchten. Durch die Teilnahme der Sachverständigen der Schweiz in solchen

Ausschüssen und Arbeitsgruppen kann die Schweiz einerseits bei den dort geführten

Diskussionen ihren Standpunkt einbringen, andererseits aber auch eine einheitliche

Umsetzung der Gesetzgebung in der Schweiz und der EU sicherstellen und die Kon-

formität der Produkte auf dem Gebiet beider Vertragsparteien gewährleisten. Die

Liste dieser Ausschüsse und Arbeitsgruppen wird vom Gemischten Ausschuss erstellt

und aktualisiert (

s.

auch Ziff. 2.1.6 zu Art. 4 Abs. 4).

Artikel 5 – Integration von Rechtsakten der Union ins Abkommen

383

Verordnung (EU) 2017/745 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Ap-

ril 2017 über Medizinprodukte (ABl. L 117, 5.5.2017, S. 1) und Verordnung (EU)

2017/746 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2017 über In-vitro-Di-

agnostika (ABl. L 117, 5.5.2017, S. 176).

403 / 931

Die allgemeinen Pflichten der Vertragsparteien und das Verfahren zur Integration der

EU-Rechtsakte in das Abkommen sind in Ziffer 2.1.6.2 erläutert. Gemäss der Äqui-

valenzmethode, die für das MRA beibehalten wird, muss die Schweiz in ihrer Rechts-

ordnung Bestimmungen erlassen oder beibehalten, um ein gleichwertiges Ergebnis zu

erreichen wie die in das Abkommen integrierten Rechtsakte der EU. Die Schweiz

muss somit gleichwertiges – nicht identisches – Recht verabschieden, was ihr einen

grösseren Handlungsspielraum lässt. Wenn die EU also in einem unter das MRA fal-

lenden Bereich einen neuen Rechtsakt verabschiedet, müssen die Vertragsparteien

diesen so rasch wie möglich in Anhang 1 des Abkommens integrieren. Für die

Schweiz bedeutet das konkret, dass sie im Einklang mit ihren üblichen innerstaatli-

chen Verfahren gleichwertiges Recht erlassen muss. Die Integration der Rechtsakte

in Anhang 1 des MRA erfolgt auf Beschluss des Gemischten Ausschusses. Da die

Schweiz ihr Recht bereits heute an dasjenige der EU anpasst, um weiterhin von den

Vorteilen des MRA zu profitieren, zieht die dynamische Rechtsübernahme gemäss

Artikel 5 keine wesentlichen Praxisänderungen nach sich. Hingegen wird diese im

Abkommen festgehaltene Pflicht zur Integration der Rechtsakte in Anhang 1 des

MRA die beiden Vertragsparteien zur Aktualisierung der sektoriellen Kapitel zwin-

gen, wodurch sich Verzögerungen oder Blockaden seitens der EU, wie dies seit 2021

im Bereich der Medizinprodukte der Fall ist, vermeiden lassen.

Artikel 5 Absatz 4

räumt dem für die Durchführung des Abkommens zuständigen Ge-

mischten Ausschuss die Kompetenz zur Aktualisierung von Anhang 1 des MRA ein,

der die sektoriellen Kapitel enthält. Der Gemischte Ausschuss entscheidet nicht nur

über die Integration neuer relevanter Rechtsakte in Anhang 1, sondern auch über alle

erforderlichen Anpassungen, die sich aus der Integration dieser neuen Gesetzgebung

in Anhang 1 ergeben.

Artikel 5 Absatz 7

(s. Ziff. 2.1.6.2.2

Ausnahmen

) legt fest, dass sich die Pflicht zur

Integration neuer EU-Rechtsakte in das Abkommen und somit die dynamische

Rechtsübernahme nicht auf den unter Artikel 1 Absatz 1 des MRA fallenden Produkt-

bereich, sprich den Sektor Fertigpackungen (Kapitel 11 von Anhang 1), bezieht, für

den das Schweizer Recht nicht mit demjenigen der EU harmonisiert ist.

Artikel 11 – Ausgleichsmassnahmen

Artikel 11 Absatz 1

sieht vor, dass eine Vertragspartei zur Behebung eines allfälligen

Ungleichgewichts verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen ergreifen kann, wenn

die andere Vertragspartei einen Entscheid des Schiedsgerichts nicht umsetzt oder sie

der Auffassung ist, dass die von der anderen Vertragspartei ergriffenen Massnahmen

nicht dem Entscheid des Schiedsgerichts entsprechen (s. Ziff. 2.1.6.4.3). Da es sich

beim MRA um ein bilaterales Abkommen in einem Bereich betreffend den Binnen-

markt handelt, an dem die Schweiz teilnimmt, können diese Ausgleichsmassnahmen

im Rahmen des MRA ergriffen werden oder im Rahmen jedes anderen Abkommens

in einem Bereich des Binnenmarkts, an dem die Schweiz teilnimmt.

Artikel 13 – Finanzieller Beitrag

Artikel 13 zum finanziellen Beitrag sowie der Anhang zum Institutionellen Protokoll

mit den Umsetzungsmodalitäten für Artikel 13 enthalten detaillierte Bestimmungen

404 / 931

zu den Modalitäten der Beteiligung der Schweiz an der Finanzierung der Agenturen

und der Informationssysteme der EU, die für das MRA relevant sind

(s. Ziff. 2.1.6.5.1). Der Anhang zur Anwendung von Artikel 13 regelt die Modalitäten

der finanziellen Beteiligung an der EU-Datenbank EudraGMDP. In dieser Datenbank

sind die Zertifikate der guten Herstellungspraxis und der guten Vertriebspraxis für

Arzneimittel hinterlegt (im MRA durch Anhang 1 Kapitel 15 abgedeckt). In diesem

Zusammenhang sollte zudem erwähnt werden, dass die Schweiz momentan an gewis-

sen Aktivitäten und Informationssystemen der Europäischen Agentur für chemische

Stoffe (ECHA) beteiligt ist. Die Finanzierungsmodalitäten für diese Beteiligung sind

im MRA in Anhang 1 Kapitel 18 (Biozidprodukte) bereits enthalten, sodass es nicht

nötig war, die entsprechenden Modalitäten im Institutionellen Protokoll zu regeln; die

bestehende Regelung kann beibehalten werden.

Anlage über das Schiedsgericht

Die Anlage über das Schiedsgericht beruht auf den Schiedsregeln, die für die Binnen-

marktabkommen ausgehandelt wurden (

s

. Ziff. 2.1.6.4.2).

2.4.6.2

Änderungsprotokoll

Artikel 1 des Änderungsprotokolls mit den Änderungen des MRA

In Übereinstimmung mit den ausgehandelten institutionellen Bestimmungen werden

durch das Änderungsprotokoll die nachfolgenden Artikel des MRA angepasst und

neue Bestimmungen in das MRA aufgenommen:

Artikel 1 Absatz 1 des Änderungsprotokolls zu Artikel 1 des MRA (Ziel)

Beim Abschluss des MRA im Jahr 1999 konnte die gegenseitige Anerkennung auf

zwei Ebenen erfolgen, abhängig davon, ob die technischen Rechtsvorschriften der

Vertragspartien unterschiedlich (Art. 1 Abs. 1) oder harmonisiert (Art. 1 Abs. 2) wa-

ren. Basiert die gegenseitige Anerkennung auf unterschiedlichen Rechtsvorschriften,

braucht es zwei Bescheinigungen auf der Grundlage der zwei Gesetzgebungen. Diese

können allerdings durch eine einzige Stelle ausgestellt werden. Bei der gegenseitigen

Anerkennung gestützt auf harmonisiertes Recht ist hingegen nur eine einzige Beschei-

nigung auf der Grundlage einer der zwei Gesetzgebungen erforderlich. Die Anerken-

nung basierend auf nicht harmonisiertem Recht ist inzwischen obsolet, da sich die

Ziele des MRA damit nur teilweise erreichen lassen. Für die meisten sektoriellen Ka-

pitel des MRA wird bereits harmonisiertes Recht angewendet. Lediglich zwei Halb-

kapitel von Anhang 1 des MRA (Heizkessel in Kapitel 5 und Fertigpackungen in Ka-

pitel 11) stützen sich noch auf das nicht harmonisierte System. Der nicht

harmonisierte Teil von Kapitel 5 sowie ein Grossteil von Kapitel 11 konnten in den

harmonisierten Teil des MRA übertragen werden. Einzig für einen Teil des Bereichs

Fertigpackungen gilt nach wie vor das nicht harmonisierte System, da die Schweiz

ihre Gesetzgebung in diesem Bereich nicht an diejenige der EU angleichen will. Ar-

tikel 1 des Abkommens wird angepasst, sodass der Geltungsbereich des auf nicht har-

monisiertem Recht beruhenden Teils des MRA auf diesen einen Bereich beschränkt

wird. Für diesen Bereich gilt somit die durch das Institutionelle Protokoll eingeführte

dynamische Rechtsübernahme nicht (s. Ziff. 2.4.6.1 zu Art. 5 Abs. 7).

405 / 931

Artikel 1 Absatz 3 des MRA wird aufgehoben. Gemäss diesem Absatz kann der für

die Durchführung des Abkommens zuständige Gemischte Ausschuss für jeden neu in

das Abkommen aufgenommenen Produktbereich festlegen, ob die gegenseitige Aner-

kennung auf der Grundlage von harmonisiertem oder nicht harmonisiertem Recht er-

folgen soll. In Zukunft gilt für jeden neu ins MRA aufgenommenen Produktbereich

harmonisiertes Recht. Aus Sicht der Schweiz zieht dies keine wesentlichen Änderun-

gen nach sich, da die EU die Aufnahme eines neuen Produktbereichs schon immer

ablehnen konnte, wenn dieser auf nicht harmonisiertem Recht beruhte.

Artikel 1 Absatz 2 des Änderungsprotokolls zu Artikel 3 des MRA (Geltungsbereich)

Die dynamische Rechtsübernahme kann gemäss der Integrations- oder der Äquiva-

lenzmethode erfolgen. Für das MRA konnte die Äquivalenzmethode beibehalten wer-

den. (s. Ziff. 2.1.6.2.2). Sie ist in Artikel 5 des Institutionellen Protokolls festgehalten

(s. Ziff. 2.4.6.1 zu Art. 5). Um zu vermeiden, dass wie bisher eine Prüfung und eine

Erklärung der Gleichwertigkeit erforderlich sind, hat die EU den Wunsch geäussert,

dass sich die Auflistung der Rechtsvorschriften im Abschnitt I der sektoriellen Kapitel

in Anhang 1 des MRA künftig auf die Rechtsakte der EU beschränkt. Die Schweiz

kann in Zukunft auf diesen Schritt verzichten. Sie wird die schweizerischen Rechts-

vorschriften selbst verfassen, sodass sie gleichwertig sind mit denjenigen des EU-

Rechts. Ficht die EU nachträglich die Gleichwertigkeit der schweizerischen Vor-

schriften an, muss sie den Gemischten Ausschuss damit befassen und den Streitbeile-

gungsmechanismus nutzen, falls keine Lösung gefunden werden kann. Der Wortlaut

von Artikel 3 des MRA musste angepasst werden, damit das Schweizer Recht weiter-

hin in den Geltungsbereich des MRA fällt, auch wenn es nicht mehr in Anhang 1 auf-

geführt ist. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass die Schweizer Konformitätsbe-

wertungsstellen die Produkte weiterhin gestützt auf die gleichwertigen Schweizer

Rechtsvorschriften prüfen können und dass ihre auf der Grundlage dieser Rechtsvor-

schriften ausgestellten Konformitätsbewertungen von der EU auch künftig anerkannt

werden. Entsprechende Änderungen wurden auch in Artikel 9 Absatz 1 sowie in Ar-

tikel 11 Absatz 1 des MRA vorgenommen.

Artikel 1 Absatz 3 des Änderungsprotokolls zu Artikel 9 des MRA (Durchführung des

Abkommens)

Artikel 9 Absatz 1, der auf die Rechts- und Verwaltungsvorschriften nach Anhang 1

verweist, muss analog zu Artikel 3 des MRA angepasst werden, damit das Schweizer

Recht durch diesen Artikel weiterhin abgedeckt ist, auch wenn es nicht mehr in An-

hang 1 aufgeführt ist (s. dazu Erläuterungen zu den Anpassungen von Art. 3 des MRA

oben).

Artikel 1 Absatz 4 des Änderungsprotokolls zu Artikel 10 des MRA (Gemischter Aus-

schuss)

Der aktuelle Artikel 10, der die Funktionsweise und Kompetenzen des für die Durch-

führung des MRA zuständigen Gemischten Ausschusses regelt, wird für alle Binnen-

marktabkommen vereinheitlicht. Ein neuer Artikel 10 wird den bestehenden Artikel

ersetzen. Die Kompetenz zur Aktualisierung von Anhang 1 des MRA, der die sekto-

riellen Kapitel enthält, ist neu in Artikel 5 des Institutionellen Protokolls festgehalten

406 / 931

(s. Ziff. 2.4.6.1 zu Art. 5). Der Gemischte Ausschuss fasst seine Beschlüsse weiterhin

einvernehmlich.

Artikel 1 Absatz 5 des Änderungsprotokolls zu Artikel 11 des MRA (Anerkennung,

Rücknahme der Anerkennung, Änderung des Tätigkeitsbereichs und Aussetzung der

Anerkennung von Konformitätsbewertungsstellen)

Artikel 11 Absatz 1, der auf die Gesetzgebung nach Anhang 1 verweist, muss analog

zu den Artikeln 3 und 9 des MRA angepasst werden, damit das Schweizer Recht durch

diesen Artikel weiterhin abgedeckt ist, auch wenn es nicht mehr in Anhang 1 aufge-

führt ist (s. dazu Erläuterungen zu den Anpassungen von Art. 3 und 9 des MRA oben).

Artikel 1 Absatz 6 des Änderungsprotokolls zu Artikel 12 des MRA (Informationsaus-

tausch)

Artikel 12 wird aufgehoben.

Absatz 1

dieses Artikels,

der einen Austausch von Infor-

mationen zwischen den Vertragsparteien über die Umsetzung und Anwendung der im

Abkommen aufgeführten Vorschriften vorsieht, wird durch die Bestimmungen von

Artikel 8 des Institutionellen Protokolls (

Grundsatz der wirksamen und harmonischen

Anwendung

) ersetzt (s. Ziff. 2.1.6.3.2). In

Artikel 12

Absatz 2

ist geregelt, dass sich

die Vertragsparteien neue Vorschriften gegenseitig schriftlich notifizieren. Dieser Ab-

satz wird ersetzt durch das Verfahren zur Integration von Rechtsakten in das Abkom-

men, das in Artikel 5 des Institutionellen Protokolls (

Integration von Rechtsakten der

Union

) geregelt ist (s. Ziff. 2.1.6.2.2).

Artikel 12

Absatz 2a,

der von den Vertragspar-

teien verlangt, sich Änderungen bei ihren jeweiligen benennenden Behörden gegen-

seitig schriftlich zu notifizieren, wird durch Artikel 1 der allgemeinen Bestimmungen

in Anhang 1 ersetzt. Gemäss diesem neuen Artikel gelten für die Schweiz die gleichen

Rechte und Pflichten wie für die EU-Mitgliedstaaten (s.

Artikel 2 Absatz 1 des Ände-

rungsprotokolls zu Artikel 1 der allgemeinen Bestimmungen in Anhang 1 des MRA

unten). Die in den sektoriellen Kapiteln von Anhang 1 aufgeführten Rechtsakte sehen

vor, dass sich die Mitgliedstaaten gegenseitig hinsichtlich ihrer benennenden Behör-

den informieren. Gemäss dem bisherigen

Absatz 3

können sich die Behörden einer

Vertragspartei direkt an die im Gebiet der anderen Vertragspartei ansässigen Wirt-

schaftsakteure wenden, um Informationen einzuholen. Dieser Absatz wird ersetzt

durch Artikel 4 der allgemeinen Bestimmungen in Anhang 1 (s.

Artikel 2 Absatz 1 des

Änderungsprotokolls zu Artikel 4 der allgemeinen Bestimmungen in Anhang 1 des

MRA

unten). Gemäss dem bisherigen

Absatz 4

müssen sich die Vertragsparteien ge-

genseitig über in ihrem jeweiligen Gebiet getroffene Schutzmassnahmen unterrichten.

Dieser Absatz wird durch Artikel 1 der allgemeinen Bestimmungen in Anhang 1 er-

setzt, der regelt, dass für die Schweiz die gleichen Rechte und Pflichten gelten wie für

die EU-Mitgliedstaaten (s.

Artikel 2 Absatz 1 des Änderungsprotokolls zu Artikel 1

der allgemeinen Bestimmungen in Anhang 1 des MRA

unten). Die in den sektoriellen

Kapiteln von Anhang 1 aufgeführten EU-Rechtsakte sehen vor, dass sich die Mit-

gliedstaaten gegenseitig über in ihrem jeweiligen Gebiet getroffene Schutzmassnah-

men informieren.

Artikel 1 Absatz 7 des Änderungsprotokolls zu Artikel 13 des MRA (Vertraulichkeit)

407 / 931

Der bisherige Titel von Artikel 13 lautet «Vertraulichkeit». Er wird in «Berufsge-

heimnis» geändert. Zudem wird ein zweiter Absatz zu diesem Thema hinzugefügt.

Artikel 1 Absatz 8 des Änderungsprotokolls zu Artikel 13bis des MRA (Verschlusssa-

chen und sensible Informationen)

Ein neuer Artikel 13

bis

wird eingefügt, gemäss dem als Verschlusssache eingestufte

Informationen oder als Verschlusssache eingestuftes Material, die von den Vertrags-

parteien im Rahmen des MRA bereitgestellt oder zwischen ihnen ausgetauscht wer-

den, unter Einhaltung des Abkommens vom 28. April 2008

384

zwischen der Schwei-

zerischen

Eidgenossenschaft

und

der

Europäischen

Union

über

die

Sicherheitsverfahren für den Austausch von Verschlusssachen und dessen Sicher-

heitsvorkehrungen behandelt und geschützt werden. Gemäss Artikel 13

bis

legt der Ge-

mischte Ausschuss in einem spezifisch für diesen Aspekt gefällten Beschluss die Mo-

dalitäten fest, um einen angemessenen Schutz von sensiblen Informationen zu

gewährleisten.

Artikel 1 Absatz 9 des Änderungsprotokolls zu Artikel 17 des MRA (Räumlicher Gel-

tungsbereich)

Der Artikel zum räumlichen Geltungsbereich wird in allen Abkommen des Pakets

Schweiz–EU gleich ausgestaltet. Entsprechend wird auch Artikel 17 des MRA ange-

passt (s. Ziff. 2.1.6.7).

Artikel 2 des Änderungsprotokolls mit den Änderungen in Anhang 1 des MRA

In Anhang 1 des MRA werden im Anschluss an die Auflistung der Kapitel unter dem

Titel «Allgemeine Bestimmungen» vier Artikel zur Teilnahme der Schweiz an der

Umsetzung des EU-Rechts im Geltungsbereich des Abkommens eingefügt. Diese

Bestimmungen gewährleisten die Zusammenarbeit zwischen den Behörden der EU

und der Schweiz, womit die Wirtschaftsakteure beidseits der Grenzen von gewissen

Pflichten entbunden werden. Es handelt sich um die vier folgenden neuen Artikel:

Artikel 2 Absatz 1 des Änderungsprotokolls zu Artikel 1 der allgemeinen Bestimmun-

gen in Anhang 1 des MRA

Artikel 1 legt den Grundsatz fest, wonach die Rechte und Pflichten der EU-

Mitgliedstaaten, die in den in Anhang 1 integrierten EU-Rechtsakten vorgesehen sind,

in den in den Geltungsbereich des Abkommens fallenden Bereichen auch für die

Schweiz gelten, sofern in technischen Anpassungen nichts anderes vereinbart wird

(s. Ziff. 2.1.6.7). Dank dieser Bestimmung werden die Schweizer Behörden in den

unter das MRA fallenden Bereichen gleich behandelt wie die Behörden der EU-

Mitgliedstaaten. Somit können sie im Bereich der Marktüberwachung gleichermassen

an den EU-Verfahren für den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit teil-

nehmen wie die Behörden der EU-Mitgliedstaaten. Dies gewährleistet eine einheitli-

che Rechtsdurchsetzung und für die Konsumenten die Konformität der Produkte auf

dem Gebiet beider Vertragsparteien.

384

SR

0.514.126.81

408 / 931

Die Regelung in Artikel 1 ist unter vollständiger Einhaltung des Institutionellen Pro-

tokolls zum MRA anzuwenden. In diesem Zusammenhang ist v.a. zu beachten, dass

im MRA gemäss Artikel 5 Absatz 2 des Institutionellen Protokolls das Äquivalenz-

prinzip gilt. D.h. die Schweiz muss die in Anhang 1 MRA aufgeführten Rechtsakte

der EU nicht als solche anwenden, sondern mit ihrem nationalen Recht die gleichen

Ergebnisse erzielen.

Darüber hinaus ist im Kontext von Artikel 1 auch der Zwei-Pfeiler-Ansatz gemäss

Artikel 8 Absatz 2 und 4 des Institutionellen Protokolls wichtig: Gemäss diesem

Grundsatz sind die Schweizer Behörden für die Überwachung der korrekten Anwen-

dung der Abkommen in der Schweiz zuständig (Art. 8 Abs. 2 Institutionelles Proto-

koll). EU-Institutionen verfügen nur dann über Überwachungskompetenzen in Bezug

auf die Schweiz, wenn ein Abkommen dies explizit vorsieht (Art. 8 Abs. 4 Institutio-

nelles Protokoll). Im MRA sind keine Überwachungskompetenzen von EU-

Institutionen in Bezug auf die Schweiz explizit vorgesehen. Das bedeutet, wenn ein

in den Anhang 1 integrierter EU-Rechtsakt eine Überwachung der EU-

Mitgliedstaaten durch eine EU-Institution, wie insb. die EU-Kommission, vorsieht

(beispielswiese gestützt auf an die EU verpflichtend einzureichende Berichte), gilt

diese nicht auch für die Schweiz. Entsprechend sind bezüglich der ins Abkommen zu

übernehmenden EU-Rechtsakte keine technischen Anpassungen erforderlich, um dies

klarzustellen.

Artikel 2 Absatz 1 des Änderungsprotokolls zu Artikel 2 der allgemeinen Bestimmun-

gen in Anhang 1 des MRA

Artikel 2 regelt den Informationsaustausch zwischen den Vertragsparteien. Sieht das

EU-Recht einen Austausch von Informationen zwischen den zuständigen Behörden

der EU-Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission vor, so wird diese Infor-

mation direkt den zuständigen Schweizer Behörden übermittelt. Findet der Informa-

tionsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten selbst statt (und nicht zwischen ihren

Behörden), so erfolgt dieser Austausch in Fällen, in denen die Schweiz betroffen ist,

durch den Gemischten Ausschuss, der als für die Durchführung des MRA zwischen

den Vertragsparteien zuständige Stelle fungiert.

Artikel 2 Absatz 1 des Änderungsprotokolls zu Artikel 3 der allgemeinen Bestimmun-

gen in Anhang 1 des MRA

Sehen sektorielle Rechtsvorschriften die Bereitstellung von Informationen oder die

Übermittlung von Daten mithilfe digitaler Werkzeuge vor, können die Schweizer Be-

hörden und die Wirtschaftsakteure in der Schweiz diese Informationen oder Daten

entweder direkt in den digitalen Werkzeugen oder über die entsprechende Schweizer

Schnittstelle bereitstellen. Die Modalitäten dafür sind im jeweiligen sektoriellen Ka-

pitel von Anhang 1 festgelegt.

Artikel 2 Absatz 1 des Änderungsprotokolls zu Artikel 4 der allgemeinen Bestimmun-

gen in Anhang 1 des MRA

409 / 931

Gemäss Artikel 4 dürfen Aufgaben, die laut Gesetz von Wirtschaftsakteuren (Herstel-

lern, Importeuren, Beauftragten, Dienstleistenden) oder anderen Personen oder Ein-

richtungen mit Niederlassung in der EU – bzw. in der Schweiz – erfüllt werden müs-

sen, von Wirtschaftsakteuren, Personen oder Einrichtungen wahrgenommen werden,

die entweder in der EU oder in der Schweiz niedergelassen sind. Diese Bestimmung

stellt beispielsweise sicher, dass in den Produktbereichen, in denen dies erforderlich

ist, ein Schweizer Hersteller auf einen Bevollmächtigten in der EU verzichten kann

und die Produkte nicht mit den Koordinaten dieses Bevollmächtigten in der EU neu

kennzeichnen muss. Das Gleiche gilt umgekehrt auch für Hersteller aus der EU.

Die in Anhang 1 des MRA unter dem Titel «Allgemeine Bestimmungen» in den Ar-

tikeln 2–4 verankerten Grundsätze waren in gewissen sektoriellen Kapiteln des MRA

bereits teilweise enthalten. Neu handelt es sich dabei um horizontale Bestimmungen,

die somit auch in Zukunft gewährleistet sind. Angesichts dieser neuen allgemeinen

Bestimmungen

werden

die

sektoriellen

Kapitel

entsprechend

angepasst

(s. Ziff. 2.4.6.2).

Artikel 2, Absatz 2 bis 6 des Änderungsprotokolls zu Änderungen in Anhang 1 des

MRA

Mit den Absätzen 2 bis 6 werden einige kleinere Änderungen des Anhangs 1 des

MRA, die von geringer praktischer Bedeutung sind, vorgenommen.

Artikel 3 des Änderungsprotokolls zum Inkrafttreten

Diese Bestimmung regelt das Verfahren zur Ratifizierung und das Inkrafttreten des

Änderungsprotokolls. Das Inkrafttreten des Änderungsprotokolls ist an das Inkrafttre-

ten des Teils «Stabilisierung» des Pakets Schweiz–EU geknüpft.

2.4.6.3

Technische Anpassungen der sektoriellen Kapitel in

Anhang 1

Die 20 sektoriellen Kapitel in Anhang 1 des MRA werden auf der Grundlage der

neuen institutionellen Bestimmungen angepasst. Im Rahmen der technischen Arbei-

ten wird einerseits die Liste der Schweizer Rechtsakte in Abschnitt I (Rechts- und

Verwaltungsvorschriften) der sektoriellen Kapitel gestrichen (s. Erläuterungen in

Ziff. 2.4.6.2 zu Art. 3) und andererseits werden die Abschnitte II (Konformitätsbe-

wertungsstellen), III (Benennende Behörde), IV (Besondere Grundsätze für die Be-

nennung der Konformitätsbewertungsstellen) und V (Zusätzliche Bestimmungen) an

die neuen institutionellen Bestimmungen angepasst, die im Institutionellen Protokoll

und in den allgemeinen Bestimmungen von Anhang 1 enthalten sind (s. Erläuterungen

in Ziff. 2.4.6.2

Artikel 2, Absatz 1 des Änderungsprotokolls zu den allgemeinen Best-

immungen in Anhang 1 des MRA

). Diese Anpassungen technischer Natur werden

durch den für die Durchführung des Abkommens zuständigen Gemischten Ausschuss

vorgenommen und gelten ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Institutionellen Pro-

tokolls und des Änderungsprotokolls zum MRA.

410 / 931

2.4.7

Grundzüge des Umsetzungserlasses

Für die Umsetzung des Institutionellen Protokolls und des Änderungsprotokolls zum

MRA bedarf es keiner Anpassung Schweizer Rechts.

2.4.8

Auswirkungen des Paketelements

2.4.8.1

Auswirkungen auf den Bund

2.4.8.1.1

Finanzielle Auswirkungen

Um die dynamische Rechtsübernahme mittels Äquivalenzmethode fristgerecht si-

cherzustellen, wird das SECO ein elektronisches System einrichten, mit dem sich die

Entwicklungen des EU-Rechts und somit entsprechend auch des Schweizer Rechts

bereits ab ihrer Erarbeitung mitverfolgen lassen (s. Ziff. 2.4.8.1.2 oben). Für die Ein-

richtung dieses elektronischen Monitoringsystems ist ein Budget von 250 000 Fran-

ken erforderlich.

Zudem regelt der Anhang zum Institutionellen Protokoll betreffend die Anwendung

von Artikel 13 des Protokolls (finanzielle Beteiligung) die Modalitäten der finanziel-

len Beteiligung der Schweiz an der EudraGMDP-Datenbank der EU (s. Ziff. 2.4.6.1

zu Art. 13), was einem Betrag 5000 Franken pro Jahr entspricht.

2.4.8.1.2

Personelle Auswirkungen

Durch das Institutionelle Protokoll und das Änderungsprotokoll fallen im Zusammen-

hang mit der Durchführung des MRA keine bereits bestehenden Aufgaben weg. Die

dynamische Rechtsübernahme (s. Ziff. 2.1.6.2) bedeutet im Gegenteil, dass die

Schweiz die Entwicklungen der EU-Gesetzgebung in den vom Abkommen abgedeck-

ten Bereichen aktiver verfolgen muss. Die Sachverständigen der Schweiz werden in

den unter das Abkommen fallenden Bereichen weiterhin an den Ausschüssen und Ar-

beitsgruppen teilnehmen, wie sie dies bereits heute teilweise informell tun. Die aus-

gehandelte Mitwirkung beim Decision Shaping (s. Ziff. 2.1.6.2.1) erfordert aber ein

systematisches und koordiniertes Vorgehen. Dazu ist eine vertiefte Analyse der Texte

in einer frühen Phase nötig, d. h. ab ihrer Erarbeitung durch die Europäische Kom-

mission und während des gesamten Verfahrens bis zu ihrer Verabschiedung. Nur so

können die neuen Möglichkeiten, die sich aus den für das MRA ausgehandelten insti-

tutionellen Bestimmungen ergeben, im Interesse der Schweizer Wirtschaft optimal

genutzt werden. Es geht also nicht nur darum, sich bei einer neuen Gesetzgebung auf

die Angleichung des Schweizer Rechts vorzubereiten, sondern auch darum, im Sinne

der Schweizer Interessen und der hiesigen Wirtschaft so weit wie möglich auf den

Rechtsetzungsprozess der EU-Einfluss zu nehmen. So will die Schweiz beispiels-

weise aktiv eingreifen, um eine Überregulierung oder Regulierungen, die für Schwei-

zer Unternehmen oder Behörden schwer umzusetzen sind, zu verhindern. Dazu wird

es oft innert kürzester Zeit notwendig sein, Stellung zu nehmen bzw. auf Rechtset-

zungsvorhaben der EU zu reagieren.

Das MRA deckt 20 Produktbereiche ab und betrifft 13 Bundesgesetze sowie 51 Ver-

ordnungen, die in die Zuständigkeit von 12 verschiedenen Ämtern und Verwaltungs-

einheiten des Bundes fallen. Diese bleiben in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich

411 / 931

dafür verantwortlich, in Ausschüssen und Arbeitsgruppen der EU mitzuwirken und

die Anpassung der Schweizer Rechtsvorschriften innert nützlicher Frist sicherzustel-

len. Parallel dazu wird das SECO als das für die Durchführung und das ordnungsge-

mässe Funktionieren des MRA verantwortliche Amt in ständiger Verbindung mit der

Schweizer Mission in Brüssel die systematische Überwachung der Rechtsvorschriften

und die Koordination zwischen allen vom MRA abgedeckten Bereichen gewährleis-

ten müssen. Dabei geht es darum, die dynamische Rechtsübernahme sicherzustellen.

Bei der Äquivalenzmethode ist dazu eine parallele Anpassung der Schweizer Rechts-

vorschriften erforderlich, da die Rechtsvorschriften der EU allein durch die Aufnahme

ins MRA in der Schweiz noch nicht zur Anwendung kommen. Das SECO muss die

betreffenden Ämter und Verwaltungseinheiten bei der Überarbeitung der Schweizer

Rechtsvorschriften unterstützen und sicherstellen, dass die sektoriellen Kapitel in An-

hang 1 des Abkommens rechtzeitig angepasst werden. Dafür wird im SECO eine zu-

sätzliche Vollzeitstelle benötigt.

Da die Sachverständigen der Schweiz im Rahmen des

Decision Shaping

keinen Zu-

gang zu den Arbeiten haben, die in den Zuständigkeitsbereich des EU-Rates und des

EU-Parlaments fallen, wird der Schweizer Mission bei der Europäischen Union in

Brüssel eine Schlüsselrolle zukommen, wenn es darum geht, die Entwicklungen vor

Ort mitzuverfolgen und insbesondere bei Vertreterinnen und Vertretern der EU-

Mitgliedstaaten und des EU-Parlaments Informationen zu erhalten, auf die die

Schweiz im Rahmen des

Decision Shaping

keinen Zugriff hat. Die Schweizer Mission

muss stets den Überblick haben und die Entwicklungen des EU-Rechts in allen Be-

reichen des MRA systematisch mitverfolgen, um dem SECO regelmässig Bericht er-

statten zu können. Dazu wird bei der Schweizer Mission in Brüssel eine zusätzliche

Vollzeitstelle benötigt, die vom SECO finanziert wird.

Der Bundesrat wird den ausgewiesenen Ressourcenbedarf zu gegebener Zeit überprü-

fen und darauf achten, dass ein allfälliger Mehrbedarf an Personalaufwand innerhalb

des Eigenbereichs des Bundes kompensiert wird.

2.4.8.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf

urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

Die technischen Rechtsvorschriften im Geltungsbereich des MRA fallen grossmehr-

heitlich in den Zuständigkeitsbereich des Bundes. Weder das Institutionelle Protokoll

noch das Änderungsprotokoll hat Auswirkungen auf die Kantone und Gemeinden so-

wie auf städtische Zentren, Agglomerationen und Berggebiete.

2.4.8.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Dank der institutionellen Elemente, die im Rahmen des Stabilisierungsteils des Pakets

Schweiz–EU in das MRA aufgenommen werden, kann das MRA weiterhin rechts-

wirksam funktionieren. Die ausgehandelten Bestimmungen gewährleisten zudem ei-

nen stabilen Rechtsrahmen zwischen der Schweiz und der EU, der den Wirtschafts-

standort Schweiz für Investitionen attraktiver macht.

412 / 931

Als Binnenmarktabkommen hat das MRA sowohl Auswirkungen auf den Aussenhan-

del der Schweiz (Aus- und Einfuhren) als auch auf ihre Wirtschaft und ihre verschie-

denen Akteure. Es garantiert der Schweizer Exportindustrie in den vom Abkommen

abgedeckten Bereichen einen erweiterten Zugang zum EU-Binnenmarkt. Doppelt

durchgeführte Konformitätsbewertungen sowie die Herstellung unterschiedlicher

Produktserien für die beiden Märkte werden dadurch vermieden. Dadurch können

Schweizer Hersteller nicht nur Geld sparen, sondern sich auch auf die Grossserienfer-

tigung konzentrieren und so die Kosten optimal verteilen.

Das MRA verringert für die Unternehmen auch den Verwaltungsaufwand, da es be-

stimmte Pflichten für die Wirtschaftsakteure aufhebt. So sind im EU-Recht und im

Schweizer Recht die Pflichten für die verschiedenen Wirtschaftsakteure für die ge-

samte Produktions- und Vertriebskette geregelt, um die vollständige Rückverfolgbar-

keit der Produkte von der Herstellung bis zum Inverkehrbringen zu gewährleisten. Bei

Produkten aus Drittländern verlangt die EU unter anderem, dass der in der EU ansäs-

sige Importeur (und zusätzlich in manchen Fällen ein Bevollmächtigter) die Verant-

wortung für die Konformität der Produkte übernimmt. Hinzu kommt die Pflicht, die

Koordinaten dieser Akteure auf den Produkten oder deren Verpackung anzugeben

(Kennzeichnung). Dank dem MRA ist es für einen in der Schweiz ansässigen Wirt-

schaftsakteur beispielsweise nicht notwendig, für den Export seiner Produkte in die

EU einen Wirtschaftsakteur in der EU zu benennen und seine Produkte mit dessen

Koordinaten neu zu kennzeichnen. Das MRA gewährleistet durchgehende Produkti-

ons- und Vertriebsketten zwischen der Schweiz und der EU.

Diese Erleichterungen sorgen dafür, dass Schweizer Exporte auf dem EU-Markt at-

traktiver werden. Die erhöhte Nachfrage nach Schweizer Produkten kurbelt im Ge-

genzug die Herstellung dieser Produkte an und stärkt entsprechend den Handel zwi-

schen der Schweiz und der EU (sog. Handelsschaffung).

Mehrere Studien

385

haben gezeigt, dass seit dem Inkrafttreten des MRA im Jahr 2002

sowohl das Export- als auch das Importvolumen der unter das Abkommen fallenden

Produkte stetig gestiegen ist und dass dieser Anstieg höher ausfiel als beim Handel

mit anderen Produkten. Diese positive Entwicklung des Handels ist einerseits auf die

Ausweitung des sektoriellen Geltungsbereichs des Abkommens im Laufe der Jahre

385

Die Effekte des MRA wurden im Auftrag des SECO in den Studien von BAK Economics

und Ecoplan zum Effekt des Wegfalls der Bilateralen I untersucht. Die Studien sowie ein

Synthesebericht sind abrufbar unter: www.seco.admin.ch > Aussenwirtschaft & Wirt-

schaftliche Zusammenarbeit > Wirtschaftsbeziehungen Europäische Union (EU) > Wirt-

schaftliche Bedeutung der Bilateralen I > Volkswirtschaftliche Auswirkungen eines Weg-

falls der Bilateralen I. Den Effekt empirisch untersucht hatte die

Konjunkturforschungsstelle KOF 2015 (Hälg, Florian [2015], «Das bilaterale Abkommen

über den Abbau technischer Handelshemmnisse und der schweizerische Aussenhandel» in

«Der bilaterale Weg – eine ökonomische Bestandesaufnahme», KOF Studie 58. Abrufbar

unter: www.research-collection.ethz.ch/bitstream/handle/20.500.11850/112229/eth-49559-

01.pdf).

Im Auftrag des SECO hat Ecoplan 2025 seine Studie von 2015 aktualisiert. Die Studie ist

abrufbar unter: www.seco.admin.ch > Aussenwirtschaft & Wirtschaftliche Zusammenar-

beit > Wirtschaftsbeziehungen Europäische Union (EU) > Wirtschaftliche Bedeutung der

Bilateralen I

413 / 931

zurückzuführen (von 15 Sektoren bei Abschluss des Abkommens auf heute 20), an-

dererseits aber auch auf den Abbau technischer Handelshemmnisse, administrative

Entlastungen und Kosteneinsparungen, die das Abkommen mit sich bringt. Die ge-

samtwirtschaftlichen Auswirkungen des MRA wurden in der Studie von Ecoplan

(2025)

386

anhand einer Simulation des Wegfalls der Abkommen der Bilateralen I ge-

schätzt. Der Wegfall der Bilateralen I hätte gemäss dieser Studie bis im Jahr 2045

einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von –4,9 Prozent zur Folge. Das

MRA ist nach dem Freizügigkeitsabkommen (FZA) aus einer volkswirtschaftlichen

Perspektive das wichtigste Abkommen.

Aufgrund des erleichterten Zugangs zum EU-Markt, den das MRA den in der Schweiz

ansässigen Unternehmen ermöglicht, erhöht es die Attraktivität der Schweiz als Pro-

duktionsstandort. Wenn grosse ausländische Unternehmen ihren europäischen Haupt-

sitz in der Schweiz ansiedeln, tun sie dies unter anderem im Wissen, dass sie die Er-

leichterungen des Abkommens in Anspruch nehmen und ihre Produktion gleichzeitig

auf beiden Märkten absetzen können. Somit verleiht das MRA ausländischen Investi-

tionen in der Schweiz neue Impulse.

Darüber hinaus trägt das MRA auch zur Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen

in der Schweiz bei. Einerseits könnten sich einige Schweizer Unternehmen ohne die

Erleichterungen des MRA dazu veranlasst sehen, sich in der EU niederzulassen oder

einen Teil ihrer Tätigkeiten dorthin zu verlagern, um weiterhin am Binnenmarkt teil-

nehmen zu können und gegenüber ihrer Konkurrenz aus der EU wettbewerbsfähig zu

bleiben. Andererseits werden neue Arbeitsplätze in der Schweiz geschaffen, wenn

grosse Unternehmen entscheiden, sich in der Schweiz niederzulassen, um von hier aus

beide Märkte zu bedienen.

Schliesslich trägt das MRA durch erleichterte Importe aus der EU auch zu einem brei-

teren Produktangebot für die Konsumentinnen und Konsumenten bei. Denn ange-

sichts der geringen Grösse des Schweizer Marktes ist es für ausländische Hersteller

aus der EU oder aus Drittländern aufgrund der unverhältnismässig hohen Kosten we-

niger interessant, Produkte extra für den Schweizer Markt herzustellen und zertifizie-

ren zu lassen. Dank der vertraglich vorgesehenen Zusammenarbeit zwischen den

Marktüberwachungsbehörden der Schweiz und der EU (z. B. im Bereich Medizinpro-

dukte) trägt das MRA zudem zu einer anhaltend hohen Produktsicherheit für die

Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten bei. Mit unilateralen Massnahmen

wäre dies nicht möglich.

Ohne das MRA könnte die Schweizer Export- und Importindustrie nicht mehr von

den oben erwähnten Erleichterungen profitieren. Die Produktauswahl für die Schwei-

zer Konsumentinnen und Konsumenten wäre eingeschränkt, was Preissteigerungen

und das Phänomen der Hochpreisinsel Schweiz begünstigen würde.

386

Abrufbar unter: www.seco.admin.ch > Aussenwirtschaft & Wirtschaftliche Zusammenar-

beit > Wirtschaftsbeziehungen Europäische Union (EU) > Wirtschaftliche Bedeutung der

Bilateralen I > Volkswirtschaftliche Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen I

414 / 931

Eine von Infras im Jahr 2025 durchgeführte Studie

387

zeigt, dass die Nicht-Aktuali-

sierung des MRA im Bereich der Medizinprodukte seit 2021 für die Schweizer Her-

steller Zusatzkosten verursacht hat, insbesondere da sie einen Bevollmächtigten in der

EU benennen und die Produkte mit den Koordinaten dieses Bevollmächtigten neu

kennzeichnen müssen. Hersteller, die die Konformität ihrer Produkte bisher in der

Schweiz bewerten liessen, müssen diese Bewertung momentan zusätzlich auch in der

EU durchführen lassen. Die entsprechenden Kosten variieren stark, und zwar abhän-

gig von verschiedenen Faktoren wie etwa der Grösse des Unternehmens und seiner

Fähigkeit, diese Kosten auf das gesamte Produktionsvolumen zu verteilen. So fallen

die wiederkehrenden Zusatzkosten für grosse Unternehmen, die bereits Tochtergesell-

schaften in der EU haben und diese als Bevollmächtigte benennen können, geringer

aus als für kleine und mittlere Unternehmen, die für die Benennung eines Bevollmäch-

tigten auf externe Dienstleister angewiesen sind. Solche Kosten sind bei Standortent-

scheidungen ein wichtiger Faktor. Ein Drittel der befragten Hersteller gab an, auf-

grund der Nicht-Aktualisierung des MRA eine Verlagerung ihrer Produktion in

Erwägung gezogen zu haben; einige Unternehmen haben diesen Schritt tatsächlich

vollzogen. Die Studie zeigt ausserdem, dass trotz unilateraler Massnahmen zur Er-

leichterung des Handels die Einfuhren inzwischen in ähnlichem Ausmass von Han-

delshemmnissen betroffen sind wie die Ausfuhren. Bei der Verwaltungseffizienz wa-

ren ebenfalls Einbussen zu verzeichnen; so musste Swissmedic eine eigene

schweizerische Datenbank für Medizinprodukte entwickeln und die Marktüberwa-

chung ohne Zusammenarbeit mit der EU organisieren. Dies führte zu einem signifi-

kanten Anstieg der Personalkosten bei Swissmedic.

2.4.8.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Das Institutionelle Protokoll und das Änderungsprotokoll zum MRA haben abgesehen

von den in Ziffer 2.4.8.3 oben erwähnten Auswirkungen auf die Konsumentinnen und

Konsumenten nur begrenzt Auswirkungen auf die Gesellschaft. Durch die Aktualisie-

rung des MRA lassen sich neue Handelshemmnisse verhindern, wie sie bei einer

Nicht-Aktualisierung einzelner Kapitel des MRA entstehen würden. Dies wiederum

trägt zur Versorgungssicherheit in der Schweiz bei. Die fehlende Aktualisierung im

Bereich Medizinprodukte beispielsweise hat aufgrund der höheren Einfuhrkosten zu

einer gewissen Marktkonsolidierung und zu einer Portfoliobereinigung geführt. Be-

stimmte Medizinprodukte waren zeitweise nicht verfügbar, weshalb die Patientinnen

und Patienten auf Ersatzprodukte zurückgreifen mussten.

2.4.8.5

Auswirkungen auf die Umwelt

Das Institutionelle Protokoll und das Änderungsprotokoll haben keine Auswirkungen

auf die Umwelt.

387

Infras (2025) Vertiefungsstudie MRA – Fallbeispiel Medizinprodukte. Studie im Auftrag

des SECO. Die Studie ist abrufbar unter: www.seco.admin.ch > Aussenwirtschaft & Wirt-

schaftliche Zusammenarbeit > Wirtschaftsbeziehungen > Technische Handelshemm-

nisse>Staatsvertragliche Vereinbarungen (Mutual Recognition Agreements – MRA) >

MRA Schweiz-EU.

415 / 931

2.4.9

Rechtliche Aspekte des Paketelements

Dieser Abschnitt behandelt das Änderungsprotokoll zum MRA. Ausführungen zum

Institutionellen Protokoll zum MRA finden sich in Ziffer 2.1.9, es sei denn, es wird

nachstehend ausdrücklich auf das Institutionelle Protokoll Bezug genommen.

2.4.9.1

Verfassungsmässigkeit der Protokolle

Das Änderungsprotokoll zum MRA stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 der Bundes-

verfassung

388

(BV), wonach die auswärtigen Angelegenheiten Sache des Bundes sind.

Artikel 184 Absatz 2 BV ermächtigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu un-

terzeichnen und zu ratifizieren. Laut Artikel 166 Absatz 2 BV genehmigt die Bundes-

versammlung die völkerrechtlichen Verträge, sofern für deren Abschluss nicht auf-

grund von Gesetz oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (Art. 24

Abs. 2 Parlamentsgesetz vom 13.12.2002

389

[ParlG] und Art. 7

a

Abs. 1 Regierungs-

und Verwaltungsorganisationsgesetz vom 21.3.1997

390

[RVOG]). Das Änderungs-

protokoll fällt gestützt auf Artikel 14 des Bundesgesetzes über die technischen Han-

delshemmnisse

391

(THG) grundsätzlich in die Zuständigkeit des Bundesrates. Da es

allerdings mit den anderen Abkommen des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–

EU zusammenhängt (diese Abkommen können nur alle zusammen in Kraft treten,

s. Ziff. 2.1.6.6), unterliegt es dennoch der Genehmigung durch die Bundesversamm-

lung.

2.4.9.2

Verfassungsmässigkeit der Umsetzungsgesetzgebung

Die Umsetzung des Institutionellen Protokolls und des Änderungsprotokolls zum

MRA erfordert keine Änderungen der Bundes- oder der kantonalen Gesetzgebung und

auch keine Begleitmassnahmen.

2.4.9.3

Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen

der Schweiz

Das Änderungsprotokoll ist mit den internationalen Verpflichtungen der Schweiz ver-

einbar.

Auch mit dem revidierten EFTA-Übereinkommen vom 21. Juni 2001

392

ist das Än-

derungsprotokoll vereinbar. Das Änderungsprotokoll findet nur im Verhältnis zwi-

schen der Schweiz und der EU und ihren Mitgliedstaaten, nicht aber im Verhältnis zu

den EFTA/EWR-Staaten (Norwegen, Island und Liechtenstein) Anwendung. Zwi-

schen der Schweiz und den EFTA/EWR-Staaten gelten im Bereich des MRA daher

weiterhin die im Anhang I des EFTA-Übereinkommens enthaltenen Bestimmungen,

die mit dem geltenden MRA übereinstimmen.

388

SR

101

389

SR

171.10

390

SR

172.010

391

SR

946.51

392

SR

0.632.31

416 / 931

2.4.9.4

Erlassform

Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV unterliegen völkerrechtliche Ver-

träge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige rechtsetzende Bestimmungen

enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Nach Ar-

tikel 22 Absatz 4 ParlG sind unter rechtsetzenden Normen jene Bestimmungen zu ver-

stehen, die in unmittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten auf-

erlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen. Als wichtig gelten

Bestimmungen, die auf der Grundlage von Artikel 164 Absatz 1 BV in der Form eines

Bundesgesetzes erlassen werden müssten. Sowohl das Institutionelle Protokoll als

auch das Änderungsprotokoll zum MRA enthalten wichtige rechtsetzende Bestim-

mungen. Der Bundesbeschluss über die Genehmigung dieser Protokolle unterliegt ge-

stützt auf Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV folglich dem fakultativen Re-

ferendum (s. auch Varianten in Ziff. 4.1).

2.4.9.5

Vorläufige Anwendung

Für das Änderungsprotokoll ist keine vorläufige Anwendung vorgesehen.

2.4.9.6

Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass

Das Änderungsprotokoll bedarf weder einer Umsetzungsgesetzgebung noch Begleit-

massnahmen.

2.4.9.7

Datenschutz

Das Institutionelle Protokoll und das Änderungsprotokoll werfen keine besonderen

Fragen im Zusammenhang mit dem Datenschutz auf. Die Daten, die die Schweizer

Behörden im Rahmen der für die verschiedenen Produktebereiche des MRA geplan-

ten Zusammenarbeit unter Umständen bekanntgeben müssen, werden unter Einhal-

tung des für den Datenschutz geltenden Schweizer Rechtsrahmens bearbeitet. Weitere

Erklärungen hierzu finden sich in Ziffer 2.1.9.7.

417 / 931

2.5

Landverkehr

2.5.1

Zusammenfassung

Als Verkehrsknotenpunkt auf der Nord-Süd-Achse in Europa hat die Schweiz stark in

eine gut funktionierende Verkehrsinfrastruktur investiert und verfolgt eine strategi-

sche Politik der Verlagerung von der Strasse auf die Schiene. Der Zugang zum EU-

Markt für den Strassen- und Schienenverkehr ist von Bedeutung für die Schweizer

Wirtschaft und die Versorgung des Landes. Entsprechend wichtig ist es, dass die

Schweizer Besonderheiten sowie der Zugang der Schweiz zum EU-Markt langfristig

abgesichert werden.

Ziel des Abkommens vom 21. Juni 1999

393

zwischen der Schweizerischen Eidgenos-

senschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Güter- und Personenverkehr

auf Schiene und Strasse (Landverkehrsabkommen; LandVA) ist es, einerseits den Zu-

gang der Vertragsparteien zum Markt für Güter- und Personenverkehrs auf Strasse

und Schiene zu liberalisieren und andererseits die Bedingungen für eine abgestimmte

Verkehrspolitik zwischen der Schweiz und der EU festzulegen. Somit ist es ein we-

sentlicher Bestandteil für die Umsetzung der Schweizer Verkehrspolitik. Das

LandVA trägt dem Wunsch Rechnung, bestimmte Errungenschaften der Schweizer

Verkehrspolitik abzusichern.

Im Zuge der Verhandlungen mit der EU wurde das LandVA in mehreren Punkten

angepasst und ergänzt, um das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU im Ver-

kehrsbereich zu stärken, weiterzuentwickeln und zukunftstauglich zu machen. Zum

einen zielten die Verhandlungen darauf ab, die neuen institutionellen Elemente in das

LandVA als eines der Binnenmarktabkommen aufzunehmen und Regeln über staatli-

che Beihilfen einzuführen. Zum anderen wurde das LandVA punktuell aktualisiert,

insbesondere um Massnahmen zum Schutz des nationalen öffentlichen Verkehrs im

Kontext der Öffnung des Markts für den internationalen Schienenpersonenverkehr

festzulegen. Dazu wurden neue Ausnahmen für die Schweiz im LandVA verankert

und Präzisierungen vorgenommen. Die Einführung verschiedener wichtiger Ausnah-

men sichert die Errungenschaften des Systems des öffentlichen Verkehrs in der

Schweiz (Service public). Es handelt sich insbesondere um den Vorrang des Schwei-

zer Taktfahrplans, der Verpflichtung zur Tarifintegration für EU-Bahnunternehmen

und der langfristigen Absicherung der Trassenreservierungen, einschliesslich des Gü-

terverkehrs. Letzterer Punkt war nicht im Mandat aufgeführt.

Der Geltungsbereich und die Ziele des LandVA wurden nicht geändert, sondern nur

präzisiert, und die bestehenden Ausnahmen (wie das Sonntags- und Nachtfahrverbot,

das Verbot der Kabotage oder die Gewichtsgrenze von 40 Tonnen für den Schwerver-

kehr) wurden beibehalten. Zudem konnte die Schweiz weitere Ausnahmen aushan-

deln, insbesondere die rechtliche Absicherung der Schweizer Instrumente zur Tras-

senplanung und -sicherung.

Schliesslich schlug die Schweiz im Rahmen der Verhandlungen vor, einige Bestim-

mungen des LandVA anzupassen, über die die Gespräche mit der EU in den letzten

393

SR

0.740.72

418 / 931

Jahren blockiert gewesen waren. So wurden die Bestimmungen zur leistungsabhängi-

gen Schwerverkehrsabgabe (LSVA) geändert, um langfristig mehr Flexibilität zu er-

möglichen, und eine Rechtsgrundlage für eine zukünftige Beteiligung der Schweiz an

der Eisenbahnagentur der Europäischen Union (ERA) wurde in das LandVA aufge-

nommen. Diese Punkte gehen über das Mandat hinaus.

Für die Umsetzung des Verhandlungsergebnisses sind geringfügige Anpassungen des

Eisenbahn- und des Personenbeförderungsgesetzes notwendig.

Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt und in Teilen

übertroffen (s. Ziff. 5.3). Er beantragt im Rahmen des Stabilisierungsteils des Pakets

Schweiz–EU die Genehmigung des Änderungs- und des Institutionellen Protokolls

sowie des Beihilfeprotokolls zum Landverkehrsabkommen und der dazugehörenden

Umsetzungsgesetzgebung.

2.5.2

Ausgangslage

Das 1999 unterzeichnete und am 1. Juni 2002 in Kraft getretene LandVA ermöglicht

die Entwicklung einer zwischen der Schweiz und der EU abgestimmten Verkehrspo-

litik und zielt darauf ab, den Zugang der Vertragsparteien zu den Märkten für Güter-

und Personenverkehr auf Strasse und Schiene zu liberalisieren (Art. 1 Abs. 1

LandVA). Diese Öffnung ist in Etappen erfolgt: Das LandVA hat schrittweise – und

seit dem 1. Januar 2005 vollständig – das Abkommen vom 2. Mai 1992

394

zwischen

der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Wirtschaftsgemein-

schaft über den Güterverkehr auf Strasse und Schiene ersetzt.

Das LandVA ist ein wichtiges Instrument für die Umsetzung der Verkehrspolitik und

der Verkehrsverlagerung von der Strasse auf die Schiene auf nationaler Ebene. Es

ermöglicht der Schweiz nicht nur, die Zusammenarbeit mit der EU im Verkehrssektor

langfristig zu sichern, sondern auch ihre Verlagerungspolitik im europäischen Kon-

text zu verankern. Mit dem Abschluss dieses Abkommens hat die EU nämlich die

Ziele und Instrumente der schweizerischen Verkehrspolitik anerkannt.

Das LandVA ermöglicht es den Vertragsparteien, sich in Bezug auf technische Stan-

dards, Zulassungsvorschriften für Fahrzeuge, Sozialvorschriften und Transportvor-

schriften für gefährliche Güter abzustimmen. Zudem sieht es wichtige Ausnahmen für

die Schweiz vor. Seit 1999 hat die Schweiz ihr innerstaatliches Recht stark angepasst,

damit es dem in das LandVA integrierten EU-Recht gleichwertig ist.

Im Bereich

grenzüberschreitender Strassenverkehr

haben die schweizerischen Ver-

kehrsunternehmen Zugang zum EU-Markt sowie das Recht erhalten, Kabotagefahrten

zwischen EU-Mitgliedstaaten durchzuführen (z. B. um Güter von Deutschland nach

Frankreich zu transportieren) (grosse Kabotage). Die Beförderung zwischen zwei

Punkten auf dem Gebiet eines EU-Mitgliedstaats mit einem in der Schweiz zugelas-

senen Fahrzeug ist weiterhin verboten (kleine Kabotage). Dasselbe gilt für einen

Transport zwischen zwei Punkten in der Schweiz, der von einem Transportunterneh-

men aus der EU durchgeführt wird (z. B. sind Beförderungen von Zürich nach

394

SR

0.740.71

419 / 931

Lausanne durch ein deutsches Verkehrsunternehmen untersagt). Auch auf internatio-

nalen Buslinien dürfen keine Passagiere auf Teilstrecken innerhalb der Schweiz be-

fördert werden (Kabotageverbot).

Im Bereich

grenzüberschreitender Eisenbahnverkehr

wurde mit dem Inkrafttreten des

LandVA der Güterverkehrsmarkt liberalisiert. Diese Öffnung hat sich positiv auf die

Wettbewerbsfähigkeit des Schienengüterverkehrs ausgewirkt. Die EU-Vorschriften

zur Öffnung des Markts für den grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehr hat

die Schweiz bislang nicht übernommen. Grenzüberschreitende Personenverkehrsleis-

tungen im Bahnverkehr sind ausschliesslich in Kooperation zwischen einem schwei-

zerischen und einem ausländischen Eisenbahnverkehrsunternehmen möglich. Anders

als beim Strassenverkehr sieht das LandVA für den Bahnverkehr kein ausdrückliches

Kabotageverbot vor.

Der grenzüberschreitende Schienenpersonenverkehr wurde in der EU im Jahr 2010

im Rahmen des dritten Eisenbahnpakets liberalisiert. Die vollständige Marktöffnung

(auf internationaler und nationaler Ebene) wurde schliesslich 2016 mit dem vierten

Eisenbahnpaket erreicht. Eine Öffnung des nationalen Schienenpersonenverkehrs

stand aufgrund des Geltungsbereichs des LandVA nie zur Diskussion. Dies bedeutet,

dass auch die im Rahmen der nationalen Marktöffnung des 4. EU-Eisenbahnpakets

beschlossenen strengeren Governance-Vorschriften für die schweizerischen Eisen-

bahnunternehmen nicht gelten.

In der Schweiz stand die Möglichkeit einer Öffnung des Markts für den grenzüber-

schreitenden Schienenpersonenverkehr im LandVA zur Debatte.

395

Angesichts der

politischen Dimension dieser Frage wurde der Bundesrat mit der Motion 18.4105

«Kooperationsmodell anstelle der Öffnung des internationalen Schienenpersonenver-

kehrs», die von der Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen des Ständerates

eingereicht wurde, beauftragt, eine allfällige Öffnung des Markts für den grenzüber-

schreitenden Schienenpersonenverkehr nicht in eigener Kompetenz zu beschliessen,

sondern dem Parlament in geeigneter Form zum Entscheid vorzulegen. Die Motion

wurde am 4. Juni 2019 angenommen. Da der Entscheid über die Öffnung des Markts

für den grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehr dem Parlament mit der vor-

liegenden Botschaft unterbreitet wird, beantragt der Bundesrat die Abschreibung der

Motion (s. Ziff. 1.5).

Im Rahmen der exploratorischen Gespräche, die den Verhandlungen vorausgingen,

kamen die Schweiz und die EU überein, die Frage der gegenseitigen Öffnung des

Markts für den grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehr unter besonderer Be-

rücksichtigung des LandVA (Art. 1 Abs. 1) und der Richtlinie 2012/34/EU

396

zu be-

handeln. Die Schweiz bestand allerdings darauf, dass eine solche Marktöffnung kon-

trolliert erfolgen soll. Daher vereinbarten die Schweiz und die EU Ausnahmen zur

395 Vgl. Bericht zum internationalen Personenverkehr (Bahn/Bus). Bericht des Bundesrates

vom 18. Okt. 2017 in Erfüllung der Postulate 14.3673 und 15.3707.

396 Richtlinie 2012/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Novem-

ber 2012 zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums (Neufassung),

Fassung gemäss Art. 1 Abs. 18 Bst. b Ziff. i des ÄP-LandVA.

420 / 931

Absicherung bestimmter schweizerischen Besonderheiten im Landverkehr. Diese um-

fassen die Möglichkeit, Eisenbahnverkehrsunternehmen, die grenzüberschreitende

Personenverkehrsdienste erbringen, zu verpflichten, sich an der Tarifintegration im

öffentlichen Verkehr zu beteiligen, die Möglichkeit, dem Personenverkehr gemäss

dem Taktfahrplan Vorrang einzuräumen, sowie die Einhaltung der schweizerischen

Lohn- und Arbeitsbedingungen. Diese neuen Ausnahmen, die von der EU akzeptiert

wurden, unterliegen nicht der dynamischen Rechtsübernahme. Somit müssen künftige

Entwicklungen im EU-Recht, die diese Ausnahmen betreffen, von der Schweiz nicht

berücksichtigt werden.

Das

Common Understanding

sieht auch vor, dass die folgenden wesentlichen Aus-

nahmen für die Schweiz beibehalten und von der dynamischen Rechtsübernahme aus-

geschlossen werden: die 40-Tonnen-Limite für Lastwagen, das Verbot von Strassen-

transporten mit Start und Ziel in der Schweiz durch im Ausland registrierte Fahrzeuge

(Verbot der kleinen Kabotage), das Nacht- und Sonntagsfahrverbot für Lastwagen,

der Ausschluss von Erhöhungen der Strassenkapazität durch die Alpen sowie die

LSVA.

Die Schweiz und die Europäische Kommission haben sich ausserdem darauf geeinigt,

dass der Geltungsbereich des LandVA nicht geändert wird: Das LandVA ist weiterhin

nur auf den grenzüberschreitenden Verkehr anwendbar, der rein nationale Verkehr

bleibt davon unberührt.

2.5.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

Das Hauptziel der Verhandlungen über das LandVA bestand darin, den gegenseitigen

Marktzugang für die Vertragsparteien langfristig zu erhalten und zu gewährleisten,

die Interoperabilität auf Strasse und Schiene zu verbessern, die bestehenden Ausnah-

men für die Schweiz abzusichern sowie neue Ausnahmen auszuhandeln, um die Aus-

wirkungen der Marktöffnung für den internationalen Schienenpersonenverkehr abzu-

federn.

Das

Common Understanding

zwischen der Schweiz und der EU sowie das Verhand-

lungsmandat vom 8. März 2024 legten den Rahmen für die Verhandlungen fest.

Da es sich beim LandVA um ein Binnenmarktabkommen handelt, konzentrierten sich

die Verhandlungen auf die Aufnahme der neuen institutionellen Elemente in das

LandVA, insbesondere die Pflicht zur dynamischen Übernahme von EU-Rechtsakten,

die in den Geltungsbereich des LandVA fallen. Diese Pflicht beinhaltet insbesondere,

dass die Schweiz die EU-Rechtsakte zur Öffnung des Markts für den grenzüberschrei-

tenden Schienenpersonenverkehr berücksichtigen muss. Das bedeutet, dass Eisen-

bahnverkehrsunternehmen aus EU-Mitgliedstaaten eigenständig grenzüberschrei-

tende Eisenbahnverbindungen in die Schweiz und umgekehrt Schweizer

Eisenbahnverkehrsunternehmen eigenständig grenzüberschreitende Eisenbahnver-

bindungen in die EU anbieten können. Gemäss aktuell geltendem LandVA sind solche

Verkehrsdienste nur in Kooperation zwischen einem Schweizer und einem EU-

Eisenbahnverkehrsunternehmen möglich.

421 / 931

Im Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 wird die Notwendigkeit unterstrichen,

vor diesem Hintergrund die schweizerischen Besonderheiten im Schienenverkehr

(Tarifintegration und Taktfahrplan) sowie die Anforderungen im Zusammenhang mit

der in Artikel 84 der Bundesverfassung

397

vorgesehenen Verkehrsverlagerung von

der Strasse auf die Schiene abzusichern. Zudem sieht das Verhandlungsmandat vor,

dass beim grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehr parallel zur Öffnung des

Markts das Kooperationsmodell und die Zuständigkeit der Schweiz für die Zuweisung

der Zugtrassen in ihrem eigenen Gebiet beibehalten werden. Die Vorschriften für den

grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehr dürfen die Qualität des öffentlichen

Verkehrs in der Schweiz nicht verschlechtern. Schliesslich hat der Bundesrat auch

klargestellt, dass der reine Binnenverkehr (inländischer Fern-, Regional- und Nahver-

kehr) sowie das Recht, in den Genehmigungen und Konzessionen für Transportunter-

nehmen nichtdiskriminierende Bestimmungen über Sozialstandards einzuschliessen,

unberührt bleiben müssen.

Gleichzeitig hat die Schweiz zugestimmt, ein Kontrollsystem für die staatlichen Bei-

hilfen in das LandVA aufzunehmen. Die im Protokoll über staatliche Beihilfen vor-

gesehenen Pflichten gelten nur für Beihilfen, die Unternehmen für Tätigkeiten ge-

währt werden, die unter den in Artikel 2 LandVA festgelegten Geltungsbereich des

Abkommens fallen (s. Ziff. 2.2.5.3 und 2.5.6.4). Auf den rein inländischen Schienen-

verkehr finden diese Pflichten daher keine Anwendung.

Die Verhandlungen über das LandVA starteten am 20. März 2024 und wurden am

5. Dezember 2024 nach 14 Verhandlungsrunden materiell abgeschlossen. Neben dem

Institutionellen Protokoll und dem Protokoll über staatliche Beihilfen (über die sepa-

rat verhandelt wurde) gingen aus den Verhandlungen zum Landverkehr zusätzlich ein

Änderungsprotokoll und eine Gemeinsame Erklärung der Vertragsparteien hervor.

Die Ziele, die sich die Schweiz im Verhandlungsmandat gesetzt hatte, wurden voll-

umfänglich erreicht, insbesondere mit dem Erhalt der bestehenden Ausnahmen und

der Schaffung der neuen Ausnahmen zur Absicherung der schweizerischen Besonder-

heiten im Rahmen des grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehrs. Insbeson-

dere konnte die Schweiz die Anerkennung ihrer Instrumente für die Planung der Ka-

pazität der Eisenbahninfrastruktur, die über das

Common Understanding

und das

Verhandlungsmandat hinausgeht, sowie eine Ausnahme bei der Ausschreibungs-

pflicht für den grenzüberschreitenden Regionalverkehr auf der Schiene und weitere

Anpassungen bei der LSVA und der Zusammenarbeit mit der ERA erreichen.

Die Konferenz der kantonalen Direktoren des öffentlichen Verkehrs (KöV) war Teil

der Schweizer Verhandlungsdelegation und somit bei allen Fragen eng eingebunden.

2.5.4

Vorverfahren

Bereits parallel zu den exploratorischen Gesprächen mit der EU, die zum

Common

Understanding

geführt haben, haben diverse Kontakte mit verschiedenen Akteuren

stattgefunden, um deren Anliegen berücksichtigen zu können.

397

SR

101

422 / 931

Nach Veröffentlichung des Entwurfs des Verhandlungsmandats fanden Gespräche

mit Vertreterinnen und Vertretern der ÖV-Branche und den Sozialpartnern statt. Unter

Leitung des Vorstehers des UVEK wurde zwei Mal ein Runder Tisch mit diesen Akt-

euren durchgeführt.

Gegenstand der Gespräche war im Hinblick auf das definitive Verhandlungsmandat

die Frage, welche Massnahmen auf Schweizer Seite bei einer Marktöffnung des in-

ternationalen Schienenpersonenverkehrs auf organisatorischer und rechtlicher Ebene

zu treffen sind, um allfällige negative Folgen im öffentlichen Verkehr und auf den

Lohnschutz abzufedern. Zudem wurde diskutiert, welche Auswirkungen und welchen

Anpassungsbedarf die Einführung von Regeln über staatliche Beihilfen im Bereich

Landverkehr hätte. Insgesamt sollte analysiert werden, welche Abfederungsmassnah-

men in der Schweiz ergriffen und welche Interessen in die Verhandlungen mit der EU

eingebracht werden sollen. Ausgangspunkt waren das

Common Understanding

und

das vom Bundesamt für Verkehr (BAV) präsentierte Umsetzungskonzept.

Während den Verhandlungen hat das BAV mehrere Austausche mit einzelnen Akteu-

ren wie den Kantonen, den Gewerkschaften und Personalverbänden des öffentlichen

Verkehrs, dem Verband öffentlicher Verkehr (VöV), den Schweizerischen Bundes-

bahnen (SBB), der Schweizerischen Südostbahn (SOB) und der Bern-Lötschberg-

Simplon-Bahn (BLS), der RailCom, der Trassenvergabestelle und der Alliance Swiss

Pass (ASP) zu spezifischen Fragen geführt.

2.5.5

Grundzüge der Protokolle

Das LandVA wurde durch zwei Zusatzprotokolle und ein Änderungsprotokoll er-

gänzt.

Mit dem Institutionellen Protokoll (IP-LandVA; s. Ziff. 2.1) werden die neuen insti-

tutionellen Elemente in den Funktionsmechanismus des LandVA integriert. Eine

grosse Bedeutung kommt im LandVA der Auflistung der bestehenden und der neu

verhandelten Ausnahmen zu. Diese unterliegen explizit nicht der dynamischen

Rechtsübernahme.

Das Änderungsprotokoll (ÄP-LandVA) enthält die Anpassungen, die am Inhalt des

LandVA sowie an seinen Anhängen vorgenommen werden. Diese Änderungen be-

treffen hauptsächlich die Öffnung des Markts für den grenzüberschreitenden Schie-

nenpersonenverkehr (einschliesslich der neuen diesbezüglichen Ausnahmen) und die

neuen institutionellen Elemente sowie den grenzüberschreitenden Güterverkehr mit

einer geringfügigen Anpassung des gesetzlichen Rahmens der LSVA.

Zum ÄP-LandVA gehört auch eine Gemeinsame Erklärung der Vertragsparteien. Sie

enthält Willensbekundungen beider Seiten und Präzisierungen zu verschiedenen

Punkten: der Zusammenarbeit mit der ERA, der Möglichkeit für Eisenbahnverkehrs-

unternehmen, grenzüberschreitende Verkehrsdienste im Rahmen einer Kooperation

anzubieten, der Notwendigkeit, dass operative Entscheidungen, zum Beispiel bei Ver-

spätungen, bei den Infrastrukturbetreiberinnen verbleiben, sowie der Rolle der Tras-

senvergabestellen.

423 / 931

Ziel des Protokolls über staatliche Beihilfen (Beihilfeprotokoll-LandVA; s. Ziff. 2.2)

ist es, das LandVA mit Regeln über staatliche Beihilfen zu ergänzen. Die in diesem

Protokoll vorgesehenen Pflichten gelten nur für Beihilfen, die Unternehmen für Tä-

tigkeiten gewährt werden, die unter den Geltungsbereich des LandVA fallen. Auf den

rein inländischen Verkehr (Service public) finden diese Pflichten daher keine Anwen-

dung.

2.5.6

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der Protokolle

2.5.6.1

Institutionelles Protokoll

Mit dem IP-LandVA (s. Ziff. 2.1) werden neue institutionelle Mechanismen in das

LandVA aufgenommen.

Das IP-LandVA führt zu einigen Anpassungen an den Aktualisierungsmechanismen

des LandVA, insbesondere in Titel 5 (Allgemeine und Schlussbestimmungen), sowie

zur Aufhebung gewisser Bestimmungen des LandVA. Nach Artikel 2 Absatz 2 des

IP-LandVA werden die Artikel 49 Absätze 1 und 2, 50, 52 Absätze 1–4 und 6, 54 und

55 Absatz 2 sowie Anhang 1 Einleitungssatz LandVA aufgehoben. Die Aufhebung

des Einleitungssatzes des Anhangs 1 ist terminologisch begründet und ist aufgrund

der klaren Formulierung des Äquivalenzprinzips in Artikel 5 Absatz 2 des IP-LandVA

redundant geworden.

Gemäss Artikel 5 Absatz 2 des IP-LandVA erlässt die Schweiz in ihrer Gesetzgebung

Bestimmungen oder behält sie bei, die das Erreichen der Ziele ermöglichen, die mit

den in das LandVA integrierten Rechtsakten der EU verfolgt werden. Die Schweiz

und die EU müssen nicht zwingend über identische Regeln verfügen. Es genügt, wenn

die Regeln einander in ihren Wirkungen und ihrer Tragweite entsprechen (Äquiva-

lenzprinzip). Das Landverkehrsabkommen funktionierte bereits bisher nach der Äqui-

valenzmethode. Aufgrund der neu eingeführten dynamischen Rechtsübernahme ist

die Äquivalenz präziser formuliert und das Vorgehen zur Integration von EU-

Rechtsakten ins LandVA wird in der Praxis vereinfacht ablaufen (s. Ziff.2.1).

Wurde bisher ein neuer Rechtsakt von der EU verabschiedet, so erliess die Schweiz

eine entsprechende Gesetzgebung auf Gesetzes- oder Verordnungsstufe, die dann von

den beiden Vertragsparteien im Gemischten Ausschuss auf Äquivalenz geprüft

wurde. Ein EU-Rechtsakt konnte also erst dann in das LandVA integriert werden,

wenn die Äquivalenz des Schweizer Rechts mit dem jeweiligen Rechtsakt durch den

Gemischten Ausschuss festgestellt wurde. Damit wurde hinsichtlich aller in Anhang

1 enthaltenen EU-Rechtsakte die Äquivalenz des Schweizer Rechts bestätigt.

Diese Phase der Prüfung durch den Gemischten Ausschuss wird künftig nicht mehr

notwendig sein. Sobald ein EU-Rechtsakt verabschiedet wird, der in den Geltungsbe-

reich des LandVA fällt, muss die Schweiz ihre Gesetzgebung anpassen. Damit ändert

sich das Verfahren zur Integration der EU-Rechtsakte ins LandVA, nicht aber das

Äquivalenzprinzip. Die Schweiz hat eine Verpflichtung zur Schaffung äquivalenten

Rechts im Geltungsbereich des Abkommens (ausser im Bereich der vereinbarten Aus-

nahmen, vgl. unten), der Gemischte Ausschuss wird aber nicht mehr vorgängig beur-

teilen, ob die Schweiz die Bestimmungen äquivalent umgesetzt hat, damit dieser

424 / 931

Rechtsakt in den Anhang 1 des LandVA aufgenommen werden kann.

Nota bene

kann

so in Zukunft auf die Prüfung und Bestätigung des Schweizer Rechts auf seine Äqui-

valenz verzichtet werden. Das bedeutet auch, dass die Integration eines Rechtsaktes

aufgrund der Äquivalenzprüfung nicht mehr blockiert werden kann, wie dies in der

Vergangenheit seitens EU teilweise der Fall war.

Die Pflicht der Vertragsparteien, EU-Rechtsakte in das LandVA aufzunehmen, gilt

nicht, wenn der Rechtsakt nicht in den Geltungsbereich des LandVA fällt oder wenn

er einer Ausnahme nach Artikel 5 Absatz 7 des IP-LandVA unterliegt. Dabei handelt

es sich zum einen um die Ausnahmen, die bereits im LandVA aufgeführt waren, um

die besonderen Errungenschaften der Schweiz im Bereich des Strassen- und Schie-

nenverkehrs abzusichern, und zum anderen um die neuen Ausnahmen im Zusammen-

hang mit der Öffnung des Markts für den grenzüberschreitenden Schienenpersonen-

verkehr, die eingeführt wurden, um das schweizerische Verkehrssystem

aufrechtzuerhalten.

Artikel 7 Absatz 3 LandVA: höchstzulässiges Gewicht für Sattelkraftfahr-

zeuge und für Lastzüge, das dem in der EU zum Zeitpunkt der Unterzeich-

nung des LandVA geltenden Höchstgewicht entspricht (40 Tonnen seit dem

1.1.2005);

Artikel 14 und 20 LandVA: Verbot von Strassentransporten zwischen zwei

im selben Hoheitsgebiet liegenden Orten (Verbot der kleinen Kabotage);

Artikel 15 LandVA: Nacht- und Sonntagsfahrverbot für Lastwagen;

Artikel 24a LandVA: Ausnahmen von der dynamischen Rechtsübernahme

im Zusammenhang mit den Besonderheiten des öffentlichen Verkehrs in

der Schweiz (neu in das LandVA aufgenommene Bestimmung, s. unten);

Artikel 32a LandVA: Ausschluss von Erhöhungen der Strassenkapazität

(neu in das LandVA aufgenommene Bestimmung, s. unten);

Artikel 40 und 42 LandVA: LSVA.

2.5.6.2

Änderungsprotokoll

Das ÄP-LandVA enthält die Anpassungen, die am LandVA selbst sowie an dessen

Anhängen vorgenommen werden.

Präambel

In der Präambel bekräftigen die Vertragsparteien insbesondere die Bedeutung des

LandVA und der Förderung des Güter- und Personenverkehrs auf Strasse und

Schiene. Zudem erkennen sie ihre jeweilige Verlagerungspolitik an. In Bezug auf den

Eisenbahnverkehr wollen die Vertragsparteien ein Verkehrssystem von hoher Qualität

aufrechterhalten, das leistungsfähig, attraktiv und zuverlässig ist, und tragen der

Wichtigkeit neuer grenzüberschreitender Schienenpersonenverkehrsdienste Rech-

nung. In der Präambel wird ausserdem die Möglichkeit erwähnt, die internationalen

425 / 931

Kooperationen fortzusetzen, welche auch mit der Marktöffnung weiterhin möglich

bleiben.

Artikel 1 Absatz 1 des ÄP-LandVA zu Artikel 2 Absatz 2 LandVA (Geltungsbereich)

Das LandVA gilt für den grenzüberschreitenden Strassen- und Schienenverkehr

(Art. 2 LandVA). Dieser Geltungsbereich wird nicht angepasst. Die Vertragsparteien

kamen jedoch überein, in Artikel 2 Absatz 2 LandVA ergänzende Präzisierungen in

Bezug auf den Schienenpersonenverkehr vorzunehmen.

Artikel 2 Absatz 2 erster Satz LandVA wurde nicht geändert. Das LandVA gilt für

den grenzüberschreitenden Schienengüter- und -personenverkehr sowie den grenz-

überschreitenden kombinierten Verkehr.

Innerhalb der Kategorie Schienenpersonenverkehr fallen sowohl der regionale grenz-

überschreitende Verkehr als auch der internationale Fernverkehr grundsätzlich unter

den Geltungsbereich des LandVA. Wo keine explizite Ausnahme formuliert ist, sind

diese Verkehre mit «internationalem Schienenpersonenverkehr» mitgemeint.

Es wurde ein zweiter Satz eingefügt, der klarstellt, dass das LandVA nicht für den

rein inländischen Schienenpersonenverkehr im Schweizer Fern-, Regional- und Nah-

verkehr gilt. Der rein nationale Schienengüterverkehr fällt ebenfalls nicht in den Gel-

tungsbereich des Abkommens, auch wenn dies nicht ausdrücklich erwähnt wird.

Diese Abgrenzung ist bereits in Artikel 2 Absatz 2 erster Satz LandVA enthalten.

Artikel 2 Absatz 2 dritter Satz LandVA soll die vorherige Formulierung präzisieren.

Es ist vorgesehen, dass das LandVA nicht für Eisenbahnunternehmen gilt, die nur

Verkehrsdienste auf eigenständigen örtlichen und regionalen Netzen für Verkehrs-

dienste auf Eisenbahninfrastrukturen oder auf Netzen betreiben, die ausschliesslich

für die Durchführung von Schienenverkehrsdiensten im Stadt- oder Vorortverkehr be-

stimmt sind, auch wenn diese grenzüberschreitend sind. Für solche lokalen Systeme

ist keine Interoperabilität erforderlich, weshalb eine Unterstellung unter das LandVA

nicht zweckmässig wäre. Diese Formulierung stellt keine Änderung gegenüber der

aktuellen Situation dar. Sie soll für Klarheit sorgen, da die bisherige Formulierung

nicht präzise genug war. Unternehmen, welche auf abgeschlossenen Tramnetzwerken

oder nichtinteroperablen Schmalspurnetzen verkehren, fallen somit explizit nicht un-

ter das LandVA, auch nicht, wenn sie grenzüberschreitend tätig sind.

Artikel 1 Absatz 2 des ÄP-LandVA zu Artikel 3 Absatz 2 LandVA (Begriffsbestimmun-

gen)

Artikel 3 Absatz 2 LandVA enthält verschiedene Begriffsbestimmungen in Bezug auf

den Schienenverkehr. Artikel 1 Absatz 2 des ÄP-LandVA führt den Begriff «grenz-

überschreitender Schienenpersonenverkehr» neu ein.

Gemäss dieser Definition, die teilweise auf der Definition des grenzüberschreitenden

Personenverkehrsdiensts in Artikel 3 Absatz 5 der Richtlinie 2012/34/EU beruht, ist

der grenzüberschreitende Schienenpersonenverkehr als ein Personenverkehrsdienst

zu verstehen, bei dem der Zug die Grenze zwischen den Vertragsparteien überquert.

426 / 931

Dies schliesst das Recht ein, Fahrgäste an jedem Bahnhof auf der grenzüberschreiten-

den Strecke aufzunehmen und an einem anderen abzusetzen, auch wenn diese Bahn-

höfe im Gebiet der anderen Vertragspartei liegen, sofern der Hauptzweck des Ver-

kehrsdienstes die grenzüberschreitende Beförderung ist. Auch wenn in der EU der

Hauptzweck des internationalen Verkehrs als Kriterium aufgrund der nationalen

Marktöffnung in der Zwischenzeit aus der Definition ausgeklammert wurde, bleibt

dieses Kriterium im Verhältnis mit der Schweiz für beide Vertragsparteien relevant,

da die Schweiz aufgrund des LandVA – im Gegensatz zu den EU-Mitgliedstaaten –

nicht verpflichtet ist, den nationalen Schienenverkehrsmarkt zu öffnen.

Artikel 1 Absätze 3–5 des ÄP-LandVA zu den Artikeln 7 (Abs. 1 und 2; Technische

Normen), 9 (Abs. 1 und 4; Güterverkehr zwischen den Gebieten der Vertragsparteien)

und 17 (Abs. 3; Für die Verkehrsunternehmer geltende Bedingungen) LandVA

Diese Artikel wurden angepasst und umformuliert, um dem in Artikel 5 Absatz 2 des

IP-LandVA vorgesehenen Mechanismus zur Übernahme von EU-Rechtsakten Rech-

nung zu tragen, wonach das gleiche Ergebnis erzielt werden muss.

Artikel 1 Absatz 6 des ÄP-LandVA zu Artikel 24 LandVA (Zugangsrechte zum Eisen-

bahnfahrweg und Transitrechte)

Artikel 1 Absatz 6 des ÄP-LandVA

enthält Anpassungen von Artikel 24 LandVA

hinsichtlich der Transitrechte und der Zugangsrechte zum Fahrweg

.

Nach Artikel 24 Absatz 1 LandVA haben die Eisenbahnverkehrsunternehmen einer

Vertragspartei einerseits für das Erbringen von grenzüberschreitenden Verkehrsdiens-

ten das Transitrecht und das Zugangsrecht zum Fahrweg der anderen Vertragspartei

unter den Bedingungen des EU-Rechts, auf das in Anhang 1 Abschnitt 4 LandVA

verwiesen wird.

Andererseits sieht ein neuer Absatz 1a für Eisenbahnverkehrsunternehmen einer Ver-

tragspartei das Recht vor, Fahrgäste an jedem Bahnhof auf der grenzüberschreitenden

Strecke aufzunehmen und an einem anderen abzusetzen, sofern der Hauptzweck in

der Beförderung von Fahrgästen vom Gebiet einer Vertragspartei in das Gebiet der

anderen Vertragspartei besteht (Möglichkeit zur Kabotage im Nebenzweck). Es wird

präzisiert, dass die zuständigen Behörden der Vertragsparteien, wie zum Beispiel ein

Schweizer Kanton, oder die betroffenen Eisenbahnunternehmen das BAV im Rahmen

des Prozesses zur Konzessionserteilung ersuchen können, zu bestimmen, ob der

Hauptzweck des Verkehrsdienstes in der Beförderung von Fahrgästen vom Gebiet ei-

ner Vertragspartei in das Gebiet der anderen Vertragspartei besteht. Dieser Haupt-

zweck ist so zu verstehen, dass der grössere Teil der Einnahmen aus der grenzüber-

schreitenden Beförderung der Passagiere resultiert und nicht aus den Beförderungen

innerhalb der anderen Vertragspartei (Kabotage). Eine Verbindung, die primär darauf

abzielt, Passagiere innerhalb der Schweiz zu befördern, jedoch auch über die Grenze

ins benachbarte Ausland führt, würde dieses Kriterium daher nicht erfüllen und

könnte nicht eigenständig durch ein EU-Eisenbahnverkehrsunternehmen angeboten

werden. Dasselbe gilt umgekehrt sinngemäss für Schweizer Eisenbahnverkehrsunter-

nehmen, die Verbindungen in EU-Mitgliedstaaten anbieten wollen (zur Prüfung des

Hauptzweckes durch die RailCom s. Ziff. 2.5.7.1.1).

427 / 931

Damit soll sichergestellt werden, dass solche grenzüberschreitenden Angebote mit

Zwischenhalten nicht primär dazu genutzt werden, den nationalen Markt zu bedienen.

Indem im LandVA festgehalten wird, unter welchen Bedingungen der Marktzugang

im internationalen Schienenpersonenverkehr erfolgt, wird verhindert, dass die künf-

tige Weiterentwicklung des EU-Rechts die Schweiz in diesem Bereich verpflichtet.

Sollte sich ein Widerspruch zu Artikel 24 ergeben, wäre in einer Einzelfallanalyse zu

prüfen, ob die Übernahme mit dem Geltungsbereich und dem Ziel des LandVA ver-

einbar wäre. Ein Beispiel dafür ist das Kriterium des Hauptzwecks, welches zwischen

EU-Mitgliedstaaten seit der nationalen Marktöffnung in der EU nicht mehr gilt, im

Verhältnis zwischen der EU und der Schweiz aber angewendet werden wird.

Zusätzlich zum Hauptzweck gibt es gemäss Richtlinie 2012/34/UE, welche die Rah-

menbedingungen des internationalen Marktzugangs definiert, die Möglichkeit zu prü-

fen, ob durch ein neues Angebot das bestehende bestellte Angebot wirtschaftlich ge-

fährdet sein könnte (Art. 11 Richtlinie 2012/34/EU). Dies wäre gemäss EU-Recht ein

Grund, das neue Angebot nicht zu ermöglichen. Das Schweizer Recht sieht dies be-

reits heute in Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe b Personenbeförderungsgesetz vom 20.

März 2009

398

(PBG) vor (2. Punkt).

Artikel 1 Absatz 7 des ÄP-LandVA zu Artikel 24a LandVA (Ausnahmen von der dyna-

mischen Rechtsübernahme betreffend den Eisenbahnverkehr)

Zur Absicherung der Qualität und der Besonderheiten des schweizerischen Eisen-

bahnverkehrssystems und zur Gewährleistung, dass die Errungenschaften der

Schweiz im öffentlichen Verkehr im Rahmen der Öffnung des Markts für den grenz-

überschreitenden Schienenpersonenverkehr nicht gefährdet werden, haben die Ver-

tragsparteien einige Ausnahmen von der dynamischen Übernahme der EU-Rechtsakte

durch die Schweiz im Bereich des grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehrs

vereinbart (vgl. Art. 5 Abs. 7 des IP-LandVA).

Folgende Ausnahmen von der dynamischen Rechtsübernahme für die Schweiz sind

in Artikel 24

a

LandVA festgehalten:

Absatz 1: Die Schweiz hat die Möglichkeit, Eisenbahnverkehrsunterneh-

men, die grenzüberschreitende Personenverkehrsdienste erbringen, zu ver-

pflichten, sich an der

Tarifintegration

im öffentlichen Verkehr zu beteili-

gen. Das bedeutet, dass Fahrgäste, die die Netze verschiedener öffentlicher

Verkehrsunternehmen benutzen müssen, nur einen einzigen Fahrausweis

benötigen. Wenn im Rahmen der Öffnung des Markts für den grenzüber-

schreitenden Schienenpersonenverkehr ein Eisenbahnverkehrsunternehmen

aus einem EU-Mitgliedstaat einen Dienst in der Schweiz (mit der Möglich-

keit, Fahrgäste an Bahnhöfen auf Schweizer Gebiet aufzunehmen und ab-

zusetzen) als Nebenleistung anbietet, ist es notwendig, dieses Verkehrsun-

ternehmen zur Teilnahme am Tarifintegrationssystem verpflichten zu

können, damit das Funktionieren des öffentlichen Verkehrssystems der

Schweiz weiterhin gewährleistet wird. In der Praxis bedeutet dies, dass das

Eisenbahnverkehrsunternehmen, das einen grenzüberschreitenden Dienst in

398

SR

745.1

428 / 931

der Schweiz betreibt, sich der ASP anschliesst und die Tarife der ASP an-

erkennt, beispielsweise die Abonnemente wie das Generalabonnement oder

das Halbtax (gemäss Art. 16 ff. PBG). Für Fahrgäste in der Schweiz heisst

das, dass sie ihr Schweizer Abonnement oder ihren Fahrausweis verwenden

können, auch dann, wenn sie einen von einem Eisenbahnverkehrsunterneh-

men eines EU-Mitgliedstaats auf Schweizer Gebiet betriebenen Dienst mit

Ein- und Aussteigen in der Schweiz (Kabotage) nutzen. Damit wird verhin-

dert, dass Unternehmen für Verbindungen, die eine Reise innerhalb der

Schweiz ermöglichen, eigene Tickets einführen, die bei anderen Unterneh-

men nicht anerkannt werden. Das System lässt Spartickets oder andere zug-

gebundene Tickets zu. In diesen Fällen kann das Unternehmen die Preise

bis zu einem gewissen Grad selber festlegen, unter den von der Branche

festgelegten Bedingungen, so, wie dies Schweizer Eisenbahnverkehrsunter-

nehmen mit Spartickets bereits heute tun. Als Teil der ASP haben ausländi-

sche Eisenbahnverkehrsunternehmen gleiche Rechte und Pflichten wie

Schweizer Eisenbahnverkehrsunternehmen.

Absatz 2: Auch für die

Schweizer Instrumente für die Kapazitätssicherung

(Netznutzungskonzept (NNK) / Netznutzungspläne (NNP))

wurde eine Aus-

nahme definiert. Diese Ausnahme ist für die Schweiz wichtig. Damit ist

klar, dass die Priorität des vertakteten Personenverkehrs im Sinne der in

NNK und NNP gesicherten Kapazitäten des Personenverkehrs gilt. Der

Schienengüterverkehr hat ebenfalls weiterhin im gleichen Masse die Kapa-

zitäten zur Verfügung, die in den oben erwähnten Schweizer Kapazitätssi-

cherungsinstrumenten festgelegt sind. Die Marktöffnung des internationa-

len Schienenpersonenverkehrs schränkt diese Grundsätze nicht ein.

Unternehmen aus der EU, die grenzüberschreitende Schienenpersonenver-

kehrsdienste in der Schweiz planen und betreiben, werden in den bestehen-

den schweizerischen Konsultationsverfahren im Rahmen der schweizeri-

schen Instrumente zur Kapazitätsbewirtschaftung als interessierte Kreise

behandelt. Das heisst, sie werden gleich behandelt wie schweizerische Un-

ternehmen und können ihre Interessen in Bezug auf die Planung grenzüber-

schreitender Kapazitäten gleichzeitig einbringen.

Absatz 3: Die Schweiz hat die Möglichkeit,

dem Personenverkehr gemäss

dem Taktfahrplan

, der für den Schienenverkehr im ganzen Gebiet der

Schweiz anwendbar ist,

Vorrang einzuräumen

. Dieses Kriterium gilt diskri-

minierungsfrei für die Vergabe von Bahntrassen an Eisenbahnverkehrsun-

ternehmen der Vertragsparteien, die bezüglich Zugfrequenz vergleichbare

Anträge einreichen. Schweizer Eisenbahnverkehrsunternehmen, die im

Taktverkehr fahren, können weiterhin vertaktete Trassen nutzen, um ge-

meinsam mit Kooperationspartnern eine Verbindung anzubieten, die im

Ausland fortgesetzt wird.

Die Gewährleistung eines ausreichenden Angebots an öffentlichem Ver-

kehr ist in der Schweiz gemäss Artikel 81

a

BV Aufgabe des Bundes und

der Kantone. Der Taktfahrplan ist ein zentrales Element, mit dem die öf-

fentliche Hand diesem Auftrag nachkommt: Damit wird in der ganzen

429 / 931

Schweiz auf eine kundenfreundliche und zuverlässige Art und Weise die

Erschliessung mit dem öffentlichen Verkehr und eine optimale Nutzung der

Infrastruktur garantiert. Die Takte einzelner Linien sind aufeinander abge-

stimmt, wodurch gute Umsteigebeziehungen zwischen den Linien resultie-

ren und attraktive Reiseketten entstehen. Bund und Kantone haben denn

auch in den letzten Jahrzehnten viele Investitionen getätigt, um den Takt-

fahrplan zu ermöglichen – und sie investieren in Zukunft so viel wie noch

nie, um dieses Angebot weiter ausbauen zu können. Aufgrund der aktuellen

infrastrukturell bedingten Engpässe und des prognostizierten Mobilitäts-

wachstums sind zum einen diese Investitionen erforderlich, zum anderen

müssen die damit geschaffenen Kapazitäten auch möglichst effizient ge-

nutzt werden, um die prognostizierte Mobilitätsnachfrage bewältigen zu

können. Entsprechend werden die Ausbauten im Schweizer Eisenbahnnetz

langfristig geplant: Die künftig erforderlichen Kapazitäten werden ermittelt

und die dazu erforderlichen minimalen Kapazitäten je Verkehrsart (Perso-

nenfernverkehr, regionaler Personenverkehr und Güterverkehr) werden mit

dem NNK und den NNP wie bisher gesichert.

Mithilfe der Bestellungen des Regionalen Personenverkehrs sowie der

Fernverkehrskonzession, die nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht

enthält, Angebote regelmässig zu fahren, können Bund und Kantone sicher-

stellen, dass die erforderlichen Verkehre auf diesen geplanten Kapazitäten

denn auch gefahren werden.

Die Ausnahme im LandVA, dem vertakteten Verkehr bei der Trassen-

vergabe innerhalb der Kapazitäten für den Personenverkehr Vorrang ein-

räumen zu können, ist ein wichtiges Instrument, um das Ziel, ein ausrei-

chendes Angebot an öffentlichem Verkehr in der Schweiz zu gewährleisten,

erreichen zu können. Damit kann ausgeschlossen werden, dass ausschliess-

lich gewinnorientierte Anbieter einzelne Trassen aus dem Taktfahrplan be-

setzen und so Lücken in den Takt reissen könnten, falls ein Angebot wirt-

schaftlich nicht erfolgreich ist und deshalb eingestellt wird oder regelmässig

mit Verspätung an der Grenze der Schweiz ankommt. Die potentiell nega-

tiven Auswirkungen auf den Schweizer öffentlichen Verkehr können so ver-

mieden werden. Das Kriterium der Frequenz entscheidet, welches Unter-

nehmen berücksichtigt wird, wenn auf der gleichen Strecke mehrere

Unternehmen ein Angebot im Takt anbieten möchten. Möchte ein Unter-

nehmen das Angebot von morgens früh bis abends spät anbieten, ein weite-

res zwar auch ein regelmässiges Angebot, aber nicht in der gleich hohen

Frequenz, so wird demjenigen Unternehmen Vorrang eingeräumt, welches

mehr vertaktete Verkehre auf dieser Strecke über den ganzen Tag anbietet.

Das Unternehmen, welches die tiefere Frequenz anbieten möchte, hat kei-

nen Anspruch, einen Teil des gleichen vertakteten Verkehres zu fahren. Bei

einem ausländischen Unternehmen käme zusätzlich die Bedingung des

Hauptzwecks dazu: Es kann in der Schweiz ausschliesslich Verkehre eigen-

ständig anbieten, welche die grenzüberschreitendende Beförderung als

Hauptzweck haben (vgl. Artikel 24 Absatz 1

a

).

430 / 931

Grenzüberschreitende Angebote von Eisenbahnverkehrsunternehmen aus

EU-Mitgliedstaaten können somit ausserhalb der in den Kapazitätssiche-

rungsinstrumenten gesicherten Kapazitäten für den vertakteten Verkehr ent-

stehen. Das heisst, es wird sich um zusätzliche Angebote zum Taktfahrplan

handeln. Um diese zu ermöglichen, erhalten Anträge für den internationalen

Schienenpersonenverkehr (sowohl von ausländischen als auch von Schwei-

zer Eisenbahnverkehrsunternehmen) für Trassen im jährlichen Fahrplan-

und Trassenbestellverfahren bei den Restkapazitäten in der Schweiz Priori-

tät. Die Zuteilung der Restkapazitäten, bestehend aus freien und freigeblie-

benen Kapazitäten, erfolgt, nachdem alle Verkehre (des Personen- wie des

Güterverkehrs), für die im NNP Kapazitäten gesichert sind, zugeteilt wur-

den. Die Zuteilung in Restkapazitäten erfolgt jeweils für ein Jahr.

Absatz 4: Die Schweiz hat das Recht, in den Genehmigungen und Konzes-

sionen, die Verkehrsunternehmen erteilt werden, nichtdiskriminierende

Bestimmungen über

Sozialstandards

(wie orts- und branchenspezifische

Lohn- und Arbeitsbedingungen) einzuschliessen. Um ein allfälliges Sozial-

dumping zu vermeiden, müssen Eisenbahnverkehrsunternehmen aus EU-

Mitgliedstaaten ebenfalls die schweizerischen Lohn- und Arbeitsbedingun-

gen einhalten, wenn sie auf schweizerischem Gebiet tätig sind. Vor diesem

Hintergrund erarbeitet das BAV unter Einbezug der Sozialpartner eine Wei-

sung zu den Sozialstandards (s. Ziff. 2.5.7.2).

Absatz 5: Die Ausnahme in Bezug auf die

Vorschriften für die Vergabe von

gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen für grenzüberschreitende Schie-

nenpersonenverkehrsdienste im Regional-, Stadt- und Vorortverkehr

sieht

vor, dass die Schweiz einen öffentlichen Dienstleistungsauftrag für denje-

nigen Teil eines grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehrsdienstes

im Regional-, Stadt- und Vorortverkehr, der auf Schweizer Gebiet durchge-

führt wird, weiterhin direkt (d. h. ohne Ausschreibung) vergeben kann. Im

Gegensatz zu den EU-Mitgliedstaaten wären in der Schweiz Ausschreibun-

gen nicht obligatorisch. Der öffentliche Dienstleistungsauftrag kann direkt

entweder an den Betreiber vergeben werden, der den öffentlichen Dienst-

leistungsauftrag im Gebiet der EU erhalten hat, oder an den Betreiber, der

mit dem Eisenbahnverkehrsunternehmen kooperiert, das den öffentlichen

Dienstleistungsauftrag für den Betrieb der Linie im Gebiet der EU erhalten

hat. Die in der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007

399

vorgesehene Ausschrei-

bungspflicht gilt in dieser Situation nicht. Die übrigen Bestimmungen der

Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 finden mit Ausnahme von Artikel 5

a

An-

wendung. Das Vergabeverfahren ist von den zuständigen Behörden im Vo-

raus zu vereinbaren. Diese Ausnahme ist für die Schweiz wichtig, denn in

der EU müssen in Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 auch

regionale grenzüberschreitende Schienenpersonenverkehre seit 2024 im

399

Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Ok-

tober 2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Strasse, Fassung ge-

mäss Art. 1 Abs. 18 Bst. c ÄP-LandVA.

431 / 931

Regelfall ausgeschrieben werden. Dieser Absatz des neuen Artikels 24

a

be-

trifft nicht den Strassenverkehr. Das heisst, für die Vergabe von öffentlichen

Dienstleistungsaufträgen für grenzüberschreitende Personenverkehrs-

dienste mit Bussen gelten die Vorschriften der Verordnung (EG)

Nr. 1370/2007. Die Ausnahme von der Ausschreibungspflicht wird auch im

Beihilfeprotokoll-LandVA gespiegelt (s. Ziff. 2.5.6.4).

Artikel 1 Absatz 8 des ÄP-LandVA zu Artikel 29a LandVA (Beteiligung an der Eisen-

bahnagentur der Europäischen Union)

Auf der Grundlage von Artikel 1 Absatz 8 des ÄP-LandVA wird auf Vorschlag der

Schweiz ein neuer Artikel 29a in das LandVA eingefügt. Mit dieser neuen Bestim-

mung erhält die Schweiz das Recht, sich nach Massgabe von Artikel 75 der Verord-

nung (EU) 2016/796400 an der Arbeit der ERA zu beteiligen, einschliesslich ange-

messenem Zugang zu Datenbanken und Registern. Will die Schweiz künftig von

diesem Recht Gebrauch machen, muss in einer Vereinbarung mit der Agentur insbe-

sondere Art und Umfang der Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der Agentur

im Einzelnen geregelt werden. Diese Vereinbarung würde insbesondere auch Bestim-

mungen zu Finanzbeiträgen und Personalfragen enthalten. Sie kann zudem eine Ver-

tretung der Schweiz ohne Stimmrecht im Verwaltungsrat vorsehen.

Es wird klargestellt, dass die ERA in der Schweiz keine Durchführungsbefugnis hat

und dass die Bestimmungen der Verordnung (EU) 2016/796, die solche Befugnisse

vorsehen, nicht in Anhang 1 LandVA integriert werden. Sollten die Parteien in Zu-

kunft entscheiden, dass der ERA solche Kompetenzen gegeben werden (wie z.B. die

Ausstellung von Fahrzeugzulassungen oder Sicherheitsbescheinigungen für Eisen-

bahnverkehrsunternehmen auch für die Schweiz), müsste der Artikel 29a LandVA

entsprechend angepasst werden.

Am 20. Mai 2015 hatte der Bundesrat ein Verhandlungsmandat verabschiedet, um die

notwendigen Änderungen am LandVA für eine Teilnahme der Schweiz an der ERA

vorzunehmen. Aufgrund der ungeklärten institutionellen Fragen wurden die Gesprä-

che nicht abgeschlossen und es wurden Übergangsmassnahmen auf der Grundlage des

Beschlusses Nr. 2/2019401 vom 13. Dezember 2019 des Landverkehrsausschusses

Gemeinschaft/Schweiz zu den Übergangsmassnahmen zur Aufrechterhaltung eines

reibungslosen Eisenbahnverkehrs zwischen der Schweiz und der Europäischen Union

angewendet. Seitdem wurde dieser Beschluss immer wieder um ein weiteres Jahr ver-

längert. Die EU entschied jedes Jahr aufs Neue, ob sie den Beschluss verlängern sollte,

was die Planungssicherheit für die Unternehmen und die Eisenbahnindustrie der

Schweiz beeinträchtigte. In der Gemeinsamen Erklärung haben die Vertragsparteien

vereinbart, den Beschluss im Intervall von drei Jahren zu verlängern (s. Ziff. 2.5.6.3:

Gemeinsame Erklärung).

Artikel 1 Absatz 9 des ÄP-LandVA zu Artikel 32a LandVA (Ausschluss von Erhöhun-

gen der Strassenkapazität)

400

Verordnung (EU) 2016/796 des Europäischen Parlaments und des Rates vom

11. Mai 2016 über die Eisenbahnagentur der Europäischen Union, Fassung gemäss Art. 1

Abs. 8 ÄP-LandVA.

401

SR

0.740.726

432 / 931

Mit Artikel 1 Absatz 9 des ÄP-LandVA

wird ein neuer Artikel 32

a

ins LandVA ein-

gefügt. Diese Bestimmung betrifft den Ausschluss von Erhöhungen der Strassenka-

pazität, der eine Ausnahme von der dynamischen Rechtsübernahme darstellt (vgl.

Art. 5 Abs. 7 des IP-LandVA).

Mit dieser Ausnahme soll sichergestellt werden, dass neue Infrastrukturen zum Zweck

der Strassensicherheit wie der Bau einer zweiten Strassenröhre durch den Gotthard

nicht als Erhöhung der Strassenkapazität erachtet werden. In der Bestimmung wird

festgehalten, dass die Begrenzung der Strassenkapazität nicht als einseitige mengen-

mässige Beschränkung gilt. Diese Präzisierung steht im Zusammenhang mit Arti-

kel 32 LandVA, der die Grundsätze festlegt, die in der Verkehrspolitik zu beachten

sind. Einer dieser Grundsätze ist die Nichteinführung einseitiger mengenmässiger Be-

schränkungen.

Diese Ausnahme steht im Einklang mit Artikel 84 Absatz 3 der Bundesverfassung

(Eidgenössische Volksinitiative zum Schutze des Alpengebietes vor dem Transitver-

kehr) und der Beschränkung, die im Bundesgesetz vom 17. Juni 1994

402

über den

Strassentransitverkehr im Alpengebiet (Sanierung des Gotthard-Strassentunnels) vor-

gesehen ist. Die Vereinbarkeit dieser Massnahme mit dem LandVA war von der EU

bestätigt worden (Briefwechsel zwischen dem damaligen Verkehrskommissar bzw.

der damaligen Verkehrskommissarin der EU und der damaligen Bundesrätin Doris

Leuthard vom 11.3.2014 und 16.12.2015).

Artikel 1 Absätze 10 und 11 des ÄP-LandVA zu den Artikeln 40 (Massnahmen seitens

der Schweiz) und 42 (Überprüfung der Gebühren) LandVA

Diese Bestimmungen sehen eine Änderung der Artikel 40 und 42 LandVA in Bezug

auf die Gebührenregelung für Kraftfahrzeuge vor. Sie wurden auf Initiative der

Schweiz angepasst. In den Jahren zuvor hatte sich die EU geweigert, diese Bestim-

mungen anzupassen. Eine Anpassung war notwendig, da immer weniger Möglichkei-

ten offenstehen, die Abgabetarife nach Fahrzeugtyp zu differenzieren (Zuwachs der

Anzahl der Fahrzeuge, die nicht in der Formulierung in Art. 40 Abs. 2 enthalten sind).

Die LSVA ist eines der wichtigsten Instrumente der Schweizer Verlagerungspolitik.

Der Schwerverkehr auf der Strasse begleicht im Sinne des Verursacherprinzips die

von ihm verursachten externen Kosten. Es entsteht der notwendige Anreiz, so viele

Güter wie möglich von der Strasse auf die Schiene zu verlagern.

Die bisherigen Artikel 40 und 42 des LandVA enthalten Formulierungen, welche eine

Berücksichtigung von technologischen Entwicklungen bei Schwerverkehrsfahrzeu-

gen auf der Strasse für die langfristige Weiterentwicklung der LSVA verhindern. Dies

betrifft insbesondere den expliziten Verweis auf die EURO-Emissionsnormen als für

die Einteilung in Abgabekategorien massgebende Kriterien gemäss Artikel 40 Absatz

2 LandVA. Eine Berücksichtigung des CO2-Ausstosses von Fahrzeugen ist beispiels-

402

SR

725.14

433 / 931

weise heute nicht möglich, während die EU ihrerseits eine solche Differenzierung be-

reits 2022 mit der revidierten Eurovignetten-Richtlinie

403

eingeführt hat. Genauso we-

nig wäre heute eine Ausgestaltung der LSVA mit mehr oder weniger als drei Abga-

bekategorien möglich, da Artikel 40 Absatz 2 LandVA die Anzahl Abgabekategorien

bereits verbindlich festlegt. Ohne Anpassung würden die Verlagerungswirkung der

LSVA über die Zeit nachlassen und die Einnahmen sinken. Um die Ziele der Schwei-

zer Verlagerungspolitik auch langfristig weiterverfolgen zu können, bedarf es mehr

Flexibilität.

Die revidierten Artikel 40 und 42 LandVA sind bewusst technologieoffen formuliert.

Sie ermöglichen es der Schweiz in Zukunft, die Kriterien, nach denen die Fahrzeuge

in die Abgabekategorien der LSVA eingeteilt werden, an die technologischen Ent-

wicklungen in der Fahrzeugindustrie anzupassen. Mit der neuen Formulierung von

Artikel 40 Absatz 2 können emissionsbasierte Kriterien (bspw. CO2-Emissionen des

Fahrzeugs) eingeführt werden. Verbrauchsbasierte Kriterien (bspw. Energieeffizienz)

können künftig mit einem Beschluss des Gemischten Ausschusses des Landverkehrs-

abkommens für die Differenzierung der Abgabekategorien eingeführt werden.

Sollte die Möglichkeit der Weiterentwicklung der LSVA zu Anpassungen der

Schweizer Gesetzgebung (primär der Verordnung vom 27. März 2024

404

über die

Schwerverkehrsabgabe (Schwerverkehrsabgabeverordnung; SVAV) sowie allenfalls

des Bundesgesetz vom 19. Dezember 1997

405

über eine leistungsabhängige Schwer-

verkehrsabgabe (Schwerverkehrsabgabegesetz; SVAG)) führen, so unterstünden

diese Anpassungen weiterhin den nationalen Gesetzgebungsprozessen der Schweiz.

Der Bundesrat hat am 28. Mai 2025 die Botschaft zur Weiterentwicklung der LSVA

zuhanden des Parlaments verabschiedet, die unabhängig von der Anpassung der Arti-

kel 40 und 42 LandVA ist.

Weiter wurden in Artikel 40, 42 und in Anhang 10 diverse überholte Übergangsbe-

stimmungen entfernt, welche heute und in Zukunft nicht mehr relevant sind. Gleich-

zeitig bleiben mehrere Regelungen in diesen beiden Artikeln unverändert.

Artikel 1 Absatz 12 des ÄP-LandVA zu Artikel 46 Absatz 1 LandVA (Einseitige

Schutzmassnahmen)

Aufgrund der Änderung von Artikel 40 LandVA müssen auch die Verweise auf diese

Bestimmung in Artikel 46 Absatz 1 LandVA angepasst werden.

Artikel 1 Absatz 13 des ÄP-LandVA zu Artikel 51 LandVA (Gemischter Ausschuss)

Artikel 51 LandVA, mit dem der Gemischte Ausschuss des LandVA eingesetzt wird,

wird aufgrund der neuen Mechanismen, die durch das IP-LandVA eingeführt wurden,

403

Richtlinie 1999/62/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 1999

über die Erhebung von Gebühren für die Benützung bestimmter Verkehrswege durch

schwere Nutzfahrzeuge, ABl. L 187 vom 20. Juli 1999, S. 42; zuletzt geändert durch

Richtlinie (EU) 2022/362, ABl. L 69 vom 4.3.2022, S. 1.

404

SR

641.811

405

SR

641.81

434 / 931

angepasst. Die im IP-LandVA (s. Ziff. 2.1.6.7) vorgesehenen Anpassungen zielen da-

rauf ab, die Bestimmungen über die Zuständigkeiten des Gemischten Ausschusses,

die in den bilateralen Abkommen dieses Pakets enthalten sind, so weit wie möglich

zu harmonisieren. Am Inhalt der Bestimmung ändert sich jedoch nichts. Damit entfällt

die bisherige Bezeichnung des Gemischten Ausschusses als «Gemischter Landver-

kehrsausschuss Gemeinschaft/Schweiz».

Artikel 1 Absatz 14 des ÄP-LandVA zu Artikel 53 LandVA (Berufsgeheimnis)

Die Überschrift von Artikel 53 LandVA wird angepasst. Der Begriff «Vertraulich-

keit» wird durch den Begriff «Berufsgeheimnis» ersetzt, der dem Inhalt dieser Be-

stimmung besser entspricht.

Artikel 1 Absatz 15 des ÄP-LandVA zu Artikel 53a LandVA (Verschlusssachen und

vertrauliche, nicht als Verschlusssache eingestufte Informationen)

Nach Artikel 53 wird ein neuer Artikel 53a in das LandVA eingefügt, der den Um-

gang mit vertraulichen Informationen betrifft. Der neue Artikel 53a sieht vor, dass die

Vertragsparteien etwaige Verschlusssachen gemäss dem Abkommen vom 28. Ap-

ril 2008 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen

Union über die Sicherheitsverfahren für den Austausch von Verschlusssachen austau-

schen. Ausserdem wird mit diesem Artikel der Gemischte Ausschuss beauftragt, in

einem zu diesem Zweck gefassten Beschluss Handlungsanweisungen zum Schutz der

sensiblen Informationen festzulegen.

Artikel 1 Absatz 16 des ÄP-LandVA zu Artikel 55 LandVA (Revision)

Artikel 1 Absatz 16 des ÄP-LandVA sieht eine Anpassung von Artikel 55 LandVA

in Bezug auf die Revision des LandVA vor. Diese Anpassungen des Wortlauts hängen

mit den Änderungen durch das IP-LandVA und den Änderungen in Artikel 51

LandVA zusammen.

Artikel 1 Absatz 17 des ÄP-LandVA zu Artikel 57 LandVA (Räumlicher Geltungsbe-

reich)

Mit Artikel 1 Absatz 17 des ÄP-LandVA wird der Wortlaut von Artikel 57 LandVA

zum räumlichen Geltungsbereich angepasst. Der Verweis auf den Vertrag zur Grün-

dung der Europäischen Gemeinschaft wird durch den Verweis auf den Vertrag über

die Europäische Union und den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen

Union ersetzt.

Artikel 1 Absatz 18 des ÄP-LandVA zu Anhang 1 LandVA (Anwendbare Bestimmun-

gen)

Gemäss Artikel 1 Absatz 18 des ÄP-LandVA werden zwei einleitende Absätze in An-

hang 1 LandVA eingefügt, die den bestehenden Einleitungssatz ersetzen (s. dazu auch

die Erläuterungen in Ziff. 2.3.1.1).

Nach Absatz 1 muss die Schweiz zu den im Anhang 1 LandVA aufgeführten EU-

Rechtsakten äquivalentes schweizerisches Recht schaffen (s. den Verweis auf Art. 5

des IP-LandVA), soweit diese Rechtsakte in den Geltungsbereich des Abkommens

fallen. So muss die Schweiz beispielsweise kein äquivalentes Recht für rein nationale

435 / 931

Verkehre schaffen, auch wenn Bestimmungen der in Anhang 1 aufgeführten EU-

Rechtsakte in den EU-Mitgliedstaaten auf rein nationale Verkehre zur Anwendung

gelangen. Gleich verhält es sich bei den Ausnahmen: Bestimmungen der in Anhang 1

aufgeführten EU-Rechtsakte, die in den Anwendungsbereich einer Ausnahme nach

Artikel 5 Absatz 7 des IP-LandVA fallen, unterliegen nicht der dynamischen Rechts-

übernahme. Folglich muss die Schweiz für solche Bestimmungen kein äquivalentes

Recht schaffen (s. letzter Teilsatz von Absatz 1). Aufgrund der Regelung in Absatz 1

ist es nicht erforderlich, technische Anpassungen betreffend den Geltungsbereich des

LandVA und die Ausnahmen von der dynamischen Rechtsübernahme bei den im An-

hang 1 LandVA aufgeführten EU-Rechtsakten vorzunehmen.

Sofern in technischen Anpassungen nichts anderes bestimmt ist, gelten gemäss Ab-

satz 2 die Rechte und Pflichten der EU-Mitgliedstaaten, die in den in Anhang 1

LandVA aufgeführten EU-Rechtsakten vorgesehen sind, auch für die Schweiz, unter

Einhaltung des IP-LandVA (s. Ziff. 2.1.6.7). Damit wird sichergestellt, dass die

Schweiz die gleichen Rechte wie die EU-Mitgliedstaaten hat und nicht als «Drittstaat»

schlechter gestellt werden kann. Diese Regelung kommt naturgemäss ausserhalb des

Geltungsbereichs des Abkommens nicht zur Anwendung. So gelten beispielsweise

Rechte und Verpflichtungen für rein nationale Verkehre in den im Anhang 1 aufge-

führten EU-Rechtsakten für die Schweiz nicht.

Die Regelung in Absatz 2 ist unter vollständiger Einhaltung des IP-LandVA anzu-

wenden. Nach dem in Artikel 5 Absatz 2 des IP-LandVA festgelegten Äquivalenz-

prinzip (gleiches Ergebnis – auch wenn die Schweiz unter Umständen einen unter-

schiedlichen Ansatz für das Erreichen eines Ziels wählt) muss die Schweiz die in

Anhang 1 LandVA aufgeführten Rechtsakte nicht als solche anwenden, sondern die

gleichen Ergebnisse erzielen. Die Schweiz hat in der Vergangenheit teilweise andere

Massnahmen getroffen, um das von den EU-Rechtsakten vorgegebene Ziel zu errei-

chen. Die Europäische Kommission hat diese Massnahmen vor der Integration der

EU-Rechtsakte in den Anhang 1 LandVA geprüft und die Umsetzung der Schweiz als

äquivalent bestätigt. Auch wenn diese Prüfung in Zukunft entfällt, gilt weiterhin der

Grundsatz, dass die Schweiz im Hinblick auf die Erreichung der in den EU-

Rechtsakten vorgegebenen Ziele über einen gewissen Spielraum verfügt. Daher sind

bei den in Anhang 1 aufgeführten EU-Rechtsakten keine technischen Anpassungen

erforderlich, wenn die Schweiz Massnahmen trifft, die von den Massnahmen im EU-

Recht abweichen, aber dessen Ziele erreichen.

Darüber hinaus ist im Kontext der technischen Anpassungen und dem hier erläuterten

Absatz 2 auch der Zwei-Pfeiler-Ansatz gemäss Artikel 8 Absatz 2 und 4 des IP-

LandVA relevant für die Anwendung der in den Anhang 1 LandVA integrierten EU-

Rechtsakte wichtig: Grundsätzlich ist jede Vertragspartei auf ihrem Territorium für

die Anwendung der Abkommen zuständig (Art. 8 Abs. 2 IP-LandVA). Zudem haben

EU-Institutionen nur dann Überwachungskompetenzen in Bezug auf die Schweiz,

wenn das Abkommen dies explizit vorsieht (Art. 8 Abs. 4 IP-LandVA). Im Landver-

kehrsabkommen sind keine Überwachungskompetenzen von EU-Institutionen in Be-

zug auf die Schweiz explizit vorgesehen. Das bedeutet, wenn ein in den Anhang inte-

grierter EU-Rechtsakt eine Überwachung der EU-Mitgliedstaaten durch die EU-

436 / 931

Institutionen vorsieht (beispielswiese gestützt auf an die EU verpflichtend einzu-

reichende Berichte), gilt dies nicht für die Schweiz. Entsprechend sind keine techni-

schen Anpassungen erforderlich, um diese Unterschiede bei der Umsetzung im Detail

darzustellen. Dennoch können entsprechende Informationen im Gemischten Aus-

schuss des LandVA ausgetauscht werden (Art. 8 Abs. 1 IP-LandVA). Das ist heute

schon Praxis.

Aufgrund dieser Rechtslage haben die Vertragsparteien weitgehend darauf verzichtet,

technische Anpassungen aufzunehmen. Bereits gefasste Beschlüsse des Gemischten

Ausschusses, die Hinweise zur Anwendung bestimmter EU-Rechtsakte enthalten,

wurden aus Gründen der Transparenz als technische Anpassungen aufgenommen.

So werden gemäss Artikel 1 Absatz 18 Buchstabe b Ziffern iii bis viii des ÄP-LandVA

bei den folgenden Rechtsakten Verweise auf bestehende Beschlüsse des Gemischten

Ausschusses des LandVA respektive deren Inhalt eingefügt: Richtlinien

2007/59/EG

406,

(EU) 2016/797

407,

(EU) 2016/798

408

und Durchführungsverordnun-

gen (EU) 2018/545

409

, (EU) 2018/763

410

, (EU) 2019/250

411

. Gemäss Artikel 1 Ab-

satz 18 Buchstabe b Ziffer ii des ÄP-LandVA werden bestimmte EU-Rechtsakte, die

in Anhang 1 LandVA aufgeführt sind, aus diesem Anhang gestrichen, da sie in der

EU aufgehoben wurden.

Gemäss Artikel 1 Absatz 18 Buchstabe b Ziffer i des ÄP-LandVA werden die folgen-

den Rechtsakte in Anhang 1 Abschnitt 4 LandVA eingefügt:

406

Richtlinie 2007/59/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007

über die Zertifizierung von Triebfahrzeugführern, die Lokomotiven und Züge im Eisen-

bahnsystem in der Gemeinschaft führen, Fassung gemäss Art. 1 Abs. 18 Bst. b Ziff. iii ÄP-

LandVA.

407

Richtlinie (EU) 2016/797 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016

über die Interoperabilität des Eisenbahnsystems in der Europäischen Union (Neufassung),

Fassung gemäss Art. 1 Abs. 18 Bst. b Ziff. iv des Änderungsprotokolls zum LandVA.

408

Richtlinie (EU) 2016/798 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016

über Eisenbahnsicherheit (Neufassung), Fassung gemäss Art. 1 Abs. 18 Bst. b Ziff. v ÄP-

LandVA.

409

Durchführungsverordnung (EU) 2018/545 der Kommission vom 4. April 2018 über die

praktischen Modalitäten für die Genehmigung für das Inverkehrbringen von Schienenfahr-

zeugen und die Genehmigung von Schienenfahrzeugtypen gemäss der Richtlinie

(EU) 2016/797 des Europäischen Parlaments und des Rates, Fassung gemäss Art. 1

Abs. 18 Bst. b Ziff. vi ÄP-LandVA.

410

Durchführungsverordnung (EU) 2018/763 der Kommission vom 9. April 2018 über die

praktischen Festlegungen für die Erteilung von einheitlichen Sicherheitsbescheinigungen

an Eisenbahnunternehmen gemäss der Richtlinie (EU) 2016/798 des Europäischen Parla-

ments und des Rates und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 653/2007 der Kommis-

sion, Fassung gemäss Art. 1 Abs. 18 Bst. b Ziff. vii ÄP-LandVA.

411

Durchführungsverordnung (EU) 2019/250 der Kommission vom 12. Februar 2019 über die

Muster der EG-Erklärungen und -Bescheinigungen für Eisenbahn-Interoperabilitätskom-

ponenten und -Teilsysteme, das Muster der Typenkonformitätserklärung für Schienenfahr-

zeuge und über die EG-Prüfverfahren für Teilsysteme gemäss der Richtlinie

(EU) 2016/797 des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Ver-

ordnung (EU) Nr. 201/2011 der Kommission, Fassung gemäss Art. 1 Abs. 18 Bst. b

Ziff. viii ÄP-LandVA.

437 / 931

Richtlinie 2012/34/EU zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahn-

raums: Diese Richtlinie ist eine Neufassung der ersten Eisenbahnpakete (hauptsäch-

lich 1. und 3. Paket). Sie enthält unter anderem das Element der Marktöffnung aus

dem dritten Eisenbahnpaket. Die Aufnahme dieser Richtlinie in das LandVA bedeu-

tet, dass im Rahmen der in den Absätzen 1–4 des neuen Artikels 24a LandVA vorge-

sehenen Ausnahmen Verkehrsunternehmen aus der EU eigenständig einen grenzüber-

schreitenden Dienst in der Schweiz anbieten können, sofern der Hauptzweck

weiterhin die grenzüberschreitende Personenbeförderung ist, und umgekehrt Schwei-

zer Eisenbahnverkehrsunternehmen Zugang zum Markt der EU-Mitgliedstaaten ha-

ben. Kooperationen bleiben jedoch gemäss der Gemeinsamen Erklärung der Vertrags-

parteien weiterhin möglich.

Delegierter Beschluss (EU) 2017/2075

412:

Dieser Delegierte Beschluss steht in direk-

tem Zusammenhang mit der Richtlinie 2012/34/EU und wurde von der Schweiz äqui-

valent umgesetzt.

Durchführungsverordnung (EU) 2016/545

413

über Verfahren und Kriterien in Bezug

auf Rahmenverträge für die Zuweisung von Fahrwegkapazität: Diese Durchführungs-

verordnung steht in direktem Zusammenhang mit der Richtlinie 2012/34/EU und

wurde von der Schweiz äquivalent umgesetzt.

Verordnung (EU) Nr. 913/2010

414

zur Schaffung eines europäischen Schienennetzes

für einen wettbewerbsfähigen Güterverkehr: Die Schweiz hat diese Verordnung vor

Jahren umgesetzt, deren Äquivalenz wurde jedoch nie festgestellt, weshalb sie bis an-

hin nicht in den Anhang 1 integriert werden konnte.

Gemäss Artikel 1 Absatz 18 Buchstabe c des ÄP-LandVA wird folgender Rechtsakt

in Anhang 1 Abschnitt 5 LandVA eingefügt:

Die Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf

Schiene und Strasse (PSO-Verordnung) steht in engem Zusammenhang mit der in der

Richtlinie 2012/34/EU vorgesehenen Öffnung des Markts für den grenzüberschrei-

tenden Schienenpersonenverkehr. In der Verordnung wird festgelegt, unter welchen

Bedingungen die zuständigen Behörden den Betreibern eines öffentlichen Dienstes

eine Ausgleichsleistung für die ihnen durch die Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen

Verpflichtungen verursachten Kosten und/oder ausschliessliche Rechte im Gegenzug

für die Erfüllung solcher Verpflichtungen gewähren, wenn sie ihnen gemeinwirt-

schaftliche Verpflichtungen auferlegen oder entsprechende Aufträge vergeben. Für

den grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehr wird die Verordnung (EG)

412

Delegierter Beschluss (EU) 2017/2075 der Kommission vom 4. September 2017 zur Erset-

zung des Anhangs VII der Richtlinie 2012/34/EU des Europäischen Parlaments und des Ra-

tes zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums, Fassung gemäss Art. 1

Abs. 18 Bst. b Ziff. i ÄP-LandVA.

413

Durchführungsverordnung (EU) 2016/545 der Kommission vom 7. April 2016 über Verfah-

ren und Kriterien in Bezug auf Rahmenverträge für die Zuweisung von Fahrwegkapazität,

Fassung gemäss Art. 1 Abs. 18 Bst. b Ziff. i ÄP-LandVA.

414

Verordnung (EU) Nr. 913/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Sep-

tember 2010 zur Schaffung eines europäischen Schienennetzes für einen wettbewerbsfähi-

gen Güterverkehr, Fassung gemäss Art. 1 Abs. 18 Bst. b Ziff. i ÄP-LandVA.

438 / 931

Nr. 1370/2007 unter den im neuen Artikel 24a Absatz 5 LandVA festgelegten Bedin-

gungen, mit Ausnahme der Artikel 5 und 5a, die die Vergabe öffentlicher Dienstleis-

tungsaufträge beziehungsweise das Eisenbahn-Rollmaterial betreffen, übernommen.

Die Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 gilt auch für den grenzüberschreitenden Perso-

nenverkehr mit Bussen. Mit dieser Übernahme in das LandVA wird die Verordnung

jedoch für nationale Bestellverfahren keine Anwendung finden, da ausschliesslich na-

tionale Verkehre nicht unter das LandVA fallen.

Artikel 1 Absatz 19 des ÄP-LandVA zu Anhang 10 LandVA (Anwendungsmodalitä-

ten für die Gebühren gemäss Artikel 40)

Aufgrund der Änderung von Artikel 40 LandVA ist eine Anpassung von Anhang 10

erforderlich.

Artikel 2 des ÄP-LandVA

In dieser Bestimmung wird das Verfahren für die Ratifikation und das Inkrafttreten

des ÄP-LandVA festgelegt. Das Inkrafttreten des ÄP-LandVA ist an das Inkrafttreten

des Stabilisierungsteils des Pakets geknüpft.

2.5.6.3

Gemeinsame Erklärung

In einer Gemeinsamen Erklärung drücken die Vertragsparteien ihr gemeinsames Ver-

ständnis in unterschiedlichen Bereichen aus.

Im ersten Absatz bekräftigen sie, dass die EU unabhängige nationale Trassenverga-

bestellen anerkennt, wie dies auch im LandVA vorgesehen ist (Art. 27 Abs. 1

LandVA). Die EU bestätigt damit, dass sie keine Absicht hat, die Trassenvergabe in

Zukunft zu zentralisieren. Ausserdem besagt Artikel 27 Absatz 1 LandVA bereits

heute explizit, dass jede Vertragspartei ihre Trassenvergabestelle benennt. Sollte die

EU das ändern wollen, bräuchte es eine Anpassung des LandVA, womit beide Par-

teien einverstanden sein müssten.

Ebenfalls wird in dieser Gemeinsamen Erklärung festgestellt, dass die operativen Ab-

läufe bei den Infrastrukturbetreiberinnen sind und auch in Zukunft bleiben. Im Fall

von verspäteten Zügen, die Richtung Schweiz fahren, ist es an der Infrastrukturbetrei-

berin zu entscheiden, ob kurzfristig eine alternative Trasse zur Verfügung gestellt

werden kann, oder ob der Zug an der Grenze gewendet werden muss. Mit dieser Zu-

ständigkeit kann die hohe Qualität auf dem Schweizer Netz gewährleistet werden und

Verspätungen werden nicht importiert. Der nationale Taktfahrplan wird somit nicht

eingeschränkt. Die bisherige Praxis bei Zugverspätungen kann demnach beibehalten

werden.

In einem zweiten Absatz bestätigen beide Seiten, dass Kooperationen zwischen

Schweizer und EU-Eisenbahnverkehrsunternehmen erlaubt sind und dass deren An-

gebote auch im Taktfahrplan verkehren dürfen. Die EU bekräftigt damit, dass sie nicht

beabsichtigt, an dieser Situation in Zukunft etwas zu ändern. Auch hier kann die bis-

herige Praxis demnach beibehalten werden.

Gemäss dem dritten Absatz streben beide Seiten an, die Übergangsmassnahmen des

Beschlusses Nr. 2/2019 zur Zusammenarbeit mit der ERA und zur Aufrechterhaltung

eines reibungslosen Eisenbahnverkehrs zwischen der Schweiz und der EU künftig im

439 / 931

Intervall von drei Jahren (statt wie anhin jährlich) zu verlängern. Dies wirkt sich po-

sitiv auf die Rechtssicherheit der verschiedenen Akteure in der Schweiz sowie in der

EU aus.

2.5.6.4

Protokoll über staatliche Beihilfen

Das Beihilfeprotokoll-LandVA wird in Ziffer 2.2 dieser Vernehmlassungsvorlage nä-

her erläutert. Die völkerrechtlichen Beihilfebestimmungen regeln einerseits das direkt

anwendbare materielle Beihilfeverbot mit diversen ebenfalls direkt anwendbaren

Ausnahmen, andererseits die Grundpfeiler des Überwachungsverfahrens. Im Folgen-

den werden nur die spezifischen Aspekte des Beihilfeprotokolls mit Bezug zum

LandVA erläutert.

Die im Beihilfeprotokoll-LandVA vorgesehenen Pflichten gelten nur für Beihilfen,

die Unternehmen für Tätigkeiten gewährt werden, die unter den in Artikel 2 LandVA

festgelegten Geltungsbereich des Abkommens fallen (s. Ziff. 2.2.5.3). Auf den rein

inländischen Landverkehr finden diese Pflichten daher keine Anwendung.

Das Beihilfeprotokoll-LandVAsieht Ausnahmen vom grundsätzlichen Verbot der Ge-

währung von Beihilfen durch die Schweiz vor. Dies sind zum einen die Ausnahmen

nach Artikel 3 Absätze 2 und 3 des Protokolls. Für den Landverkehr ist vor allem

Artikel 3 Absatz 2 Buchstabe c des Protokolls von Bedeutung, der vorsieht, dass Bei-

hilfen, die den Erfordernissen der Koordinierung des Verkehrs oder der Abgeltung

bestimmter, mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes zusammenhängender Leistun-

gen entsprechen, zulässig sind. Letztere Bestimmung entspricht Artikel 93 des Ver-

trags über die Arbeitsweise der EU (AEUV). Zum anderen sieht Anhang I des Proto-

kolls über staatliche Beihilfen ein Ausnahmesystem vor. So wurde gemäss Artikel 3

Absatz 2 Buchstabe d des Protokolls in Anhang I ein Abschnitt A eingefügt, aus dem

die Beihilfen ersichtlich sind, die die Vertragsparteien als mit dem Binnenmarkt ver-

einbar ansehen. Zudem wurde gemäss Artikel 3 Absatz 3 Buchstabe e des Protokolls

ein Abschnitt B in Anhang I aufgenommen, der die Beihilfen nennt, die von den Ver-

tragsparteien als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können. Gegen-

wärtig enthalten diese beiden Abschnitte keine Beihilfen. Der Gemischte Ausschuss

des LandVA kann sie in Zukunft aber ergänzen. Des Weiteren sieht Artikel 3 Absatz 4

des Protokolls über staatliche Beihilfen vor, dass Beihilfen, die nach Anhang I Ab-

schnitt C gewährt werden, als mit dem Binnenmarkt vereinbar gelten und von der No-

tifizierungspflicht befreit werden. Abschnitt C (Gruppenfreistellungen) enthält einen

Verweis auf die Kapitel I und III der Verordnung (EU) Nr. 651/2014 zur Feststellung

der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Binnenmarkt sowie auf

Artikel 9 der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007, die mit dem Änderungsprotokoll in

Anhang 1 LandVA aufgenommen wird. Demnach gilt eine gemäss dieser Verordnung

gewährte Ausgleichsleistung für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen beim Betrieb

öffentlicher Personenverkehrsdienste als mit dem Binnenmarkt vereinbar. Diese Aus-

gleichsleistungen sind zudem von der Pflicht zur vorherigen Anmeldung freigestellt.

Der erwähnte Artikel 9 findet jedoch nur gemäss neuem Artikel 24

a

Absatz 5 LandVA

Anwendung (s. Ziff. 2.5.6.2). Das bedeutet, eine Abgeltung, die die übrigen Voraus-

setzungen der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 erfüllt, ist auch dann mit dem Binnen-

440 / 931

markt vereinbar und von der vorgängigen Anmeldung freigestellt, wenn keine Aus-

schreibung durchgeführt wird. Auch im Landverkehr gilt gemäss Artikel 3 Absatz 6

des Beihilfeprotokolls die in Abschnitt D festgehaltene De-minimis-Schwelle für Bei-

hilfen.

Anhang II des Beihilfeprotokolls-LandVAlistet in Abschnitt A Punkt 1 die in der EU

im Rahmen des Protokolls anwendbaren Rechtsakte auf. In Abschnitt A Punkt 2 wird

anschliessend festgehalten, dass die Schweiz ein Überwachungssystem errichtet und

beibehält, das dem in der EU gemäss den unter Buchstabe a genannten Rechtsakten

angewendeten System gleichwertig ist. Für den Landverkehr relevant ist auch hier die

erwähnte Verordnung (EG) Nr. 1370/2007.

Aktuell sind keine Beihilfen zu Gunsten des Personen- und Güterverkehrs bekannt,

die in den Geltungsbereich des LandVA fallen. Die Förderung des Service public

(d. h. des inländischen bzw. regionalen Personenverkehrs) und des Schienengüterver-

kehrs (national sowie alpenquerend) kann auch unter Einhaltung der Pflichten im Pro-

tokoll über staatliche Beihilfen weitergeführt werden. Die Finanzierung der Eisen-

bahninfrastruktur (Betrieb, Substanzerhalt und Ausbau) ist von den Beihilferegeln

nicht erfasst. Und schliesslich sind im Strassengüterverkehr keine konkreten staatli-

chen Unterstützungsmassnahmen bekannt.

Eine abschliessende Beurteilung der bestehenden Beihilferegelungen im Landverkehr

und deren Vereinbarkeit mit dem Beihilfeprotokoll wird durch die Schweizer Über-

wachungsbehörde und bei allfälligen Beschwerden gegen zukünftige Umsetzungsbei-

hilfen durch die Schweizer Gerichte erfolgen (s. Erläuterungen zum 6. Kapitel VE-

BHÜG in Ziff. 2.2.7).

2.5.7

Grundzüge des Umsetzungserlasses

Die Änderungen, welche am LandVA vorgenommen werden, verlangen gesetzliche

Anpassungen des EBG sowie des PBG. Die Anpassungen dienen einerseits der Um-

setzung von sich unmittelbar aus dem LandVA ergebenden Verpflichtungen der

Schweiz (namentlich Art. 1 Abs. 6 und 7 des ÄP-LandVA) sowie andererseits der

Umsetzung von in Anhang 1 des LandVA aufgenommenen Rechtsakten der EU (Art.

1 Abs. 18 des ÄP-LandVA).

Die Umsetzung des Protokolls über staatliche Beihilfen durch das neue Beihilfeüber-

wachungsgesetz (BHÜG) wird in Ziffer 2.2 erläutert (s. insb. Ziff. 2.2.6 und 2.2.7). In

Bezug auf die Sozialstandards sind Begleitmassnahmen vorgesehen.

2.5.7.1

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des

Umsetzungserlasses

2.5.7.1.1

Eisenbahngesetz (EBG)

Art. 9b Abs. 4 letzter Satz

Gemäss Artikel 24

a

Absatz 3 LandVA (Art. 1 Abs. 7

ÄP-LandVA

, s. Ziff. 2.5.6.2)

geniessen in der Schweiz Anträge für grenzüberschreitenden Schienenpersonenver-

kehr sowohl von EU- als auch von Schweizer Eisenbahnverkehrsunternehmen für

441 / 931

Trassen im jährlichen Fahrplan- und Trassenbestellverfahren bei den Restkapazitäten

(bestehend aus freien und freigebliebenen Kapazitäten des Personen- wie des Güter-

verkehrs)

Priorität. Artikel 9

b

Absatz 4 EBG hält heute für die freie Kapazität, d.h.

nicht im NNP gesicherte Kapazität, den Grundsatz fest, wonach der vertaktete Perso-

nenverkehr bei der Trassenzuteilung Vorrang hat. Der Bundesrat kann schon heute

Ausnahmen von dieser Priorität unter Berücksichtigung volkswirtschaftlicher und

raumplanerischer Anliegen vorsehen. Die vorgeschlagene Ergänzung («sowie völker-

rechtlicher Verpflichtungen») schafft die ausdrückliche Grundlage und bildet die Ver-

bindung zwischen der neu im LandVA verankerten Prioritätenordnung und der Kom-

petenz des Bundesrates, von diesem Grundsatz ausnahmsweise abzusehen. Für die

freigebliebene Kapazität, d.h. im NNP gesicherte, aber nicht bestellte Kapazität, kennt

das EBG hingegen bereits heute keine Prioritätenordnung. Es liegt deshalb in der

Kompetenz des Bundesrates als Verordnungsgeber, eine allfällige Prioritätenordnung

auf Verordnungsstufe vorzusehen, um der Verpflichtung aus dem LandVA nachzu-

kommen.

Art. 40a

ter

Abs. 2

bis

Der neue Artikel 24 Absatz 1

a

LandVA (Art. 1 Abs. 6 ÄP-LandVA) gewährt EU-

Eisenbahnverkehrsunternehmen das Recht, im Rahmen von grenzüberschreitenden

Angeboten auch innerhalb der Schweiz mehrere Haltestellen zu bedienen (s. Ziff.

2.5.6.2). Dies unter der Voraussetzung, dass der Hauptzweck dieses Angebots in der

Beförderung von Personen zwischen dem Gebiet eines EU-Mitgliedstaates und der

Schweiz liegt. Zuständigen Schweizer Behörden sowie betroffenen Eisenbahnver-

kehrsunternehmen soll das Recht zukommen, den Hauptzweck eines solchen Ange-

bots auf ihren Antrag hin überprüfen zu lassen. Die Überprüfung hat durch die zustän-

dige Schweizer Regulierungsbehörde zu erfolgen. Kommt diese zum Schluss, dass

das Erfordernis des Hauptzwecks nicht erfüllt ist, so kann einem Eisenbahnverkehrs-

unternehmen mit Sitz in einem EU-Mitgliedstaates der Netzzugang in der Schweiz

verweigert werden.

Mit dem neuen Absatz 2

bis

erhält die RailCom als zuständige Regulierungsbehörde

der Schweiz die dafür notwendigen Kompetenzen. Die RailCom wird dabei aus-

schliesslich auf Antrag des BAV, eines betroffenen Kantons als Besteller oder eines

betroffenen Eisenbahnverkehrsunternehmens tätig. Ein Eisenbahnverkehrsunterneh-

men ist typischerweise dann betroffen, wenn es ein bestehendes, konzessioniertes

(und allenfalls bestelltes) Angebot des nationalen Verkehrs betreibt, mit welchem das

grenzüberschreitende Angebot eines EU-Eisenbahnverkehrsunternehmens in Kon-

kurrenz tritt. Der Antrag zur Beurteilung kann bspw. im Rahmen der Konzessionser-

teilung für das neue grenzüberschreitende Angebot gestellt werden. Erfolgt der Antrag

in der Anhörung des Konzessionsverfahrens, so hat das BAV den Antrag an die zu-

ständige RailCom weiterzuleiten. Der Antrag kann jedoch auch während einer bereits

laufenden Konzession gestellt werden, sollte sich namentlich die Sachlage so geändert

haben, dass der notwendige Hauptzweck angezweifelt werden kann. Die Beurtei-

lungskriterien für die Erfüllung des Hauptzweckes sind vom Bundesrat auf Verord-

442 / 931

nungsstufe (voraussichtlich in der Eisenbahn-Netzzugangsverordnung vom 25. No-

vember 1998

415

) zu definieren. Die EU hatte die Bewertungskriterien in der Durch-

führungsverordnung (EU) Nr. 869/2014

416

festgelegt (Art. 8). Diese Durchführungs-

verordnung wurde in der Zwischenzeit aufgehoben, weil die Prüfung des

Hauptzwecks aufgrund der Marktöffnung für den inländischen Schienenpersonenver-

kehr obsolet wurde. Nichtsdestotrotz kann die Verordnung der Schweiz als Orientie-

rungshilfe dienen. So sah sie namentlich die Distanz und die gewählten Haltepunkte

des Angebots, die Vermarktung des Angebots, das verwendete Rollmaterial sowie den

Anteil der grenzüberschreitenden Beförderung am Umsatz oder den Passagierzahlen

des Angebots im Vergleich zum Anteil der Binnenbeförderung als relevante Kriterien

vor.

Art. 40a

quater

Stellt die RailCom fest, dass der Hauptzweck eines grenzüberschreitenden Angebots

nicht erfüllt ist, so kann dem EU-Eisenbahnverkehrsunternehmen nach Artikel 24 Ab-

satz 1

a

LandVA (Art 1 Abs. 6 ÄP-LandVA) der Netzzugang verweigert werden. Als

weitere Folge davon wird dem EU-Eisenbahnverkehrsunternehmen für sein Angebot

die dafür erforderliche Konzession nicht erteilt bzw. eine allfällig bereits erteilte Kon-

zession entzogen (vgl. Erläuterungen zu Art. 9 Abs. 2

ter

und 3

bis

PBG). Damit das

BAV als Konzessionsbehörde die notwendigen Schritte vornehmen kann, hat die Rail-

Com das BAV über den Eingang eines Antrages sowie über ihren Entscheid zu infor-

mieren.

2.5.7.1.2

Personenbeförderungsgesetz (PBG)

Art. 9a

Besondere Voraussetzungen für konzessionierte,

grenzüberschreitende Angebote

Aufgrund von Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe b geniessen bestehende, konzessionierte

oder bewilligte Angebote sowohl des Fernverkehrs (s. Ziff. 1) als auch des bestellen

Regionalverkehrs (s. Ziff. 2) einen erheblichen Schutz vor Konkurrenz durch neue

Angebote. Für bestehende Angebote dürfen keine volkswirtschaftlich nachteiligen

Wettbewerbsverhältnisse entstehen. So dürfen namentlich Angebote des Fernverkehrs

nicht existenziell gefährdet und bestellte Angebote des Regionalverkehrs lediglich er-

gänzt werden. Mit der Aufnahme des neuen Artikels 24 Absatz 1

a

des LandVA wird

die Marktöffnung im Bereich des grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehrs

vollzogen. Angebote des grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehrs im Sinne

von Artikel 3 Absatz 2 LandVA sowohl von Eisenbahnverkehrsunternehmen mit Sitz

in einem EU-Mitgliedstaat als auch von Eisenbahnverkehrsunternehmen mit Sitz in

der Schweiz unterstehen dadurch nicht diesem grundsätzlich mit der Konzession oder

Bewilligung verbundenen Konkurrenzschutz. Sie dürfen sich insbesondere gegensei-

tig konkurrenzieren. Dies ist Kern der angestrebten Marktöffnung und Gegenstand

415

SR

742.122

416

Durchführungsverordnung (EU) Nr. 869/2014 der Kommission vom 11. August 2014 über

neue Schienenpersonenverkehrsdienste, ABl. L 239 vom 12.8.2014, S. 1.

443 / 931

des neuen Artikel 9a Absatz 1. Der nationale öffentliche Verkehr ist davon nicht be-

troffen, er geniesst weiterhin den oben erwähnten Konkurrenzschutz. Geschützt bleibt

somit auch der vertaktete Fernverkehr auf der nationalen Teilstrecke, der in Koopera-

tion mit einem ausländischen Eisenbahnverkehrsunernehmen ins Ausland weiterge-

führt wird.

Wird einem Eisenbahnverkehrsunernehmen der Netzzugang aufgrund des Entscheids

der RailCom nach Artikel 40

a

ter

Absatz 2

bis

EBG verweigert, so wird das BAV als

Konzessionsbehörde dem Unternehmen die Konzession nach Absatz 2

nicht erteilen.

Gleiches hat dann zu gelten, wenn ein Angebot eines Eisenbahnverkehrsunterneh-

mens eines EU-Mitgliedstaates den Hauptzweck nicht mehr erfüllt. In diesem Fall

entzieht das BAV nach dem entsprechenden Entscheid der RailCom die bestehende

Konzession. Vorbehalten bleibt eine allfällige Beschwerde gegen den Entscheid der

RailCom ans Bundesverwaltungsgericht, wobei einer Beschwerde gegen einen Ent-

scheid der RailCom gemäss Artikel 40

a

octies

Absatz 2 nicht automatisch aufschiebende

Wirkung zukommt.

Art. 31c Abs. 1 und 1

bis

Die Besteller von öffentlichem Verkehr (Bund und Kantone) erstellen bereits heute

eine Ausschreibungsplanung für Angebote des regionalen Personenverkehrs auf der

Schiene und Strasse. Die Ausschreibungsplanung umfasst die gemeinsam ausge-

schriebenen Angebote, die mit oder ohne Bundesbeteiligung bestellt werden. Auf-

grund der Umsetzung der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 (insb. Art. 7 Abs. 2) sollen

bestimmte Angaben betreffend geplante Ausschreibungen ein Jahr im Voraus trans-

parent veröffentlicht werden. Es wird deshalb vorgeschlagen, dafür das bestehende

Instrument der Ausschreibungsplanung zu nutzen und künftig auf sämtliche grenz-

überschreitende Angebote auszuweiten. Neu sollen deshalb Angebote mit Abschnit-

ten in Nachbarstaaten, welche weder gemeinsam zwischen Bund und Kantonen aus-

geschrieben

noch

gemeinsam

bestellt

werden,

ebenfalls

in

die

Ausschreibungsplanung aufgenommen werden. Darunter fällt namentlich der Orts-

verkehr. Absatz 1

hält aufgrund dieser Änderung neu nur noch den Grundsatz fest,

wonach die Besteller eine Ausschreibungsplanung zu erstellen haben.

Im neuen Absatz 1

bis

wird sodann konkretisiert, welche Ausschreibungen von Ange-

boten in die Ausschreibungsplanung aufzunehmen sind. Nebst den bisherigen Ange-

boten (Bst. a und b) sind dies sämtliche grenzüberschreitenden Angebote, welche von

den Kantonen und/oder Gemeinden bestellt werden.

Die Federführung für die Ausschreibungsplanung bleibt dabei weiterhin bei den Kan-

tonen.

Art. 31d

Veröffentlichung bestellter Angebote mit Linienabschnitten in

Nachbarstaaten

Diese neue Bestimmung ist ebenfalls direkt auf die Verordnung (EG) Nr. 1370/2007

(Art. 7 Abs. 3) zurückzuführen. Ziel dieser jährlichen Übersicht ist die Erhöhung der

Transparenz über die finanziell abgegoltenen, grenzüberschreitenden Leistungen. Das

BAV publiziert bereits heute eine jährliche Übersicht der Abgeltungen im regionalen

444 / 931

Personenverkehr, abrufbar auf der BAV-Website unter: Regionaler Personenverkehr

- Bestellverfahren). Darunter fallen auch grenzüberschreitende Angebote. Neu sollen

aber auch sämtliche Abgeltungen von grenzüberschreitenden Leistungen, welche

ohne Bundesbeteiligung bestellt werden, in diese Übersicht mitaufgenommen werden.

Damit das BAV eine vollständige Übersicht publizieren kann, werden die Kantone

verpflichtet, diesem die notwendigen Angaben zu liefern. Der Bundesrat wird die zu

liefernden Angaben voraussichtlich auf Verordnungsstufe (Verordnung vom 16. Ok-

tober 2024

417

über die Abgeltung und die Rechnungslegung im regionalen Personen-

verkehr) festlegen, wobei die Bezeichnung der bestellten Linien und der Transportun-

ternehmen sowie die Höhe der Abgabe und die Laufzeit der Bestellung von Relevanz

sein werden.

Art. 32a Abs. 1bis

Der neue Artikel 24

a

Absatz 5 des Landverkehrsabkommens schliesst die Möglich-

keit einer gemeinsamen Ausschreibung öffentlicher Personenverkehrsdienste zwi-

schen der Schweiz und einer Behörde eines EU-Mitgliedstaats nicht aus (s. Ziff.

2.5.6.2). Eine solche Ausschreibung unterliegt in diesem Fall den Anforderungen der

Verordnung (EG) Nr. 1370/2007, die neu in Anhang 1 des Abkommens aufgenommen

wird und die Anforderungen an die Vergabe von grenzüberschreitenden Personenver-

kehrsdiensten festlegt. Es wird darauf verzichtet, die zu beachtenden Vorgaben im

Schweizer Recht in eigenständigen Bestimmungen abzubilden. Mit dem neuen Absatz

1bis

wird jedoch klargestellt, dass bei solchen gemeinsamen Ausschreibungen die

Vorgaben des Völkerrechts zu beachten sind. Diese Formulierung gewährleistet, dass

auch bei gemeinsamen Ausschreibungen mit dem EFTA-Staat Liechtenstein das mas-

sgebliche Völkerrecht zu berücksichtigen ist. Der Unterschied zu Absatz 1 liegt darin,

dass die Besteller im Anwendungsfall von Absatz 1 die Ausschreibung eines Ange-

bots mit Linienabschnitten in einem Nachbarstaat jeweils nur bis zur Grenze vorneh-

men und deshalb das Verfahren für den Schweizer Abschnitt mit demjenigen für den

Abschnitt im Nachbarstaat koordinieren sollen. Absatz 1 stellt dabei, im Gegensatz

zu Absatz 1bis, keinen eigentlichen Fall dar, in welchem das Völkerrecht (Landver-

kehrsabkommen) Anwendung findet.

Art. 35 Abs. 1

Es handelt sich hierbei lediglich um eine formale Anpassung: Der neue Artikel 9

a

Absatz 2 PBG

führt neu das Eisenbahngesetz vom 20. Dezember 1957

418

(EBG) erst-

malig im PBG ein, weshalb im vorliegenden Artikel künftig die Abkürzung (EBG)

verwendet werden kann.

2.5.7.2

Begleitmassnahmen ohne Gesetzesanpassungen

Gemäss dem

Common Understanding

und dem Verhandlungsmandat müssen die So-

zialstandards bei einer Öffnung des Markts für den grenzüberschreitenden Schienen-

personenverkehr gewährleistet sein. Dieser Grundsatz konnte im neuen Artikel 24

a

Absatz 4 LandVA (s. oben) festgeschrieben werden.

417

SR

745.16

418

SR

742.101

445 / 931

Das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation

(UVEK) hat im Auftrag des Bundesrats in der Konsultationsphase unter Einbezug der

Sozialpartner zwei technische Gespräche unter der Leitung des BAV und abschlies-

send einen Runden Tisch unter dem Vorsitz des Departementsvorstehers durchge-

führt. Dabei wurde das Umsetzungskonzept für die Schweiz diskutiert. Als wichtiger

Teil des Umsetzungskonzepts hat das UVEK vorgeschlagen, dass das BAV unter Ein-

bezug der Sozialpartner eine Weisung erarbeiten soll. Diese soll als Grundlage für die

Prüfung im Rahmen von Konzessionsverfahren dienen, ob Unternehmen, welche

grenzüberschreitenden Schienenpersonenfernverkehr erbringen, die branchenübli-

chen Arbeitsbedingungen einhalten.

Am 19. Juni 2024 hat der Bundesrat das UVEK (BAV) formell beauftragt, eine Richt-

linie bzw. Weisung zu den Sozialstandards im internationalen Schienenpersonenver-

kehr zu erarbeiten und die Sozialpartner bei der Erarbeitung in geeigneter Weise mit-

einzubeziehen.

Diese Weisung soll dem BAV bei der Prüfung von Konzessions- und Bewilligungs-

gesuchen als Massstab der Branchenüblichkeit der Sozialstandards dienen. Ein Un-

ternehmen, das in der Schweiz regelmässigen und gewerbsmässigen Personentrans-

port anbietet, benötigt nach Artikel 9 PBG eine Konzession oder eine Bewilligung.

Voraussetzung zur Erlangung einer Konzession oder einer Bewilligung nach Artikel

9 PBG für ein Angebot in der Schweiz ist gemäss Absatz 2 unter anderem, dass das

Unternehmen nachweist, dass es die arbeitsrechtlichen Vorschriften einhält und die

Arbeitsbedingungen der Branche gewährleistet (Bst. e). Zu den arbeitsrechtlichen

Vorschriften und den Arbeitsbedingungen gehören unter anderem die Einhaltung des

Bundesgesetzes vom 8. Oktober 1971

419

über die Arbeit in Unternehmen des öffent-

lichen Verkehrs (Arbeitszeitgesetzes; AZG) sowie das Gewähren branchenüblicher

Löhne. Diese Voraussetzungen muss das Unternehmen für den Streckenabschnitt in

der Schweiz erfüllen. Aktuell erbringen in der Schweiz nur die SBB grenzüberschrei-

tenden Personenfernverkehr auf der Schiene. Daher wird der Gesamtarbeitsvertrag

(GAV) der SBB als Ausgangspunkt der Festlegung der Branchenüblichkeit herange-

zogen werden, aber nicht abschliessend massgeblich sein.

Das BAV benötigt eine objektive Beurteilungsgrundlage mit Kriterien und Schwel-

lenwerten zur Prüfung der Frage, ob Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe e PBG zum Zeit-

punkt des Einreichens eines Gesuches für eine Konzession oder eine Bewilligung für

das Angebot auf dem Schweizer Territorium eingehalten wird (und auch während des

Betriebs eingehalten wird).

Die Weisung des BAV hat damit explizit nicht zum Zweck, einen möglichen GAV zu

ersetzen. Ob die Sozialpartner gemeinsam einen GAV abschliessen oder nicht und ob

dieser von der Weisung des BAV abweicht, liegt in der Verantwortung der Sozial-

partner.

Die Weisung soll ausschliesslich die Kriterien und Schwellenwerte für die Branche

des nicht bestellten internationalen Schienenpersonenverkehrs festhalten. Sie deckt

damit explizit nicht den grenzüberschreitenden bestellten sowie den rein nationalen

Schienenpersonenverkehr in der Schweiz ab.

419

SR

822.21

446 / 931

Ausserdem sieht die Weisung unter Einbezug der Sozialpartner ein Monitoring der

Arbeitsbedingungen nach der Marktöffnung vor. Bei Bedarf kann der Bundesrat Mas-

snahmen ergreifen.

Die interessierten Gewerkschaften und Personalverbände wurden eng in die Erarbei-

tung dieser Weisung einbezogen. Die Weisung wird zusammen mit der vorliegenden

Vorlage in Kraft treten.

2.5.7.3

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

Die proaktive Begleitung im Meinungsbildungs- und Rechtsetzungsprozess der EU

der für das LandVA relevanten Rechtsakte, deren zeitnahe Umsetzung im Schweizer

Recht sowie deren Anwendung wird insbesondere für die Verwaltung mit einem er-

höhten Ressourcenaufwand verbunden sein. Gleichzeitig senkt diese aufwändige Vor-

arbeit den späteren Aufwand bei der Umsetzung ins Schweizer Recht. Insgesamt

dürfte für die Verwaltung (BAV, Bundesamt für Strassen (ASTRA)) ein Mehrauf-

wand aufgrund der stärkeren Mitspracherechte (

Decision Shaping

) resultieren.

Demgegenüber besteht eine Gewähr, dass das für die Umsetzung der schweizerischen

Verkehrspolitik sowie für den Marktzugang der Schweizer Transportwirtschaft wich-

tige Abkommen weiterentwickelt werden kann und die Schweiz Anliegen bei der EU-

Rechtsentwicklung frühzeitig einbringen kann. Vor diesem Hintergrund kann von ei-

nem günstigen Kosten-Nutzen-Verhältnis ausgegangen werden.

2.5.7.4

Umsetzungsfragen

Auf Ebene des Bundes ist die Schaffung äquivalenten Schweizer Rechts zu den mit-

tels ÄP-LandVA ins LandVA integrierten Rechtsakten anzugehen. Diese haben keine

Anpassungen auf Gesetzesebene zur Folge. Es werden aber diverse Anpassungen auf

Verordnungsebene erforderlich sein.

Gemäss Abklärungen mit den Kantonen sind keine Anpassungen auf kantonaler Ge-

setzes- oder Verordnungsstufe erforderlich.

2.5.8

Auswirkungen des Paketelements

Mit den in den Verhandlungen vereinbarten Änderungen des LandVA kann der Zu-

gang der Vertragsparteien zu ihren jeweiligen Märkten erhalten, die Harmonisierung

der einschlägigen Vorschriften und Verfahren im Landverkehr fortgesetzt und eine

zwischen der Schweiz und der EU abgestimmte Verkehrspolitik gewährleistet wer-

den. Damit wird das Risiko einer Erosion des LandVA beseitigt, die Rechtssicherheit

und damit die Investitionssicherheit der Schweizer Eisenbahnverkehrsunternehmen,

die im europäischen Transportmarkt tätig sind, steigt.

2.5.8.1

Auswirkungen auf den Bund

Die Schweiz wird bei der Ausarbeitung neuer Rechtsakte der EU frühzeitig einbezo-

gen. Durch einen systematischen und direkten Einbezug kann die Schweiz ihre An-

liegen besser einbringen. Insbesondere im Bereich der technischen Sicherheit und In-

teroperabilität

bei

der

Eisenbahn

und

in

den

europäischen

Schienengüterverkehrskorridoren sowie im Strassenverkehr hat die Schweiz damit die

447 / 931

Möglichkeit, auf Lösungen hinzuwirken, die in ihrem Interesse liegen. Die Umset-

zung der Schweizer Verkehrspolitik wird so unterstützt. Damit verbunden ist eine en-

gere Begleitung der EU-Rechtsentwicklung als bisher und eine zeitnahe Umsetzung

der EU-Regelwerke.

Die Möglichkeit, bestellten Personenverkehr auf der Schiene in der Schweiz weiterhin

direkt zu vergeben und nicht nach EU-Recht auszuschreiben, schützt die Besteller des

öffentlichen Verkehrs vor allfälligen negativen Auswirkungen der dynamischen

Rechtsübernahme im Bereich Landverkehr.

Die Ausstellung neuer Konzessionen und Genehmigungen sowie die Prüfung von Ge-

suchen im Rahmen der Öffnung des Markts für den grenzüberschreitenden Schienen-

personenverkehr könnte zu einer leichten Zunahme des Arbeitsaufwands für das BAV

führen. Mit der Prüfung des Hauptzwecks erhält die RailCom neue Zuständigkeiten,

die mit bestehenden Ressourcen wahrgenommen werden können (Art. 40

a

ter

Abs. 2

bis

EBG

;

s. Ziff. 2.5.7.1.1).

Die vorgenommenen Anpassungen bei der LSVA führen zu keinen direkten finanzi-

ellen Auswirkungen für Bund, Kantone oder die Branche. Durch den grösseren Spiel-

raum in der Ausgestaltung der LSVA eröffnen sie jedoch die Möglichkeit für eine

künftig besser differenzierte Abgabe, welche positive Auswirkungen auf die Verlage-

rung und die Deckung der externen Kosten hat.

Eine Anpassung des LandVA für eine künftige Weiterentwicklung der LSVA ist in

absehbarer Zeit nicht mehr erforderlich. Gleiches gilt für eine engere Zusammenarbeit

mit der ERA. Damit können in beiden Fällen Aufwände betreffend erneute Verhand-

lungen und Arbeiten an separaten Botschaften ans Parlament vermieden werden.

Die Auswirkungen der neu geregelten Überwachung der staatlichen Beihilfen werden

in Ziffer 2.2.9.1 beschrieben. Die voraussichtlichen sektorspezifischen Tätigkeiten

können mit bestehenden Ressourcen bewältigt werden.

2.5.8.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf

urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

Die Kantone waren bei den Verhandlungen direkt involviert. Wichtige Entscheide

wurden mit ihnen abgestimmt. Im Eisenbahnbereich sind die Auswirkungen auf die

Kantone gering. Abgeschlossene Netze wie Schmalspurnetze oder Tramnetze und die

ausschliesslich darauf verkehrenden Unternehmen sind vom LandVA nach wie vor

nicht erfasst. Auf den übrigen Netzen sind im grenzüberschreitenden regionalen

Schienenpersonenverkehr Direktvergaben auf Schweizer Boden weiterhin möglich

und dürften auch die Regel bleiben. Bei diesen Direktvergaben gelten unverändert die

Regelungen des Personenbeförderungsgesetzes. Insbesondere städtische Gebiete und

Tourismusregionen in Berggebieten könnten von ergänzenden Angeboten im interna-

tionalen Schienenpersonenverkehr profitieren.

Die Vergabe und Bestellung von grenzüberschreitenden regionalen oder lokalen Bus-

linien des öffentlichen Verkehrs orientieren sich am EU-Recht, wobei die für die

Schweiz relevanten Regelungen im Schweizer Recht, insbesondere im Personenbe-

förderungsgesetz, weitgehend abgebildet sind.

448 / 931

Die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 wird für die Kantone auch eine

zusätzliche geringfügige administrative Begleitung erfordern (Art. 31

c

Abs. 1 und 1

bis

sowie Art. 31

d

PBG; s. Ziff. 2.5.7.1.2).

2.5.8.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Insgesamt ist eine Stabilisierung der Beziehungen im Landverkehr und eine Weiter-

entwicklung des LandVA im Interesse der Schweizer Volkswirtschaft. Insbesondere

der Transportsektor kann bei einer laufenden Weiterentwicklung des LandVA weiter-

hin vom Zugang zum Europäischen Markt profitieren. Dieser Zugang und die damit

verbundenen Transportdienstleitungen sind für die Versorgung der Schweiz wichtig.

Obwohl Prognosen zur Entwicklung des Personenverkehrs schwierig sind, insbeson-

dere da das konkret entstehende Verkehrsangebot derzeit nicht bekannt ist, kann die

Wettbewerbsfähigkeit im Bereich des grenzüberschreitenden Schienenpersonenver-

kehrs insofern gestärkt werden, als mit einer Marktöffnung neue Anbieter die beste-

henden Angebote ergänzen könnten. Dies führt durch den Wettbewerbsdruck wiede-

rum zu einer allgemeinen Verbesserung der Angebote.

Die Schweiz und die EU haben vereinbart, gerechte Wettbewerbsbedingungen

(level

playing field)

zwischen Schweizer Eisenbahnverkehrsunternehmen und Eisenbahn-

verkehrsunternehmen der EU durch die Einführung von Regeln über staatliche Bei-

hilfen in den vom LandVA abgedeckten Bereichen des Landverkehrs zu gewährleis-

ten.

Es ist fraglich, ob die SBB als einzige Transportunternehmung, die in der Schweiz

einen gesetzlich verankerten Zugang zur Bundestresorerie hat, möglicherweise von

einer Begünstigung im Sinne der Beihilfedefinition profitiert. Allerdings sind die Zin-

sen für die Tresoreriedarlehen marktkonform. In der Praxis wird ebenfalls von Bedeu-

tung sein, ob beziehungsweise wie genau die SBB grenzüberschreitend und somit im

Geltungsbereich des LandVA tätig wird. Auch auf dem privaten Kreditmarkt profitiert

die SBB von der Bonität der Eidgenossenschaft. Dies gilt jedoch auch für ausländi-

sche Staatsbahnen.

Das Nebeneinander von subventionierten und eigenwirtschaftlich zu betreibenden

Geschäftsfeldern ist generell herausfordernd. Aus diesem Grund wurden entspre-

chende Verrechnungsgrundsätze festgelegt, um das Risiko von Quersubventionierung

innerhalb der Eisenbahnunternehmen zu reduzieren (z.B. Spartentrennung gemäss

Art. 50 EBG, Rechnungslegung gemäss Art. 35 ff. PBG und Artikel 60 der Verord-

nung über die Abgeltung und die Rechnungslegung im regionalen Personenver-

kehr

420

, Spartenrechnung gemäss neuem Art. 13 Abs. 6 Gütertransportgesetz

421

). Eine

organisatorische Trennung der verschiedenen Geschäftsfelder nach Tätigkeiten inner-

halb und ausserhalb des Geltungsbereichs des LandVA unter dem Dach eines Eisen-

bahnunternehmens könnte die erforderliche Transparenz schaffen und allfällige Ab-

grenzungsprobleme im Zusammenhang mit der Beihilfeüberwachung entschärfen.

Für Markttätigkeiten innerhalb des EU-Binnenmarkts könnte sich ein Schweizer Ei-

senbahnverkehrsunternehmen allenfalls gezwungen sehen, die organisatorischen und

420

SR

745.16

421

BBl

2025 1103

449 / 931

buchhalterischen Voraussetzungen zu schaffen, um die beihilferechtlichen Risiken zu

minimieren. Dies wäre mit zusätzlichem Aufwand für diese Unternehmen verbunden.

Das nationale und internationale Geschäft beispielsweise der SBB im Schienengüter-

verkehr ist organisatorisch und buchhalterisch in SBB Cargo und SBB Cargo Interna-

tional aufgeteilt, was den Rahmen von allfälligen bestehenden Beihilfenregelungen

im Geltungsbereich des Beihilfeprotokolls einschränkt. Die nationale Tätigkeit von

SBB Cargo ist von den Vorschriften zu den staatlichen Beihilfen nicht betroffen, da

dieses Unternehmen nicht im Geltungsbereich des LandVA tätig ist.

Das LandVA legt die Grundlage für eine künftige engere Zusammenarbeit des BAV

mit der ERA. Dies kann bei Zulassungsprozessen für grenzüberschreitende Angebote

oder für international eingesetztes Rollmaterial zu geringeren administrativen Auf-

wänden führen und so die nationalen Akteure entlasten.

2.5.8.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Die Öffnung des Markts für den grenzüberschreitenden Schienenpersonenverkehr

kann für die Nutzenden die Vorteile zusätzlicher Bahnangebote, günstigerer Preise

sowie eines Innovations- und Qualitätswettbewerbs zugunsten der Fahrgäste mit sich

bringen. Der nationale öffentliche Verkehr kann mit den vorgesehenen Massnahmen

vor negativen Auswirkungen wirksam geschützt werden.

Dank der Lohnschutzmassnahmen (z.B. Weisung zu den Sozialstandards) sind keine

grossen Auswirkungen auf die Arbeitnehmenden zu erwarten. Dies umso weniger, als

das Eisenbahnverkehrsunternehmen bei der Einreichung eines Konzessionsgesuchs

schon heute nachweisen muss, dass es «die arbeitsrechtlichen Vorschriften einhält und

die Arbeitsbedingungen der Branche gewährleistet» (Art. 9 Abs. 2 Bst. e PBG). Diese

Regelung wird durch eine Bestimmung im ÄP-LandVA zum LandVA abgesichert

(vgl. Art. 24

a

Abs. 5 LandVA).

2.5.8.5

Auswirkungen auf die Umwelt

Die zwischen der Schweiz und der EU abgestimmte Verkehrspolitik, wie sie durch

das LandVA garantiert wird, ist Teil einer nachhaltigen und umweltfreundlichen Mo-

bilität. Eine Weiterführung der mit der EU koordinierten Verkehrspolitik im Bereich

des Güterverkehrs unterstützt den verfassungsmässigen Verlagerungsauftrag, der in

erster Linie mit dem Ziel entstanden ist, die Bevölkerung und die Umwelt vor den

negativen Folgen des Transitverkehrs, unter anderem auf die Luftqualität und die

Lärmbelastung, zu schützen. Das Verhandlungsresultat schafft unter anderem eine

Grundlage, um die LSVA als wichtiges Instrument zur Verlagerung künftig weiter-

entwickeln zu können, ohne eine Anpassung des LandVA vorzunehmen.

Das dank einer Öffnung des Markts für den grenzüberschreitenden Schienenperso-

nenverkehr vergrösserte Bahnangebot kann auch dazu führen, dass weniger Menschen

mit dem Flugzeug oder dem Auto reisen.

2.5.8.6

Andere Auswirkungen

Es sind keine anderen Auswirkungen zu erwarten.

450 / 931

2.5.9

Rechtliche Aspekte des Paketelements

Dieser Abschnitt behandelt das ÄP-LandVA. Ausführungen zum IP-LandVA bzw.

zum Beihilfeprotokoll-LandVA finden sich in den Ziffern 2.1.9 bzw. Ziffern 2.2.11,

es sei denn, es wird nachstehend ausdrücklich auf diese Protokolle Bezug genommen

.

2.5.9.1

Verfassungsmässigkeit der Protokolle

Das ÄP-LandVA stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 BV, wonach der Bund für die

auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV ermächtigt den

Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Die Bun-

desversammlung ist nach Artikel 166 Absatz 2 BV für die Genehmigung völkerrecht-

licher Verträge zuständig, sofern für deren Abschluss nicht aufgrund von Gesetz oder

völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (Art. 24 Abs. 2 ParlG; Art. 7

a

Abs. 1 RVOG).

Beim ÄP-LandVA handelt es sich nicht um einen Vertrag, für dessen selbstständigen

Abschluss der Bundesrat aufgrund eines Gesetzes oder eines von der Bundesver-

sammlung genehmigten völkerrechtlichen Vertrags ermächtigt ist. Insbesondere geht

das ÄP-LandVA über die in Artikel 9a Abs. 6 des Eisenbahngesetzes vorgesehenen

Anwendungsbereiche hinaus, in denen der Bundesrat Abkommen zur Gewährung des

Netzzugangs abschliessen kann. Es handelt sich auch nicht um einen völkerrechtli-

chen Vertrag von beschränkter Tragweite nach Artikel 7

a

Absatz 2 RVOG. Zudem

erfordert die Umsetzung des ÄP-LandVA die Anpassung von Bundesgesetzen. Das

ÄP-LandVA ist folglich der Bundesversammlung zur Genehmigung zu unterbreiten.

Die Verfassungsmässigkeit des IP-LandVA wird in Ziffer 2.1.8.1 erläutert.

Die Verfassungsmässigkeit des Beihilfeprotokolls-LandVA wird in Ziffer 2.2.11.1 er-

läutert.

2.5.9.2

Verfassungsmässigkeit Umsetzungsgesetzgebung und

Begleitmassnahmen

Gemäss Artikel 87 BV ist die Gesetzgebung über den Eisenbahnverkehr Sache des

Bundes. Die regel- und gewerbsmässige Personenbeförderung (Personenbeförde-

rungsregal des Bundes) wird als Teil des Post- und Fernmeldewesens gemäss Artikel

92 Absatz 1 BV verstanden. Die diesbezügliche Gesetzgebung ist ebenfalls Sache des

Bundes.

Die vorgeschlagenen Anpassungen bewegen sich alle innerhalb der dargelegten Ge-

setzgebungskompetenz des Bundes.

Die Überwachung staatlicher Beihilfen im Landverkehr wird im neu zu schaffenden

Beihilfeüberwachungsgesetz (BHÜG) geregelt.

Die Kompetenzgrundlagen für das

Beihilfeüberwachungsgesetz sind in Kapitel 2.2.10 erläutert.

2.5.9.3

Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen

der Schweiz

Die drei Protokolle sind mit den internationalen Verpflichtungen der Schweiz verein-

bar.

451 / 931

Auch mit dem revidierten Übereinkommen zur Errichtung der Europäischen Freihan-

delsassoziation

422

(EFTA-Übereinkommen) sind die drei Protokolle vereinbar. Die

Protokolle finden nur im Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU und ihren Mit-

gliedstaaten, nicht aber im Verhältnis zu den EFTA-Staaten Anwendung. Zwischen

der Schweiz und den EFTA-Staaten gelten im Bereich des Landverkehrs daher wei-

terhin die im Anhang P des EFTA-Übereinkommens enthaltenen Bestimmungen, die

mit dem geltenden LandVA weitgehend übereinstimmen.

Um weiterhin möglichst einheitliche Regeln zwischen den EU- und EFTA-

Mitgliedstaaten zu gewährleisten, wird eine Anpassung des Anhangs P des EFTA-

Übereinkommens an die im Rahmen des Pakets Schweiz-EU vorgenommen Ände-

rungen des Landverkehrsabkommens zu prüfen sein.

Die drei Protokolle sind ebenfalls mit den bilateralen Strassenverkehrsabkommen

zwischen der Schweiz und zahlreichen Staaten sowie mit dem Übereinkommen über

den internationalen Eisenbahnverkehr in der Fassung des Änderungsprotokolls vom

3. Juni 1999 (COTIF)

423

vereinbar.

2.5.9.4

Erlassform

Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV unterliegen völkerrechtliche Ver-

träge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige rechtsetzende Bestimmungen

enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Nach Ar-

tikel 22 Absatz 4 ParlG sind unter rechtsetzenden Normen jene Bestimmungen zu

verstehen, die in unmittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten

auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen. Als wichtig gelten Best-

immungen, die auf der Grundlage von Artikel 164 Absatz 1 BV in der Form eines

Bundesgesetzes erlassen werden müssten.

Die drei Protokolle enthalten wichtige rechtsetzende Bestimmungen. Das Änderungs-

protokoll und das Beihilfeprotokoll erfordern zudem für die Umsetzung die Anpas-

sung von Bundesgesetzen bzw. den Erlass eines Bundesgesetzes. Der Bundesbe-

schluss über die Genehmigung der drei Protokolle ist deshalb dem fakultativen

Referendum nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV zu unterstellen (s.

aber die Varianten in Ziff. 4.1).

2.5.9.5

Vorläufige Anwendung

Es ist keine vorläufige Anwendung vorgesehen.

2.5.9.6

Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass

Es sind keine besonderen rechtlichen Aspekte des Umsetzungserlasses hervorzuhe-

ben.

422

SR

0.632.31

423

SR

0.742.403.12

452 / 931

2.5.9.7

Datenschutz

Der Datenschutz ist von der Vorlage nicht betroffen. Die Erläuterungen betreffend

das Schiedsgericht unter Ziffer 2.1.8.6 gelten auch für das Schiedsgericht gemäss An-

lage des IP-LandVA.

453 / 931

2.6

Luftverkehr

2.6.1

Zusammenfassung

Die Schweiz ist ein global stark vernetztes Land mitten in Europa und braucht ein

stabiles und konkurrenzfähiges Luftfahrtsystem, um u.a. die Anbindung mit Europa

und der ganzen Welt zu gewährleisten. Dieses System ist auf gute Rahmenbedingun-

gen angewiesen.

Das Abkommen vom 21. Juni 1999

424

zwischen der Schweizerischen Eidgenossen-

schaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Luftverkehr (Luftverkehrsab-

kommen / «LuftVA»), welches am 1. Juni 2002 in Kraft trat, schafft hierfür optimale

Bedingungen.

Das Luftverkehrsabkommen sorgt für ein hohes Sicherheitsniveau und regelt die

Schweizer Teilnahme an der europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA), die in

der Ausarbeitung der europäischen Flugsicherheitsbestimmungen (

Safety

) federfüh-

rend ist. Die Schweiz trat der EASA 2006 bei. Auch sichert das Luftverkehrsabkom-

men die Teilnahme der Schweiz am einheitlichen europäischen Luftraum (

Single Eu-

ropean Sky

), der die Modernisierung des europäischen Flugsicherungssystems

bezweckt, sowie die Teilnahme an den einheitlichen Luftsicherheitsregeln (

Security

).

Dank des Luftverkehrsabkommens ist zudem der gegenseitige Zugang der Schweizer

und EU-Luftfahrtunternehmen zum liberalisieren Luftverkehrsmarkt zwischen der

Schweiz und der EU gewährleitstet. Dieser Marktzugang ist für die schweizerische

Luftfahrtbranche sowie Konsumentinnen und Konsumenten von hervorgehobener

Bedeutung. Im Jahr 2024 flogen gut 34 Millionen aller knapp 58 Millionen Passagie-

rinnen und Passagiere an Schweizer Flughäfen in die EU oder kamen von dort (rund

60 %). Im Rahmen der Verhandlungen einigten sich die Schweiz und die EU auf eine

Aktualisierung des Luftverkehrsabkommens mittels dreier Protokolle.

Das Änderungsprotokoll zum LuftVA (ÄP-LuftVA) sieht insbesondere den Aus-

tausch von Verkehrsrechten für Inlandsflüge auf dem Gebiet der jeweils anderen Ver-

tragspartei vor (sog. Kabotagerechte), womit der bisherige Marktzugang ergänzt und

den Luftfahrtunternehmen neue Möglichkeiten bei ihrer Routenplanung eröffnet wird.

Mit dem Institutionellen Protokoll zum Luftverkehrsabkommen (IP-LuftVA) werden

die institutionellen Elemente in das Luftverkehrsabkommen integriert (siehe Ziffer

2.1). Durch die im IP-LuftVA vorgesehene Absicherung der schweizerischen Mit-

spracherechte ist sichergestellt, dass die Schweiz systematisch ihre Interessen gegen-

über der EU bestmöglich vertreten kann.

Das Protokoll über staatliche Beihilfen zum LuftVA (Beihilfeprotokoll-LuftVA) führt

zu einer verbindlichen Überwachung von staatlichen Beihilfen. Es ermöglicht, Wett-

bewerbsverzerrungen zu verringern und sorgt für gleiche Bedingungen für Unterneh-

men aus der Schweiz und der EU

(siehe Ziffer 2.6.6.3).

424

SR

0.748.127.192.68

454 / 931

Des Weiteren wird das unter Ziffer 2.8 erläuterte EU-Programmabkommen die

Schweizer Industrie zu einer vollwertigen und freiwilligen Teilnahme am Programm

für die Forschung zum Flugverkehrsmanagementsystem für den einheitlichen europä-

ischen Luftraum (SESAR 3,

Single European Sky Air Traffic Management Research

)

berechtigen. Diese Teilnahme ermöglicht es der Schweizer Luftfahrtindustrie über die

hierfür vorgesehenen Fördertöpfe von Horizon Europe in die Entwicklung von inno-

vativen Technologien und Verfahren im Bereich der Zivilluftfahrt zu investieren.

Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt. Er beantragt

im Rahmen des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU die Genehmigung des

Änderungsprotokolls-LuftVA, des IP-LuftVA sowie des Beihilfeprotokolls-LuftVA.

2.6.2

Ausgangslage

Das Luftverkehrsabkommen regelt seit 2002 den gegenseitigen Zugang der Schweizer

und EU-Luftfahrtunternehmen zum liberalisierten Luftverkehrsmarkt zwischen der

Schweiz und der EU. Die Relevanz dieses Marktzugangs ist durch Zahlen belegbar.

Im Jahr 2024 flogen gut 34 Millionen aller knapp 58 Millionen Passagiere an Schwei-

zer Flughäfen in die EU bzw. kamen von dort (rund 60 %). Dank des Luftverkehrsab-

kommens sind Schweizer Luftfahrtunternehmen den Wettbewerbern aus der EU

gleichgestellt.

Das Luftverkehrsabkommen besteht aus einem Hauptteil und einem Anhang.

Der Anhang wird seit Inkrafttreten des LuftVA regelmässig aktualisiert, um für die

Parteien, die Wirtschaftsteilnehmenden und Privatpersonen einheitliche Wettbe-

werbsbedingungen zu garantieren. So wird insbesondere auch ein gleichwertiges Si-

cherheitsniveau im Bereich der Zivilluftfahrt gewährleistet. Die Aktualisierung des

Anhangs des Luftverkehrsabkommens funktioniert in konstruktiver Zusammenarbeit

mit der EU. Das Luftverkehrsabkommen umfasst einen Grossteil der für die Zivilluft-

fahrt relevanten europäischen Vorschriften. Diese europäischen Vorschriften sind

mehrheitlich Umsetzungsvorgaben zu global geltenden Standards der Internationalen

Zivilluftfahrtorganisation (ICAO).

Aufgrund der regelmässigen Aktualisierung des Luftverkehrsabkommens ist der An-

passungsbedarf im Bereich Luftfahrt im Rahmen des Paketes Schweiz-EU vergleichs-

weise gering.

Im Bereich der Verkehrsrechte sind Schweizer sowie EU-Luftfahrtunternehmen bis-

her auf Grund fehlender Kabotagerechte in ihrer Routenplanung leicht eingeschränkt.

Konkret verfügen Schweizer Luftfahrtunternehmen zurzeit nicht über Verkehrsrechte

für Flüge innerhalb von EU-Staaten, während EU-Luftfahrtunternehmen nicht über

Rechte für Inlandflüge in der Schweiz verfügen. Um die Flexibilität der Luftfahrtun-

ternehmen beider Vertragsparteien zu erhöhen, ist der Austausch der Kabotagerechte

notwendig. Beide Parteien verhandelten bereits bis 2012 über einen Austausch der

Kabotagerechte. Jedoch knüpfte die EU den Austausch der Kabotagerechte an eine

Einigung über die institutionellen Elemente (siehe Ziffer 2.1). Deshalb war die EU

bisher nicht mit einer Implementierung der Kabotagerechte einverstanden.

455 / 931

Die Schweiz hat dank ihres ausgewiesenen Fachwissens im Bereich Luftfahrt seit In-

krafttreten des Luftverkehrsabkommens regelmässig ihre Interessen in den relevanten

EU-Gremien

eingebracht.

Infolge

der

Schweizer

Mitarbeit

im

EU-

Rechtssetzungsprozess ist es z.B. gelungen, einen in der Schweiz entwickelten Bewil-

ligungsprozess zum Betrieb komplexer Drohnen als europaweiten Standard festzule-

gen. Eine aktive Mitgestaltungsmöglichkeit erlaubt es der Schweiz, die Kohärenz zwi-

schen globalen, europäischen und nationalen Luftfahrtregeln zu erhöhen. Allerdings

ist der Miteinbezug der Schweiz im Bereich Luftverkehr bisher nicht vollumfänglich

abgesichert gewesen.

Bis Ende 2024 konnte die Schweizer Luftfahrtindustrie nur als Drittpartei (sog.

Associated Partner

) an den Forschungsprojekten von SESAR 3 teilnehmen. Sie

konnte weder Projekte koordinieren noch konnte sie sich an der Leitung und strategi-

schen Steuerung von SESAR 3 beteiligen. Die Teilnahme der Schweizer

Associated

Partners

wurde durch die Schweiz selber finanziert.

2.6.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

In den Verhandlungen im Bereich Luftverkehr war es das Ziel der Schweiz, ihre Teil-

nahme am liberalisierten Luftverkehrsmarkt der EU unter Beibehaltung des hohen Si-

cherheitsniveaus weiterhin zu gewährleisten und die Mitsprache bei zukunftsträchti-

gen Themen im Bereich der Luftfahrt abzusichern.

Konkret hatte sich die Schweiz im Verhandlungsmandat den Austausch der Kabota-

gerechte, die Möglichkeit einer vollwertigen freiwilligen Teilnahme der Schweizer

Industrie an SESAR 3 sowie eine möglichst weitgehende Kohärenz der Regeln im

Bereich Luftverkehr angestrebt. Letzteres Ziel bezog sich insbesondere auf die Absi-

cherung der Schweizer Mitspracherechte in den relevanten Gremien der EU. Dies er-

möglicht es der Schweiz, sich systematisch insbesondere auch bei neuen Themen für

eine Kohärenz der Regeln im Bereich Luftverkehr auf globalem, europäischem und

nationalem Niveau einzusetzen.

Für die EU war es von Bedeutung, die in Ziffern 2.1 und 2.2 erläuterten institutionel-

len Elementen und Beihilfeüberwachung in das Luftverkehrsabkommen zu integrie-

ren.

Insgesamt fanden fünf Verhandlungsrunden im Bereich Luftverkehr statt. Die

Schweiz hat alle ihre Verhandlungsziele im Bereich Luftverkehr erreicht.

2.6.4

Vorverfahren

Das Bundesamt für Zivilluftfahrt (BAZL) hat die Schweizer Landesflughäfen sowie

die grössten Schweizer Luftfahrtunternehmen im Rahmen der bewährten Informati-

onskanäle informiert. Der Luftverkehr wurde nicht in den Sondierungsgesprächen

zwischen der Schweiz und der EU angesprochen.

Zudem hat das BAZL geprüft, ob im Bereich Luftverkehr eine Regulierungsfolgeab-

schätzung durchzuführen ist. Das BAZL kam zum Ergebnis, dass die Auswirkungen

des ÄP-LuftVA, des IP-LuftVA sowie des Beihilfeprotokolls-LuftVA keiner Regu-

lierungsfolgeabschätzung bedürfen. Dies ist insbesondere darauf zurückzuführen,

456 / 931

dass die Schweiz bereits heute weitgehend am EU-Luftverkehrsbinnenmarkt teil-

nimmt und das Luftverkehrsabkommen regelmässig aktualisiert wird. Insbesondere

regelt das LuftVA (Art. 13 und 14) bereits heute die staatlichen Beihilfen im Luftver-

kehr, auch wenn hier neue Verfahren anwendbar werden (siehe Ziffer 2.2).

2.6.5

Grundzüge der Protokolle

Das Luftverkehrsabkommen wird durch ein ÄP-LuftVA aktualisiert und durch das IP-

LuftVA sowie das Beihilfeprotokoll-LuftVA ergänzt. Die Vorschriften des Luftver-

kehrsabkommens, welche den gleichen Sachverhalt wie das ÄP-LuftVA regeln, wer-

den aufgehoben oder ersetzt. Die Vorschriften des Luftverkehrsabkommens, welche

den gleichen Sachverhalt wie das IP-LuftVA und das Beihilfeprotokoll-LuftVA re-

geln, werden aufgehoben.

Ein Teil der Vorschriften im ÄP-LuftVA sowie ein Grossteil der Vorschriften des IP-

LuftVA sowie des Beihilfeprotokoll-LuftVA werden in mehreren Abkommen des Pa-

ketes Schweiz-EU integriert. Dementsprechend werden diese Vorschriften unter den

horizontalen Ziffern 2.1 und 2.2 erläutert. Im Folgenden sind nur diejenigen Vor-

schriften der erwähnten Protokolle erläutert, welche erwähnenswerte luftverkehrsspe-

zifische Aspekte beinhalten.

Die vollwertige Teilnahme der Schweizer Industrie an SESAR 3 wird durch das EU-

Programmabkommen, auf welches unter Ziffer 2.8 eingegangen wird, gewährleistet.

Die Auswirkungen der Möglichkeit einer Teilnahme an SESAR 3 durch Schweizer

Unternehmen sind unter Ziffer 2.6.9.3.1 erläutert.

2.6.6

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der Protokolle

2.6.6.1

Institutionelles Protokoll

Bezüglich des IP-LuftVA sind im Bereich Luftverkehr insbesondere die Mitsprache-

rechte der Schweiz von Bedeutung. Zwar ist die Schweiz bereits heute im Bereich

Luftverkehr oft in den EU-Rechtssetzungsprozess involviert. Die Schweiz nimmt im

Bereich Luftverkehr schon heute an Sitzungen von Ausschüssen und Expertengrup-

pen auf Stufe Europäische Kommission teil und kann so an der Erarbeitung von EU-

Rechtsakten mitwirken. Jedoch ist die Teilnahme an allen relevanten Gremien nicht

vollumfänglich abgesichert.

Diese Mitwirkung der Schweiz in den Ausschüssen und den Expertengruppen wurde

in Artikel 4 Absatz 2 und 3 des IP-LuftVA abgesichert (siehe Ziffer 2.1.6.1.2).

Neu erweitert das IP-LuftVA in Artikel 4 Absatz 4 die Teilnahme der Schweizer Ex-

pertinnen und Experten in verschiedenen Gremien der Europäischen Kommission –

sofern dies nötig ist, um das ordnungsgemässe Funktionieren des Luftverkehrsabkom-

mens zu gewährleisten. Dadurch wird sichergestellt, dass die Schweiz ihre Interessen

bestmöglich vertreten kann.

457 / 931

Das Luftverkehrsabkommen ist ein Integrationsabkommen, das heisst, die ins Ab-

kommen integrierten EU-Rechtsakte sind Bestandteil der schweizerischen Rechtsord-

nung, unter Berücksichtigung allfälliger Anpassungen, die der Gemischte Ausschuss

beschliesst (Art. 5 Abs. 2 und 4 IP-LuftVA).

Beim Luftverkehrsabkommen handelt es sich um ein bilaterales Abkommen in einem

Bereich betreffend den Binnenmarkt, an dem die Schweiz teilnimmt (Art. 3 Abs. 2

IP-LuftVA). Entsprechend können die Vertragsparteien zur Behebung eines mögli-

chen Ungleichgewichts verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen ergreifen (s.

Ziff. 2.1.6.4.3), entweder im Rahmen des Luftverkehrsabkommens selbst oder im

Rahmen eines anderen Abkommens in den Bereichen betreffend den Binnenmarkt, an

denen die Schweiz teilnimmt (Art. 11 Abs. 1 IP-LuftVA).

2.6.6.2

Änderungsprotokoll

Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe a des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 2 des Luft-

verkehrsabkommens (Anwendungsbereich)

Die Bestimmung hebt den Teilsatz «wie im Anhang aufgeführt» in Artikel 2 des Luft-

verkehrsabkommens auf. Im Verlaufe der Verhandlungen zeigte sich, dass der bisher

in Artikel 2 enthaltene Teilsatz «wie im Anhang aufgeführt» missverständlich sein

könnte. Der Anhang ist Gegenstand regelmässiger Aktualisierungen. Artikel 2 Luft-

verkehrsabkommen gewährleistet weiterhin, dass diejenigen Bestimmungen, die in

der EU sektorübergreifend gelten, für die Schweiz nur Anwendung finden, soweit der

Luftverkehr oder unmittelbar damit zusammenhängende Angelegenheiten im Bereich

der Zivilluftfahrt betroffen sind. Diese Einschränkung ist insofern erforderlich, als

einzelne Bestimmungen, insbesondere gewisse im Anhang des Luftverkehrsabkom-

mens integrierte EU-Rechtsakte, in der EU horizontal und nicht nur im Bereich der

Zivilluftfahrt gelten.

Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe b des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 15 Ab-

satz 3 des Luftverkehrsabkommens (Verkehrsrechte)

Der Austausch von Kabotagerechten wird ab der ersten Flugperiode nach Inkrafttreten

des ÄP-LuftVA erfolgen. Durch diesen Austausch können von nun an schweizerische

Luftfahrtunternehmen gewerbsmässige Inlandflüge (inkl. Passagiere, Fracht und/oder

Post) in einzelnen EU-Staaten und EU-Luftfahrtunternehmen gewerbsmässige In-

landflüge (inkl. Passagiere, Fracht und/oder Post) in der Schweiz durchführen. Damit

ist der Liberalisierungsprozess der Verkehrsrechte abgeschlossen und Schweizer- so-

wie EU-Luftfahrtunternehmen verfügen über die gleichen Verkehrsrechte im EU-

Luftverkehrsmarkt. Der Austausch der Kabotagerechte hat positive Auswirkungen auf

Schweizer Unternehmen, die damit neue Möglichkeiten für Flugdienstleistungen er-

halten. Diese sind unter Ziffer 2.6.9.3 dargelegt.

Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe d des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 21 des

Luftverkehrsabkommens (Gemischter Ausschuss)

Das ÄP-LuftVA sieht eine geringfügige Aktualisierung der bereits heute im Luftver-

kehrsabkommen vorhandenen Bestimmung über den Gemischten Ausschuss des Luft-

verkehrsabkommens (GA des LuftVA) vor. Im Rahmen des Pakets Schweiz-EU er-

folgt, so weit als sinnvoll, eine Vereinheitlichung der GA-Bestimmungen in allen

458 / 931

betroffenen Abkommen (siehe Ziffer 2.1.6.7). Aufgabe des GA des LuftVA ist es

weiterhin, das ordnungsgemässe Funktionieren sowie die wirksame Verwaltung und

Umsetzung des Luftverkehrsabkommens sicherzustellen. Das Luftverkehrsabkom-

men wird regelmässig mittels Beschlusses des GA des LuftVA aktualisiert. Zudem

hat der GA des LuftVA die Möglichkeit, Empfehlungen an die Vertragsparteien in

Angelegenheiten, welche das Luftverkehrsabkommens betreffen, abzugeben. Wie

bislang, wird sich der GA des LuftVA auch künftig in der Regel mindestens einmal

pro Jahr treffen und beiden Parteien als effiziente Kommunikationsplattform dienen,

welche das gute Funktionieren des Luftverkehrsabkommens seit über 20 Jahren ge-

währleistet.

Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe e des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 28a des

Luftverkehrsabkommens (Verschlusssachen)

Der neu geschaffene Artikel 28a des Luftverkehrsabkommens verweist auf beste-

hende Vorschriften zur Geheimhaltung von Verschlusssachen. Dieser Informations-

austausch ist insbesondere im Bereich der Luftsicherheit (

Security

) relevant.

Artikel 1 Absatz 2 des Änderungsprotokolls

Das Änderungsprotokoll-LuftVA sieht, soweit sinnvoll, die Angleichung gewisser

heute schon bestehender Bestimmungen im LuftVA-Anhang an Bestimmungen vor,

die neu in den Anhängen anderen Abkommen des Pakets Schweiz-EU aufgenommen

werden sollen. So wird in Anhang A LuftVA über Vorrechte und Immunitäten der

neu verhandelte Standarttext betreffend Privilegien und Immunitäten aufgenommen,

der auch in den anderen Abkommen des Pakets Schweiz-EU integriert wird, die eine

Agenturbeteiligung der Schweiz vorsehen. Ebenso wird die aktuelle Bestimmung im

zweiten Spiegelstrich des LuftVA-Anhangs an die entsprechende Bestimmung zu den

Rechten und Pflichten angeglichen, die neu in den Anhängen aller Binnenmarktab-

kommen und des Gesundheitsabkommens enthalten sein wird. Diese Regelung ist für

das LuftVA von zentraler Bedeutung: Sie stellt sicher, dass die Schweiz bzw. ihre

Wirtschaftsteilnehmenden die gleichen Rechte wie die EU-Mitgliedstaaten bzw. de-

ren Wirtschaftsteilnehmende hat und nicht als «Drittstaat» schlechter gestellt werden

kann (s. zu den abkommensübergreifend vereinheitlichten Bestimmungen Ziff.

2.1.5.7).

Artikel 2 des Änderungsprotokolls

Das Änderungsprotokoll-LuftVA gehört zum Stabilisierungsteil des Pakets Schweiz–

EU. Es tritt am ersten Tag des zweiten Monats nach der Notifizierung des Abschlusses

der internen Verfahren zur Genehmigung aller völkerrechtlichen Instrumente des Sta-

bilisierungsteils in Kraft.

2.6.6.3

Protokoll über die staatlichen Beihilfen

Das Luftverkehrsabkommen sieht bereits heute einen Beihilfeüberwachungsmecha-

nismus vor. Allfällige staatliche Unterstützungsmassnahmen im Bereich Luftfahrt

werden bei der Wettbewerbskommission (WEKO) auf ihre Vereinbarkeit mit den bei-

hilferechtlichen Bestimmungen des Luftverkehrsabkommens überprüft. Die beihilfe-

gewährende Behörde hat das Resultat der Stellungnahme der WEKO zu berücksich-

tigen. Die Stellungnahme der WEKO ist jedoch nicht verbindlich. Es besteht bislang

459 / 931

keine Beschwerdemöglichkeit der WEKO bei der Feststellung der Unzulässigkeit ei-

ner geplanten oder gewährten Beihilfe.

In Bezug auf die staatlichen Beihilfen wird die Schweiz neu einen verbindlichen Über-

wachungsmechanismus schaffen, der in die zwei bestehenden Binnenmarktabkom-

men, namentlich das LuftVA und das LandVA, sowie in das Stromabkommen aufge-

nommen wird. Die entsprechenden Regeln sind im Beihilfeprotokoll-LuftVA

festgehalten und werden in Ziffer 2.2 im Detail erläutert.

Die bisherigen Beihilfebestimmungen in den Artikeln 13 und 14 des LuftVA werden

durch das Beihilfeprotokoll-LuftVA aufgehoben. Zudem wird im Beihilfeprotokoll-

LuftVA festgehalten, dass Artikel 12 Absatz 2 des LuftVA für die Zwecke des Bei-

hilfeprotokolls-LuftVA keine Anwendung findet, weil im Artikel 3 Absatz 5 des Bei-

hilfeprotokolls-LuftVA eine entsprechende Ausnahme für Beihilfen an Unternehmen,

die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind

oder den Charakter eines Finanzmonopols haben, eigens vorgesehen ist (siehe Zif-

fer 2.2.5.2).

Wie unter Ziffer 2.2.5.3 beschrieben, gilt grundsätzlich ein Beihilfeverbot mit ver-

schiedenen Legal- und Ermessensausnahmen, welche auch im Luftverkehr zur An-

wendung kommen. Für den Luftverkehr ist dabei insbesondere Artikel 3 Absatz 3

Buchstabe b des Protokolls wichtig, der Beihilfen zur Behebung einer beträchtlichen

Störung im Wirtschaftsleben (wie z. B. der Covid-19 Pandemie) erlaubt. Anhang I des

Protokolls über staatliche Beihilfen sieht ein System von Ausnahmen und Präzisie-

rungen vor, wonach die Vertragsparteien weitere Beihilfen oder Beihilfekategorien

bestimmen können, die unter die Legal- oder Ermessensausnahmen fallen. So wurde

gemäss Artikel 3 Absatz 2 Buchstabe d des Protokolls in Anhang I ein Abschnitt A

eingefügt, aus dem die Beihilfen ersichtlich sind, die die Vertragsparteien als mit dem

Binnenmarkt vereinbar ansehen. Zudem wurde gemäss Artikel 3 Absatz 3 Buch-

stabe e des Protokolls ein Abschnitt B in Anhang I aufgenommen, der die Beihilfen

nennt, die von den Vertragsparteien als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen

werden können. Gegenwärtig enthalten diese beiden Abschnitte keine Beihilfen. Der

Gemischte Ausschuss des Luftverkehrsabkommens kann sie in Zukunft aber ergän-

zen.

Des Weiteren sieht Artikel 3 Absatz 4 des Protokolls über staatliche Beihilfen vor,

dass Beihilfen, die nach Anhang I Abschnitt C gewährt werden, als mit dem Binnen-

markt vereinbar gelten und von der Notifizierungspflicht befreit werden. Abschnitt C

(Gruppenfreistellungen) enthält einen Verweis auf die Kapitel I und III der Verord-

nung (EU) Nr. 651/2014 zur Feststellung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von

Beihilfen mit dem Binnenmarkt. Für den Luftverkehr bedeutet dies insbesondere, dass

unter gewissen Umständen Beihilfen für Regionalflughäfen möglich sind.

2.6.7

Grundzüge des Umsetzungserlasses

Wie in Ziffer 2.6.6.2 beschrieben, wird mit Artikel 1 Absatz 2 des Änderungsproto-

kolls zum Luftverkehrsabkommen dessen Artikel 15 Absatz 3 so angepasst, dass

460 / 931

schweizerische und europäische Luftfahrtunternehmen Kabotageflüge, das heisst ge-

werbliche Inlandsflüge, durchführen dürfen. Diese Änderung ist mit Artikel 32 des

Luftfahrtgesetzes

425

(LFG) vereinbar.

2.6.7.1

Umsetzungsgesetzgebung

Für die Umsetzung in der Schweiz muss die Zollverordnung

426

(ZV) dahingehend

angepasst werden, dass darin die gemäss dem bilateralen Abkommen zwischen der

Schweiz und der EU zugelassenen Kabotageflüge ebenfalls berücksichtigt werden.

Auf diese Weise kann die zollfreie vorübergehende Verwendung von ausländischen

Luftfahrzeugen für Binnentransporte, die nach dem Luftfahrtrecht zu sogenannten

«gewerblichen» Zwecken durchgeführt werden, vorbehaltlich der Einhaltung der

Zollformalitäten und unter der Voraussetzung, dass der Staat des Luftfahrtunterneh-

mens Gegenrecht gewährt, bewilligt werden.

Die Umsetzung des Protokolls über staatliche Beihilfen durch das neue Beihilfeüber-

wachungsgesetz (BHÜG) wird in Ziffer 2.2 erläutert (s. insb. Ziff. 2.2.6 und 2.2.7).

Der bestehende Überwachungsmechanismus im Luftverkehr wird durch die im

BHÜG für die Bereiche Luftverkehr, Landverkehr und Strom einheitlich geregelte

Beihilfeüberwachung abgelöst. Entsprechend wird Artikel 103 LFG angepasst um neu

auf Artikel 3 des Beihilfeprotokolls-LuftVA für die verhandelte Übergangsphase

(fünf Jahre) zu verweisen. Danach wird Artikel 103 LFG aufgehoben, da die Bestim-

mungen nach VE-BHÜG in Kraft treten (Siehe Ziffern 2.2.8.4 und 2.2.9).

2.6.7.2

Begleitmassnahmen mit Gesetzesanpassungen

Die Vorlage bedarf keiner Begleitmassnahmen mit Gesetzesanpassungen im Bereich

Luftverkehr.

2.6.7.3

Begleitmassnahmen ohne Gesetzesanpassungen

Die Vorlage bedarf keiner Begleitmassnahmen ohne Gesetzesanpassungen im Be-

reich Luftverkehr.

2.6.7.4

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

Die vorgeschlagene Änderung basiert auf Reziprozität und ist somit ausgewogen.

2.6.7.5

Umsetzungsfragen

Das BAZG und die ESTV wurden konsultiert. Die Umsetzungsarbeiten werden eng

aufeinander abgestimmt.

425

SR

748.0

426

SR

631.01

461 / 931

2.6.8

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des

Umsetzungserlasses

Wie in Ziffer 2.6.7.1 erwähnt, schafft die vorgeschlagene Änderung eine Ausnahme

vom allgemeinen Verbot der zollfreien vorübergehenden Verwendung von ausländi-

schen Beförderungsmitteln für Binnentransporte zu gewerblichen Zwecken, wie in

Artikel 34 Absatz 1 ZV vorgesehen.

Ein neuer Absatz soll Artikel 34 ZV ergänzen. Dieser Absatz betrifft Luftfahrtunter-

nehmen, welche Binnentransporte, die im Rahmen der vorübergehenden Verwendung

durchgeführt werden können, betreiben. Diese neuen Vorteile kommen Luftfahrtun-

ternehmen mit Verkehrsrechten zum Betrieb einer Luftverkehrslinie, das heisst eines

Fluges, bei dem im Sinne von Artikel 100 der Luftfahrtverordnung

427

(LFV) gegen

Entgelt Fluggäste, Fracht und/oder Post befördert werden, zugute.

2.6.9

Auswirkungen des Paketelements

2.6.9.1

Auswirkungen auf den Bund

Das ÄP-LuftVA hat keine Auswirkungen auf den Ressourcenbedarf des Bundes. Das

IP-LuftVA sieht unter anderem die vollumfängliche Absicherung der Schweizer Mit-

spracherechte bei der Erarbeitung von EU-Rechtsakten im Anwendungsbereich des

Luftverkehrsabkommens in allen relevanten Gremien vor. Der dadurch entstehende

Aufwand kann mit den bestehenden Ressourcen bewältigt werden.

Es ist nicht zu erwarten, dass Entlastungen für den Ressourcenbedarf des Bundes

durch das ÄP-LuftVA und das IP-LuftVA entstehen. Dies ist darauf zurückzuführen,

dass der zusätzliche sektorspezifische Anpassungsbedarf im Bereich Luftverkehr im

Rahmen des Pakets Schweiz-EU vergleichsweise gering ist. Die bestehenden Pro-

zesse betr. GA des LuftVA und zur Aktualisierung des Anhangs zum LuftVA funkti-

onieren und benötigen keine zusätzlichen Ressourcen.

Die Auswirkungen der neu geregelten Überwachung der staatlichen Beihilfen auf den

Ressourcenbedarf des Bundes werden unter Ziffern 2.2.10.1 beschrieben. Die voraus-

sichtlichen sektorspezifischen Tätigkeiten im Bereich Luftverkehr können mit beste-

henden Ressourcen bewältigt werden.

Die durch das EU-Programmabkommen ermöglichte Teilnahme von Schweizer Un-

ternehmen am Forschungsprogramm SESAR 3 hat ebenfalls keinen Ressourcenbedarf

des Bundes zur Folge.

2.6.9.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf

urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

Theoretisch könnten Kantone von der Beihilfeüberwachung in Bezug auf Regional-

flughäfen betroffen sein. Im EU-Beihilferecht sind gemäss Leitlinien für staatliche

427

SR

748.01

462 / 931

Beihilfen für Flughäfen und Luftverkehrsgesellschaften

428

mögliche Betriebsbeihil-

fen für Regionalflughäfen mindestens bis April 2027 erlaubt. Dieses Datum wurde

bereits mehrmals verschoben und ist Gegenstand einer laufenden Überprüfung der

Europäischen Kommission. Auch die sogenannte Gruppenfreistellungsverordnung

(siehe 2.6.6.3) sieht die Möglichkeit von Betriebsbeihilfen vor (für Flugplätze bis

200'000 Passagiere pro Jahr). Allfällige bestehende Beihilferegelungen, die Betriebs-

beihilfen für Regionalflughäfen vorsehen, werden nach Ablauf der Übergangsfrist

durch die Schweizer Überwachungsbehörde überprüft.

2.6.9.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Die Aktualisierung des Luftverkehrsabkommens bringt Rechtssicherheit und wirkt

dem Risiko entgegen, dass bei einer fehlenden Aktualisierung langfristig ein Wegfall

des Luftverkehrsabkommens drohen würde.

2.6.9.3.1

Auswirkungen auf die Unternehmen

Das Luftverkehrsabkommen regelt den gegenseitigen Zugang der Schweizer und EU-

Luftfahrtunternehmen zum liberalisierten Luftverkehrsmarkt. Dank ihm sind Schwei-

zer Luftfahrtunternehmen ihren EU-Mitbewerbern gleichgestellt. Davon profitieren

auch die Schweizer Landesflughäfen. Daneben können auch Herstellerbetriebe, Kom-

ponentenhersteller und Unterhaltsbetriebe ihre Aufgaben dank dem gegenseitigen Zu-

gang zum liberalisierten Luftverkehrsmarkt unter gleichen Wettbewerbsbedingungen

wie EU-Unternehmen erfüllen.

Das Luftverkehrsabkommen ermöglicht es schweizerischen Luftfahrtunternehmen,

Flughäfen in der EU grundsätzlich uneingeschränkt anzufliegen. Ebenso können EU-

Luftfahrtunternehmen Flughäfen in der Schweiz grundsätzlich uneingeschränkt an-

fliegen.

Mit dem Austausch der Kabotagerechte eröffnet sich für Schweizer Luftfahrtunter-

nehmen ein Markt für gewerbsmässige Inlandsflüge in den Mitgliedsstaaten, während

EU-Unternehmen fortan in der Schweiz gewerbsmässige Inlandflüge durchführen

können (zum Beispiel auf der Strecke Genf–Lugano). Die Unternehmen gewinnen

damit an Flexibilität bei der Erstellung ihrer Flugpläne sowie der Erschliessung neuer

Routen. Dabei ist zu bemerken, dass die Umsetzung solcher Flüge einzig in Folge

ausreichender Nachfrage und dem entsprechenden Angebot der Unternehmen zu

Stande kommt. Aus der Gewährung der Kabotagerechte entstehen keine neuen Pflich-

ten für Unternehmen oder zusätzliche Regulierungskosten.

Die Absicherung der Schweizer Mitspracherechte stärkt den Wirtschaftsstandort

Schweiz für die innovative Luftfahrtindustrie und unterstützt eine vielseitige sowie

stabile Anbindung der Schweiz sowohl für Tourismus und Geschäftsreisen als auch

für den Export sowie Import von Luftfracht und -post.

428

Mitteilung der Kommission vom 4.4.2014; Leitlinien für staatliche Beihilfe für Flughäfen

und Luftverkehrsgesellschaften (2014/C 99/03).

463 / 931

Mit Blick auf das Schweizer Flugsicherungssystem ist festzuhalten, dass mit der voll-

wertigen Teilnahme der Schweizer Industrie an SESAR 3 einem wichtigen Anliegen

der Schweiz entsprochen wurde. Das Forschungsprogramm SESAR 3 hat die Moder-

nisierung der europäischen Flugsicherung sowie die Förderung und Marktintegration

von neuen, richtungsweisenden Technologien (u.a. Digitalisierung, Künstliche Intel-

ligenz, Integration von Drohnen in den Luftraum) zum Ziel. Die Teilnahme an

SESAR 3 ermöglicht Schweizer Unternehmen die Innovationen im Bereich des Flug-

verkehrsmanagements mitzugestalten und von den relevanten Fördermitteln der EU

zu profitieren. Diese Mittel werden von der EU durch Teile des Budgets von Horizon

Europe gespiesen. Konkret beläuft sich der Haushaltsrahmen von SESAR 3 für die

Jahre 2021-2027 auf insgesamt 1.8 Milliarden Euro. Die Schweiz wird im Rahmen

des EU-Programmabkommens einen horizontalen Beitrag für Horizon Europe zahlen,

jedoch keinen separaten Beitrag für SESAR 3 leisten.

2.6.9.3.2

Auswirkungen auf weitere Akteure

Es ist davon auszugehen, dass eine fehlende Aktualisierung langfristig zu weniger

Direktverbindungen in die Schweiz führen würde

429

. Neben diesem reduzierten An-

gebot für Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten könnten ohne Luftverkehrs-

abkommen aufgrund der fehlenden Konkurrenz auf gewissen Strecken auch die Flug-

preise steigen.

2.6.9.3.3

Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft

Ecoplan (2025, S. 96) rechnet für den Fall eines Wegfalls des Luftverkehrsabkom-

mens mit einem Rückgang des BIP um 0.21 % im Jahr 2045. Für den Luftfahrtsektor

der Schweiz wird im gleichen Szenario mit einer realen Umsatzeinbusse von 8.5 %

gerechnet. Diese Effekte resultieren aus höheren Zeitkosten für Warte- und Umstei-

gevorgänge aufgrund einer Reduktion der direkten Flugverbindungen.

Die Reduktion der direkten Verbindungen wäre laut Ecoplan insbesondere darauf zu-

rückzuführen, dass bei Wegfall des Luftverkehrsabkommens mit der EU die einzelnen

Luftverkehrsabkommen zwischen der Schweiz und den EU-Mitgliedsstaaten massge-

bend wären. Diese wurden zuletzt vor Inkrafttreten des Luftverkehrsabkommens mit

der EU aktualisiert und müssten neu verhandelt werden, da sie restriktivere Verkehrs-

rechte vorsehen. Laut Ecoplan ist es schwierig einzuschätzen, inwieweit die Schweiz

bei einem Wegfall des Luftverkehrsabkommens mit der EU vorteilhafte Konditionen

in den einzelnen Abkommen mit den Mitgliedsstaaten der EU aushandeln könnte.

Die durch das Luftverkehrsabkommen ermöglichten Direktverbindungen haben auch

für die Luftfracht eine grosse Bedeutung, da ein Grossteil der Güter am Luftfracht-

standort Schweiz auf Passagierflügen transportiert wird. Der Luftfracht kommt für die

Wertschöpfungsketten gewisser Branchen ein hoher Stellenwert zu (z.B. Pharma-In-

dustrie, Chemie, Maschinenbau) zu. Die zusätzlichen Frachtkosten bei einem Wegfall

von Direktverbindungen sind aus heutiger Perspektive nicht quantifizierbar, weshalb

sie in den erwähnten Berechnungen nicht berücksichtigt wurden.

429

Ecoplan (2025): «Volkswirtschaftliche Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen I».

Grundlagen für die Wirtschaftspolitik Nr. 56. Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Bern,

Schweiz, S.53.

464 / 931

Grundsätzlich bewirkt eine verbindliche Beihilfeüberwachung in der Schweiz eine

wettbewerbsfreundlichere Ausgestaltung der geplanten Beihilfen. Auch in der Luft-

fahrt ist damit zu rechnen, dass stark wettbewerbsverzerrende Beihilfen angepasst

oder zurückgezogen werden.

Die Überwachung der staatlichen Beihilfen in der EU im Bereich Luftverkehr ist im

Interesse der Schweiz, da in der EU angesiedelte Unternehmen dadurch keinen Wett-

bewerbsvorteil durch unzulässige staatliche Beihilfen erlangen.

2.6.9.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Es werden keine nennenswerten Auswirkungen auf die Gesellschaft erwartet.

2.6.9.5

Auswirkungen auf die Umwelt

Das seit Jahren gut funktionierende Luftverkehrsabkommen trägt dazu bei, dass es

mehr Flugverbindungen aus der und in die Schweiz gibt. Diese Flugverbindungen

führen zu Lärm- und Schadstoffemissionen mit entsprechenden Auswirkungen auf die

Umwelt und die direkt betroffene Bevölkerung. Ein Anstieg der Flugbewegungen in

der Schweiz als direkte Konsequenz des ÄP-LuftVA, des IP-LuftVA, sowie des Bei-

hilfeprotokolls-LuftVA ist nicht zu erwarten. Der Austausch der Kabotagerechte

dürfte nicht zu einer relevanten Erhöhung der Anzahl Flugbewegungen in der Schweiz

führen. Deshalb werden von den Anpassungen des Luftverkehrsabkommens keine

nennenswerten zusätzlichen negativen Auswirkungen auf die Umwelt erwartet.

Gleichzeitig ist die Aktualisierung des Anhangs des Luftverkehrsabkommens bedeu-

tend für einen zielgerichteten Umweltschutz im Bereich Luftverkehr. Durch die re-

gelmässige Aktualisierung des Anhangs können gleiche Wettbewerbsbedingungen in

der Schweiz und der EU auch für umweltrelevante Märkte (z.B. nachhaltiger Flug-

treibstoff) geschaffen werden.

Im Rahmen von SESAR 3 sollen unter anderem auch umweltwirksame Ineffizienzen

im Flugverkehrsmanagement adressiert werden. Das Forschungs- und Innovations-

programm strebt eine digitale Transformation im Flugverkehrsmanagement an und

entwickelt technologische und operationelle Lösungen, welche die durch den Luftver-

kehr verursachte Klimawirkung insgesamt verringert.

2.6.9.6

Andere Auswirkungen

Es werden keine anderen Auswirkungen erwartet.

2.6.10

Rechtliche Aspekte des Paketelements

Dieser Abschnitt behandelt das ÄP-LuftVA. Ausführungen zum IP-LuftVA bezie-

hungsweise zum Beihilfeprotokoll-LuftVA befinden sich unter den Ziffern 2.1.9 be-

ziehungsweise 2.2.10, es sei denn es wird nachstehend ausdrücklich auf diese Proto-

kolle Bezug genommen.

465 / 931

2.6.10.1

Verfassungsmässigkeit der Protokolle

Das Änderungsprotokoll-LuftVA stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 der Bundesver-

fassung (BV), wonach der Bund für die auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist.

Artikel 184 Absatz 2 BV ermächtigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu un-

terzeichnen und zu ratifizieren. Die Bundesversammlung ist nach Artikel 166 Ab-

satz 2 BV für die Genehmigung völkerrechtlicher Verträge zuständig, sofern für deren

Abschluss nicht aufgrund von Gesetz oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat

zuständig ist (Art. 24 Abs. 2 ParlG; Art. 7a Abs. 1 RVOG).

Es ist nicht abschliessend geklärt, ob der Austausch von Kabotagerechten (Art. 1, Abs.

2 des Änderungsprotokolls LuftVA) in den Anwendungsbereich von Art. 3a Abs. 1

Bst. a LFG fällt. Unabhängig von der Antwort auf diese Frage wird das Änderungs-

protokoll aufgrund des Zusammenhangs mit den anderen Abkommen des Stabilisie-

rungspakets (gegenseitig bedingtes Inkrafttreten, Ziff. 2.1.6.6) der Bundesversamm-

lung zur Genehmigung unterbreitet.

Die Verfassungsmässigkeit des IP-LuftVA wird unter Ziffer 2.1.8.1 erläutert.

Die Verfassungsmässigkeit des Beihilfeprotokolls-LuftVA wird unter Ziffer 2.2.11.1

erläutert.

2.6.10.2

Verfassungsmässigkeit der Umsetzungsgesetzgebung und

Begleitmassnahmen

Durch das Beihilfeprotokoll-LuftVA werden die Artikel 13 und 14 des Luftverkehrs-

abkommens aufgehoben. Bis zum Inkrafttreten des Beihilfeüberwachungsgesetzes

bedarf es deshalb einer Änderung von Artikel 103 des Luftfahrtgesetzes (siehe Ziffer

2.6.7). Die Änderung von Artikel 103 LFG stützt sich auf Artikel 87 BV.

Die Kompetenzgrundlagen für das Beihilfeüberwachungsgesetz sind unter der Ziffer

2.2 erläutert.

Durch das ÄP-LuftVA ergeben sich einzig Anpassungen betreffend innerschweizeri-

sche Flüge in der Zollverordnung. Diese Änderungen lassen sich auf Artikel 133 BV

und das Zollgesetz vom 18. März 2005

430

stützen und sind unter der Ziffer 2.6.7 er-

läutert.

2.6.10.3

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der

Schweiz

Im Bereich der Luftfahrt ist die Schweiz durch zahlreiche internationale Verpflich-

tungen gebunden. Das Übereinkommen über die internationale Zivilluftfahrt

431

, ab-

geschlossen in Chicago am 7. Dezember 1944 (Übereinkommen von Chicago), ist die

regulatorische Grundlage der internationalen Zivilluftfahrt und besteht aus einem

Haupttext sowie 19, meist technischen, Anhängen. Die bilateralen Luftverkehrsab-

kommen zwischen der Schweiz und einem Grossteil aller Staaten regeln insbesondere

430

SR

631.0

431

SR

0.748.0

466 / 931

die Verkehrsrechte zwischen der Schweiz und diesen Staaten. Vor Inkrafttreten des

Luftverkehrsabkommens im Jahr 2002 hatte die Schweiz bilaterale Luftverkehrsab-

kommen mit einigen EU-Staaten abgeschlossen. Anhang Q des Übereinkommens zur

Errichtung der Europäischen Freihandelsassoziation

432

(EFTA), der sich am Luftver-

kehrsabkommen zwischen der Schweiz und der EU orientiert und am gleichen Tag in

Kraft getreten ist, regelt die Beziehungen im Bereich Luftverkehr zwischen den

EFTA-Mitgliedstaaten.

Das ÄP-LuftVA, das IP-LuftVA sowie das Beihilfeprotokoll-LuftVA sind mit dem

Haupttext des Übereinkommens von Chicago vereinbar. Bzgl. der technischen An-

hänge des Übereinkommens von Chicago darf die Schweiz, falls nötig, völkerrecht-

lich erlaubte Abweichungen anmelden.

Die Protokolle sind ebenfalls mit den bilateralen Luftverkehrsabkommen zwischen

der Schweiz und einem Grossteil aller Staaten vereinbar. Im Falle der einzelnen bila-

teralen Abkommen zwischen der Schweiz und einigen EU-Staaten sieht Artikel 16

des Luftverkehrsabkommens bereits heute vor, dass die Bestimmungen des relevanten

Kapitels des Luftverkehrsabkommens denjenigen der einzelnen bilateralen Abkom-

men mit den EU-Staaten vorgehen. Dies bedeutet insbesondere, dass der Austausch

der Kabotagerechte gewährleistet ist, obwohl dieser in der Regel nicht in den Bestim-

mungen der einzelnen bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und einigen EU-

Staaten vorgesehen ist.

Auch mit dem revidierten EFTA-Übereinkommen vom 21. Juni 2001 sind die Proto-

kolle vereinbar. Die Protokolle finden nur im Verhältnis zwischen der Schweiz und

der EU und ihren Mitgliedstaaten, nicht aber im Verhältnis zu den EFTA-Staaten An-

wendung. Zwischen der Schweiz und den EFTA-Staaten gelten im Bereich der Zivil-

luftfahrt daher weiterhin die im Anhang Q des EFTA-Übereinkommens enthaltenen

Bestimmungen, die mit dem geltenden LuftVA weitgehend übereinstimmen.

Um weiterhin möglichst einheitliche Regeln zwischen den EU- und EFTA-

Mitgliedstaaten zu gewährleisten, wird eine Anpassung des Anhangs Q des EFTA-

Übereinkommens an im Rahmen des Pakets Schweiz-EU vorgenommen Änderungen

des Luftverkehrsabkommens zu prüfen sein.

2.6.10.4

Erlassform

Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 der BV unterliegen völkerrechtliche

Verträge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige rechtsetzende Bestimmun-

gen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Nach

Artikel 22 Absatz 4 des Parlamentsgesetzes

433

(ParlG) sind unter rechtsetzenden Nor-

men jene Bestimmungen zu verstehen, die in unmittelbar verbindlicher und generell-

abstrakter Weise Pflichten auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festle-

gen. Als wichtig gelten Bestimmungen, die auf der Grundlage von Artikel 164 Ab-

satz 1 BV in der Form eines Bundesgesetzes erlassen werden müssten.

432

SR

0.632.31

433

SR

171.10

467 / 931

Das ÄP-LuftVA, das IP-LuftVA sowie das Beihilfeprotokoll-LuftVA enthalten wich-

tige rechtsetzende Bestimmungen. Das Beihilfeprotokoll-LuftVA erfordert zudem für

seine Umsetzung den Erlass und die Anpassung von Bundesgesetzen. Der Bundesbe-

schluss über die Genehmigung des Vertrages ist deshalb dem fakultativen Referen-

dum nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV zu unterstellen (siehe aber

die Varianten in Ziff. 4.1).

2.6.10.5

Vorläufige Anwendung

Im Rahmen der Assoziierung der Schweiz an Horizon Europe sind Schweizer Unter-

nehmen bereits ab 2025 berechtigt, als sogenannte

beneficiaries

an Projekten von

SESAR 3 teilzunehmen. Die Möglichkeit der vorläufigen Teilnahme an SESAR 3

ergibt sich aus dem EU-Programmabkommen, welches unter Ziffer 2.8 genauer er-

läutert ist.

2.6.10.6

Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass

Es gibt keine besonderen rechtlichen Aspekte zum Umsetzungserlass.

2.6.10.7

Datenschutz

Der Datenschutz ist von der Vorlage nicht betroffen.

468 / 931

2.7

Landwirtschaft

2.7.1

Zusammenfassung

Die EU ist bei den Agrarerzeugnissen die wichtigste Handelspartnerin der Schweiz:

Im Jahr 2023 gingen die Hälfte der Exporte in die EU, drei Viertel (74 %) der Importe

stammten aus der EU. Der jährliche Handel umfasst Agrarprodukte und Lebensmittel

im Wert von über 16 Milliarden Franken.

Der Handel mit diesen Produkten ist Gegenstand des Abkommens zwischen der

Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den

Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen vom 21. Juni 1999

434

(nachstehend

Landwirtschaftsabkommen

). Das Landwirtschaftsabkommen war als eines der Ab-

kommen, welches die Beteiligung am EU-Binnenmarkt ermöglicht, ebenfalls Gegen-

stand der Verhandlungen zum Paket (Schweiz–EU), die im März 2024 mit der EU

aufgenommen wurden. Gemäss Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 bestand das

Ziel darin, die Integration der institutionellen Elemente in das Landwirtschaftsabkom-

men (s. Ziff. 2.1) und die Erweiterung des Landwirtschaftsabkommens im Bereich der

Lebensmittelsicherheit zur Errichtung eines gemeinsamen Lebensmittelsicherheits-

raums, der alle pflanzengesundheitsrelevanten, veterinär- und lebensmittelrechtlichen

Aspekte entlang der Lebensmittelkette umfasst und den Marktzugang durch einen um-

fassenden Abbau nichttarifärer Handelshemmnisse weiter erleichtert (s. Ziff. 2.12 Le-

bensmittelsicherheit).

Das Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 hielt gleichzeitig fest, dass die Souverä-

nität der Schweizer Agrarpolitik unberührt und eine Harmonisierung der Agrarpolitik

ausgeschlossen bleiben müsse. Zudem galt es gemäss Verhandlungsmandat, die Zölle,

einschliesslich der Zollkontingente und deren Verwaltungsmethode, beizubehalten.

Diese Ziele wurden vollumfänglich erreicht.

Im Verlauf der Verhandlungen sind die Parteien übereingekommen, das Landwirt-

schaftsabkommen in zwei Teile zu gliedern: Einen sogenannten Agrarteil und einen

Lebensmittelsicherheitsteil, der durch ein Protokoll zum Landwirtschaftsabkommen

zur Errichtung eines gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums (nachstehend

Pro-

tokoll zur Lebensmittelsicherheit

) geregelt wird (s. Ziff. 2.12)

.

In den Verhandlungen wurde erreicht, dass die institutionellen Elemente, insbeson-

dere die dynamische Rechtsübernahme, auf den Agrarteil nicht anwendbar sind. Es

soll aber auch für den Agrarteil künftig ein Streitschlichtungsmechanismus mit einem

Schiedsgericht zur Verfügung stehen. Dabei ist jedoch keine Rolle für den Gerichts-

hof der Europäischen Union (EuGH) vorgesehen. Zudem sind im Agrarteil des Land-

wirtschaftsabkommens keine Ausgleichsmassnahmen im Falle einer Verletzung eines

anderen Abkommens möglich, welches die Beteilung am EU-Binnenmarkt regelt.

An den bestehenden Anhängen des Agrarteils des Landwirtschaftsabkommens wur-

den keine Änderungen vorgenommen. Sie werden auch in Zukunft weiterfunktionie-

434

SR

0.916.026.81

469 / 931

ren und aktualisiert werden wie bisher. Dies beinhaltet die gegenseitigen Zollzuge-

ständnisse sowie den Käsefreihandel, den Handel mit Weinbauerzeugnissen und Spi-

rituosen inkl. die gegenseitige Anerkennung der Wein- und Spirituosenbezeichnun-

gen,

die

landwirtschaftlichen

Erzeugnisse

und

Lebensmittel

aus

biologischem/ökologischem Landbau, die Anerkennung der Kontrolle der Konformi-

tät mit den Vermarktungsnormen für frisches Obst und Gemüse sowie den Schutz von

Ursprungsbezeichnungen und geografischen Angaben für Agrarerzeugnisse und Le-

bensmittel.

Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt und in Teilen

übertroffen (s. Ziff. 5.3). Er beantragt im Rahmen des Stabilisierungsteils des Pakets

Schweiz–EU die Genehmigung des Änderungsprotokolls zum Landwirtschaftsab-

kommen, welches die Anpassungen an dessen Agrarteil enthält.

2.7.2

Ausgangslage

Zwischen der Schweiz und der EU werden jedes Jahr Agrarprodukte und Lebensmittel

im Wert von über 16 Milliarden Franken gehandelt. Die EU ist auch bei den Agrarer-

zeugnissen die wichtigste Handelspartnerin der Schweiz: Im Jahr 2023 gingen die

Hälfte der Exporte in die EU, drei Viertel (74 %) der Importe stammten aus der EU

435

.

Der Handel mit diesen Produkten ist Gegenstand des Landwirtschaftsabkommens, das

Teil der Bilateralen I ist. Das Landwirtschaftsabkommen sieht gegenseitige Zollkon-

zessionen für ausgewählte Produkte (Anhänge 1 und 2) sowie die vollständige Libe-

ralisierung des Käsehandels (Anhang 3) vor. Es vereinfacht den Handel mit Agrarer-

zeugnissen zudem durch den Abbau oder die Aufhebung von nichttarifären

Handelshemmnissen, die durch unterschiedliche Produktvorschriften und Zulas-

sungsbestimmungen entstehen. Hierzu erkennen die Schweiz und die EU ihre Rechts-

vorschriften in den Bereichen Pflanzengesundheit (Anhang 4), Futtermittel (An-

hang 5), Saatgut (Anhang 6), Weinbauerzeugnisse und Spirituosen (Anhänge 7 und

8), biologische Landwirtschaft (Anhang 9), Vermarktungsnormen für Früchte und

Gemüse (Anhang 10) sowie Tiere und tierische Produkte (Anhang 11) als gleichwer-

tig an. Damit können beispielsweise Schweizer Bioprodukte ohne zusätzliche Zertifi-

kate und Kontrollen in die EU exportiert werden. Das Abkommen sieht ausserdem

den gegenseitigen Schutz von geschützten Ursprungsbezeichnungen und geschützten

geografischen Angaben für landwirtschaftliche Erzeugnisse und Lebensmittel inklu-

sive Wein und Spirituosen vor (Anhänge 7, 8 und 12).

Das Landwirtschaftsabkommen war Teil der Paketverhandlungen zwischen der

Schweiz und der EU, die im März 2024 aufgenommen wurden.

2.7.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

Im Rahmen der exploratorischen Gespräche (s. Ziff. 1.3.1) kamen die Parteien zum

Schluss, dass die neuen institutionellen Elemente auch im Landwirtschaftsabkommen

verankert werden sollten. Zudem vereinbarten sie Verhandlungen zur Erweiterung des

435

Quelle BAZG und Berechnungen BLW.

470 / 931

Landwirtschaftsabkommens im Bereich Lebensmittelsicherheit zur Ausdehnung der

bestehenden Zusammenarbeit auf die ganze Lebensmittelkette (s. Ziff. 2.12).

436

Diese Zielsetzungen wurden in das Schweizer Verhandlungsmandat vom 8. März

2024 aufgenommen. Für die Landwirtschaft hielt das Verhandlungsmandat explizit

fest, dass eine Harmonisierung der Agrarpolitiken der Schweiz und der EU ausge-

schlossen ist und die Souveränität in der Agrarpolitik sowie die bestehende Regelung

betreffend Zölle, einschliesslich der Zollkontingente und deren Verwaltungsmethode,

von den Verhandlungen unberührt bleiben.

Die Verhandlungen zum Landwirtschaftsabkommen (inkl. Erweiterung im Bereich

der Lebensmittelsicherheit) wurden in der Verhandlungsgruppe «Landwirtschaft und

Lebensmittelsicherheit» geführt. Die erste Verhandlungsrunde fand am 21. März

2024 statt. Insgesamt haben elf formelle Verhandlungsrunden stattgefunden. Diese

Verhandlungsrunden wurden durch informellen Austausch und mit Treffen auf tech-

nischer Ebene ergänzt. Am 20. Dezember 2024 konnten die Verhandlungen materiell

abgeschlossen werden.

Im Verlauf der Verhandlungen einigten sich die Schweiz und die EU darauf, das

Landwirtschaftsabkommen in einen Agrarteil und in einen Lebensmittelsicherheitsteil

aufzuteilen. Im Agrarteil sollen fortan die bestehenden Anhänge 1-3, 7-10 und 12 ver-

bleiben. Die Schweiz konnte erreichen, dass die EU auf eine vollständige Integration

der neuen institutionellen Bestimmungen in den Agrarteil des Landwirtschaftsabkom-

mens verzichtete. Insbesondere wurde im Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens

von der Einführung der dynamischen Rechtsübernahme (s. Ziff. 2.1) abgesehen. Ähn-

lich wie in rund 30 Freihandelsabkommen, welche die Schweiz mit unterschiedlichen

Partnern abgeschlossen hat,

437

wird neu auch im Agrarteil die Möglichkeit geschaf-

fen, im Streitfall ein Schiedsgericht anzurufen, wenn keine Einigung im Gemischten

Ausschuss für Landwirtschaft möglich ist. Eine Rolle für den Europäischen Gerichts-

hof (EuGH) ist in diesem Streitbeilegungsmechanismus nicht vorgesehen.

Das Verhandlungsergebnis erfüllt das Schweizer Verhandlungsmandat. Mit dem Ver-

zicht auf die vollständige Integration der institutionellen Bestimmungen in den Agr-

arteil des Landwirtschaftsabkommens hat die Schweiz sogar mehr erreicht als in ihren

Verhandlungszielen ursprünglich vorgesehen.

Die entsprechenden Änderungen und Ergänzungen des Agrarteils des Landwirt-

schaftsabkommens wurden in einem Änderungsprotokoll zum Landwirtschaftsab-

kommen (nachstehende

Änderungsprotokoll

) festgehalten. Diesem beigefügt ist im

Anhang ein Protokoll zum Schiedsgericht.

2.7.4

Vorverfahren

Die aussenpolitischen Kommissionen (APK), weitere interessierte Kommissionen des

Parlaments sowie die Kantone (KdK), die Sozialpartner und die Wirtschaft haben im

Rahmen der Ausarbeitung des Verhandlungsmandats Stellung genommen. In diesem

436

Siehe dazu

Common Understanding

, Ziffer 1 und 3.

437

Siehe bspw. FHA Schweiz- Japan, SR.

0.946.294.632

471 / 931

Rahmen hat unter anderem auch der Schweizer Bauernverband eine Stellungnahme

abgegeben. Der Bundesrat hat die insbesondere vom Schweizer Bauernverband im

Rahmen dieser Konsultation gewünschten Präzisierungen unter anderem zur Beibe-

haltung der Zolltarife einschliesslich der Zollkontingente und Bewirtschaftungsme-

thoden sowie zur Beibehaltung der Souveränität der Schweiz in der Agrarpolitik ins

Schweizer Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 aufgenommen (s. Ziff. 1.3.1), das

mit dem Verhandlungsergebnis vollständig erfüllt werden konnte.

2.7.5

Grundzüge des Protokolls

Mit dem Änderungsprotokoll soll einerseits der neuen Situation Rechnung getragen

werden, dass die Inhalte der Anhänge 4, 5, 6 und 11 des Landwirtschaftsabkommens

in Zukunft im Protokoll zur Lebensmittelsicherheit geregelt werden. Andererseits

werden einzelne Artikel im Agrarteil modernisiert, darunter der Artikel zur Streitbei-

legung. An den bestehenden Anhängen 1–3, 7–10 und 12 des Landwirtschaftsabkom-

mens wurden keine Änderungen vorgenommen. Diese Anhänge werden auch in Zu-

kunft nicht der dynamischen Rechtsübernahme unterstellt sein und damit

weiterfunktionieren wie bisher.

Der Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens umfasst demnach künftig:

Die Anhänge 1-3: gegenseitige Zollzugeständnisse und Käsefreihandel.

Die Anhänge 7 und 8: Erleichterung des Handels mit Wein und Spirituosen

durch zwischen den Parteien vereinbarte Regeln und Zusammenarbeit so-

wie gegenseitiger Schutz der Bezeichnungen von Wein und Spirituosen der

jeweils anderen Partei.

Den Anhang 9: Gegenseitige Anerkennung der Äquivalenz der Rechtsvor-

schriften im Biobereich und dadurch Erleichterung des Handels (freier Ver-

kehr, keine Kontrollbescheinigungen).

Den Anhang 10: Anerkennung der durch die Schweiz durchgeführten Kon-

trollen zur Einhaltung der EU-Vermarktungsnormen für frisches Obst und

Gemüse, das in die EU exportiert oder reexportiert wird.

Den Anhang 12: Gegenseitige Anerkennung von geschützten Ursprungsbe-

zeichnungen (GUB) oder geschützten geografischen Angaben (GGA) für

landwirtschaftliche Produkte und Lebensmittel.

Das Änderungsprotokoll enthält neben der Präambel vier Artikel, wobei Artikel 1 die

inhaltlichen Änderungen des Landwirtschaftsabkommens umfasst. Dem Änderungs-

protokoll angehängt ist das für den Agrarteil angepasste Protokoll zum Schiedsge-

richt.

2.7.6

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Protokolls

Präambel des Änderungsprotokolls

472 / 931

Die Präambel beschreibt die Gründe, die zur Änderung des Landwirtschaftsabkom-

mens mittels eines Änderungsprotokolls geführt haben. Einerseits umfassen einige

Bestimmungen des bisherigen Landwirtschaftsabkommens Bereiche, die neu im Pro-

tokoll zur Lebensmittelsicherheit geregelt werden. Andererseits wurden auch institu-

tionelle Bestimmungen angepasst, insbesondere zur Streitschlichtung und zum Ge-

mischten Ausschuss für Landwirtschaft, um die Wirksamkeit und Effizienz des

Landwirtschaftsabkommens zu verbessern und die Kohärenz mit dem neu geschaffe-

nen gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraum zu gewährleisten.

Die Präambel bekräftigt, dass das Landwirtschaftsabkommen auf Gleichheit, Gegen-

seitigkeit und dem allgemeinen Gleichgewicht der Vorteile, Rechte und Pflichten der

Vertragsparteien in den unter das Abkommen fallenden Bereichen beruhen soll. Sie

betont, dass die beiden Parteien in der Ausgestaltung ihrer Agrarpolitiken souverän

bleiben.

Die Präambel weist darauf hin, dass zwischen dem Landwirtschaftsabkommen und

den sechs anderen Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Schweiz,

die am 21. Juni 1999 unterzeichnet wurden, ein unmittelbarer Zusammenhang besteht.

Unter dem Landwirtschaftsabkommen bilden das Änderungsprotokoll sowie das Pro-

tokoll zur Lebensmittelsicherheit, welches den gemeinsamen Lebensmittelsicher-

heitsraum schafft, eine Einheit.

Artikel 1 des Änderungsprotokolls betreffend die Änderungen des Landwirtschaftsab-

kommens und seiner Anhänge

Artikel 1 ist der eigentliche Kern des Änderungsprotokolls. Er enthält die modifizier-

ten Artikel zur Streitschlichtung, eine Anpassung des Artikels zum Gemischten Aus-

schuss für Landwirtschaft, einen neuen Artikel zum Umgang mit vertraulichen Infor-

mationen sowie die Änderungen, die aufgrund der Errichtung des gemeinsamen

Lebensmittelsicherheitsraums im Hauptteil des Abkommens nötig sind.

Artikel 1 Ziffer 1 des Änderungsprotokolls betreffend Terminologie

Die Terminologie im gesamten Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens wird dahin-

gehend angepasst, dass anstelle von Europäischer Gemeinschaft oder Gemeinschaft

von Europäischer Union gesprochen wird.

Artikel 1 Ziffer 2 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 5 (Abbau technischer

Handelshemmnisse für landwirtschaftliche Erzeugnisse) des Landwirtschaftsabkom-

mens

In Artikel 5 des Landwirtschaftsabkommens wird die Aufzählung der bisherigen An-

hänge 4 (Pflanzengesundheit), 5 (Futtermittel), 6 (Saatgut) und 11 (Veterinärabkom-

men) gelöscht, weil diese ins Protokoll zur Lebensmittelsicherheit überführt werden.

Artikel 1 Ziffer 3 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 6 (Gemischter Ausschuss

für Landwirtschaft) des Landwirtschaftsabkommens

473 / 931

Artikel 6 des Landwirtschaftsabkommens regelt den Gemischten Ausschuss für Land-

wirtschaft. Die Bestimmungen über die Zuständigkeiten des Gemischten Ausschus-

ses, die in den betreffenden bilateralen Abkommen enthalten sind, wurden vereinheit-

licht. Entsprechend wird auch der Artikel zum Gemischten Ausschuss für

Landwirtschaft aktualisiert. Materiell sind die Änderungen im Wortlaut gering, und

auch auf die Praxis des Gemischten Ausschusses für Landwirtschaft hat die neue For-

mulierung von Artikel 6 keine Auswirkungen.

Artikel 1 Ziffern 4 und 5 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 7 (Ausschliess-

lichkeitsprinzip), Artikel 7a (Verfahren bei Auslegungs- oder Anwendungsschwierig-

keiten) und Artikel 7b (Ausgleichsmassnahmen) des Landwirtschaftsabkommens

In den Artikeln 7, 7a und 7b des Landwirtschaftsabkommens wird das neue Streitbei-

legungsverfahren geregelt. Zunächst verpflichtet Artikel 7 die Parteien dazu, sich zur

Beilegung allfälliger Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung des Land-

wirtschaftsabkommens ausschliesslich dieses Streitbeilegungsverfahrens zu bedienen

(s. Ziff. 2.1.6.4.1). Das ist eine übliche Verpflichtung, um etwaiges

forum shopping

zu unterbinden.

Die Parteien müssen wie bisher in einem ersten Schritt versuchen, einen Streitfall im

Gemischten Ausschuss für Landwirtschaft beizulegen (Art. 7a Abs. 1). Neu können

die Parteien ein Schiedsgericht anrufen, wenn der Gemischte Ausschuss für Landwirt-

schaft die Uneinigkeit nicht binnen drei Monaten einer für beide Parteien akzeptablen

Lösung zuführt (Art. 7a Abs. 2). Die Modalitäten des Schiedsverfahrens sind im Pro-

tokoll zum Schiedsgericht geregelt, das dem Änderungsprotokoll angehängt ist (s.

nachfolgend). Im Schiedsverfahren im Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens ist

keine Rolle für den EuGH vorgesehen. Der Grund dafür liegt darin, dass die im Agr-

arteil des Landwirtschaftsabkommens verbleibenden Anhänge nicht der dynamischen

Rechtsübernahme unterliegen und dem EuGH folglich keine Rolle zukommt mit

Blick auf die einheitliche Auslegung des EU-Rechts. In Artikel 7a Absatz 4 wird zu-

dem festgehalten, dass Schiedsgerichtsverfahren nach Artikel 7a Absatz 2 die in den

Anhängen 1, 2 und 3 des Landwirtschaftsabkommens festgelegten Zollkonzessionen

und deren Verwaltung nicht berühren dürfen. Damit wird explizit festgehalten, dass

diese Anhänge und ihre Verwaltung nicht im Rahmen eines allfälligen Streitbeile-

gungsverfahrens geändert werden können. Darüber hinaus hält Artikel 7b fest, dass

allfällige Ausgleichsmassnahmen im Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens nur

im Falle einer Verletzung des Landwirtschaftsabkommens (Agrarteil und Lebensmit-

telsicherheitsteil) möglich sind, nicht jedoch im Falle einer Verletzung eines anderen

Binnenmarktabkommens. Auch damit unterscheidet sich die Lösung im Agrarteil des

Landwirtschaftsabkommens von den anderen Abkommen, welche die Beteiligung am

EU-Binnenmarkt regeln.

Artikel 1 Ziffern 6 und 7 des Änderungsprotokolls betreffend Artikel 9 (Berufsgeheim-

nis) und Artikel 9a (Verschlusssachen und vertrauliche, nicht als Verschlusssache

eingestufte Informationen) des Landwirtschaftsabkommens

474 / 931

Artikel 9a sieht vor, dass die Vertragsparteien etwaige Verschlusssachen gemäss dem

am 28. April 2008 geschlossenen Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidge-

nossenschaft und der Europäischen Union über die Sicherheitsverfahren für den Aus-

tausch von Verschlusssachen

438

austauschen. Artikel 9a beauftragt den Gemischten

Ausschuss ausserdem, in einem speziell zu diesem Zweck gefassten Beschluss Mo-

dalitäten festzulegen, um einen angemessenen Schutz sensibler Informationen, die

nicht als Verschlusssache eingestuft sind, zu gewährleisten. Zudem wird der Titel von

Artikel 9 des Landwirtschaftsabkommens (bestehender Artikel zur Vertraulichkeit) in

«Berufsgeheimnis» geändert.

Artikel 1 Ziffer 8 des Änderungsprotokolls betreffend Terminologie

Um Klarheit in Bezug auf die Zuständigkeiten der beiden für das Landwirtschaftsab-

kommen zuständigen Gemischten Ausschüsse (s. Ziff. 2.12.8 zum Gemischten Aus-

schuss für Lebensmittelsicherheit) zu schaffen, wird der Begriff «Ausschuss» in den

Artikeln 11, 12 und 13 des Landwirtschaftsabkommens durch «Gemischter Aus-

schuss für Landwirtschaft» ersetzt.

Artikel 1 Ziffer 9 des Änderungsprotokolls zu Artikel 15 (Anhänge, Anlagen und Pro-

tokoll) des Landwirtschaftsabkommens

Gemäss dem angepassten Artikel 15 des Landwirtschaftsabkommens wird neben den

Anhängen 1-3, 7-10 und 12 sowie deren Anlagen auch das für den Agrarteil des Land-

wirtschaftsabkommens angepasste Protokoll zum Schiedsgericht Teil des Landwirt-

schaftsabkommens sein. Dieses wird dem Landwirtschaftsabkommen als Protokoll

hinzugefügt.

Artikel 1 Ziffer 10 des Änderungsprotokolls zu Artikel 16 (Räumlicher Geltungsbe-

reich) des Landwirtschaftsabkommens

Der Artikel zum räumlichen Anwendungsbereich wird über alle Abkommen des Pa-

kets (Schweiz–EU) gleich ausgestaltet. Entsprechend wird auch Artikel 16 des Land-

wirtschaftsabkommens angepasst (s. Ziff. 2.1.6.7).

Artikel 1 Ziffer 11 des Änderungsprotokolls zu Artikel 17 (Inkrafttreten und Geltungs-

dauer) des Landwirtschaftsabkommens

Ein neuer Absatz 5 in Artikel 17 des Landwirtschaftsabkommens stellt klar, dass im

Falle einer Kündigung des Abkommens durch eine der Parteien gemäss Artikel 17

Absatz 3 auch das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit auf denselben Zeitpunkt aus-

ser Kraft tritt. Gleichzeitig hält der neue Absatz 6 fest, dass Rechte und Pflichten, die

Einzelpersonen und Wirtschaftsteilnehmerinnen und Wirtschaftsteilnehmer bereits

durch das Abkommen erworben haben, auch dann bestehen bleiben, wenn das Land-

wirtschaftsabkommen nicht mehr in Kraft ist und die Vertragsparteien einvernehmlich

festlegen müssen, wie mit Rechten zu verfahren ist, die gerade erworben werden.

438

SR

0.514.126.81

475 / 931

Artikel 1 Ziffer 12 des Änderungsprotokolls zur Aufhebung der Anhänge 4, 5, 6 und

11 des Landwirtschaftsabkommens

Gemäss Artikel 1 Ziffer 12 werden die Anhänge 4, 5, 6 und 11 mit Inkrafttreten des

Protokolls zur Lebensmittelsicherheit aufgehoben. Sollte das Protokoll zur Lebens-

mittelsicherheit nicht in Kraft treten, würden diese Anhänge unverändert im Land-

wirtschaftsabkommen verbleiben. Wie ihr Weiterfunktionieren gewährleistet werden

könnte, wäre allerdings unklar, da die neuen institutionellen Bestimmungen, welche

eine regelmässige Aktualisierung dieser Anhänge sicherstellen, auf diese Anhänge

nicht anwendbar wären.

Artikel 1 Ziffer 13 des Änderungsprotokolls betreffend das Schiedsgerichtsprotokoll

Gemäss Artikel 1 Ziffer 13 wird der Anhang des Änderungsprotokolls, welcher das

für den Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens angepasste Protokoll zum Schieds-

gericht enthält, dem Landwirtschaftsabkommen als Protokoll hinzugefügt.

Artikel 2 des Änderungsprotokolls zur übergangsweisen Anwendung der Anhänge 4,

5, 6 und 11 des Landwirtschaftsabkommens

Artikel 2 des Änderungsprotokolls nimmt Bezug zur Übergangsregelung, die in Arti-

kel 32 des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit stipuliert ist. Er stellt klar, dass die

Anhänge 4, 5, 6 und 11 des Landwirtschafsabkommens während dem Übergangszeit-

raum von maximal 24 Monaten nach Inkraftsetzung des Protokolls zur Lebensmittel-

sicherheit ihre Gültigkeit behalten. Zudem hält der Artikel fest, dass das genaue End-

datum dieses Übergangszeitraums durch Beschluss des Gemischten Ausschusses für

Landwirtschaft festgelegt wird nach Notifizierung durch den Gemischten Ausschuss

für Lebensmittelsicherheit.

Artikel 3 des Änderungsprotokolls zum Inkrafttreten

Das Änderungsprotokoll ist Teil des Stabilisierungsteils des Pakets (Schweiz–EU). Es

tritt am ersten Tag des zweiten Monats nach der Notifizierung des Abschlusses der

internen Verfahren zur Genehmigung aller völkerrechtlichen Instrumente des Stabili-

sierungsteils des Pakets (Schweiz–EU) in Kraft.

Schiedsgerichtsprotokoll

Das Schiedsgerichtsprotokoll zum Landwirtschaftsabkommen beruht auf den

Schiedsregeln, welche für die Binnenmarktabkommen gelten. Diesbezüglich kann mit

der nachfolgenden Präzisierung auf die Erläuterungen unter Ziffer 2.1.6.4.2 verwiesen

werden. Nicht enthalten sind im Schiedsgerichtsprotokoll zum Agrarteil des Land-

wirtschaftsabkommens sämtliche Bestimmungen, die den Einbezug des EuGH betref-

fen.

2.7.7

Grundzüge des Umsetzungserlasses

An den bestehenden Anhängen 1–3, 7–10 und 12 wurden keine Änderungen vorge-

nommen. Diese werden weiterhin nicht der dynamischen Rechtsübernahme unterlie-

476 / 931

gen und damit weiterfunktionieren wir bisher. Ein Umsetzungserlass zum Änderungs-

protokoll ist damit nicht nötig. Die aufgrund des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit

nötigen Anpassungen im Lebensmittelrecht werden in Ziffer 2.12.7 dargelegt.

2.7.8

Auswirkungen des Paketelements

Mit dem Änderungsprotokoll soll im Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens dem

neu geschaffenen gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraum Rechnung getragen so-

wie teilweise institutionelle Bestimmungen modernisiert werden. Das Änderungspro-

tokoll führt zu keinen Änderungen an den bestehenden Anhängen 1–3, 7–10 und 12

des Landwirtschaftsabkommens. Es sind keine relevanten Auswirkungen auf die Kan-

tone, die Volkswirtschaft, die Gesellschaft oder die Umwelt zu erwarten.

Die Schweiz wird in der Ausgestaltung ihrer Agrarpolitik weiterhin eigenständig blei-

ben. Auch der bestehende Grenzschutz (inkl. Zölle und Kontingente) bleibt erhalten.

Allfällige Ausgleichsmassnahmen im Agrarteil des Landwirtschaftsabkommens sind

nur im Falle einer Verletzung des Landwirtschaftsabkommens (inkl. Lebensmittelsi-

cherheit) möglich, nicht jedoch im Falle einer Verletzung eines anderen Binnenmarkt-

abkommens. Allfällige Ausgleichsmassnahmen müssen zudem verhältnismässig sein.

Damit erhöht sich die Rechtssicherheit für die Schweiz.

Der Bundesrat wird den Ressourcenbedarf zu gegebener Zeit überprüfen und darauf

achten, dass ein allfälliger Mehrbedarf an Personalaufwand innerhalb des Eigenbe-

reichs des Bundes kompensiert wird.

Die Auswirkungen des Lebensmittelsicherheitsprotokolls werden in Ziffer 2.12.9 dar-

gelegt.

2.7.9

Rechtliche Aspekte des Paketelements

2.7.9.1

Verfassungsmässigkeit des Protokolls

Das Änderungsprotokoll stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 BV, wonach der Bund für

die auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV ermächtigt

den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Die

Bundesversammlung ist nach Artikel 166 Absatz 2 BV für die Genehmigung völker-

rechtlicher Verträge zuständig, sofern für deren Abschluss nicht aufgrund von Gesetz

oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (Art. 24 Abs. 2 ParlG;

Art. 7a Abs. 1 RVOG). Beim Änderungsprotokoll handelt es sich nicht um einen völ-

kerrechtlichen Vertrag, für dessen selbstständigen Abschluss der Bundesrat aufgrund

eines Gesetzes oder eines von der Bundesversammlung genehmigten völkerrechtli-

chen Vertrags ermächtigt ist. Insbesondere geht das Änderungsprotokoll durch die

Aufnahme institutioneller Bestimmungen zur Streitbeilegung über den in Artikel 177a

LWG vorgesehenen Anwendungsbereich hinaus, wonach der Bundesrat Vereinbarun-

gen im Agrarbereich mit der Ausnahme von Agrarhandelsverträgen abschliessen

kann. Es handelt sich auch nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag von beschränkter

Tragweite nach Artikel 7a Absatz 2 RVOG. Das Änderungsprotokoll ist folglich der

Bundesversammlung zur Genehmigung zu unterbreiten

.

477 / 931

2.7.9.2

Verfassungsmässigkeit der Umsetzungsgesetzgebung und

Begleitmassnahmen

Es sind keine Umsetzungsgesetzgebung oder Begleitmassnahmen nötig.

2.7.9.3

Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen

der Schweiz

Das Änderungsprotokoll ist mit den internationalen Verpflichtungen der Schweiz ver-

einbar. Vorgesehen ist, dass auch das Zusatzabkommen vom 27. September 2007

439

zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, dem Fürstentum Liechtenstein und

der Europäischen Gemeinschaft über die Einbeziehung des Fürstentums Liechtenstein

in das Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europä-

ischen Gemeinschaft über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen entspre-

chend angepasst wird. Allenfalls erforderliche Anpassungen der Anhänge des Über-

einkommens zur Errichtung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) vom 4.

Januar 1960

440

werden geprüft und zu einem späteren Zeitpunkt vorgenommen. Im

Übrigen wird auf die Erläuterungen in Ziffer 3.1.3 verwiesen.

2.7.9.4

Erlassform

Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 der Bundesverfassung (BV) unterlie-

gen völkerrechtliche Verträge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige recht-

setzende Bestimmungen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesge-

setzen erfordert. Nach Artikel 22 Absatz 4 des ParlG sind unter rechtsetzenden

Normen jene Bestimmungen zu verstehen, die in unmittelbar verbindlicher und gene-

rell-abstrakter Weise Pflichten auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten

festlegen. Als wichtig gelten Bestimmungen, die auf der Grundlage von Artikel 164

Absatz 1 BV in der Form eines Bundesgesetzes erlassen werden müssten. Das Ände-

rungsprotokoll führt ein neues Streitschlichtungsverfahren mit der Möglichkeit ein,

einen Streitfall einem paritätisch zusammengesetzten Schiedsgericht zum Entscheid

vorzulegen. Die entsprechenden Anpassungen sind als wichtige rechtsetzende Best-

immungen zu gewichten. Der Bundesbeschluss über die Genehmigung des Ände-

rungsprotokolls ist deshalb dem fakultativen Referendum nach Artikel 141 Absatz 1

Buchstabe d Ziffer 3 BV zu unterstellen.

2.7.9.5

Vorläufige Anwendung

Eine vorläufige Anwendung des Änderungsprotokolls ist nicht vorgesehen.

2.7.9.6

Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass

Es ist kein Umsetzungserlass nötig.

439

SR

0.916.026.812

440

SR

0.632.31

478 / 931

2.7.9.7

Datenschutz

Der Datenschutz ist von der Vorlage nicht betroffen. Die Erläuterungen betreffend

das Schiedsgericht unter Ziffer 2.1.8.6 gelten auch für das Schiedsgericht des Agrar-

teils des Landwirtschaftsabkommens.

479 / 931

2.8

Programme

2.8.1

Zusammenfassung

Die Teilnahme an den Programmen der EU ist für die Schweiz von grosser strategi-

scher Bedeutung. Sie ermöglicht die gemeinsame Entwicklung von Lösungen für

grenzüberschreitende Herausforderungen und bietet der Schweiz die Chance, von in

der EU entwickelten Technologien und Strategien zu profitieren. Von besonderer

Wichtigkeit für die Schweiz sind die Programme in Bildung, Forschung und Innova-

tion (BFI). Die Schweiz gehört in diesen Bereichen zu den weltweit führenden Län-

dern. Ihre hohe Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit basiert auf bestens ausgebil-

deten Personen, exzellenten Bildungs- und Forschungsinstitutionen sowie

internationalen Netzwerken und Kooperationen. Der Schweizer BFI-Raum ist mit

dem europäischen Bildungs-, Forschungs- und Innovationsraum eng verzahnt. Dieser

ist wiederum massgeblich von den EU-Programmen in diesem Bereich geprägt: Die

unter den Namen Erasmus+ und Horizon Europe bekannten Programme sind heute

dank stetig steigender Budgets, inhaltlicher Erweiterungen und internationaler Öff-

nung die weltweit grössten und bedeutendsten Instrumente zur Bildungs-, For-

schungs- und Innovationszusammenarbeit und kennen in dieser Form keine vergleich-

baren Alternativen.

Die EU beschliesst ihre Programme jeweils für eine Programmgeneration, welche der

Laufzeit des übergeordneten, mehrjährigen Finanzrahmens der EU entspricht. Jede

Programmgeneration dauert somit in der Regel sieben Jahre. Dieser Mechanismus

impliziert, dass an den Programmen assoziierte Nicht-EU-Staaten ihre Teilnahme

ebenfalls alle sieben Jahre erneuern müssen. Seit 2021 ist ein transversales Programm-

abkommen Grundvoraussetzung für eine Assoziierung an die EU-Programme. Dieses

definiert die allgemeinen Teilnahmebedingungen in einem zeitlichen unbefristet gül-

tigen horizontalen Teil. Die Assoziierung an einzelne Programme wird durch Proto-

kolle geregelt, welche dem transversalen Teil des Abkommens angehängt werden und

auf die Laufzeit der jeweiligen Programme beschränkt sind. Dies ermöglicht es der

Schweiz bei jeder Programmgeneration neu zu beurteilen, an welchen Programmen

sie weiterhin oder neu teilnehmen möchte. Die entsprechenden Finanzmittel werden

bei den eidgenössischen Räten beantragt.

Im Rahmen des Pakets Schweiz-EU wurde das Abkommen über die Teilnahme der

Schweiz an den Programmen der Union, das EU-Programmabkommen (EUPA) in-

klusive der Protokolle für die Teilnahme an der aktuellen Programmgeneration 2021-

2027 verhandelt. Dies umfasst die Teilnahme an den Forschungsprogrammen und -

initiativen Horizon Europe, dem Euratom-Programm, dem Versuchsreaktor ITER und

dem Programm Digital Europe, zusammengefasst als «Horizon-Paket 2021–2027»,

sowie am Bildungsprogramm Erasmus+. Hinzu kommt die Teilnahme am EU-

Gesundheitsprogramm «EU4Health» (s. Ziff. 2.13). Insgesamt sind die ausgehandel-

ten Teilnahmebedingungen vergleichbar mit jenen anderer assoziierter Drittstaaten,

wie das Vereinigte Königreich, Neuseeland oder Kanada. Für die Teilnahme am Eu-

ratom-Programm, ITER und Erasmus+ konnten bis Ende 2027 Rabatte ausgehandelt

werden. Für das Horizon-Paket ist eine rückwirkende provisorische Assoziierung per

1.1.2025 vorgesehen, mit der Ausnahme von ITER per 1.1.2026. Für Erasmus+ wurde

eine Assoziierung ab dem 1.1.2027 ausgehandelt.

480 / 931

Für die Finanzierung der Teilnahme am «Horizon-Paket 2021–2027» legte der Bun-

desrat dem Parlament am 20. Mai 2020 eine Finanzierungsbotschaft zur Schweizer

Beteiligung als assoziierter Staat an den Programmen und Initiativen der EU im Be-

reich Forschung und Innovation für die Jahre 2021–2027 vor.

441

Das Parlament hat den

entsprechenden Bundesbeschluss am 16. Dezember 2020 verabschiedet und insge-

samt 6,2 Milliarden Franken bereitgestellt.

442

Die Pflichtbeiträge für die Teilnahme in

den Jahren 2025-2027 werden sich auf rund 1,9 Milliarden Franken belaufen.

Die Finanzierung für eine Teilnahme an Erasmus+ im Jahr 2027 wird hingegen im

Rahmen der vorliegenden Botschaft beantragt, wobei sich der Pflichtbeitrag auf rund

172 Millionen Franken beläuft.

Der Bundesrat ist der Ansicht, dass der Abschluss des EUPA und damit die Möglich-

keit, sich sowohl in der laufenden Programmgeneration als auch in der Zukunft an

EU-Programme zu assoziieren, von grossem Interesse für die Schweiz ist. Eine syste-

matischere und umfassende Beteiligung an Erasmus+ und am Horizon-Paket als as-

soziierter Staat bietet dabei den grössten Mehrwert für den BFI-Standort Schweiz und

ist von hoher Bedeutung für dessen Weiterentwicklung. Sie entspricht auch der inter-

nationalen Strategie des Bundesrates in diesem Bereich. Das EUPA schafft die Rah-

menbedingungen für das internationale Engagement der BFI-Akteure und stärkt damit

die Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität der Schweiz weiter.

Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt. Er beantragt

im Rahmen des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU die Genehmigung des

EUPA.

2.8.2

Ausgangslage

Schweizer Teilnahme an den Programmen der EU

Die EU-Programme dienen der Implementierung und Förderung von Aktivitäten in

Bereichen wie Bildung, Forschung, Kultur, etc. Sie stärken den Austausch mit ande-

ren europäischen Ländern und ermöglichen den Auf- und Ausbau von Netzwerken.

Einige dieser Programme erlauben auch die Teilnahme von Nicht-EU-Staaten.

Die EU-Programme werden jeweils für eine Programmgeneration beschlossen, wel-

che der Laufzeit des übergeordneten, mehrjährigen Finanzrahmens (Multiannual Fi-

nancial Framework MFF) der EU entspricht. Jede Programmgeneration dauert somit

in der Regel sieben Jahre. Dieser Mechanismus impliziert, dass an den Programmen

assoziierte Nicht-EU-Staaten ihre Teilnahme alle sieben Jahre erneuern müssen. Dies

gilt selbst für die Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR-Staaten).

443

Die Teilnahme der Schweiz an den Bildungs- und Forschungsprogrammen war Teil

der Bilateralen Abkommen I (Forschung) bzw. II (Bildung) und wurde auf einzelne

Abkommen abgestützt. Aus diesen Gründen musste die Schweiz bisher für jede Pro-

grammgeneration und jedes Programm einen neuen, eigenständigen Vertrag aushan-

deln und abschliessen.

441

BBl

2020

4845

442

BBl

2021

73

443

Der Grundsatz ihrer Beteiligung an EU-Programmen ist zwar im EWR-Vertrag festgehal-

ten, für die Assoziierung an die Programmgenerationen muss aber jeweils das Protokoll 31

des EWR-Vertrags aktualisiert werden.

481 / 931

Die Europäische Kommission assoziiert seit 2020 Staaten wie die Schweiz nicht mehr

nach diesem Modell an ihre Programme, und schuf daher in den Gesetzesgrundlagen

für die Programme ab 2021 ein einheitliches System für die Assoziierung von Dritt-

staaten. Die Schweiz muss sich entsprechend mittels eines Programmabkommens an

die Programme assoziieren.

In dieser neuen Form des

EU-Programmabkommens (EUPA)

werden sämtliche trans-

versalen, für alle Programme geltenden Regelungen in einem

zeitlich unbefristeten

horizontalen Teil

abgefasst. Dazu gehören unter anderem:

der Mechanismus für die Berechnung der Pflichtbeiträge sowie allfällige

Anpassungs- und Korrekturmechanismen bei Budgetänderungen oder

Über- und Unterperformance des assoziierten Staates,

die Überprüfung der Mittelverwendung inklusive Audits,

die Mitwirkung der Schweiz in relevanten Gremien der EU,

die Etablierung eines Gemischten Ausschusses für sämtliche EU-

Programme, der die Protokolle zu diesem Abkommen (siehe unten) in Kraft

setzen und anpassen kann, und der das Funktionieren des Abkommens in-

klusive der Protokolle sicherstellen soll,

die Regelung von Suspendierungs- und Terminierungsmodalitäten des

EUPA.

Die Assoziierung an der jeweiligen Programmgeneration erfolgt auf der Basis von

Protokollen

, die dem EUPA als integraler Bestandteil angehängt sind.

EU-Programme für Bildung, Forschung und Innovation: Allgemeine Ausgangslage

und Bedeutung einer Assoziierung

Die Schweiz zählt in den Bereichen Bildung, Forschung und Innovation (BFI) zu den

weltweit führenden Ländern. Sie stützt ihre hohe Wettbewerbs- und Innovationsfä-

higkeit auf bestens ausgebildete Personen, exzellente Bildungs- und Forschungsinsti-

tutionen sowie internationale Netzwerke und Kooperationen. Der Schweizer BFI-

Bereich ist insbesondere mit dem europäischen Bildungs-, Forschungs- und Innovati-

onsraum eng verzahnt. Entsprechend will der Bundesrat mit seiner internationalen

Strategie im Bereich Bildung, Forschung und Innovation optimale Rahmenbedingun-

gen für eine internationale Betätigung der Schweizer BFI-Akteure schaffen und die

Attraktivität des Standorts Schweiz weiter stärken. Eine besondere Rolle kommt dabei

der Kooperation im Rahmen der Förderprogramme der Europäischen Union zu.

Die jeweils mehrjährigen Programme der EU in den Bereichen Bildung sowie For-

schung und Innovation haben sich seit den 1980er-Jahren zu den zentralen europäi-

schen Instrumenten zur Förderung von internationaler Mobilität und Kooperation in

der Bildung und Forschung sowie von technologischer Entwicklung und Innovation

entwickelt. Die unter den Namen Erasmus+ und Horizon Europe bekannten Pro-

gramme sind heute dank stetig steigender Budgets, inhaltlicher Erweiterungen und

482 / 931

internationaler Öffnung die weltweit grössten und bedeutendsten Instrumente zur Bil-

dungszusammenarbeit sowie zur Unterstützung kompetitiver Forschungs- und Inno-

vationsprojekte. Sie kennen in dieser Form keine vergleichbaren Alternativen.

Die Programme Horizon Europe und Erasmus+ sind formal getrennt, stellen jedoch

Förderinstrumente entlang der gleichen Wertschöpfungskette von Bildung, Forschung

und Innovation dar. Aus diesem Grund weisen die von den Programmen geförderten

Aktivitäten untereinander vielfältige Synergien auf: Internationale Austausch- und

Mobilitätserfahrungen auf individueller Ebene während der Aus- und Weiterbildung

fördern die Entstehung von persönlichen und institutionellen Netzwerken. Diese bil-

den wiederum die Grundlage für Kooperationen in Bildung und Forschung, sowohl

auf institutioneller als auch auf persönlicher Ebene, und finden ihre Fortsetzung in

Mobilitätserfahrungen von Forschenden. Etablierte Kooperationsbeziehungen zwi-

schen Institutionen in Bildung und Forschung erleichtern umgekehrt den weiteren

Austausch von Lernenden, Lehrenden und Forschenden. Klassenaustausche während

der obligatorischen Schule, eine individuelle Lernmobilität während der Ausbildung,

die Entwicklung von gemeinsamen Bildungsangeboten zwischen Hochschulen sowie

langjährige Forschungskooperationen sind Beispiele für aufeinander aufbauende Ak-

tivitäten, welche durch die EU-Programme gefördert werden.

Die Schweiz nimmt seit den 1980er-Jahren in unterschiedlichem Umfang an den EU-

Programmen in Bildung, Forschung und Innovation sowie an weiteren, damit verbun-

denen Programmen und Initiativen (ITER, Euratom Programm, Programm Digital Eu-

rope DEP) teil – projektweise als sogenannter «nicht assoziierter Drittstaat», als teil-

assoziierter oder als assoziierter Staat. Eine systematische und umfassende

Beteiligung in Form einer Assoziierung an Erasmus+ und das Horizon-Paket bietet

dabei den grössten Mehrwert für den Schweizer BFI-Raum und ist von strategischer

Bedeutung für seine Weiterentwicklung. Sie ist daher ein wesentlicher Bestandteil der

nationalen Förderpolitik für Mobilität und Kooperation in der Bildung, Forschung und

Innovation. Die folgenden Kapitel erläutern im Detail die Ausgangslage, die Bedeu-

tung einer Assoziierung sowie die zu ihrer Realisierung erforderlichen Massnahmen

und Entscheide.

2.8.2.1

Kontext: die Europäische Bildungs-, Forschungs- und

Innovationspolitik

2.8.2.1.1

Europäische Programme und Initiativen für Forschung und

Innovation

Die europäische Union kennt verschiedene Programme und Initiativen zur Förderung

von Forschung und Innovation. Diese haben ihren Ursprung in der länderübergreifen-

den Finanzierung von Forschungs- und Innovationsprojekten, welche bis in die

1950er Jahre zurückreicht. Seit 1984 sind die mehrjährigen Rahmenprogramme das

zentrale Instrument der EU zur Förderung von Forschung, technologischer Entwick-

lung und Innovation. Aktuell läuft das neunte Rahmenprogramm, Horizon Europe,

mit einer siebenjährigen Laufzeit von 2021-2027. Es wird durch verschiedene andere

Forschungsprogramme und Initiativen ergänzt, namentlich das Euratom-Programm,

ITER und das Programm Digital Europe (s. Ziff. 2.8.2.2.1).

483 / 931

2.8.2.1.2

Europäische Bildungsprogramme

In der EU liegt die Bildungspolitik in erster Linie in der Kompetenz der Mitgliedstaa-

ten. Der EU kommt eine unterstützende und koordinierende Rolle zu. Das Thema

“Bildung” wurde 2017 in die politische Agenda der EU aufgenommen – als Schlüssel

zum Zusammenhalt der Gesellschaften und zur Erhaltung der europäischen Wettbe-

werbsfähigkeit.

444

Die Weiterentwicklung des europäischen Bildungsraums bis 2030

ist dabei als übergeordnetes politisches Ziel definiert.

Auch im Bereich der ausserschulischen Jugendarbeit hat die EU eine subsidiäre Rolle.

Die Hauptzuständigkeit liegt bei den EU-Mitgliedstaaten. Den Rahmen für die Zu-

sammenarbeit bildet die EU-Jugendstrategie. Für die Periode 2019–2027 legt sie den

Akzent auf die drei Schwerpunktbereiche “Beteiligung, Begegnung, Befähigung”.

Die vorgesehenen Massnahmen sollen die wirtschaftliche, soziale, kulturelle und po-

litische Teilhabe junger Menschen fördern sowie den Austausch von kulturellen Er-

fahrungen sowie die Vermittlung von persönlichen und beruflichen Kompetenzen er-

möglichen.

445

Die EU arbeitet im Bildungsbereich seit den 1980er Jahren mit mehrjährigen Förder-

programmen. Ausgehend von den bekannten Erasmus-Programmen in der Hochschul-

bildung hat sie nach und nach auch Programme in den Bereichen Schulbildung, Be-

rufsbildung, Erwachsenenbildung sowie im ausserschulischen Jugendbereich etabliert

und weiterentwickelt. Anfangs separat geführt, wurden die einzelnen Programme ab

2014 zu einem umfassenden Bildungsprogramm namens Erasmus+ zusammenge-

fasst. Es ist mittlerweile das Hauptinstrument zur Umsetzung der internationalen Bil-

dungszusammenarbeit in Europa. Auch Erasmus+ folgt einem siebenjährigen Zyk-

lus.

446

2.8.2.2

Die Bestandteile der aktuellen Programmgeneration: das

Horizon-Paket 2021-2027 und Erasmus+

2.8.2.2.1

Bestandteile des Horizon-Pakets 2021-2027

Die Schweiz hat im Rahmen der Verhandlungen mit der EU zum Paket Schweiz–EU

eine Teilnahme am aktuellen Rahmenprogramm Horizon Europe, dem Euratom-Pro-

gramm, der Forschungsinfrastruktur ITER und am Programm Digital Europe (DEP)

verhandelt. Diese Programme und Initiativen werden in der Schweiz unter dem Be-

griff „Horizon-Paket 2021-2027“ zusammengefasst. Für eine ausführliche Beschrei-

bung der Bestandteile des Horizon-Pakets sei auf die entsprechende Finanzierungs-

botschaft

447

verwiesen, im Folgenden wird nur ein kurzer Überblick gegeben.

444

Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates vom 14. Dezember 2017,

www.consilium.europa.eu > Startseite > Presse > Pressemitteilungen > 14.12.2017.

445

Entschliessung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mit-

gliedstaaten zu einem Rahmen für die jugendpolitische Zusammenarbeit in Europa: die

EU-Jugendstrategie 2019-2027, ABl. C 456 vom 18. 12. 2018, S. 1.

446

Abrufbar unter: www.erasmus-plus.ec.europa.eu > Programmleitfaden.

447

BBl

2020

4845

484 / 931

Horizon Europe:

Das neunte Forschungs- und Innovationsrahmenprogramm der EU

läuft von 2021 bis 2027 und hat ein Gesamtbudget von 95,5 Milliarden Euro

448

. Es

umfasst eine Vielzahl an Förderinstrumenten, die praktisch die gesamte Wertschöp-

fungskette abdecken – von der Grundlagenforschung bis hin zu angewandter For-

schung, technologischer Entwicklung, Innovation und Markteinführung.

Euratom-Programm:

Das Programm der Europäischen Atomgemeinschaft für For-

schungs- und Ausbildungsmassnahmen im Nuklearbereich ergänzt Horizon Europe

und fördert nukleare Forschung und Innovation. Es hat eine Laufzeit von fünf Jahren

mit einem Budget von 1,38 Milliarden Euro

449

für den Zeitraum 2021 bis 2025 und

wird anschliessend auf die Jahre 2026 und 2027 (Budget von 598 Mio. Euro

450

) aus-

gedehnt.

ITER:

Die Forschungsinfrastruktur ITER ist das weltweit grösste Projekt für einen

experimentellen thermonuklearen Reaktor. Die ITER-Organisation wurde 2007 von

der EU, China, Indien, Japan, Russland, Südkorea und den USA gegründet und ist für

den Bau und den Betrieb des Reaktors in Cadarache, Frankreich, verantwortlich. Die

EU koordiniert ihren Beitrag via „Fusion for Energy“, einem gemeinsamen Unterneh-

men der Europäischen Atomenergiegemeinschaft, dem die an das Euratom-Programm

assoziierten Staaten beitreten können. Voraussichtlich wird der Bau von ITER im Jahr

2042 abgeschlossen, wobei erste wissenschaftliche Resultate 2030 erwartet werden.

Programm Digital Europe (DEP):

Mit einem Budget von 8,1 Milliarden Euro

451

stärkt das DEP die digitalen Kapazitäten Europas und ergänzt Horizon Europe durch

die Umsetzung konkreter Digitalisierungsvorhaben, welche die digitale Souveränität,

das Wirtschaftswachstum und die gesellschaftliche Tragweite der Digitalisierung un-

terstreichen. Es wurde 2021 neu eingeführt und hat ebenfalls eine siebenjährige Lauf-

zeit.

2.8.2.2.2

Aufbau und Funktionsweise des Erasmus+ Programms

Aufbau des Programms Erasmus+

Im Rahmen der aktuellen Programmgeneration 2021-2027 umfasst Erasmus+ Aktivi-

täten, die in drei Leitaktionen gegliedert und jeweils für alle Bildungsbereiche (Hoch-

schulbildung, Berufsbildung, Schulbildung, Erwachsenenbildung) sowie im ausser-

schulischen Jugendbereich und im Sport vorgesehen sind.

Leitaktion 1: Lernmobilität von Einzelpersonen

: Ziel ist, das länderübergreifende Ler-

nen zu unterstützen und die Mobilität von Lernenden und des Personals von Instituti-

onen und Organisationen aller Bildungsbereiche sowie im ausserschulischen Jugend-

bereich und im Sport zu fördern. Zu den Aktivitäten gehören unter anderem

448

Abrufbar unter www.research-and-innovation.ec.europa.eu > Funding > Funding opportu-

nities > Funding programmes and open calls.

449

Abrufbar unter www.research-and-innovation.ec.europa.eu > Funding > Funding opportu-

nities > Funding programmes and open calls > Horizon Europe > Euratom Research and

Training Programme.

450

Abrufbar unter www.eur-lex.europa.eu, COM/2025/60 final.

451

Abrufbar unter www.digital-strategy.ec.europa.eu > Activities > Funding for Digital in the

2021-2027 Multiannual Financial Framework > The Digital Europe Programme.

485 / 931

individuelle Bildungsaufenthalte bei Partnerinstitutionen im Ausland, Arbeitserfah-

rungen in Unternehmen, Freiwilligentätigkeit, Gruppenaustausche, Weiterbildungen

und Lehrtätigkeiten an Partnerinstitutionen.

Leitaktion 2: Kooperationen zwischen Institutionen und Organisationen

: Ziel ist die

Stärkung der europäischen Zusammenarbeit mittels Kooperationen zwischen Bil-

dungsinstitutionen aller Bildungsbereiche, lokalen oder regionalen Behörden, Sozial-

partnern oder Jugendorganisationen. Die geförderten Aktivitäten umfassen beispiels-

weise Klassenaustauschprojekte, Studienseminare, ausserschulische Kooperationen

und die Entwicklung von gemeinsamen Bildungsangeboten und -innovationen. In die-

sem Rahmen werden auch langfristige Partnerschaften für Zusammenarbeit, Innova-

tion und Exzellenz unterstützt, unter anderem die Initiative «Europäische Hochschu-

len» (European Universities Initiative, EUI).

Leitaktion 3: Unterstützung der Politikentwicklung und der politischen Zusammenar-

beit:

Die Angebote unterstützen die politische Zusammenarbeit auf Ebene der Pro-

grammländer und leisten damit einen Beitrag zur Umsetzung und Weiterentwicklung

europäischer, grenzüberschreitender Strategien in den Bereichen allgemeine und be-

rufliche Bildung, Jugend und Sport.

Transversale Prioritäten

: Für die laufende Programmgeneration 2021–2027 wurden

neben den drei Leitaktionen vier transversale Prioritäten definiert, die in allen Pro-

grammbereichen gefördert werden sollen: Inklusion und Vielfalt, digitaler Wandel,

Umwelt und Bekämpfung des Klimawandels sowie Teilhabe am demokratischen Le-

ben, gemeinsame Werte und bürgerschaftliches Engagement.

Für das Programm Erasmus+ 2021-2027 setzt die EU ein Budget von 26,27 Milliarden

Euro ein. Dies entspricht ungefähr einer Verdoppelung der Mittel im Vergleich zum

Vorgängerprogramm (2014–2020), wobei der weitaus grösste Teil der Mittel für För-

deraktivitäten im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung eingesetzt wer-

den.

452

Nationale Agentur zur Umsetzung der Austausch- und Mobilitätsaktivitäten

Die Umsetzung der Programmaktivitäten von Erasmus+ erfolgt sowohl zentral durch

die Europäische Kommission als auch dezentral durch nationale Agenturen in den

Programmländern. Für die nationalen Agenturen legt die Europäische Kommission

Mindestanforderungen fest, die für die Verwaltung und Durchführung des Programms

erfüllt sein müssen (interne Kontrollsysteme, Kommunikation und Dissemination von

Programmresultaten, Verwaltung und Zuteilung der Fördermittel sowie IT-Systeme)

und im Rahmen der sogenannten

Ex-Ante-Konformitätsbewertung

von der zuständi-

gen nationalen Behörde geprüft werden (siehe Ziffer 2.8.7.5.2).

453

452

Verordnung (EU) 2021/817 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai

2021 zur Einrichtung von Erasmus+, dem Programm der Union für allgemeine und beruf-

liche Bildung, Jugend und Sport, und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1288/2013,

ABl. L 189 vom 28.5.2021, Art. 17.

453

Verordnung (EU) 2021/817 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai

2021 zur Einrichtung von Erasmus+, dem Programm der Union für allgemeine und beruf-

liche Bildung, Jugend und Sport, und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1288/2013,

Artikel 26, Absatz 3.

486 / 931

Die Schweiz verfügt mit Movetia bereits über eine Agentur für Austausch und Mobi-

lität in der Bildung, welche bei einer Assoziierung die Rolle der nationalen Agentur

übernehmen würde.

Nationale Begleitmassnahmen

Um die Aktivitäten von Erasmus+ zu unterstützen, werden zudem eine Reihe von

Be-

gleitmassnahmen

auf Ebene der Programmländer umgesetzt. Dabei handelt es sich

einerseits um Informationsbüros, die bereichsübergreifende Leistungen erbringen,

beispielsweise zu den Themen Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung oder Jugend,

um die Wirkung und Nutzung von Erasmus+ auf nationaler Ebene zu verstärken. An-

dererseits werden seitens der zuständigen Generaldirektion der EU verschiedene Platt-

formen, Instrumente und Netzwerke zur Verfügung gestellt, an denen sich Programm-

länder beteiligen können mit dem Ziel, die Vernetzung der Akteure und den

Wissenstransfer zu fördern.

2.8.2.3

Bisherige Teilnahme der Schweiz an EU-Programmen und -

Initiativen im Bereich Bildung, Forschung und Innovation

2.8.2.3.1

Die Teilnahme der Schweiz an den EU-Programmen für

Forschung und Innovation

Die Schweiz blickt auf eine lange Tradition der Forschungszusammenarbeit mit der

EU zurück. Seit der Einführung der Rahmenprogramme hat sie in verschiedenen For-

men (als Drittstaat, teilassoziierter Staat oder assoziierter Staat) daran teilgenommen.

Die Schweiz zählt bis und mit dem 8. Rahmenprogramm für Forschung und Innova-

tion (Horizon 2020, dem Vorgängerprogramm von Horizon Europe) zu den erfolg-

reichsten europäischen Ländern, gemessen an Erfolgsquote, eingeworbenen Förder-

mitteln

und

der

Anzahl

koordinierter

Projekte.

454

Während

der

letzten

Programmgeneration verzeichnete die Schweiz durchschnittlich 710 Beteiligungen

pro Jahr, verbunden mit jährlichen Förderbeiträgen in Höhe von 435 Millionen Fran-

ken. Die EU-Rahmenprogramme sind nach dem Schweizerischen Nationalfonds

(SNF) die zweitwichtigste öffentliche Förderquelle für Forschung und Innovation in

der Schweiz, womit sie eine wertvolle Ergänzung zu den nationalen Fördermassnah-

men darstellen.

Schweizer Teilnahme am «Horizon-Paket 2021-2027»

Vor dem Hintergrund der bedeutenden Rolle der EU-Programme im Bereich For-

schung und Innovation verfolgt die Schweiz das Ziel, ihre Assoziierung im Rahmen

des Horizon-Pakets 2021–2027 fortzusetzen. Das Parlament hat entsprechend am 16.

Dezember 2020 die Mittel dafür bereitgestellt. Am 12. März 2021 wurde ein formelles

Gesuch zur Assoziierung der Schweiz am gesamten Horizon-Paket an die Europäi-

sche Kommission übermittelt. In ihrer Antwort machte die Europäische Kommission

die Aufnahme informeller Assoziierungsgespräche von Fortschritten beim Entwurf

454

Abrufbar unter: www.sbfi.admin.ch > Forschung und Innovation > Internationale For-

schungs- und Innovationszusammenarbeit > EU-Rahmenprogramme > Zahlen und Fakten

zur Schweizer Beteiligung > Beteiligung der Schweiz an EU-Programmen und -Initiativen

für Forschung und Innovation: Zahlen und Fakten 2023.

487 / 931

für ein institutionelles Rahmenabkommen sowie dem Abschluss eines zeitlich unbe-

schränkt gültigen Abkommens, welches die allgemeinen Regeln für die Programmbe-

teiligungen der Schweiz aufstellt, abhängig.

Nach dem Entscheid des Bundesrates, den Entwurf für ein institutionelles Rahmen-

abkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen, informierte die Europäische Kommis-

sion die Schweiz am 12. Juli 2021, dass die Schweiz bis auf Weiteres für alle Aus-

schreibungen von Horizon Europe sowie für verwandte Programme und Initiativen

als nicht-assoziierter Drittstaat gelte. Die Kommission betonte zudem, dass ohne Klä-

rung der institutionellen Fragen zwischen der EU und der Schweiz keine weiteren

Schritte in den Sondierungsgesprächen oder Verhandlungen zur Assoziierung erfol-

gen würden. Die Frage der Assoziierung der Schweiz am Horizon-Paket wurde dabei

im Gesamtzusammenhang der bilateralen Beziehungen betrachtet.

Schweizer Übergangsmassnahmen für das Horizon-Paket 2021–2027

Im Status eines nicht assoziierten Drittstaats können Schweizer Akteure in Forschung

und Innovation an etwa zwei Dritteln der Ausschreibungen des Horizon-Pakets teil-

nehmen, wobei sie keine Finanzierung durch die EU erhalten. Um die Auswirkungen

des Drittstaat-Status gezielt abzufedern, hat der Bundesrat für die Ausschreibungen

von 2021 bis 2024 jährlich Übergangsmassnahmen beschlossen. Diese beliefen sich

insgesamt auf rund 2,5 Milliarden Schweizer Franken. Einerseits wurde damit der

Budgetanteil von Schweizer Forschenden bei den noch zugänglichen Ausschreibun-

gen finanziert, andererseits wurden nationale Ersatzausschreibungen für nicht-zu-

gängliche Teile des Programms angeboten. Die projektweise Finanzierung war bereits

in der Finanzierungsbotschaft vorgesehen gewesen. Finanziert wurden die Über-

gangsmassnahmen aus den im Rahmen des Bundesbeschlusses über die Teilnahme

am Horizon-Paket 2021-2027 bereitgestellten Mitteln. Auf die Budgetierung des

Pflichtbeitrags wurde ab 2024 verzichtet und es wurden nur noch die Mittel für die

Übergangsmassnahmen eingestellt. Ab dem Voranschlag 2026 ist vorgesehen, dass

der Bundesrat erneut einen Pflichtbeitrag budgetiert.

2.8.2.3.2

Die indirekte Teilnahme der Schweiz an den europäischen

Bildungsprogrammen seit 2014

Die Schweiz beteiligt sich seit 1992 mit wechselndem Beteiligungsstatus an den EU-

Bildungsprogrammen. Eine vollumfängliche Assoziierung bestand in den Jahren

1992-1994 und 2011-2013. Dazwischen und seit 2014 beteiligte sich die Schweiz in-

direkt als Drittstaat und daher mit eingeschränktem Zugang zu den Programmaktivi-

täten.

Nach Annahme der Masseneinwanderungsinitiative 2014 wurden die bereits aufge-

nommenen Verhandlungen zu einer Assoziierung an das Programm Erasmus+ 2014-

2020 vonseiten der EU vorzeitig beendet. Infolgedessen entschied sich der Bundesrat

ab 2014 alternativ für jährliche Übergangslösungen. Seit 2018 wird die sogenannte

«Schweizer Lösung» (auch bekannt als «Schweizer Programm zu Erasmus+», «Über-

gangslösung für Erasmus+», Swiss European Mobility Programme für den Hoch-

schulbereich) in Form eines von der Schweiz direkt finanzierten, mit Erasmus+ kom-

patiblen Förderprogramms von Movetia umgesetzt und seit 2021 über die BFI-

488 / 931

Botschaften finanziert. Eine Assoziierung an die von 2021-2027 laufende Programm-

generation von Erasmus+ konnte 2021 nicht realisiert werden. Die Europäische Kom-

mission vertrat, wie im Bereich Forschung und Innovation, die Haltung, dass ohne

Klärung der institutionellen Fragen zwischen der EU und der Schweiz keine weiteren

Schritte zu einer Assoziierung erfolgen könnten.

Über die «Schweizer Lösung» entwickelte die Schweiz die internationale Zusammen-

arbeit und Mobilität in der Bildung weiter. Die Beteiligungszahlen konnten laufend

ausgebaut werden, im Jahr 2024 konnten Mobilitäten von über 16 400 Personen über

alle Programme (inkl. Länder ausserhalb Europas) gefördert werden. 2017 waren dies

rund 11 200 Personen. Das Wachstum fällt jedoch heute im Vergleich zu anderen, an

Erasmus+ assoziierten Ländern niedriger aus. Zudem kann sich die Schweiz nur ein-

geschränkt an Aktivitäten und Massnahmen von Erasmus+ beteiligen.

«Schweizer Lösung»

Die im Rahmen der «Schweizer Lösung» geförderten Aktivitäten stehen allen Institu-

tionen sämtlicher Bildungsbereiche offen. Sie orientieren sich weitgehend an den

Hauptschwerpunkten von Erasmus+ und sind mit diesen kompatibel. Die Zusammen-

arbeit von Schweizer Institutionen mit Partnern aus Erasmus+-Programmländern ist

somit in gewissen Bereichen möglich. Jedoch ist der Zugang zu den Aktivitäten und

Mitteln der Erasmus+-Förderinstrumente für Schweizer Institutionen und Organisati-

onen im Vergleich zu solchen aus Erasmus+-Programmländern stark eingeschränkt.

Die «Schweizer Lösung» berücksichtigt dies und bietet, wo möglich, parallele Ersatz-

massnahmen. Es werden folgende Kategorien des Zugangs unterschieden:

Offener Zugang:

Schweizer Akteure haben uneingeschränkten Zugang zu

Aktivitäten und Mitteln des Erasmus+-Förderinstruments und können Mit-

tel bei der EU-Kommission beantragen.

Eingeschränkter Zugang:

Schweizer Akteure können zwar teilnehmen, ha-

ben aber im Unterschied zu Institutionen aus Erasmus+-Programmländern

weniger Rechte und erhalten nur in Einzelfällen eine finanzielle Unterstüt-

zung durch Erasmus+-Mittel. In der Regel werden sie deshalb direkt mit

Schweizer Mitteln unterstützt.

Blockierter Zugang, parallele Ersatzmassnahmen:

Schweizer Akteure ha-

ben keinen Zugang zu Aktivitäten und Mitteln des Erasmus+-Förderinstru-

ments. Die «Schweizer Lösung» bietet parallele Ersatzmassnahmen, die di-

rekt mit Schweizer Mitteln finanziert werden.

Blockierter Zugang, keine parallelen Massnahmen:

Schweizer Akteure ha-

ben keinen Zugang zu Aktivitäten und Mitteln des Erasmus+-Förderinstru-

ments. Die «Schweizer Lösung» bietet keine parallelen Ersatzmassnahmen.

Wie die Übersicht im Anhang 2.8 (1) aufzeigt, hat die Schweiz vollen oder einge-

schränkten Zugang nur zu rund einem Drittel der im Rahmen von Erasmus+ insgesamt

möglichen Aktivitäten. Zu den restlichen Aktivitäten ist der Zugang für Schweizer

Institutionen und Organisationen blockiert. Dies gilt insbesondere für die Mobilität

489 / 931

von Einzelpersonen. Für einen Drittel dieser Aktivitäten mit blockiertem Zugang wer-

den Ersatzmassnahmen geboten. Diese umfassen Aktivitäten, die auf die Förderin-

strumente von Erasmus+ gestützt sind, jedoch werden sie vollumfänglich mit Schwei-

zer Mitteln finanziert, d.h. die Schweiz finanziert dabei – im Unterschied zu

Erasmus+-Programmländern – sowohl eingehende als auch ausgehende Mobilität.

Die Zusammenarbeit von Organisationen und Institutionen ist nur teilweise möglich,

ebenso die politische Zusammenarbeit.

Begleitmassnahmen im Rahmen der «Schweizer Lösung»

Auch im Rahmen der «Schweizer Lösung» werden nationale Begleitmassnahmen um-

gesetzt, um die optimale Wirkung und Nutzung der Förderaktivitäten zu unterstützen.

Für diejenigen Massnahmen, zu denen die Schweiz keinen Zugang zum Netzwerk auf

EU-Ebene hat, werden autonome, parallele Massnahmen angeboten. Ein wesentlicher

Teil der Begleitmassnahmen wird von der nationalen Agentur Movetia umgesetzt.

Dazu gehören beispielsweise Promotionstätigkeiten, Vernetzungsaktivitäten, vorbe-

reitende Besuche sowie Massnahmen zur Qualitätssicherung und Akkreditierung der

antragstellenden Institutionen und Organisationen. Zu den Begleitmassnahmen, die

durch andere Akteure verantwortet werden, gehören spezialisierte Durchführungs-

und Kontaktstellen, Netzwerke und Initiativen. Diese unterstützen die nationalen Ak-

teure, die Informationsverbreitung und die Vernetzung an der Schnittstelle zwischen

Schweizer und EU-Aktivitäten sowie auf nationaler Ebene. Dazu zählen das Schwei-

zer Informations- und Verbindungsbüro

SwissCore

in Brüssel, das Informationsnetz

zum Bildungswesen in Europa

Eurydice

, das Informationsnetzwerk

Eurodesk

zum

Thema Auslandsaufenthalte für junge Menschen,

Euroguidance

, welches die Interna-

tionalisierung in der Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung unterstützt, sowie die

Beteiligung an der Organisation

Academic Cooperation Association (ACA

), welche

die Internationalisierung in der Hochschulbildung fördert.

2.8.2.4

Die Bedeutung einer Assoziierung der Schweiz an den BFI-

Programmen der EU

2.8.2.4.1

Dringlichkeit einer Assoziierung am Horizon-Paket 2021-

2027

Einer Assoziierung der Schweiz am «Horizon-Paket 2021–2027» ist für die nationale

Forschungslandschaft aber auch für die Wirtschaft von hoher Bedeutung. In den letz-

ten Jahren gab es mehrere öffentliche Aussprachen und Stellungnahmen von Vertre-

terinnen und Vertretern der Schweizer Forschungs- und Innovationslandschaft, die

eine Assoziierung der Schweiz an das Horizon-Paket forderten. Darüber hinaus wur-

den zwischen 2021 und 2024 zahlreiche parlamentarische Vorstösse und Standesini-

tiativen eingereicht, die dasselbe Ziel verfolgten (s. Ziff. 1.5).

Positive Auswirkungen der Assoziierung

Eine Assoziierung an das Horizon-Paket bringt mehrere wichtige positive Auswirkun-

gen, darunter den Zugang zu exzellenter Wissenschaft, Innovation und Vernetzung,

die Förderung der internationalen Zusammenarbeit und Intensivierung des Wettbe-

werbs sowie die Reduktion der administrativen Mehrbelastung, die durch den Status

der Nichtassoziierung entstanden ist.

490 / 931

Durch die Assoziierung erhalten Akteure in Forschung und Innovation in der Schweiz

wieder ungehinderten Zugang zu sämtlichen Programmbereichen, insbesondere den

Einzelprojekten, darunter die Ausschreibungen des Europäischen Forschungsrats

(ERC), der themenoffene Spitzenforschung fördert, des Europäischen Innovationsrats

(EIC), der Innovationen und neue Technologien unterstützt, sowie die meisten Marie-

Skłodowska-Curie-Aktionen (MSCA), welche internationale Programme zur Förde-

rung des wissenschaftlichen Nachwuchses anbieten.

Die Auswirkungen einer Assoziierung und insbesondere der Teilnahme an Einzelpro-

jekten wurden in einer vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation,

SBFI, in Auftrag gegebenen Kurzstudie untersucht, bei welcher die wissenschaftliche

Literatur und Förderdaten für die Jahre 2018 und 2019 analysiert sowie Fachgesprä-

che geführt wurden.

455

Daraus wurden fünf Effekte identifiziert, die zeigen, wie eine Assoziierung das

Schweizer Forschungs- und Innovationssystem stärkt und zur Sicherung des Wohl-

stands und der Wettbewerbsfähigkeit beiträgt:

1.

Intensivierung des Wettbewerbs:

Wettbewerb fördert die Qualität von

Forschungs- und Innovationsprojekten, da eine stärkere Konkurrenz um

Fördermittel

besteht.

Durch

eine

Assoziierung

an

die

EU-

Rahmenprogramme kann die Schweiz von einem intensiveren und interna-

tionalen Wettbewerb profitieren.

2.

Reputationseffekt:

Die international renommierten Einzelförderungen bie-

ten den Geförderten Vorteile wie bessere Chancen auf Beförderungen oder

neue Stellen, erhöhte Sichtbarkeit und die Gewinnung von Kooperations-

partnern. Dies gilt auch für ihre Institutionen, welche vom guten Ruf ihrer

Forschenden profitieren können. KMU und Start-ups können gegenüber In-

vestoren und Kunden ihre Seriosität und Innovationskraft signalisieren.

3.

Brain-Gain

-Effekt:

Mit einer Assoziierung und dem Zugang zum renom-

mierten ERC kann die Schweiz exzellente Forschende anwerben.

4.

Leverage

-Effekt:

Einzelförderungen unterstützen Forschende, KMU und

Start-ups dabei, zusätzliche öffentliche (

Leverage

) und private (

Crowding-

in

)

Fördermittel zu erhalten.

5.

Vernetzungseffekt:

Die EU-Rahmenprogramme fördern die Vernetzung

von Forschenden, KMU und Start-ups, was sowohl die persönliche Karri-

ere- und Geschäftsentwicklung als auch den Wissensaustausch und die Wis-

sensdiffusion stärkt. Diese Vernetzung hat positive Auswirkungen auf Pro-

duktivität und Wachstum.

455

Abrufbar unter: www.sbfi.admin.ch > Forschung und Innovation > Internationale For-

schungs- und Innovationszusammenarbeit > EU-Rahmenprogramme > Zahlen und Fakten

zur Schweizer Beteiligung > Einzelförderung der EU-Rahmenprogramme für Forschung

und Innovation: Auswirkungen der Schweizer Beteiligung.

491 / 931

Im Status eines nicht assoziierten Drittlandes ist der Schweiz ein erheblicher admi-

nistrativer Aufwand entstanden. Die Mittelverwaltung und die finanztechnische Prü-

fung der Projekte müssen im Rahmen der Übergangsmassnahmen durch das SBFI

übernommen werden, was zusätzliche Mittel und Personalressourcen erfordert. Im

Falle einer Assoziierung entfallen diese administrativen Mehrbelastungen für die Aus-

schreibungen ab dem Zeitpunkt der Assoziierung. Die bereits eingegangenen Projekt-

verpflichtungen im Drittland-Status müssen jedoch vom SBFI und seinen Partneror-

ganisationen bis zum Ende der Projekte, das heisst bis circa 2035, weiter begleitet

werden. Die wissenschaftliche Evaluation von Projekten, die finanztechnische Prü-

fung sowie die Auszahlung der Mittel werden bei einer Assoziierung wieder direkt

durch die Europäische Kommission erfolgen, was den administrativen Aufwand für

die Schweiz deutlich reduzieren würde. Zudem kann die Europäische Kommission

dank ihrer umfassenden Prüfkapazitäten von Skaleneffekten profitieren, was die Effi-

zienz weiter steigert und die administrativen Kosten senkt.

Im assoziierten Status können Akteure in Forschung und Innovation in der Schweiz

auch wieder vollwertige Partner in Verbundprojekten werden und die bedeutsame

Rolle der Projektleitung übernehmen, in welcher sie massgeblich zur Gestaltung und

Durchführung von Forschungs- und Innovationsprojekten beitragen können.

Dringlichkeit der Assoziierung

Das Jahr 2025 ist für die Beteiligung an Horizon Europe von besonderer Bedeutung,

da es den Beginn des neuen strategischen Plans für die Jahre 2025-2027

456

markiert.

Dieser Plan legt die strategischen Leitlinien für die letzten drei Jahre von Horizon

Europe fest und zielt darauf ab, die Investitionen in Forschung und Innovation auf

globale Herausforderungen wie Klimawandel, Verlust der biologischen Vielfalt und

digitaler Wandel auszurichten. Durch eine provisorische Assoziierung ab 2025 bzw.

eine vorläufige Anwendung des EUPA

457

können Teilnehmende in der Schweiz früh-

zeitig von den neuen Prioritäten und Fördermöglichkeiten profitieren und ihre For-

schungsstrategien entsprechend ausrichten. Dies bietet Planungssicherheit und er-

möglicht eine optimale Vorbereitung auf die kommenden Programmjahre.

Die Dringlichkeit einer Assoziierung ergibt sich auch dadurch, dass die Ausschrei-

bungen des Jahres 2025 bereits angelaufen sind. Mit einer Assoziierung zu einem spä-

teren Zeitpunkt riskiert die Schweiz, von zentralen Initiativen ausgeschlossen zu wer-

den und damit wertvolle Möglichkeiten zur Teilnahme an wegweisenden Projekten,

insbesondere im digitalen Bereich, zu verspielen. Die baldmöglichste Assoziierung

ist entscheidend, um weiterhin aktiv im internationalen Wettbewerb um Forschungs-

förderung und in Innovationsprojekte mitwirken zu können.

Die Assoziierung ermöglicht auch die Teilnahme an zahlreichen Aktivitäten im Rah-

men der Forschungsinfrastruktur ITER und des Programms Digital Europe (DEP), die

456

Abrufbar unter: www.research-and-innovation.ec.europa.eu > Funding > Funding opportu-

nities > Funding programmes and open calls > Horizon Europe > Strategic plan.

457

Die vorläufige Anwendung des EUPA wird mit der Ratifizierung, spätestens aber 2028 be-

endet. Bei einer Ratifizierung tritt das Abkommen (inkl. Protokolle) definitiv in Kraft. Ein

bestehendes Abkommen ist auch Voraussetzung für den Abschluss weiterer Protokolle zur

Teilnahme an zukünftigen Programmgenerationen.

492 / 931

für nicht assoziierte Drittländer nicht zugänglich sind. Für Schweizer Kompetenzzen-

tren im Bereich Fusionsforschung (z. B. das Swiss Plasma Center) ist die fehlende

Anbindung an europäische Initiativen wie ITER gravierend. Ebenso können Schwei-

zer Firmen nicht mehr von attraktiven Dienstleistungsverträgen für den Bau von ITER

profitieren, welche wiederum für die Weiterentwicklung der entsprechenden Techno-

logien und des technologischen Know-hows in der Schweiz wichtig sind

Für Forschungszwecke in Bereichen wie Gesundheit und Klima werden immer grös-

sere und stärkere digitale Infrastrukturen und Plattformen benötigt. Die Kosten für die

Entwicklung, die Beschaffung und den Betrieb solcher Infrastrukturen steigen laufend

und sind für ein einzelnes Land allein kaum tragbar. Eine Bündelung von nationalen

Ressourcen und Kapazitäten, wie im Rahmen des DEP vorgesehen, ist deshalb unab-

dingbar.

Zudem gibt es Bereiche wie die Quantentechnologie oder Raumfahrt, die von der EU

als strategisch wichtig eingestuft werden, und für nicht assoziierte Länder grundsätz-

lich nicht zugänglich sind. Voraussetzung für den Zugang sind die Assoziierung sowie

gegebenenfalls das Bestehen eines zusätzlichen Assessments. In diesen Bereichen hat

die Schweiz oft eine weltweit führende Rolle oder verfügt über einzigartiges

Know-

how

. Der Ausschluss der Schweiz bedeutet, dass langjährige Forschungsarbeiten und

die Zusammenarbeit mit europäischen Partnern nicht mehr weitergeführt werden

konnten, und nur ein erschwerter Zugang zu entsprechenden Forschungsergebnissen

besteht.

458

Die Schweiz riskiert damit, ihre Spitzenstellung zu verlieren.

Die Assoziierung an die laufende Programmgeneration ist auch ein entscheidender

Schritt für die Beteiligung an zukünftigen EU-Programmen, insbesondere dem Nach-

folgeprogramm von Horizon Europe. Damit verschafft sich die Schweiz eine stärkere

Ausgangslage für zukünftige Verhandlungen, da sie als aktive und zuverlässige Part-

nerin im bestehenden Horizon-Paket anerkannt wird.

Es ist von grosser Bedeutung, dass die Schweiz ihre Spitzenposition im Bereich For-

schung und Innovation beibehält. Je länger die Phase der Nicht-Assoziierung dauert,

desto grösser die Gefahr, dass hochqualifizierte Forschende und innovative Unterneh-

men, die im benachbarten Ausland attraktivere Bedingungen vorfinden, abwandern.

Langfristig könnte dies nicht nur den Verlust der führenden Position der Schweiz im

globalen Forschungs- und Innovationssektor bedeuten, sondern auch die Attraktivität

des Standorts Schweiz für zukünftige Talente und Investitionen mindern.

2.8.2.4.2

Bedeutung einer Assoziierung an Erasmus+

Ziele der Schweizer Bildungspolitik im Rahmen der internationalen Bildungszusam-

menarbeit

Internationale Mobilitätsaktivitäten für Studierende, Berufslernende, Lernende ande-

rer Bildungsbereiche sowie für ausbildende Personen bieten insbesondere jungen

Menschen die Chance, sich arbeitsmarktrelevante Kompetenzen anzueignen, sich per-

458

Abrufbar unter: www.sbfi.admin.ch > Forschung und Innovation > Internationale For-

schungs- und Innovationszusammenarbeit > EU-Rahmenprogramme > Horizon-Paket

2021–2027.

493 / 931

sönlich weiterzuentwickeln und zu lernen, sich in neuen und fremden Situationen zu-

rechtzufinden und zu bewähren. Internationale Kooperationen zwischen Einrichtun-

gen aller Bildungsbereiche, angefangen von der Primarstufe, über die Berufsbildung

bis hin zur höheren Berufsbildung und Hochschulbildung stellen eine wichtige Grund-

lage für den Aufbau und die Weiterentwicklung von internationalen Netzwerken dar.

Dadurch ermöglichen sie den Austausch von Wissen und Erfahrungen, die Entwick-

lung von neuen Strategien bis hin zu gemeinsamen Bildungsangeboten. Somit trägt

die Förderung von Mobilität und Kooperationen zur Exzellenz des Bildungsraums

Schweiz im Sinne von hoher Qualität und internationaler Wettbewerbsfähigkeit bei

und ist dadurch auch Teil der internationalen BFI-Strategie des Bundesrates.

Bund und Kantone orientieren sich im Rahmen ihrer Strategie zu Austausch und Mo-

bilität an der Vision, dass alle jungen Menschen im Verlauf ihrer Ausbildung mindes-

tens einmal an einem länger dauernden Austausch teilnehmen.

459

Gemeinsam setzen

sie sich dafür ein, dass Austausch und Mobilität als Teil des Bildungscurriculums an-

erkannt und höhere Beteiligungszahlen und bessere Qualität erreicht werden. Aus-

tausch und Mobilität sollen in der Bildung und in der Arbeitswelt verankert und ziel-

gerichtete Angebote etabliert werden. Stabile Partnerschaften sollen aufgebaut und

die Zusammenarbeit mit Dritten auf nationaler und internationaler Ebene intensiviert

werden. Bund und Kantone haben die Bedeutung von Austausch und Mobilität auch

in den gemeinsamen bildungspolitischen Zielen unterstrichen.

460

Im Zuge dessen

wurde in der 2023 revidierten Verordnung über die Anerkennung von gymnasialen

Maturitätszeugnissen die Schaffung von Voraussetzungen für die Teilnahme an Aus-

tausch- und Mobilitätsaktivitäten als Mindestanforderung definiert, damit ein kanto-

nales oder kantonal anerkanntes gymnasiales Maturitätszeugnis schweizerisch aner-

kannt wird.

461

Vor diesem Hintergrund erachtet der Bundesrat die Teilnahme der Schweiz an Eras-

mus+ als strategisches Ziel, um in einem Umfeld starker internationaler Konkurrenz

die Internationalisierung der Schweizer Bildungsakteure zu fördern und weiterzuent-

wickeln.

Bedeutung der Schweizer Beteiligung am Programm Erasmus+

Erasmus+ ist ein einzigartiges Instrument zur Förderung der internationalen Bildungs-

zusammenarbeit. Es kennt weltweit keine Alternative hinsichtlich Umfang, Vielfalt

der Beteiligungs- und Kooperationsmöglichkeiten und Internationalität. Im Gegensatz

dazu ist die aktuelle «Schweizer Lösung» klar begrenzt. So ist im Bereich der Mobi-

lität der Zugang zu den meisten Aktivitäten blockiert. Trotz parallelen Ersatzmass-

nahmen kann die Schweiz nicht dieselben Vorteile geniessen wie die Erasmus+-Pro-

grammländer und muss sowohl eingehende als auch ausgehende Mobilität mit

eigenen Mitteln finanzieren. Sie ist zudem vollumfänglich von der Bereitschaft der

459

Abrufbar unter: www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > Bund und Kan-

tone genehmigen gemeinsame Strategie für Austausch und Mobilität.

460

Abrufbar unter: www.sbfi.admin.ch > Bildung > Bildungsraum Schweiz > Bildungszu-

sammenarbeit Bund – Kantone > Gemeinsame Grundlagen > Erklärung 2023 zu den ge-

meinsamen bildungspolitischen Zielen für den Bildungsraum Schweiz.

461

Art. 22 Abs. 2 Verordnung über die Anerkennung von gymnasialen Maturitätszeugnissen

(Maturitätsanerkennungsverordnung, MAV) vom 28. Juni 2023, SR

413.11

.

494 / 931

europäischen Partner abhängig, ausserhalb von Erasmus+ separate Lernmobilität zu

organisieren. Bei den Kooperationsprojekten zur Entwicklung der Qualität und Inno-

vation in der Bildung können Schweizer Institutionen keine Projekte initiieren und

koordinieren. Hinzu kommt die erschwerte und nicht vollständig gleichberechtigte

Beteiligung an internationalen Netzwerken, der permanent das Risiko eines systema-

tischen Ausschlusses aus strategisch relevanten EU-Initiativen, wie der European

Universities Initiative, beinhaltet.

Die finanziellen Mittel für Förderaktivitäten erlauben bei aktueller Mittelausstattung

kaum Wachstum in den geförderten Mobilitäten und Aktivitäten – die Erreichung der

politisch gesetzten Ziele bleibt damit in weiter Ferne. Zwar verdoppelte sich das

Budget für die «Schweizer Lösung» von über 29 Millionen Franken im Jahr 2014 auf

knapp 58 Millionen Franken im Jahr 2027. Allerdings lag das Niveau im Jahr 2014

wesentlich unter dem Budget, das die Schweiz im Falle einer vollumfänglichen As-

soziierung hätte beitragen müssen. Zudem hat sich in derselben Periode seit 2014 das

entsprechende Budget von Erasmus+ praktisch verdreifacht. Diese immer grösser

werdende Kluft kann dazu führen, dass die Schweiz ohne Assoziierung mittel- bis

langfristig den Anschluss bei der Förderung der internationalen Mobilität in der Bil-

dung und an die europäische Bildungszusammenarbeit verliert, mit entsprechenden

Konsequenzen für die Attraktivität und Leistungsfähigkeit ihres Bildungssystems.

Somit ermöglicht einzig die Assoziierung an Erasmus+ der Schweiz einen uneinge-

schränkten und rechtlich gesicherten Zugang zu allen Mobilitäts- und Kooperations-

aktivitäten sowie zu Massnahmen zur Unterstützung der Politikentwicklung im Be-

reich Bildung, Jugend und Sport. Sie schafft nicht nur kurzfristige Vorteile aufgrund

von verstärkter Mobilität für Einzelpersonen und erweiterter Kooperationsmöglich-

keiten für Bildungsakteure, sondern trägt auch wesentlich zum Aufbau und zur Wei-

terentwicklung langfristiger, strukturierter internationaler Netzwerke mit Schweizer

Beteiligung bei. Damit kann die Grundlage für eine langfristige Förderung der Inno-

vationskraft des Schweizer Bildungsraums und die Stärkung des Wissenstransfers ge-

legt werden. Die Assoziierung ist somit der Schlüssel für die Erhaltung und Stärkung

der Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität der Schweiz und damit ihrer Position als

führende Bildungs- und Wissenschaftsnation in Europa und darüber hinaus (siehe An-

hang 2.8 (2) für einen Vergleich der «Schweizer Lösung» mit einer Assoziierung an

Erasmus+).

Internationale Lernmobilität von Einzelpersonen

Die internationale Lernmobilität hat durch die grenzüberschreitende Vernetzung von

Wirtschafts-, Forschungs- und Bildungsräumen stetig an Bedeutung gewonnen und

umfasst somit alle Bildungsbereiche einschliesslich den ausserschulischen Jugendbe-

reich und den Sport. Die Grundlagen für den Erwerb und Aufbau von internationalen

Kompetenzen werden bereits in der schulischen Bildung und der ausserschulischen

Jugendarbeit geschaffen: Frühe Mobilitäts- und Austauscherfahrungen (z.B. interna-

tionale Klassen- oder Jugendaustausche) motivieren dazu, entsprechende Aktivitäten

bei der beruflichen oder akademischen Ausbildung (z.B. Berufspraktika oder Studi-

ensemester im Ausland) zu wiederholen. Im Bereich der Berufsbildung ist der Aufbau

von internationalen Kompetenzen und Netzwerken insbesondere für die Berufsleute

in Wirtschaftssektoren relevant, die stark von technologischem Wandel und globaler

495 / 931

Vernetzung betroffen sind. Beispielsweise profitieren Lernende in der Maschinen-,

Elektro- und Metall-Industrie, in der ICT-Branche und im kaufmännischen Bereich

besonders davon, erste internationale Arbeitserfahrungen zu sammeln und so ihre

Sprach- und Fachkompetenzen erweitern zu können. Auch später in der Erwachsenen-

und Weiterbildung bleibt die Lernmobilität relevant, um arbeitsmarktbezogene Kom-

petenzen anzueignen. Auch für den Bereich des Sports bietet internationale Lernmo-

bilität einen wichtigen Mehrwert: Beispielsweise können Personen, die in Organisa-

tionen des Breitensports tätig sind, durch einen Auslandaufenthalt ihre Kompetenzen

und Qualifikationen verbessern und neue Methoden erwerben.

Die Mobilität von Ler-

nenden aller Bildungsbereiche

erlaubt Studierenden, Berufslernenden und anderen

Lernenden den Erwerb von interkulturellen, sprachlichen, persönlichen sowie erwei-

terten fachlichen und methodischen Kompetenzen, welche im heutigen internationa-

len Umfeld unabdingbar sind. Der positive Einfluss von Mobilität auf interkulturelle

und sprachliche Kompetenzen ist denn auch durch diverse nationale und internatio-

nale Studien für verschiedene Bildungsstufen belegt.

462

Auch bei der Entwicklung von

Selbst- und Sozialkompetenzen zeigen Auslandaufenthalte bedeutende Effekte.

463

Ei-

nige Studien deuten zudem auf einen Zusammenhang zwischen Auslandsaufenthalten

von Studierenden und positiven wirtschaftlichen Effekten bei der akademischen und

beruflichen Laufbahn hin.

464

Auslanderfahrungen während der Aus- und Weiterbil-

dung fördern vor allem bei jungen Menschen unter anderem den Aufbau von persön-

lichen internationalen Netzwerken, die für die spätere berufliche Tätigkeit von Be-

deutung sind.

Durch internationale Lernmobilitätsaktivitäten erwerben auch ausbildende Personen

(Lehrkräfte, Dozierende, Ausbildner und andere Bildungsverantwortliche) wichtige

Zusatzkompetenzen, die für ihre Tätigkeiten als Multiplikatoren und Motivatoren im

Bildungssystem wichtig sind. Zudem wird so ein Fundament für die längerfristige in-

ternationale Vernetzung und Kooperation der Institutionen und Organisationen ge-

schaffen: Aktivitäten auf individueller Ebene führen zu verschiedenen Folgeaktivitä-

ten auf institutioneller Ebene – von gemeinsamen Veröffentlichungen bis hin zu

strukturierten institutionellen Kooperationen.

465

Erasmus+ bietet für alle Zielgruppen und Bildungsbereiche die bisher vielfältigsten

Möglichkeiten für Mobilitätsaktivitäten. Die höheren Fördermittel haben seit 2014

462

Vgl. hierzu: Heinzmann S., Paul S., Hilbe R. und Schallhart N.: Sprachaustausch auf der

Primarstufe, Einfluss auf die Sprachlernmotivation und die produktiven Sprachkompeten-

zen, Freiburg: Institut für Mehrsprachigkeit (2019); Moore, I., Torgerson C., and Beck-

mann N.: Systematic Review Measuring the Efficacy of Study Abroad in Undergraduate

Language Learners on Linguistic Proficiency Gains. Review of Education (2021), Bd. 9,

Nr. 3, S. 1–26.

463

Vgl. hierzu: Zimmermann J.T., Greischel H., Preuss J.S., Kercher J. und Kittel R.: Teilstu-

die 1: Aussercurriculare Bildungseffekte von Auslandaufenthalten, Abschlussbericht,

DAAD-Wirkungsstudie interkulturelle Kompetenz und Werteorientierung durch Individu-

almobilität und Erasmus+ (2018).

464

Vgl. hierzu: Netz N., Cordua F.: Does studying abroad influence graduate‘s wages? A lit-

erature review, in: Journal of International Students (2021), Bd. 11 Nr. 4, S. 768-789; Mes-

ser Dolores, Wolter Stefan: Are student exchange programs worth it? Studies in Higher ed-

ucation (2007).

465

Siehe hierzu: ”Driving Impact of Erasmus+ Outgoing Academic Staff Mobility: Current

Landscape and Pathways for the Future“, vgl.: www.aca-secretariat.be > publications > all

publications > 2024.

496 / 931

praktisch zu einer Verdoppelung der absolvierten Lernmobilitäten auf europäischer

Ebene geführt. Die Nachbarländer verfügen dank ihrer Programmteilnahme heute im

Vergleich zur Schweiz über eine deutlich erhöhte Mobilitätsquote. Eine Assoziierung

ermöglicht es auch der Schweiz, längerfristig das vorhandene Potential für Lernmo-

bilitäten voll auszuschöpfen. Dies gilt insbesondere für Bereiche, in denen Nachhol-

bedarf besteht (Berufsbildung, Schulbildung, gymnasialer Bereich, Weiterbildung,

Jugend, Sport).

Gewisse Schwerpunkte von Erasmus+ sind zudem für Schweizer Zielgruppen wichtig

– so zum Beispiel die verstärkte aussereuropäische Dimension des Programms. Eine

Assoziierung sichert somit nicht nur Opportunitäten für Lernmobilität in Europa, son-

dern auch im aussereuropäischen Raum, was angesichts der globalen wirtschaftlichen

Verflechtungen der Schweiz essenziell ist.

Internationale Kooperationen

Die Qualität und Attraktivität des Schweizer Bildungsraums hängt auch von der ste-

tigen Verbesserung und Weiterentwicklung der Bildungsangebote ab. Vernetzung,

Austausch und Zusammenarbeit mit internationalen Partnern sind für die Institutionen

und Organisationen in der Bildung eine wichtige Basis, um neue Entwicklungen auf-

zunehmen, gemeinsame Bildungsangebote und Bildungsinnovationen zu entwickeln

sowie neue Methoden zu integrieren. Solche etablierten Partnerschaften begünstigen

ihrerseits wiederum die Durchführung von internationalen Lernmobilitätsaktivitäten.

Ein Schwerpunkt der institutionellen Kooperationen ist die Exzellenzförderung, wel-

che auch Ziel der Schweizer BFI-Politik ist: Die zwei Schlüsselinitiativen «European

Universities Initiative» (EUI) und «Centres of Vocational Excellence» (CoVE) be-

zwecken die Förderung der Vernetzung von Akteuren auf regionaler und internatio-

naler Ebene in der Hochschulbildung und in der Berufsbildung. In der Schweiz ist

insbesondere das Interesse an den europäischen Hochschulallianzen im Rahmen der

EUI, an denen die Schweiz seit 2022 mit Einschränkungen teilnehmen kann, gross.

Die Bewerbungen von Schweizer Hochschulen sind im europäischen Vergleich sehr

erfolgreich: Inzwischen sind bereits 12 Schweizer Hochschulen – sowohl Universitä-

ten als auch Fachhochschulen - Teil einer europäischen Hochschulallianz. Neben den

Bildungsinstitutionen im engeren Sinn profitieren auch ausbildende Unternehmen,

Organisationen der Arbeitswelt und andere in der Bildung aktive Organisationen. Bei-

spielsweise arbeiten einzelne Schweizer Branchenverbände mit ihren europäischen

Partnern zusammen, um gemeinsame grenzüberschreitende Qualifikationsstandards

oder technologische Innovationen für die Ausbildung zu entwickeln.

Institutionelle Kooperationen erhöhen auch die internationale Sichtbarkeit des

Schweizer Bildungssystems, indem Schweizer Projektpartner spezifische Expertise –

zum Beispiel in der dualen Berufsbildung – einbringen und dadurch die Stärken des

Schweizer Bildungssystems und seine Bildungsabschlüsse international besser be-

kannt machen.

Bei einer Assoziierung an Erasmus+ bestehen, im Unterschied zur «Schweizer Lö-

sung» (s. Ziff. 2.8.2.3.2 und Anhang 2.8. (1)), umfangreiche und nicht eingeschränkte

Beteiligungsmöglichkeiten an Kooperationsprojekten für Schweizer Akteure. So kön-

nen diese den vollen Nutzen aus den Kooperationen ziehen und sind als Projektpartner

497 / 931

attraktiver. Der den Programmländern vorbehaltene Zugang zu neuen Aktivitäten und

Pilotinitiativen ist im Fall einer Assoziierung ebenfalls gesichert. Die bisherigen dop-

pelten Bewilligungsverfahren für die selbstfinanzierte Teilnahme an EU-Projekten im

Rahmen der «Schweizer Lösung» fallen weg.

Teilnahme an Prozessen zur Unterstützung der Politikentwicklung und der politischen

Zusammenarbeit sowie am europäischen strategischen Bildungsdialog

Die internationale Zusammenarbeit ist auch für die Akteure und Entscheidungsträger,

die für die Steuerung des Schweizer Bildungsraums zuständig sind, von zunehmender

Bedeutung (u.a. Bildungsbehörden, Sozialpartner, Berufs- und Branchenverbände,

bildungsstufenspezifische Fachkonferenzen). Internationale wirtschaftliche, gesell-

schaftliche und ökologische Entwicklungen prägen die bildungspolitischen Heraus-

forderungen auf nationaler Ebene mit. Um eine effiziente und effektive Bildungspo-

litik zu gewährleisten, gilt es deshalb, Erfahrungen sowie gute Ansätze und Ideen in

Bildungsthemen grenzüberschreitend auszutauschen, mit gleichgesinnten Partnern

neue Strategien zu entwickeln und zu erproben. Für die Schweiz ist es zudem von

strategischer Bedeutung, aktiv am europäischen Bildungsdialog teilzunehmen, ihre

bildungspolitischen Interessen international zu vertreten und den europäischen Bil-

dungsraum mitzugestalten. Das Lern- und Synergiepotential internationaler Zusam-

menarbeit ist bei systemischen Herausforderungen wie der Digitalisierung und der

grünen Transition besonders gross.

Erasmus+ sieht zwei verschiedene, miteinander verknüpfte Möglichkeiten für diese

Zusammenarbeit auf der politisch-systemischen Ebene vor: einerseits Projekte, wel-

che den politischen Dialog, die Zusammenarbeit und die Politikentwicklung unter-

stützen. Diese sollen zur Entwicklung neuer Strategien und Innovationen zur Weiter-

entwicklung der Bildung beitragen. Beispiele hierfür sind Pilotversuche für neue

Politikansätze, vergleichende Studien zur Erarbeitung von Entscheidgrundlagen oder

Massnahmen zur Verbesserung der Vergleichbarkeit von Qualifikationen. Bei einer

Assoziierung stehen solche Kooperationen auch Schweizer Akteuren offen.

Andererseits stellen die Programmgremien, Fachgremien und Netzwerke auf EU-

Ebene einen Kanal für Dialog, Erfahrungsaustausch und Mitgestaltung des europäi-

schen Bildungskontextes dar. Eine besondere Rolle hat dabei das Programmkomitee

Erasmus+, in welchem die wichtigsten Entscheide zur Ausgestaltung der Programm-

aktivitäten getroffen und strategische Leitplanken definiert werden. Der Zugang der

Schweiz zu diesen Gremien ist bis anhin eingeschränkt oder gar nicht möglich. Die

Schweiz muss sich aktuell hauptsächlich über bilaterale Kontakte einbringen, was auf-

wändig ist und keine Sicherheit bietet, dass ihre Anliegen auch berücksichtigt werden.

Eine Assoziierung eröffnet Schweizer Vertreterinnen und Vertretern auch hier den

vollen Zugang. Sie erhalten damit die Möglichkeit, am europäischen bildungspoliti-

schen Dialog zu partizipieren, die strategische Ausrichtung des Programms mitzuge-

stalten und die Sichtbarkeit der Schweizer Bildung auf europäischer Ebene zu verbes-

sern.

Transversale Themen

Die im Rahmen von Erasmus+ definierten transversalen Prioritäten (s. Ziff. 2.8.2.2.2)

entsprechen in hohem Masse den im Rahmen der BFI-Botschaft 2025–2028 gesetzten

498 / 931

transversalen Themen:

Digitalisierung, nachhaltige Entwicklung, Chancengerechtig-

keit, nationale und internationale Zusammenarbeit

. Diese Themen sind für den BFI-

Bereich von zentraler Bedeutung und müssen systematisch und langfristig in der BFI-

Politik berücksichtigt werden:

Mit Blick auf die Herausforderungen der

Digitalisierung

in der Bildung ermöglicht

eine Assoziierung an Erasmus+ den Schweizer Akteuren, vom Wissenstransfer bei

der Entwicklung, Anwendung und Nutzbarmachung von neuen Technologien zu pro-

fitieren und somit mit der Geschwindigkeit der digitalen Transformation im Bildungs-

bereich im europäischen Raum Schritt zu halten. Eine Assoziierung würde ebenfalls

ideale Rahmenbedingungen schaffen, um den Erwerb von Kompetenzen zu fördern,

die für die Gestaltung einer

nachhaltigen Entwicklung

notwendig sind. Die institutio-

nellen Kooperationen können einen wichtigen Beitrag zur Stärkung des BFI-Standorts

Schweiz leisten, indem die nachhaltige Entwicklung in den gemeinsam erarbeiteten

Bildungsgrundlagen berücksichtigt und so als Chance und Wettbewerbsvorteil ge-

nutzt wird. Für die Förderung der

Chancengerechtigkeit

bietet eine Assoziierung ei-

nen Mehrwert, indem sie Schweizer Akteuren vielfältigere Möglichkeiten eröffnet,

sich an Mobilitätsaktivitäten zu beteiligen, und so einen Beitrag zur Verringerung von

Benachteiligung in der Bildung leisten kann. Schliesslich unterstreicht die Aufnahme

von nationaler und internationaler Zusammenarbeit als neues transversales Thema die

Wichtigkeit der internationalen Zusammenarbeit als Instrument zur Sicherung und

Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Akteure.

2.8.2.5

Folgen bei einem Verzicht auf Assoziierung

Im Falle einer ausbleibenden Assoziierung müsste sowohl für das Horizon-Paket

2021-2027 als auch für Erasmus+ das aktuelle Regime der Übergangsmassnahmen,

beziehungsweise der «Schweizer Lösung» weitergeführt werden.

Ein Verzicht auf eine Assoziierung bedeutet einen eingeschränkten Zugang der

Schweizer Akteure zu den jeweiligen Programmen. Bei Horizon Europe betrifft dies

in erster Linie die Einzelförderung von exzellenten Schweizer Forschenden oder in-

novativen Unternehmen sowie strategische Bereiche, namentlich die Quantenfor-

schung und Raumfahrt. Die nationalen Übergangsmassnahmen sind hierbei kein adä-

quater Ersatz für den internationalen Wettbewerb. Für das Horizon-Paket verursacht

die Teilnahme im Drittstaatmodus einen weitreichenden administrativen Aufwand

beim SBFI. Während die eingesetzten Mittel zur Finanzierung der Schweizer Projekt-

teilnehmenden im Horizon-Paket vergleichbar sind mit den Mitteln im Rahmen einer

Assoziierung (sogenannte Pflichtbeiträge an die EU), erreichen sie nicht dieselbe Wir-

kung und werden demnach weniger effizient eingesetzt (s. Ziff. 2.8.7.4).

Für Erasmus+ impliziert ein Verzicht auf eine Assoziierung die Weiterführung der

sogenannten «Schweizer Lösung». Diese vermag inhaltlich jedoch nicht denselben

Nutzen und Mehrwert wie eine Assoziierung zu erzielen: Schweizer Institutionen ste-

hen in diesem Fall signifikant weniger Förderinstrumente und -mittel zur Verfügung.

Sie haben keinen gleichberechtigten und rechtlich gesicherten Zugang zum Programm

und nur erschwerte Möglichkeiten, sich an den Aktivitäten zu beteiligen (s. Ziff.

2.8.2.3.2 und Anhang 2.8 (1)). Zudem besteht bei einer Weiterführung der «Schweizer

499 / 931

Lösung» das Risiko, dass ein grosses Potential an Mobilitäts- und Kooperationsakti-

vitäten weiterhin brach liegt (s. Ziff. 2.8.2.4.2). Mittel- bis langfristig würden die Ab-

koppelung von der europäischen Bildungszusammenarbeit sowie der Verlust von

Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität des Schweizer Bildungsraums die komparati-

ven Nachteile für Schweizer Bildungsakteure und Lernende verschärfen.

Die Schweiz ist auf die internationale Zusammenarbeit im Bereich Bildung, For-

schung und Innovation angewiesen und riskiert mit einer Nicht-Assoziierung an die

entsprechenden Programme eine Erosion ihrer Stellung als führende Bildungs- und

Wissenschaftsnation.

2.8.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

2.8.3.1

Zielsetzung für EU-Programme im Allgemeinen

Das Ziel der Schweiz im Rahmen der Verhandlungen zum Paket Schweiz–EU war es,

ein Programmabkommen abzuschliessen, das die Grundlage für eine systematischere

Teilnahme an EU-Programmen von Schweizer Interesse darstellt. Gleichzeitig wurde

angestrebt, die Protokolle für diejenigen EU-Programme zu verhandeln, bei denen

sich die Schweiz, soweit möglich, in der Programmgeneration 2021-2027 beteiligen

will, das heisst für Horizon Europe, Euratom, ITER, Digital Europe und Erasmus+,

sowie für das Gesundheitsprogramm EU4Health (s. Ziff. 2.13).

Zu den weiteren Programmen, bei welchen eine Assoziierung möglich ist, gehören

unter anderen das Rahmenprogramm der EU zur Förderung des europäischen Kultur-

und Kreativsektors für den Zeitraum 2021–2027, «Kreatives Europa». Der Bundesrat

hat sein Interesse an einer Teilnahme an den Kulturprogrammen der EU wiederholt

bekräftigt und zuletzt im Rahmen der Kulturbotschaft 2025–2028 ausgewiesen. Auf-

grund der dafür notwendigen Gesetzesangleichungen war die Teilnahme in der lau-

fenden Programmgeneration nicht Gegenstand der Verhandlungen.

Ebenfalls nicht Gegenstand der Verhandlungen war die Teilnahme der Schweiz an

zukünftigen EU-Programmen. Während das EUPA die Grundlage für eine solche dar-

stellt, muss die Schweiz für jede Programmgeneration die Protokolle mit den spezifi-

schen Bedingungen für die Assoziierung neu verhandeln. Dabei kann sie jeweils auch

neu beurteilen an welchen für Drittstaaten zugänglichen Programmen sie sich assozi-

ieren möchte. Das Parlament kann sich im Rahmen der Finanzierungsbotschaften für

die einzelnen Programmteilnahmen zu einer Assoziierung äussern und darüber ent-

scheiden.

Vor dem Hintergrund der Annahme der parlamentarischen Initiative 20.496466 wird

der Bundesrat dabei für jede neue Programmgeneration, nach Vorliegen des neuen

Legislativvorschlags der EU-Kommission zu ihrem mehrjährigen Finanzrahmen so-

wie zu den EU-Programmen, einen Planungsbericht zuhanden der aussenpolitischen

Kommissionen der Bundesversammlung verfassen. Dieser Planungsbericht soll die

Beratung der Geschäfte (z.B. Finanzierungsbotschaften, Verordnungen, Verhand-

lungsmandate) unterstützen. Der erste Planungsbericht für die Programmgeneration

466

BB1

2024

30

500 / 931

2028–2034 würde der Bundesversammlung im Laufe des Jahres 2026 unterbreitet,

falls die oben erwähnten Vorschläge der EU-Kommission im Jahr 2025 vorliegen.

2.8.3.2

Verhandlungsmandat für das Paket Schweiz–EU: Teil EU-

Programme

Eine Assoziierung an das Horizon-Paket und Erasmus+ war auf Beginn der Pro-

grammgeneration 2021 geplant. Die entsprechenden Verhandlungsmandate wurden

vom Bundesrat am 11. Dezember 2020 (Horizon-Paket) bzw. am 5. März 2021 (Eras-

mus+) verabschiedet. Nach dem Abbruch der Verhandlungen mit der EU über das

institutionelle Rahmenabkommen im Mai 2021 war es jedoch nicht mehr möglich,

Verhandlungen über eine Assoziierung an die EU-Programme aufzunehmen, da die

EU diese im Lichte der Gesamtbeziehungen Schweiz-EU beurteilte.

Mit dem Paketansatz des Bundesrats wurde die Teilnahme an EU-Programmen in das

Paket Schweiz–EU eingebettet. Das entsprechende Verhandlungsmandat des Bundes-

rates vom 8. März 2024 gab folgende Leitlinien vor: (i) den Abschluss eines unbefris-

teten Abkommens, (ii) die Ermöglichung einer künftigen Assoziierung an weitere

Programme mittels Zusatzprotokollen, (iii) die Einhaltung des finanziellen Rahmens

der vom Parlament bereits genehmigten Mittel (Horizon-Paket 2021–2027) und (iv)

die Gewährleistung einer systematischeren und kontinuierlicheren Teilnahme an den

EU-Programmen.

467

2.8.3.3

Verhandlungsverlauf

Ende November 2023, nach Abschluss der exploratorischen Gespräche zum Paket

Schweiz–EU, konnten spezifische exploratorische Gespräche zur Teilnahme der

Schweiz an den EU-Programmen aufgenommen werden. Es fanden insgesamt sieben

Gesprächsrunden statt, welche zum Ziel hatten, die gegenseitigen Interessen auszulo-

ten und den Umfang einer Beteiligung der Schweiz an der Programmgeneration 2021-

2027 abzustecken. Nach Verabschiedung des Verhandlungsmandats zum Paket

Schweiz–EU seitens Schweiz und EU fand am 21. März 2024 die erste Verhandlungs-

runde zum EU-Programmabkommen statt.

Zur Aushandlung des vorliegenden Abkommens fanden insgesamt 13 Verhandlungs-

runden statt, die letzte am 10. Dezember 2024. Die Verhandlungsdelegation der

Schweiz setzte sich zusammen aus der Abteilung Internationale Programme und Or-

ganisationen des SBFI/WBF und der Abteilung Europa des Staatssekretariats EDA

(Co-Verhandlungsleitung), der Sektion EU und Nachbarstaaten des BAG/EDI, den

Abteilungen Internationales sowie Film des BAK/EDI, der Abteilung Direktionsge-

schäfte des ASTRA/UVEK, der Sektion Europa Handel und Entwicklungszusammen-

arbeit des Bundesamts für Umwelt BAFU/UVEK, des Finanzdienstes IV – Bildung,

Forschung, Kultur und Internationales der EFV, der Vertretung der Schweizer Mis-

sion in Brüssel und der KdK/EDK.

467

Abrufbar unter www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > Beziehungen

Schweiz–EU: Der Bundesrat verabschiedet das endgültige Verhandlungsmandat.

501 / 931

Mit Beginn der Verhandlungen zum Paket Schweiz–EU setzte die EU die Übergangs-

regelung 2024 in Kraft, die es Forschenden in der Schweiz ermöglichte, Gesuche im

Rahmen der Ausschreibung ERC Advanced Grants 2024 von Horizon Europe einzu-

reichen. Aufgrund der Fortschritte bei den Verhandlungen zum Paket Schweiz–EU

entschied die EU am 3. Juli 2024, dass Forschende in der Schweiz an den ersten drei

Ausschreibungen des Programmjahres 2025, namentlich dem ERC Starting Grant

2025, Synergy Grant 2025 und Consolidator Grant 2025, teilnehmen können. Am 12.

November 2024 kam der Zugang zum ERC Proof of Concept Grant 2025 dazu. Vor

dem Hintergrund des materiellen Abschlusses der Verhandlungen zum Paket

Schweiz–EU im Dezember 2024 hat die EU die Übergangsregelung 2025 per 1. Ja-

nuar 2025 vollständig aktiviert: Diese ermöglicht Akteuren in Forschung und Innova-

tion in der Schweiz, ab dem Programmjahr 2025 an praktisch allen Ausschreibungen

von Horizon Europe, dem Euratom-Programm und dem Programm Digital Europe

teilzunehmen und Fördermittel bei der EU zu beantragen. Letztere werden von der

EU nach Unterzeichnung des Programmabkommens sowie Überweisung des Schwei-

zer Pflichtbeitrags an die Forschenden ausbezahlt. Ausserdem können Schweizer Ak-

teure Gesuche in einer Koordinatoren-Rolle einreichen.

Für die Teilnahme an Erasmus+ wird zuerst ein Finanzierungsbeschluss der eidgenös-

sischen Räte benötigt, womit eine Assoziierung ab 2027 möglich würde. Für ITER ist

eine provisorische Wiederaufnahme der Beteiligung erst ab 2026 vorgesehen.

Das Verhandlungsmandat konnte vollumfänglich erfüllt werden. Namentlich wurde

mit dem EUPA ein zeitlich unbefristetes Abkommen ausgehandelt, welches die As-

soziierung an die aktuelle und zukünftige Programmgenerationen ermöglicht. Für die

Teilnahme am Horizon-Paket sind die vom Parlament am 16. Dezember 2020 gespro-

chenen Mittel ausreichend. Betreffend die systematischere Teilnahme soll mit Ge-

sprächen im Gemischten Ausschuss ein nahtloser Übergang von der einen zur nächs-

ten Programmgeneration sichergestellt werden. Für die Assoziierung an Erasmus+

wurde ein Rabatt von 30 % ausgehandelt. Nur ein einziges anderes Drittland (Serbien)

konnte für seine Programmteilnahme einen gleich hohen Rabatt erzielen.

2.8.4

Vorverfahren

2.8.4.1

Vorverfahren für eine Assoziierung am Horizon-Paket

2021-2027

Die Vorverfahren für die Assoziierung der Schweiz am Horizon-Paket 2021–2027

sind in der Botschaft vom 20. Mai 2020 zur Finanzierung der Schweizer Beteiligung

an den Massnahmen der Europäischen Union im Bereich Forschung und Innovation

in den Jahren 2021–2027 (Horizon-Paket 2021–2027)

468

dargestellt. Zusammengefasst

erfolgte seitens der Stakeholder ein deutliches und einhelliges Bekenntnis zur Bedeu-

tung einer Schweizer Beteiligung am Horizon-Paket, insbesondere an Horizon Eu-

rope, sowie zur Assoziierung als bevorzugte Beteiligungsform. Dies floss bei der par-

lamentarischen Behandlung des Geschäfts im Jahr 2020 und beim entsprechenden

468

BBl

2020

4845

502 / 931

Bundesbeschluss

469

mit ein. Das Vorhaben war darüber hinaus Bestandteil der Legis-

laturplanungen 2019-2023

470

und 2023-2027

471

und aller Bundesratsziele seit 2020.

2.8.4.2

Vorverfahren für eine Assoziierung an Erasmus+

Eine Assoziierung der Schweiz an Erasmus+ ist seit 2019 stets Ziel des Bundesrates

und Bestandteil der Legislaturplanungen 2019-2023

472

und 2023-2027

473

. Das Parla-

ment hat die Bedeutung einer Assoziierung wiederholt unterstrichen.

Im Rahmen der Vernehmlassung zur BFI-Botschaft 2025–2028 hatten die interessier-

ten Kreise Gelegenheit, sich zum Ziel der Assoziierung an Erasmus+ zu äussern.

474

Verschiedene Akteure betonten dabei die Bedeutung einer Assoziierung und der in-

ternationalen Einbindung der Schweizer Bildungslandschaft. Konkret wurde die

Wichtigkeit einer Beteiligung an der Initiative der Europäischen Hochschulallianzen

unterstrichen, welche es den Hochschulen ermöglicht, sich mit strategisch wichtigen

Partnern zu verbinden. Darüber hinaus wurden zwischen Ende 2024 und Anfang 2025

drei Standesinitiativen seitens der Kantone Basel-Stadt, Thurgau und St. Gallen ein-

gereicht, die eine gesicherte Teilnahme der Schweiz an Erasmus+ fordern.

2.8.4.3

Regulierungsfolgenabschätzung für das Horizon-Paket

2021-2027 und Erasmus+

Aufgrund einer Relevanzanalyse für das Horizon-Paket und Erasmus+ wurde festge-

stellt, dass keine Regulierungsfolgenabschätzung erforderlich ist. Im Fall des Hori-

zon-Pakets hat das SBFI jedoch eine externe Studie in Auftrag gegeben, welche die

Auswirkungen der wichtigsten Unterschiede zwischen dem Status quo und einer As-

soziierung untersucht hat. Die Teilnahme an Einzelprojekten in den Bereichen For-

schung und Innovation ist nur als assoziierter Staat möglich und steht daher im Zent-

rum der Studie. Die Studie zeigt auf, dass eine Teilnahme an Einzelprojekten der EU-

Rahmenprogramme für Forschung- und Innovation über intensiveren Wettbewerb,

verbesserte Reputation, Brain-Gain, zusätzliche Fördermittel und stärkere Vernetzung

den Schweizer Forschungs- und Innovationsstandort erheblich stärkt.

475

Dies trägt

auch zur Sicherung des Wohlstands und der Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz bei.

2.8.5

Grundzüge des Abkommens

Das EUPA besteht aus i) einem allgemeinen Teil mit horizontalen Bestimmungen, die

für alle EU-Programmbeteiligungen der Schweiz gelten, und ii) angehängten Proto-

469

BBl

2021

73

470

BBl

2020

8385

471

BBl

2024

1440

472

BBl

2020

8385

473

BBl

2024

1440

474

www.fedlex.admin.ch > Vernehmlassungen > Abgeschlossen > 2023 > Förderung von Bil-

dung, Forschung und Innovation in den Jahren 2025–2028 (BFI-Botschaft 25-28): Ergeb-

nisbericht.

475

Abrufbar unter: www.sbfi.admin.ch > Forschung und Innovation > Internationale For-

schungs- und Innovationszusammenarbeit > EU-Rahmenprogramme > Zahlen und Fakten

zur Schweizer Beteiligung > Einzelförderung der EU-Rahmenprogramme für Forschung

und Innovation: Auswirkungen der Schweizer Beteiligung.

503 / 931

kollen mit programmspezifischen Bestimmungen. Der allgemeine Teil des Abkom-

mens ist unbefristet, während die Protokolle in der Regel für jeden mehrjährigen Fi-

nanzrahmen der EU, beziehungsweise jede Programmgeneration neu verhandelt wer-

den müssen. Dabei können auch neue Protokolle hinzukommen oder auslaufende

Protokolle nicht erneuert werden, wobei im Abkommen die Absicht einer systemati-

scheren Beteiligung der Schweiz an den EU-Programmen reflektiert ist.

Horizontale Bestimmungen:

Hier werden in insgesamt 22 Artikeln und einem Annex

die übergeordneten Aspekte der Programmteilnahmen der Schweiz geregelt. Dabei

werden der Rahmen einer Teilnahme der Schweiz an den EU-Programmen und die

finanziellen Aspekte festgelegt. Ebenso geregelt wird die Natur der Mitwirkung in

relevanten Gremien der EU im Zusammenhang mit der Verwaltung und Umsetzung

dieser Programme oder Initiativen. Übergeordnet ist unter anderem die gemeinsame

Absicht einer systematischeren Schweizer Beteiligung verankert. Das Abkommen

kann von beiden Vertragsparteien unter Einhaltung einer sechsmonatigen Kündi-

gungsfrist jederzeit aufgelöst werden.

Protokolle:

Dem EUPA sind für die laufende Programmgeneration drei Protokolle

angehängt: Das erste Protokoll beinhaltet die Teilnahme an Horizon Europe, dem Eu-

ratom Programm, dem Programm Digital Europe und Erasmus+. Ein zweites Proto-

koll bezieht sich auf ITER, während ein drittes Protokoll das EU4Health Programm

abdeckt. Letzteres wird aufgrund der Verknüpfung mit dem Gesundheitsabkommen

in Ziffer 2.13 dieses Erläuternden Berichts behandelt. Während das ITER-Protokoll

bis zur Einstellung der Aktivitäten von «Fusion for Energy», F4E, (derzeit für 2042

geplant) gültig bleibt, sind die anderen Protokolle bis Ende 2027 befristet und müssen

auf die nächste Programmgeneration (2028-2034) hin neu verhandelt werden.

Für das Horizon-Paket ist eine rückwirkende provisorische Assoziierung per 1.1.2025

vorgesehen (bei ITER per 1.1.2026), falls die Unterzeichnung des EUPA vor dem

15. November 2025 erfolgt. Bei einer Unterzeichnung nach diesem Datum ist eine

Assoziierung ab dem 1.1.2026 vorgesehen. Bei Erasmus+ wurde eine Assoziierung

ab dem 1.1.2027 ausgehandelt.

2.8.6

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Abkommens

2.8.6.1.1

Horizontaler Teil

Nachfolgend werden die wichtigsten Artikel des horizontalen Teils des EUPA kurz

erläutert.

Art. 1

Gegenstand

Dieser Artikel legt den Gegenstand des Abkommens fest, nämlich die Teilnahme der

Schweiz an Programmen oder Tätigkeiten der Union oder Teilen davon. Die Schweiz

kann dann teilnehmen, wenn diese ihr gemäss Basisrechtsakt der EU zur Teilnahme

offenstehen und wenn die Teilnahme in einem dem Abkommen angehängten Proto-

koll geregelt ist.

Art. 2

Begriffsbestimmungen

504 / 931

Der Artikel definiert einige zentrale Begriffe, die im Abkommenstext wiederholt vor-

kommen.

Art. 3

Festlegung der Teilnahme

Dieser Artikel beschreibt die Teilnahme der Schweiz an den EU-Programmen. Dem-

nach kann die Schweiz an EU-Programmen oder Teilen davon als assoziiertes Land

teilnehmen, sofern diese in den Protokollen des EUPA aufgenommen sind. Die Pro-

tokolle halten die spezifischen Teilnahmebedingungen (Dauer der Assoziierung, pro-

grammspezifische finanzielle Bedingungen etc.) fest. Des Weiteren unterstreicht der

Artikel die beidseitige Absicht einer systematischeren Beteiligung der Schweiz an

EU-Programmen oder Teilen davon. Für jeden neuen Mehrjährigen Finanzrahmen der

EU und bereits vor einer formellen Interessensbekundung der Schweiz, welche eine

Voraussetzung für eine Assoziierung ist, wird im Gemischten Ausschuss erörtert, wie

die Zusammenarbeit nahtlos fortgesetzt werden kann. Die Absicht einer systemati-

scheren Beteiligung ist auch in der Präambel des EUPA verankert.

Art. 4

Einhaltung der Vorschriften der EU-Programme

Dieser Artikel beschreibt, dass die Schweiz auf Basis der relevanten Rechtsakte und

Verordnungen der EU an den Programmen teilnimmt. Darin sind auch die Teilnah-

meberechtigung und Teilnahmevoraussetzungen für Schweizer Rechtsträger defi-

niert.

Art. 5

Mobilität von Personen und Waren im Rahmen der EU-Programme

Der Artikel stellt sicher, dass die Gleichbehandlung von und faire Mobilitätsbedin-

gungen für Teilnehmende an EU-Programmen sowie ein reibungsloser Waren- und

Dienstleistungsverkehr zwischen der Schweiz und der EU gewährleistet sind. Diese

Bestimmungen gelten explizit nur für die Teilnehmenden und Aktivitäten im Rahmen

der EU-Programme, welche in den Protokollen aufgenommen sind.

Art. 6

Beteiligung der Schweiz in der Gouvernanz

Der Artikel regelt die Mitwirkung der Schweiz an den Entscheidungs- und Beratungs-

prozessen in den für die EU-Programme relevanten Gremien. In der Regel sind

Schweizer Vertreterinnen und Vertreter als Beobachter eingebunden. Es wird sicher-

gestellt, dass eine möglichst gleichwertige, dem Status als assoziiertem Staat ange-

messene Behandlung von Expertinnen und Experten und der entsprechende Zugang

zu relevanten Informationen gewährleistet ist. Das Stimmrecht ist in den meisten Fäl-

len jedoch nur den EU-Mitgliedstaaten vorbehalten.

Art. 7-9

Finanzielle Beteiligung der Schweiz

Artikel 7 regelt die Berechnung der Pflichtbeiträge für die Teilnahme an EU-

Programmen. Sie setzen sich aus zwei Elementen zusammen:

1.

einem operativen Beitrag, berechnet aus der Anwendung eines BIP-

Schlüssels auf das EU-seitige Budget des jeweiligen Programms. Der BIP-

505 / 931

Schlüssel entspricht dem Verhältnis des BIP der Schweiz zum gesamten

BIP der EU-Mitgliedsstaaten;

2.

einer Teilnahmegebühr. Die ab 2021 von der EU neu für alle Drittstaaten

ausser EWR-Ländern eingeführte, jährliche Teilnahmegebühr beträgt

grundsätzlich 4% des operativen Beitrags, wobei für die Jahre 2025-2027

ein gradueller Anstieg vereinbart wurde.

Artikel 8 definiert einen Mechanismus dafür, den Pflichtbeitrag gemäss Artikel 7 in

den Folgejahren anpassen zu können, um das tatsächlich verpflichtete Budget zu be-

rücksichtigen.

Mit Artikel 9 wird mit einem Korrekturmechanismus dem Beteiligungserfolg der

Schweizer Akteure Rechnung getragen. Im Fall einer Überperformance in zwei kon-

sekutiven Jahren würde demnach ein zusätzlicher Beitrag der Schweiz fällig, um die-

sen Umstand zu berücksichtigen. Eine Reduktion des Pflichtbeitrags im Fall einer Un-

terperformance ist in Protokoll I definiert.

Nur ein Teil der EU-Programme (namentlich Horizon Europe) sieht die Möglichkeit

eines Anpassungs- oder Korrekturmechanismus in den rechtlichen Grundlagen vor.

Diese Mechanismen gelten nur dann, wenn das jeweilige Protokoll dies ausdrücklich

vorsieht.

Art. 11-14

Finanzkontrolle, Rückforderung und Durchsetzung

Gemäss Artikel 11 hat die EU das Recht, auf der Basis bestehender Rechtsgrundlagen,

Überprüfungen und Audits in der Schweiz durchzuführen, um die ordnungsgemässe

Verwendung von EU-Mitteln im Rahmen der EU-Programme sicherzustellen. Die

Schweiz verpflichtet sich zur Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden der EU.

Artikel 12 regelt die Zusammenarbeit der Schweiz und der EU bei der Betrugsbe-

kämpfung im Zusammenhang mit allfälligen Unregelmässigkeiten bei der Verwen-

dung von EU-Mitteln im Rahmen der EU-Programme, einschliesslich Untersuchun-

gen, Kontrollen und Informationsaustausch. In der Schweiz ist die Eidgenössische

Finanzkontrolle (EFK) die hierfür zuständige Behörde. Kommt es zu Straftaten, wel-

che die finanziellen Interessen der EU betreffen, informiert die Schweiz die Europäi-

sche Staatsanwaltschaft (EPPO) und verpflichtet sich zur Zusammenarbeit. Diese Zu-

sammenarbeit entspricht im Wesentlichen den bereits existierenden Regelungen zur

Betrugsbekämpfung gemäss der im Rahmen der Schengen-Zusammenarbeit abge-

schlossenen Zusatzvereinbarung für das Instrument für finanzielle Unterstützung im

Bereich Grenzverwaltung und Visumpolitik (BMVI)

476

.

Gemäss Artikel 14 können Geldstrafen des Europäischen Gerichtshofs zu Ansprüchen

aus den EU-Programmen, die sich an natürliche oder juristische Personen richten, in

476

Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäi-

schen Union über zusätzliche Regeln in Bezug auf das Instrument für finanzielle Hilfe im

Bereich Grenzverwaltung und Visumpolitik im Rahmen des Fonds für integrierte Grenz-

verwaltung für den Zeitraum 2021 bis 2027, SR

0.362.316

.

506 / 931

der Schweiz durchgesetzt werden. Schweizer Gerichte haben die Möglichkeit, die

Ordnungsmässigkeit von Vollstreckungen zu überprüfen.

Art. 16

Gemischter Ausschuss

Analog zu den meisten weiteren Abkommen zwischen der Schweiz und der EU wird

nach Artikel 16 ein Gemischter Ausschuss («the Joint Committee») aus Vertreterin-

nen und Vertretern der Schweiz und der EU eingesetzt, um das Abkommen zu ver-

walten und bei Bedarf weiterzuentwickeln sowie den Informationsaustausch sicher-

zustellen. Insbesondere hat der Gemischte Ausschuss Entscheidbefugnisse bezüglich

der Protokolle des EUPA.

Da dem EUPA auch ein Protokoll zur Beteiligung der Schweiz am mehrjährigen Ge-

sundheitsprogramm der EU angehängt ist, welches eng mit dem Gesundheitsabkom-

men zusammenhängt, ist vorgesehen, dass die Gemischten Ausschüsse beider Ab-

kommen zusammenarbeiten. Entsprechend wurde eine Bestimmung aufgenommen,

nach der die Modalitäten der Zusammenarbeit festgelegt werden, ohne dass sie in die

Zuständigkeiten des jeweils anderen Gemischten Ausschusses eingreifen (s. Ziff.

2.13.6.1.2).

Art. 17-20

Inkrafttreten, Geltungsdauer und vorläufige Anwendung

Diese Artikel regeln das Inkrafttreten des Abkommens im Rahmen des Pakets

Schweiz–EU (s. Ziff. 2.1.6.6), die Modalitäten für allfällige Anpassungen, die Gel-

tungsdauer sowie die Beendigung des Abkommens. Das Abkommen wird auf unbe-

schränkte Zeit abgeschlossen. Eine vorläufige Anwendung ist rückwirkend ab dem 1.

Januar 2025 vorgesehen und endet spätestens Ende 2028. In den Protokollen kann der

Beginn der Anwendbarkeit spezifiziert werden (s. Ziff. 2.8.6.2 und 2.8.6.3 für das

Horizon-Paket und Erasmus+, sowie Ziff. 2.13.6.2 für EU4Health).

Das Abkommen kann von beiden Vertragsparteien unter Einhaltung einer sechsmo-

natigen Kündigungsfrist jederzeit aufgelöst werden.

Annex I

Finanzielle Durchführung

Dieser Anhang regelt die Implementierung der finanziellen Verpflichtungen der

Schweiz bei der Teilnahme an EU-Programmen. Dies umschliesst das Datum der jähr-

lichen Bezahlungsaufforderungen, die Zahlungsfristen, und Verzugszinsen bei ver-

späteten Zahlungen.

2.8.6.2

Protokoll I: Horizon Europe, Euratom Programm,

Programm Digital Europe und Erasmus+

Allgemeiner Teil

Im ersten Teil des Protokolls ist der Zeitpunkt des Beginns der Assoziierung der

Schweiz an die einzelnen Programme geregelt. In allen Fällen endet sie mit dem

Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 der EU. Die Schweiz ist erst mit dem Beginn

der Assoziierung an die jeweiligen Programme berechtigt, EU-Mittel zu erhalten. In

507 / 931

den Schlussbestimmungen dieses Teils ist geregelt, dass das Protokoll auch nach 2027

in Kraft bleibt, um die laufenden Projekte ausfinanzieren zu können.

Spezifische Bedingungen für Horizon Europe

In den programmspezifischen Bedingungen sind die Wichtigkeit von Gegenseitigkeit

(Art. 6) und offenen Wissenschaftspraktiken (Open Science, Art. 7) hervorgehoben.

Betreffend die Gegenseitigkeit umfasst der Anhang zu Protokoll I eine Liste mit

schweizerischen Forschungs- und Innovationsprogrammen, beziehungsweise Mass-

nahmen, die äquivalent mit entsprechenden EU-Programmen und prinzipiell offen für

Forschende mit Sitz in EU-Mitgliedstaaten sind, wobei eine Finanzierung dieser For-

schenden durch die Schweiz keine Bedingung ist.

Die für Horizon Europe spezifischen Finanzbestimmungen werden in Artikel 8 des

Protokolls geregelt. Er legt fest, dass der finanzielle Anpassungsmechanismus (Art. 8

des horizontalen Teils) und der automatische Korrekturmechanismus (Art. 9 des ho-

rizontalen Teils) für das Horizon Europe Programm gelten. Zusätzlich wird ein Kor-

rekturmechanismus bei einer Unterperformance der Schweizer Teilnehmenden einge-

führt: Bei einer jährlichen Unterperformance von 8% oder mehr würde der

Pflichtbeitrag für das entsprechende Jahr reduziert. Die Korrektur im Falle einer Über-

performance der Schweizer Teilnehmenden ist im horizontalen Teil geregelt. Wäh-

rend der Mechanismus im Falle einer Überperformance erst nach zwei konsekutiven

Jahren greift, ist die Bestimmung aufgrund der jährlichen Reduktion im Falle einer

Unterperformance zusätzlich vorteilhaft.

Spezifische Bedingungen für das Euratom Programm

Das Forschungs- und Ausbildungsprogramm von Euratom und Horizon Europe sind

institutionell eng aufeinander abgestimmt. Entsprechend sind die Teilnahmebedin-

gungen weitgehend analog. Die Schweiz wird als assoziierter Staat am Euratom-Pro-

gramm 2021-2025 teilnehmen, und die Assoziierung wird automatisch auf das Eu-

ratom-Programm 2026-2027 ausgedehnt, sofern nicht eine der Parteien etwas anderes

beschliesst.

Abweichend sind die finanziellen Bestimmungen, welche für das Euratom-Programm

in Artikel 9 des Protokolls geregelt sind. Der Anpassungs- und automatische Korrek-

turmechanismus kommen hier nicht zur Anwendung. Hingegen wird der BIP-basierte

Beteiligungsschlüssel für die laufende Programmgeneration um 4,6 % reduziert. Dies

soll die Abschaffung des sogenannten Fusionsschlüssels kompensieren, der bis 2020

für die Berechnung der Beiträge für den Teil des Programms, welcher der Kernfusi-

onsforschung gewidmet ist, verwendet wurde und aus dem Verhältnis des BIPs der

Schweiz zum BIP der EU-Staaten plus der Schweiz berechnet wurde.

Spezifische Bedingungen für das

Programm Digital Europe

Die Schweiz kann an allen Ausschreibungen des Programms Digital Europe teilneh-

men, ausser i) im Programmbereich „Cybersicherheit“, ii) im Programmbereich

„Halbleitertechnologien“ und iii) an Aktivitäten, die für assoziierte Länder aufgrund

der strategischen Autonomie der Europäischen Union aus Sicherheitsgründen nicht

508 / 931

zugänglich sind. Die rechtlichen Grundlagen des Programms sehen keine Anpas-

sungs- oder automatischen Korrekturmechanismen vor.

Spezifische Bedingungen für Erasmus+

Artikel 14 des Protokolls regelt die Etablierung und Akkreditierung des nationalen

Implementationssystems für Erasmus+. Dazu gehört erstens die Benennung einer na-

tionalen Behörde, die das ordnungsgemässe Funktionieren des Programms zu gewähr-

leisten hat. Zweitens muss eine nationale Agentur nominiert werden, die für die Um-

setzung zuständig ist. Drittens benennt die nationale Behörde eine unabhängige

Prüfstelle, welche die Berichterstattung der nationalen Agentur bewertet und der na-

tionalen Behörde sowie der Europäischen Kommission bestätigt, dass diese den gel-

tenden Vorgaben entspricht. Voraussetzung für die Assoziierung an Erasmus+ ist der

erfolgreiche Abschluss der Akkreditierung des nationalen Implementationssystems

im Rahmen einer Ex-ante-Konformitätsbewertung. Die Akkreditierung sollte ein hal-

bes Jahr vor dem Programmeinstieg abgeschlossen sein.

Artikel 15 hält fest, dass gegenüber der üblichen Berechnungsgrundlage der Pro-

grammbeiträge gemäss BIP-Schlüssel für Erasmus+ eine Ermässigung von 30 % für

das Jahr 2027 gilt.

2.8.6.3

Protokoll II: ITER

Das Protokoll sieht vor, dass die Schweiz als Vollmitglied an den Aktivitäten des Ge-

meinsamen Unternehmens für den Bau von ITER (Fusion for Energy, „F4E“) teil-

nimmt.

Unter der Voraussetzung, dass die Schweiz die im Beschluss zur Gründung

von F4E

477

festgelegten Kriterien erfüllt, soll sie ab dem 1. Januar 2026 bis zur Auflö-

sung von F4E (derzeit für 2042 vorgesehen) an ITER teilnehmen (Art. 2). Damit wird

es nicht mehr nötig sein, die Schweizer Beteiligung an ITER periodisch neu zu ver-

handeln, womit stabile und dauerhafte Bedingungen geschaffen werden. Dies steht im

Einklang mit dem Grundsatzentscheid der Bundesversammlung vom 20. März 2009

zur Ratifizierung der Abkommen zur Teilnahme an ITER (Bundesbeschluss AS 2009

5283).

Der vereinbarte Rahmen für die Beteiligung der Schweiz an den EU-Programmen

vereinfacht und fasst alle Rechtsgrundlagen zusammen, die bis 2020 die Schweizer

Beteiligung an ITER begründeten. Wie zuvor wird sich die Schweiz als Mitglied von

F4E an dessen Leitung auf der gleichen Ebene wie die EU-Mitgliedstaaten beteiligen,

einschliesslich der Stimmrechte. Schweizer Unternehmen und Forschungseinrichtun-

gen können sich an den Aktivitäten von F4E und ITER beteiligen (Art. 2 und Art. 3),

und Schweizer Bürgerinnen und Bürger können bei beiden Organisationen angestellt

werden und repräsentative Funktionen ausüben.

477

Entscheidung 2007/198/Euratom des Rates vom 27. März 2007 über die Errichtung des

europäischen gemeinsamen Unternehmens für den ITER und die Entwicklung der Fusions-

energie sowie die Gewährung von Vergünstigungen dafür, ABl. L 90 vom 30.3.2007, S.

58, zuletzt geändert durch Beschluss (Euratom) 2021/281, ABl. L 62 vom 23.2.2021, S.

41.

509 / 931

Durch ihre Stimmrechte im “Governing Board” von F4E wird die Schweiz in der Lage

sein, ihre Interessen innerhalb von F4E zu vertreten, und in der Gouvernanzstruktur

der ITER Organisation durch die Europäische Kommission genauso vertreten sein wie

die Euratom-Mitgliedstaaten. Sollten die Beteiligung von Euratom an ITER oder die

oben erwähnten internationalen Abkommen über ITER geändert werden, wird die

Schweiz schriftlich darüber informiert (Art. 6).

Im Zusammenhang mit ITER wird die Schweiz unter anderem weiterhin das Überein-

kommen über die Gründung der Internationalen ITER-Fusionsenergieorganisation für

die gemeinsame Durchführung des ITER-Projekts

478

(ITER-Übereinkommen) sowie

das Übereinkommen über die Vorrechte und Immunitäten der Internationalen ITER-

Fusionsenergieorganisation

479

(Art. 6 Abs. 1) anwenden.

Der operative Beitrag für die Beteiligung an ITER wird analog zum Beitrag für Eu-

ratom bis und mit 2027 um 4,6% gesenkt (Art. 5). Darüber hinaus wird die Schweiz

den in den Statuten von F4E

480

vorgesehenen Mitgliedsbeitrag entrichten.

2.8.7

Grundzüge des Umsetzungserlasses

2.8.7.1

Umsetzungsgesetzgebung

Im Rahmen der Assoziierung der Schweiz an die EU-Programme ist keine Umset-

zungsgesetzgebung vorgesehen. Allfällige Anpassungen zu Präzisierungen der Kom-

petenzdelegation an den Bundesrat oder zum Beitritt zu neu geschaffenen Rechtsfor-

men der EU würden erst mit der nächsten Programmgeneration relevant und im

Rahmen der entsprechenden Finanzierungsbotschaft aufgenommen.

2.8.7.2

Inhalt des Finanzierungsbeschlusses für die Schweizer

Beteiligung am EU-Bildungsprogramm Erasmus+ im Jahr

2027

Im Folgenden werden das Prinzip der Berechnung des

Schweizer Pflichtbeitrags

für

die Beteiligung der Schweiz an Erasmus+, der

nationalen Zusatzkosten (Betrieb der

nationalen Agentur und Begleitmassnahmen), der Ausfinanzierung der «Schweizer

Lösung»

und

mögliche Veränderungen des Budgetbedarfs

sowie die dafür beigezoge-

nen Parameter dargelegt. Im Gegensatz zum Horizon-Paket, wo die eidgenössischen

Räte die Mittel im Dezember 2020 bereitgestellt haben, muss die Finanzierung für

eine Assoziierung Erasmus+ noch vom Parlament beschlossen werden.

Schweizer Pflichtbeitrag für die Assoziierung an Erasmus+ im Jahr 2027

Für die Assoziierung an Erasmus+ wird ein Pflichtbeitrag an das Erasmus+ Budget

fällig. Damit werden einerseits Mobilitäts- und Kooperationsprojekte schweizerischer

Institutionen und Organisationen “dezentral” über die nationale Agentur Movetia fi-

nanziert und andererseits Aktivitäten, die “zentral”, das heisst entweder von der Eu-

ropäischen Kommission selbst oder im Auftrag der Europäischen Kommission von

478

ABl. L 358 vom 16.12.2006, S. 62.

479

ABl. L 358 vom 16.12.2006, S. 82.

480

Entscheidung 2007/198/Euratom, ABl. L 90 vom 30.3.2007, S. 58, zuletzt geändert durch

Beschluss (Euratom) 2021/281, ABl. L 62 vom 23.2.2021, S. 41.

510 / 931

der Europäischen Exekutivagentur für Bildung und Kultur (EACEA) verwaltet wer-

den. Die entsprechenden Mittel stehen Projektträgern aus allen Programmländern zur

Verfügung und können im Rahmen der entsprechenden Ausschreibungen beantragt

werden.

Der Pflichtbeitrag wird gemäss Artikel 7 des EUPA bestimmt und errechnet sich aus

der Anwendung eines Beitragsschlüssels auf das EU-seitige Budget, wie in Ziffer

2.8.6.1 ausgeführt. Zusätzlich wurde ein Rabatt von 30 % ausgehandelt. Die folgende

Tabelle illustriert diese Berechnung. Da die definitiven Beträge des Erasmus+-Ge-

samtbudgets 2027, der relevante BIP-Anteil sowie der Wechselkurs im Jahr 2027

heute nicht bekannt sind, handelt es sich hier um möglichst genaue Schätzungen auf

der Basis der aktuell verfügbaren Angaben. Abweichungen zum effektiven Pro-

grammbeitrag sind jedoch möglich und werden weiter unten unter «Mögliche Verän-

derungen im Budgetbedarf» dargelegt.

Tabelle 2.8.7.3 (1): Berechnung des Schweizer Pflichtbeitrags für die Assoziierung an

Erasmus+ und voraussichtliche Beträge

Parameter

Betrag

Voraussichtliches EU-seitiges Gesamtbudget Erasmus+ 2027

5,161 Mrd. €

Voraussichtlicher Anteil BIP Schweiz / BIP EU = BIP-Anteil in %

(Eurostat 03.12.2024 zum BIP 2023)

4,81 %

Voraussichtlicher Programmbeitrag der Schweiz im Jahr 2027 ge-

stützt auf BIP-Anteil

248,2 Mio. €

Rabatt auf Programmbeitrag gemäss EUPA (Protokoll 1 Titel 3 zu

Erasmus+)

30 %

Voraussichtlicher Programmbeitrag der Schweiz im Jahr 2027 in-

klusive Rabatt

173,8 Mio. €

Angenommener Wechselkurs

1 CHF = 0,95 €

Voraussichtlicher Programmbeitrag (ohne Beteiligungsge-

bühr) in CHF

165,1 Mio. CHF

Beteiligungsgebühr (4 % des Programmbeitrags)

6,6 Mio. CHF

Voraussichtlicher Pflichtbeitrag Schweiz im Jahr 2027 für die

Assoziierung an Erasmus+ (inkl. Beteiligungsgebühr)

171,7 Mio. CHF

Nationale Zusatzkosten (Betrieb der nationalen Agentur Movetia. Begleitmassnah-

men und Non Erasmus+-Aktivitäten)

Nebst dem Pflichtbeitrag entstehen nationale Zusatzkosten, um den Betrieb der Agen-

tur Movetia sowie die Umsetzung der Begleitmassnahmen sicherzustellen (s. Ziff.

2.8.2.2.2). Diese nationalen Zusatzkosten sind Bestandteil der Umsetzung von Eras-

mus+: Der entsprechende EU-Programmbeschluss sieht explizit vor, dass jedes asso-

ziierte Land nebst dem Pflichtbeitrag auch nationale Mittel für die nationale Agentur

und Begleitmassnahmen einsetzt. Zudem soll in einem beschränkten Rahmen weiter-

hin die Möglichkeit bestehen, Kooperationsprojekte mit Ländern ausserhalb von Eras-

mus+ (wie bspw. USA, UK) zu unterstützen (Non E+-Aktivitäten).

511 / 931

Die für die nationalen Aufwände im Jahr 2027 notwendigen Mittel betragen 15,8 Mil-

lionen Franken. Dies entspricht 9 % des Programmbeitrags der Schweiz. Zum Ver-

gleich: Im Rahmen der BFI-Botschaft 2025-2028 wurden für die analogen Aufwände

bei der «Schweizer Lösung» maximal 15 % des Kredits vorgesehen, was einem Betrag

von 8,2 bis 10,3 Millionen pro Jahr entspricht. Die vorliegende Erhöhung gegenüber

den gemäss BFI-Botschaft bereits vorgesehenen Mitteln erfolgt aus verschiedenen

Gründen:

1.

Das Volumen der verwalteten Programmmittel wächst im Jahr 2027 voraus-

sichtlich deutlich gegenüber jenen Mitteln, die im Rahmen der «Schweizer

Lösung» verwaltet wurden, da die Beteiligungsmöglichkeiten und Aktivi-

täten wesentlich breiter sind.

2.

Die Erfordernisse der EU für die Programmimplementierung auf nationaler

Ebene sind aufwändiger als jene für die «Schweizer Lösung» und erfordern

mehr Mittel für die nationalen Begleitmassnahmen, sowohl zu Beginn einer

Assoziierung als auch später im Betrieb der nationalen Agentur. Die Agen-

tur kann so auf das Steuerungs- und Kontrollsystem von Erasmus+ vorbe-

reitet werden.

3.

Breit aufgestellte Begleitmassnahmen sind gerade in der Einstiegsphase

wichtig, um für die Akteure im Bildungswesen einen attraktiven Rahmen

für eine Beteiligung an Erasmus+-Projekten zu schaffen und dadurch eine

hohe Ausschöpfung der auf EU-Ebene zur Verfügung stehenden Fördermit-

tel zu erzielen.

Mögliche Veränderungen im Budgetbedarf

Bei der Berechnung der für eine Assoziierung notwendigen Mittel sind vor allem drei

Faktoren mit Unsicherheit behaftet: 1) der Wechselkurs, 2) der BIP-Schlüssel und 3)

die Entwicklung des EU-seitigen Budgets.

Da eine Frankenabwertung nicht ausgeschlossen werden kann, müssen bei einer

mehrjährigen Assoziierung entsprechende Risiken abgedeckt werden. Im Falle der

Assoziierung an Erasmus+ im Jahr 2027 besteht jedoch kein Wechselkursrisiko, da

die Mittel für den Pflichtbeitrag durch die Bundestresorerie gleich nach dem Finan-

zierungsbeschluss des Parlaments abgesichert werden können.

Zudem bemisst sich der Schweizer Pflichtbeitrag nach dem Anteil des Schweizer BIP

am BIP der EU-27 zum Zeitpunkt des Abschlusses des Abkommens. Der effektiv

verwendete BIP-Anteil lässt sich jedoch zurzeit nicht verlässlich abschätzen. Ausge-

hend von der Annahme, dass der für 2023 provisorisch bei 4,81 % liegende BIP-Anteil

bis zur effektiven Festlegung des Programmbeitrags um 10 % (auf 5,29 % BIP-Anteil)

ansteigen könnte, würde der Pflichtbeitrag bis zu 17,2 Millionen Franken höher aus-

fallen.

Ebenso würde eine allfällige Aufstockung der Budgets auf EU-Ebene den Programm-

beitrag als Anteil am jährlichen Programmbudget erhöhen. Eine Erhöhung des EU-

Programmbudgets um 5 % würde zu einem Anstieg des Pflichtbeitrags um bis zu 8,6

Millionen Franken führen.

512 / 931

Der effektiv benötigte Betrag könnte somit um bis zu 25,8 Millionen Franken höher

ausfallen als dies Mitte 2025 vorhersehbar war. Dies entspricht etwa 15 % des gesam-

ten erwarteten Programmbeitrags. Dieser mögliche Mehrbedarf soll zum Zeitpunkt

des Finanzierungsbeschlusses berücksichtigt werden.

Zusammenfassung

Die Assoziierung an Erasmus+ im Jahr 2027 wird über einen separaten Kredit finan-

ziert werden. Die dafür erforderlichen Mittel von 187,5 Millionen CHF errechnen sich

wie folgt (Beträge in Mio. CHF):

Schweizer Pflichtbeitrag für die Assoziierung an Erasmus+

(inkl. Beteiligungsgebühr)*

171,7

Nationale Zusatzkosten, aufgeteilt in:

15,8

-

Betrieb der nationalen Agentur Movetia (6,1)

-

nationale Begleitmassnahmen (8,5)

-

Non Erasmus+-Aktivitäten (1,2)

Total

187,5

Mögliche Veränderungen im Budgetbedarf bei Eintritt der Ri-

siken (Höherer BIP-Anteil und höheres Erasmus+-Budget)

25,8

Ausfinanzierung der «Schweizer Lösung»

Für die Projekte, die im Rahmen der «Schweizer Lösung» gefördert werden, wurde in

der BFI-Botschaft 2025-2028 ein Verpflichtungskredit genehmigt. Diese Projekte ha-

ben in der Regel überjährige Zahlungen zur Folge. Für die Ausfinanzierung der

«Schweizer Lösung» werden voraussichtlich Zahlungen in der Höhe von 17,1 Milli-

onen CHF im Jahr 2027, 9,4 Millionen CHF im Jahr 2028 und 4,7 Millionen CHF im

Jahr 2029 notwendig sein.

2.8.7.3

Begleitmassnahmen ohne Gesetzesanpassung

Die Assoziierung an den EU-Programmen wird durch nationale Begleitmassnahmen

unterstützt, welche eine hohe und umfassende Beteiligung von Schweizer Akteuren

sicherstellen sowie die inhaltliche Mitgestaltung der Programme und die Information

darüber ermöglichen sollen. Sie umfassen im Wesentlichen folgende Massnahmen:

Informations- und Beratungsangebote,

Nationale Kofinanzierung von Schweizer Partnern für deren Beteiligung an

Initiativen, Instrumenten und Projekten von gesamtschweizerischem Inte-

resse oder wo eine solche Finanzierung erforderlich ist,

Finanzierung des satzungsgemässen Mitgliedbeitrags bei F4E.

Die im Rahmen des Horizon-Pakets vorgesehenen Begleitmassnahmen sind in der

entsprechenden Finanzierungsbotschaft ausführlich beschrieben. Für die Begleit-

massnahmen zum Programm Erasmus+ siehe Ziffer 2.8.2.2.2.

513 / 931

2.8.7.4

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

Die Programme der EU in den Bereichen Bildung und Forschung sind weltweit ein-

zigartig, sowohl betreffend das finanzielle Volumen als auch betreffend die Breite der

abgedeckten Themen und Aktivitäten. Für die Schweiz mit ihrer Lage im Zentrum

Europas und der damit verbundenen starken Beziehung zu den benachbarten EU-

Staaten sind diese Programme von grosser Bedeutung.

Eine Assoziierung ermöglicht die Teilnahme an momentan nicht zugänglichen, für die

Schweiz relevanten Aktivitäten

Die Assoziierung an den EU-Programmen wird den Akteuren in der Schweiz die

Möglichkeit bieten, sich grundsätzlich an mehr Projekten und Aktivitäten zu beteili-

gen. Beim Horizon-Paket sind im nicht-assoziierten Drittstaatmodus nur rund 2/3 der

Ausschreibungen zugänglich. Besonders vom Ausschluss betroffen sind insbesondere

die exzellenzbasierten Einzelprojekte, bei welchen die Schweiz historisch regelmäs-

sig das erfolgreichste teilnehmende Land war. Die Assoziierung ermöglicht auch die

Teilnahme an ITER und den meisten Aktivitäten des DEP, die für nicht assoziierte

Drittstaaten nicht zugänglich sind, und die im Kontext der Digitalisierung und der

Technologieentwicklung für die Schweiz wertvoll sind. Die Auswirkungen einer

Nicht-Assoziierung werden ebenfalls in Ziffer 2.8.2.5 behandelt

Für die Details der Teilnahme an Erasmus+ und die Möglichkeiten von Mobilitäts-

und Kooperationsaktivitäten, die sich der Schweiz bei einer Assoziierung eröffnen

würden, wird auf Ziffer 2.8.2.4.2 verwiesen. Ohne eine Assoziierung sind für die

Schweiz nur einzelne Aktivitäten ohne Einschränkungen zugänglich. Bei einigen an-

deren Aktivitäten ist der Zugang für Schweizer Partner eingeschränkt, d.h. Schweizer

Organisationen und Institutionen können zwar teilnehmen, aber im Unterschied zu

Institutionen aus Erasmus+-Programmländern haben sie weniger Rechte. Zu den

Schlüsselaktivitäten im Mobilitätsbereich (Bsp. Studierendenmobilität) hat die

Schweiz keinen Zugang, sie muss daher parallele Ersatzmassnahmen im Rahmen der

«Schweizer Lösung» vorsehen. Für eine Vielzahl von weiteren relevanten Aktivitäten,

zu denen die Schweiz gar keinen Zugang hat, besteht keine nationale Alternative.

Gemessen an ihrer Bedeutung lohnt sich die Teilnahme an den EU-Programmen

Internationale Forschungs- und Innovationsprogramme ermöglichen Projekte, die auf

nationaler Ebene nicht durchführbar wären. Durch den internationalen Wettbewerb

gewährleisten sie eine hohe Qualität der geförderten Projekte. Eine Studie der Euro-

päischen Kommission schätzt eine 15 % höhere Forschungseffizienz der EU-

Programme für Forschung und Innovation gegenüber rein national eingesetzten För-

dermitteln.

481

481

”Support for assessment of socio-economic and environmental impacts (SEEI) of Euro-

pean R&I programme – The case of Horizon Europe”, European Commission: Directorate-

General for Research and Innovation, Boitier, B., Le-Mouël, P., Zagamé, P., Ricci, A. et

al.,Publications Office of the European Union, 2018, www.data.eu-

ropa.eu/doi/10.2777/038591.

514 / 931

Für das Horizon-Paket spricht historisch gesehen der finanzielle Rückfluss in die

Schweiz in etwa den von der Schweiz bezahlten Pflichtbeiträgen.

482

Diese Balance ist

auch für die laufende Programmgeneration zu erwarten, wobei für das Horizon Eu-

rope Programm, welches mit Abstand den höchsten Pflichtbeitrag nach sich zieht, ein

automatischer Korrekturmechanismus greift, sollte die Schweiz signifikant weniger

Mittel einwerben, als sie bezahlt hat.

Bei der administrativen Abwicklung der Programme kann die EU von Skaleneffekten

profitieren und damit effizienter agieren als die Schweiz dies im Rahmen der Beteili-

gung im nicht-assoziierten Drittstaatmodus kann, in welchem die Finanzierung der

Teilnahme via SBFI abgewickelt wird, beziehungsweise Ersatzausschreibungen

durch nationale Förderorganisationen angeboten werden. Durch die Assoziierung am

Horizon-Paket verkleinert sich der damit verbundene administrative Aufwand auf

Bundesebene längerfristig erheblich.

Für Erasmus+ liegt eine möglichst enge Kooperation mit dem EU-Bildungsprogramm

im Interesse des Schweizer BFI-Systems. Eine Assoziierung der Schweiz an Eras-

mus+ ermöglicht Schweizer Stakeholdern und Teilnehmenden eine umfassende Be-

teiligung an einer wesentlich grösseren Anzahl und Vielfalt an Programmaktivitäten,

als dies im Rahmen der bisherigen «Schweizer Lösung» möglich ist. Die Rechtssi-

cherheit des Zugangs ist dabei ebenso gewährleistet wie die Nutzung der etablierten

Kooperationsnetzwerke und eingespielten Abläufe.

Der vom Bundesrat vorgeschlagene Budgetzuwachs auf 187,5 Millionen Franken für

die Beteiligung an Erasmus+ ist notwendig, um das Niveau an Fördermitteln zu er-

zielen, welches die EU mit ihrem Programmbudget während der Zeit erreicht hat, in

der sich die Schweiz indirekt als Drittstaat am Programm beteiligt hat. Dieser Niveau-

unterschied ist auf mehrere Gründe zurückzuführen. Im Jahr 2014, dem ersten Jahr

der indirekten Beteiligung nach der Vollassoziierung von 2011 – 2013, lagen die Mit-

tel für die «Schweizer Lösung» wesentlich tiefer als das Budget, das die Schweiz bei

einer Vollassoziierung hätte beitragen müssen. Hinzu kommt, dass sich das Budget

für die «Schweizer Lösung» zwar im Zeitraum von 2014 bis 2027 verdoppelte, das

EU-Programmbudget im selben Zeitraum jedoch praktisch eine Verdreifachung er-

fuhr. Nicht zuletzt trägt auch der gestiegene BIP-Anteil der Schweiz am BIP der EU

(von knapp 3 % im Jahr 2014 auf knapp 5 % im Jahr 2023) zum Anstieg des Pflicht-

beitrags bei. Diese immer grösser werdende Kluft gilt es auszugleichen und damit die

Anschlussfähigkeit der Schweiz am europäischen Bildungsraum zu sichern.

Vor diesem Hintergrund ist der Bundesrat überzeugt, dass der Einsatz der entspre-

chenden Bundesmittel erforderlich und verhältnismässig ist sowie eine lohnende In-

vestition in den BFI-Standort Schweiz darstellt (zur Bedeutung der Schweizer Betei-

lung an Erasmus+ s. Ziff. 2.8.2.4.2). Auch wenn verlässliche Quantifizierungen der

482

Siehe «Beteiligung der Schweiz an EU-Programmen und Initiativen für Forschung und In-

novation: Zahlen und Fakten 2023», abrufbar unter www.sbfi.admin.ch > Forschung und

Innovation> Internationale Forschungs- und Innovationszusammenarbeit > EU-

Rahmenprogamme > Zahlen und Fakten zur Schweizer Beteiligung.

515 / 931

Wirkung von Bildungsinvestitionen schwierig sind, ist der Wert der Bildung als Mo-

tor für die Wettbewerbsfähigkeit als langfristige Investition in die sozio-ökonomische

Zukunft eines Landes unbestritten.

2.8.7.5

Umsetzungsfragen

2.8.7.5.1

Verordnung zur Beteiligung der Schweiz an den BFI-

Programmen der Europäischen Union

Für das Horizon-Paket regelt die Verordnung vom 20. Januar 2021 über die Massnah-

men für die Beteiligung der Schweiz an den Programmen der Europäischen Union im

Bereich Forschung und Innovation (FIPBV

483

) alle nötigen Elemente auf Schweizer

Seite für die Umsetzung. Dies gilt für alle möglichen Teilnahme-Modi der Schweiz

(Vollassoziierung, Teilassoziierung und Drittstaat-Modus).

Für die Teilnahme an Erasmus+ liegen die rechtlichen Grundlagen für die Umsetzung

aller möglichen Teilnahme-Modi der Schweiz (Vollassoziierung als Programmland,

«Schweizer Lösung» als Drittland) mit dem 2022 totalrevidierten Bundesgesetz

484

so-

wie der entsprechenden Verordnung

485

vor. Auch für die Umsetzung der nationalen

Begleitmassnahmen (inklusive Betrieb der nationalen Agentur) sind in den bestehen-

den Rechtsgrundlagen sämtliche notwendigen Vorgaben vorhanden.

2.8.7.5.2

Umsetzung der Programme auf europäischer und

nationaler Ebene

Die Bestandteile des Horizon-Pakets werden bei einer Assoziierung direkt durch die

Europäische Kommission respektive durch die von ihr beauftragten Exekutivagentu-

ren umgesetzt. Dies beinhaltet insbesondere die Evaluation von eingereichten Projek-

ten, die Förderentscheide und Ausstellung von Verträgen, die Finanzierung während

der Projektlaufzeit und die Überprüfung der Zwischen- und Schlussberichte sowie

allfällige Audits. In diesem Sinn stellen sich keine Vollzugsfragen auf nationaler

Ebene.

Im Programm Erasmus+ wird ein Teil der Aktivitäten wie beim Horizon-Paket direkt

durch die Europäische Kommission respektive durch die von ihr beauftragten Exeku-

tivagenturen umgesetzt. Dazu stellen sich keine Vollzugsfragen auf nationaler Ebene.

Der überwiegende Teil des Programmbudgets von Erasmus+ wird jedoch von natio-

nalen Agenturen implementiert. Die entsprechenden Prozeduren und Regelungen sind

im Programmbeschluss

486

sowie den ausführenden Erlassen des Programms Erasmus+

festgehalten. Dazu gehört einerseits das Verwaltungs- und Prüfsystem, das die

Grundsätze des Kontrollsystems sowie die Rechte und Pflichten der Europäischen

Kommission, der nationalen Behörde, der nationalen Agentur und der unabhängigen

483

SR

420.126

484

SR

414.51

485

SR

414.513

486

Verordnung (EU) 2021/817 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai

2021 zur Einrichtung von Erasmus+, dem Programm der Union für allgemeine und beruf-

liche Bildung, Jugend und Sport, und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1288/2013,

ABl. Nr. L 189 vom 28.5.2021, S. 1.

516 / 931

Prüfstelle definiert (Art. 26-31 Programmbeschluss Erasmus+). Auf Schweizer Seite

werden diese Aufgaben weitgehend von der nationalen Agentur Movetia wahrgenom-

men werden, welche das entsprechende Akkreditierungsverfahren bis zur Assoziie-

rung am 01.01.2027 durchlaufen wird. Sie wird auch die Vorgaben gemäss Pro-

grammleitfaden, Leitfaden für die nationalen Agenturen und den jährlichen

Arbeitsprogrammen für Erasmus+ umsetzen.

2.8.7.5.3

Interessensvertretung der Schweiz

Gemäss dem EUPA erhält die Schweiz mit der Assoziierung Zugang zu Programm-

gremien, Fachgremien und weiteren Netzwerken der jeweiligen Programme. Dies er-

möglicht die Interessensvertretung der Schweiz auf EU-Ebene, inklusive Mitentwick-

lung sowie Ausgestaltung der Programme und ihrer Ausschreibungen. Die

Koordination und grösstenteils auch die Wahrnehmung dieser Interessensvertretung

werden durch das SBFI geleistet.

2.8.8

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des

Umsetzungserlasses

Die Finanzierung der Schweizer Beteiligung am Programm Erasmus+ im Jahr 2027

wird mit Artikel 1 des Umsetzungserlasses beantragt.

Gemäss Absatz 1 beträgt der Verpflichtungskredit 187,5 Millionen Franken.

Absatz 2 regelt die Aufteilung auf die verschiedenen Verpflichtungskredite. Der

grösste Teil soll für Pflichtbeiträge für die Assoziierung an Erasmus+ gemäss EUPA

eingesetzt werden (171,7 Millionen). Für nationale Zusatzkosten, namentlich den Be-

trieb der nationalen Agentur und weitere Begleitmassnahmen, ist ein Budget von 15,8

Millionen Franken vorgesehen.

2.8.9

Auswirkungen des Paketelements

2.8.9.1

Auswirkungen auf den Bund

Eine Assoziierung an die EU-Programme für Bildung, Forschung und Innovation ist

für den Standort Schweiz von hoher Bedeutung. Wie in Ziffer 2.8.2 ausgeführt, wird

damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit in Forschung und Innovation gestärkt

sowie die Standortattraktivität für forschungsstarke Unternehmen erhöht und gefes-

tigt. Für die Attraktivität der Hochschulen im Wettbewerb um die besten Forschenden

und Studentinnen und Studenten ist die internationale Vernetzung und der Zugang zur

prestigeträchtigen Exzellenzförderung zentral. Gleichzeitig stellt die Förderung von

internationalen Mobilitäts- und Kooperationsaktivitäten einen wichtigen Pfeiler der

Schweizer Bildungspolitik dar. Diese Aktivitäten tragen einerseits zur Aneignung und

Entwicklung von arbeitsmarktrelevanten Kompetenzen bei. Andererseits ermöglichen

sie Bildungsinstitutionen und -organisationen den Auf- und Ausbau von Netzwerken,

den Transfer von Wissen und die Entwicklung von gemeinsamen Strategien und Bil-

dungsangeboten. Insgesamt tragen Mobilität und Kooperationen in Bildung und For-

schung zur internationalen Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der Schweiz bei.

517 / 931

2.8.9.1.1

Finanzielle Auswirkungen

Während das EUPA die Rahmenbedingungen für eine Beteiligung der Schweiz an

EU-Programmen grundsätzlich festlegt, wird die Beteiligung an den jeweiligen Pro-

grammgenerationen in Protokollen zum EUPA definiert. EU-seitig wird über die Wei-

terführung der einzelnen Programme und ihr jeweiliges Budget im Rahmen der Ver-

handlungen zum mehrjährigen Finanzrahmen MFF entschieden.

Die Schweiz hat mit jeder Programmgeneration die Möglichkeit, sich für oder gegen

die Teilnahme an Programmen, bei denen eine Teilnahme von Drittländern vorgese-

hen ist, zu entscheiden. Längerfristige Abschätzungen zu den finanziellen Auswirkun-

gen des EUPA sind daher mit Unsicherheiten behaftet. Es werden nachfolgend nur

Programme aufgeführt, bei welchen im Rahmen des Pakets Schweiz–EU eine Asso-

ziierung vorgesehen ist. Vor jeder neuen Programmgeneration muss für alle geplanten

Teilnahmen ein Finanzierungsbeschluss der eidgenössischen Räte vorliegen.

Nachstehend wird die Beteiligung an den Programmen des Horizon-Pakets und Eras-

mus+ behandelt. Für die Beteiligung an EU4Health sei auf Ziffer 2.13.9 verwiesen.

Finanzielle Auswirkungen einer Assoziierung an das Horizon-Paket

Aktuelle Programmgeneration 2021-2027:

Die finanziellen Folgen des Horizon-

Pakets teilen sich in zwei Hauptkategorien auf: a) Kosten für die Teilnahme an den

einzelnen Programmen und Initiativen sowie b) nationale Begleitmassnahmen. Mit

dem Bundesbeschluss zur Finanzierung der Schweizer Beteiligung am Horizon-Paket

2021-2027

487

hat das Parlament am 16. Dezember 2020 bereits die notwendigen Mittel

beschlossen und insgesamt 6,2 Milliarden Franken für diese Beteiligung zur Verfü-

gung gestellt. Diese Mittel

488

teilen sich wie in Tabelle 2.8.9.1 (1) dargestellt auf.

Tabelle 2.8.9.1 (1) Für die Teilnahme am Horizon-Paket 2021-2027 vorgesehene

Verpflichtungskredite. Alle Angaben in Mio. CHF

Teilnahme am Horizon-Paket 2021-2027

5'422,6

Nationale Begleitmassnahmen

116,8

Reserve

614,0

Total

6153,4

Aufgrund der Nicht-Assoziierung 2021-2024 hat der Bundesrat jährlich Übergangs-

massnahmen mit einem Maximalvolumen von gesamthaft 2,5 Milliarden CHF be-

schlossen; der vom Parlament bewilligte Verpflichtungskredit sah die Verwendung

der Mittel in dieser Form im Falle einer ausbleibenden Assoziierung bereits vor. Da-

487

BBl

2021

73

488

Annahmen zum Zeitpunkt der Ausarbeitung der Finanzierungsbotschaft zur Teilnahme am

Horizon-Paket 2021-2027. Wechselkurs: 1,10 Franken/Euro, BIP-Schlüssel von 5,1 % für

Horizon Europe, Euratom und DEP und von 4,2 % für ITER.

518 / 931

mit stehen von den ursprünglich vorgesehenen 5,4 Milliarden Franken noch 2,9 Mil-

liarden CHF für Pflichtbeiträge für die Beteiligung an Horizon Europe, am Euratom-

Programm, dem Programm Digital Europe und ITER in den Jahren 2025-2027 zur

Verfügung.

Zahlungsseitig sind im Finanzplan 2026-2028 die Übergangsmassnahmen eingestellt,

die bei einer jährlichen Fortsetzung bis zum Ende der momentanen Programmgenera-

tion ohne Assoziierung nötig wären. Mit der Assoziierung an das Horizon-Paket wird

stattdessen ein jährlicher Pflichtbeitrag für die betroffenen Elemente des Horizon-Pa-

kets fällig. Dieser wird im Rahmen des ordentlichen Budgetprozesses bereitgestellt.

Gleichzeitig werden die mit den Übergangsmassnahmen 2021-2024 bewilligten Pro-

jekte bis zu ihrem Abschluss ausfinanziert. Diese Kosten werden voraussichtlich bis

circa 2035 in abnehmendem Volumen anfallen. Die übrigen Mittel können für die

jährlichen Pflichtbeiträge eingesetzt werden. In der Tabelle 2.8.9.1 (2) sind die für die

Beteiligung am Horizon-Paket zahlungsseitig vorgesehenen Mittel bis zum Ende der

Laufzeit der momentanen Programmgeneration dargestellt.

Tabelle 2.8.9.1 (2) Für die Teilnahme am Horizon-Paket notwendige Mittel für

die verbleibenden Programmjahre 2025-2027. Alle Angaben in Mio. CHF.

2025

2026

2027

Pflichtbeiträge und Ausfinanzierung Übergangsmassnahmen

Übergangsmassnahmen gemäss Vor-

anschlag 2025 und Finanzplan 2026-

2028

481,0

522,1

563,1

Ausfinanzierung Übergangsmassnah-

men 2021-2024

481,0

269,2

241,7

Pflichtbeitrag Total*

- Horizon Europe

- Euratom-Programm

- Digital Europe

- ITER

642,1

610,3

13,1

18,7

-

645,3

576,0

13,2

17,9

38,3

635,8

571,3

13,8

20,7

30,1

Mehrbelastung Bundeshaushalt

642,1

392,4

314,4

Nationale Begleitmassnahmen

Mittel gemäss Finanzplan 2026-2028 18,0

18,1

19,0

519 / 931

* Annahme: BIP-Schlüssel von 4.81 % (basierend auf dem BIP 2023, gemäss Euros-

tat-Daten vom 03.12.2024). Wechselkurs von 1 CHF = 0.97 EUR für 2025 (vgl. Nach-

trag I 2025

489

) und 1 CHF = 0.95 EUR für 2026 und 2027.

Aufgrund der Nicht-Assoziierung der Schweiz in den Jahren 2021-2024 und der damit

verbundenen projektweisen Finanzierung haben sich gewichtige Verschiebungen in

den jährlichen Zahlungen ergeben: Den in diesen Jahren nicht ausbezahlten Pflicht-

beiträgen (mit entsprechenden jährlichen Kreditresten) stehen nun punktuelle Finan-

zierungsspitzen in den ersten Jahren der Assoziierung gegenüber, weil sich hier die

Ausfinanzierung bestehender Projekte und die erneuten Pflichtbeiträge an die EU ku-

mulieren.

Finanzieller Rückfluss an den Bund:

Der Einsatz der staatlichen Mittel für die Be-

teiligung der Schweiz am Horizon-Paket erlaubt es auch Bundesämtern und vom

Bund getragenen Förderinstitutionen, sich an den Ausschreibungen zu beteiligen und

Fördermittel aus Brüssel zu erhalten. Dies ist vor allem für in der Forschung aktive

Bundesämter (wie z. B. das Bundesamt für Energie, das Bundesamt für Umwelt oder

das Bundesamt für Landwirtschaft) relevant. Beim Vorgängerprogramm Horizon

2020 wurden von Einheiten der zentralen Bundesverwaltung insgesamt 83 Projektbe-

teiligungen mit einer Fördersumme von rund 32,8 Millionen Franken bewilligt.

Weitere finanzielle Auswirkungen:

Die Abwicklung der projektweisen Beteiligung

aus den Übergangsmassnahmen 2021-2024 ist nicht nur mit einem personellen Mehr-

aufwand verbunden (vgl. Ziff. 2.8.9.1.2), sondern erfordert auch eine zweckmässige

Informatiklösung. Im Zusammenhang mit der Teilassoziierung am Vorgängerpro-

gramm Horizon 2020 hat das SBFI bereits eine Projektdatenbank entwickelt, die diese

Prozesse mit maximaler Effizienz ermöglicht. Der Betrieb und die Wartung dieser

Datenbank muss weiterhin sichergestellt sein. Entsprechende Mittel werden über das

Globalbudget des SBFI finanziert und werden somit nicht mit dieser Botschaft bean-

tragt.

Zukünftige Programmgenerationen im Bereich Forschung und Innovation:

Eine

Assoziierung der Schweiz an den nächsten Programmgenerationen ist prinzipiell

möglich und angedacht, vorbehältlich den von Seiten der EU definierten Beteiligungs-

möglichkeiten für Drittstaaten. Die finanziellen Auswirkungen dieser zukünftigen Be-

teiligungen sind jedoch mit grösseren Unsicherheiten behaftet. Einerseits ist die Aus-

gestaltung der nächsten Programmgeneration noch unklar, andererseits ist EU-seitig

der finanzielle Rahmen noch nicht definiert. Unabhängig davon unterliegen zukünf-

tige Beteiligungen in jedem Fall gesonderten Finanzierungsbeschlüssen der eidgenös-

sischen Räte.

Finanzielle Auswirkungen einer Beteiligung an Erasmus+

Die Assoziierung an Erasmus+ erfordert im Vergleich zur aktuellen «Schweizer Lö-

sung» zusätzliche finanzielle Ressourcen – sowohl beim Bund als auch bei der natio-

nalen Agentur Movetia.

489

Abrufbar unter www.efv.admin.ch > Finanzberichte > Nachtragskredite.

520 / 931

Aktuelle Programmgeneration:

Die im Finanzplan 2026-2028 enthaltenen Mittel

dienen der Umsetzung der «Schweizer Lösung» für Erasmus+, der Finanzierung des

Betriebs der nationalen Agentur sowie der Begleitmassnahmen. Im Falle einer Asso-

ziierung an Erasmus+ wird über den Kredit für die «Schweizer Lösung» nur noch die

Ausfinanzierung jener Projekte gedeckt, die im Rahmen der «Schweizer Lösung» ver-

pflichtet wurden und nach 2026 weiterlaufen. Da für diese Ausfinanzierung im Jahr

2027 voraussichtlich lediglich 17,1 Millionen Franken benötigt werden und sich die-

ser Bedarf in den Folgejahren bis 2029 etwa halbieren wird, entsteht in diesem Kredit

ein Minderaufwand, der den effektiven Mehraufwand für eine Assoziierung im Jahr

2027 etwas reduzieren wird. Für die aktuelle Programmgeneration 2021-2027, die

Kosten für den Schweizer Pflichtbeitrag und nationale Zusatzkosten (für Begleitmass-

nahmen und den Betrieb der nationalen Agentur) vorsieht, wird der gesamte Mehr-

aufwand im Zusammenhang mit einer Assoziierung an Erasmus+ im Jahr 2027 anfal-

len. Die nachfolgenden Tabellen fassen einerseits die momentan vorgesehenen Mittel

im Rahmen der «Schweizer Lösung» (Tabelle 2.8.9.1 (3)) sowie die voraussichtlichen

Mehrkosten einer Assoziierung (Tabelle 2.8.9.1 (4)) zusammen.

Tabelle 2.8.9.1 (3): Vorgesehene Mittel für die Umsetzung der «Schweizer Lö-

sung», in Mio. CHF [gemäss Finanzpolitischer Standortbestimmung vom Feb-

ruar 2025]

2026

2027

2028

54,5

57,9

61,5

Tabelle 2.8.9.1 (4): Voraussichtliche Zahlungen im Jahr 2027 im Falle einer As-

soziierung an Erasmus+ (in Mio. CHF)

Schweizer Pflichtbeitrag für die Assoziierung an Eras-

mus+ (inkl. Beteiligungsgebühr)*

171,7

Nationale Zusatzkosten (Betrieb der nationalen Agentur

Movetia und Begleitmassnahmen)

15,8

Total

187,5

Ausfinanzierung der «Schweizer Lösung»

17,1

Abzüglich Finanzplan 2027 (Minderaufwand)

57,9

Mehrbelastung Bundeshaushalt

146,7

* Annahme BIP-Anteil Schweiz am BIP EU-27: 4.81 % (basierend auf dem BIP 2023,

gemäss Eurostat-Daten vom 03.12.2024), Wechselkurs 1 EUR = 0.95 CHF. Mögliche

Veränderungen dieser Parameter sowie des Erasmus+-Gesamtbudgets auf EU-Ebene

könnten den Budgetbedarf um bis zu 25,8 Millionen Franken erhöhen (s. Ziff.

2.8.7.2).

Für die Assoziierung an Erasmus+ wird ein Verpflichtungskredit in der Höhe von

187,5 Millionen Franken benötigt, aufgeteilt in folgende Verpflichtungskredite: (1)

521 / 931

Schweizer Pflichtbeitrag für die Beteiligung an Erasmus+ und (2) nationale Zusatz-

kosten (s. Ziff. 2.8.7.2).

Zukünftige Programmgenerationen:

Analog zum Horizon-Paket dauert die aktu-

elle Programmgeneration Erasmus+ bis Ende 2027. Eine Assoziierung der Schweiz

an die Folgegeneration ist möglich, vorbehältlich der Ausgestaltung der Programme

und der Beteiligungsmöglichkeiten für Drittstaaten seitens EU. Die finanziellen Aus-

wirkungen einer solchen Beteiligung sind mit grösseren Unsicherheiten behaftet. Aus-

gestaltung und Umfang der nächsten Programmgeneration ab 2028 hat die EU noch

nicht definiert. Eine zukünftige Beteiligung unterliegt in jedem Fall gesonderten Fi-

nanzierungsbeschlüssen der eidgenössischen Räte.

2.8.9.1.2

Personelle Auswirkungen

Personalaufwand für die Beteiligung am Horizon-Paket

Die Assoziierung am Horizon-Paket sowie die Ausfinanzierung der Übergangsmass-

nahmen 2021–2024 haben einen befristeten Mehrbedarf an Stellen zur Folge.

Der unbefristete Personalbestand des zuständigen Ressorts ist darauf ausgelegt, die

Interessensvertretung der Schweiz in den Programmkomitees und Netzwerken auf

EU-Ebene wahrzunehmen. Die Forschungsprogramme funktionieren mehrheitlich

mit detaillierten Ausschreibungen, die von Programmkomitees definiert und verab-

schiedet werden. Diese setzen sich aus Ministerialvertreterinnen und -vertretern der

EU-Mitgliedstaaten und der assoziierten Staaten zusammen, die sich regelmässig in

Brüssel treffen. Es ist auch Aufgabe dieser Programmkomitees, die korrekte Imple-

mentierung der Programme zu überwachen. Dazu kommen übergreifende Strategie-

komitees zur Ausrichtung des Europäischen Forschungsraums. Das SBFI stellt durch

den Einsitz in diesen Komitees sicher, dass die Interessen der Schweiz umfassend und

kohärent vertreten werden. Diese Aufgaben werden vom unbefristeten Stellenetat von

10.7 VZÄ abgedeckt.

Während der Nicht-Assoziierung in den Jahren 2021-2024 hat das SBFI nationale

Übergangsmassnahmen umgesetzt. Daraus resultierten rund 2500 Beteiligungen an

Projekten, welche bis zu ihrem Abschluss weiterbetreut werden müssen. Diese Be-

treuung umfasst die wissenschaftliche und finanzielle Berichterstattung, um den effi-

zienten und korrekten Einsatz der Fördermittel sicherzustellen. Aufgrund der durch-

schnittlichen Projektdauer und der erwarteten Verlängerung von Projekten wird sich

diese Aufgabe bis ins Jahr 2035 hinziehen.

Für die Abwicklung der Übergangsmassnahmen wurden zusätzliche, befristete Stel-

len bewilligt, in der Annahme einer auf die Jahre 2021 und 2022 beschränkten Nicht-

Assoziierung und dass die durch den Wegfall von Arbeiten in Verbindung mit der

Interessensvertretung freiwerdenden Ressourcen ebenfalls für die Umsetzung der

Übergangsmassnahmen eingesetzt werden können. Mit der Nicht-Assoziierung am

Horizon-Paket in den Jahren 2021-2024 fallen nun etwa doppelt so viele Projekte an

als in der ursprünglichen Planung des Stellenetats vorgesehen. Ebenso wird sich die

Ausfinanzierung der Projekte nun länger hinziehen als ursprünglich angenommen.

Mit der vorläufigen Anwendung des EUPAs müssen ab 2026 die unbefristeten VZÄ

522 / 931

wieder vollumfänglich die Arbeiten im Zusammenhang mit der Assoziierung abde-

cken und stehen nicht mehr für die Begleitung der Übergangsmassnahmen zur Verfü-

gung.

Für die Umsetzung der Übergangsmassnahmen 2021/2022 wurden ursprünglich ins-

gesamt fünf zusätzliche, befristete VZÄ vorgesehen, aufgeteilt auf die wissenschaft-

liche und finanzielle Betreuung der Projekte. Dadurch, dass der Bund nun doppelt so

lange Übergangsmassnahmen durchführt, und mit der vollumfänglichen Assoziie-

rungsorientierung der Ressourcen aus den unbefristeten VZÄ, werden zusätzliche be-

fristete Stellen notwendig. Der Bedarf fällt dabei mit vier zusätzlichen befristeten

VZÄ tiefer aus, als dies bei der Einführung der Übergangsmassnahmen noch der Fall

war: einerseits aufgrund des gestaffelten Beginns der Projekte und andererseits auf-

grund zusätzlich verschlankter Prozesse beim SBFI. Dabei sollen die bestehenden be-

fristeten Stellen weitergeführt werden. Bis Ende 2029 sind somit konstant neun VZÄ

zur Betreuung der Übergangsmassnahmen mit einem Finanzvolumen von 2,5 Milli-

arden vorgesehen.

Der Ressourcenbedarf sinkt, sobald die meisten Projekte aus der Direktfinanzierung

zum Abschluss kommen. Dies wird ab 2030 teilweise der Fall sein, wobei der Ab-

schluss der letzten Projekte im Jahr 2035 erwartet wird. Damit sind ab 2036 keine

zusätzlichen Stellen mehr notwendig.

Eine Übersicht über den Bestand und den personellen Mehrbedarf wird in Tabelle

2.8.9.1 (5) gegeben.

Personalaufwand für eine Beteiligung an Erasmus+

Die heute bestehenden Aufgaben des Bundes für die Steuerung und Weiterentwick-

lung der nationalen Förderpolitik bleiben auch bei einer Assoziierung an Erasmus+

erhalten und absorbieren voraussichtlich denselben Ressourcenaufwand wie bisher.

Dazu gehören die Mandatierung, Steuerung und Überwachung der nationalen Agentur

sowie von weiteren Projektträgern für die national abgegoltenen Aufgaben (Betrieb

und Begleitmassnahmen). Darüber hinaus muss die Weiterentwicklung der rechtli-

chen und finanziellen Grundlagen der Förderpolitik (Finanzierungsbotschaften, peri-

odische Revisionen der rechtlichen Grundlagen) sichergestellt werden. Daneben fal-

len die Durchführung von Analysen, Expertisen, Studien und Evaluationen zur

Förderpolitik im selben Umfang wie bisher an. Nur einzelne Steuerungsaufwände auf

operativer Ebene fallen beim SBFI bei einer Assoziierung weg (Verfügungen für Pro-

jekte).

Die mit der Assoziierung verbundenen, aufwändigeren Aufsichtspflichten auf natio-

naler Ebene und die politisch-strategischen Koordinationsaufgaben auf europäischer

Ebene erfordern zusätzliche personelle Ressourcen. Erstens muss der Bund über eine

nationale Behörde (SBFI) die Aufsicht über die nationale Agentur und die unabhän-

gige Prüfstelle wahrnehmen sowie auch die regelmässige Berichterstattung an die Eu-

ropäische Kommission sicherstellen. Zweitens vertritt die Schweiz als an Erasmus+

assoziiertes Land neu ihre Interessen in den Programmkomitees und Fachgremien so-

wie in verschiedenen Netzwerken auf EU-Ebene. Mit der Assoziierung einher gehen

auch hochrangige politische Treffen im Bereich Bildung auf europäischer Ebene.

523 / 931

Drittens eröffnet sich dem SBFI als nationale Behörde mit der Assoziierung die Mög-

lichkeit, an zentral verwalteten Programmaktivitäten teilzunehmen, welche die Unter-

stützung der Politikentwicklung und der politischen Zusammenarbeit betreffen. Diese

Beteiligungen stützen die Ziele der internationalen BFI-Strategie, die Schweiz als füh-

renden Bildungsstandort in Europa zu positionieren. Einzelne Aktivitäten können an

interne und externe Akteure (z.B. Bundesamt für Sozialversicherungen BSV, Kan-

tone, Verbände, Agenturen) delegiert werden; Oberaufsicht und Vertretung in den

zentralen Programm- und Fachgremien müssen jedoch durch das SBFI wahrgenom-

men werden.

Für die Wahrnehmung der Aufsichtsaufgaben wird eine Vollzeitstelle benötigt. Die

Aufgaben umfassen einerseits die Aufsichtsaktivitäten über die Verwaltung des Pro-

gramms auf nationaler Ebene durch die nationale Agentur (Umsetzung des Arbeits-

programms gemäss Vereinbarung, ordnungsgemässe Verwaltung der Mittel, verwen-

dete Ressourcen, Risikomanagement, erreichte Resultate/Wirkung) sowie die

jährliche Berichterstattung an die Europäische Kommission über diese Tätigkeiten.

Andererseits muss die nationale Behörde die Aufsicht über die Arbeit der unabhängi-

gen Prüfstelle wahrnehmen. Dies beinhaltet das Abschliessen einer Vereinbarung mit

der unabhängigen Prüfstelle und die Überprüfung der Erfüllung der entsprechenden

Anforderungen während des gesamten jährlichen Prüfungsverfahrens (Planungs-

phase, am Ende der Rechnungsprüfung sowie am Ende der Prüfung der Managemen-

terklärung der nationalen Agentur). Zudem muss das SBFI die Empfehlungen an die

nationale Agentur nachverfolgen, die im Rahmen der jährlichen Managementerklä-

rungen und bei der sogenannten Ex-ante Konformitätsbewertung durch die Europäi-

sche Kommission festgestellt wurden, sowie die Umsetzung dieser Empfehlungen si-

cherstellen.

Die Wahrnehmung der Interessensvertretung auf EU-Ebene beinhaltet die Teilnahme

an politisch-strategischen Treffen auf Ebene der Minister und Generaldirektoren

(mindestens sechs bis acht Treffen pro Jahr, jeweils im Rahmen der halbjährigen EU-

Präsidentschaften), an den Sitzungen des Programmkomitees (rund vier pro Jahr) so-

wie an den Treffen der EU-Fachgremien für die jeweiligen Bildungsbereiche (rund

zehn neue Gremien mit je vier Treffen pro Jahr). Für die Vorbereitung, Teilnahme

und Nachbereitung dieser Treffen sowie für die Teilnahme an den Projekten der Lei-

taktion 3 werden zwei Vollzeitstellen benötigt.

Die für diese Aufgaben (Interessenvertretung auf EU-Ebene, Aufsicht über die Agen-

tur, Berichterstattung an EU) notwendigen zusätzlichen Ressourcen belaufen sich da-

mit auf drei Vollzeitäquivalente. Tabelle 2.8.9.1 (5) gibt einen Überblick über die im

Finanzplan 2026-2028 enthaltenen sowie die im Falle einer Assoziierung ab 2027 zu-

sätzlich benötigten Personalressourcen. Diese Stellen sollen unbefristet sein, damit

das SBFI diese Aufgaben bei einer weiteren Assoziierung der Schweiz in der nächsten

Programmgeneration 2028 – 2034 weiterhin wahrnehmen kann. Vorbehalten bleiben

die entsprechenden Finanzierungsbeschlüsse des Parlaments.

Übersicht personeller Mehrbedarf für die Beteiligung an den BFI-Programmen

Die nachstehende Tabelle weist den personellen Mehrbedarf für die Beteiligung an

der laufenden Programmgeneration sowie die nachfolgende Programmgeneration aus.

524 / 931

Während der Bedarf für die laufende Programmgeneration in den beiden vorherge-

henden Abschnitten detailliert ausgewiesen wurde, sind der Umfang und die Beteili-

gungsmöglichkeiten bei zukünftigen Programmen noch unklar. Es ist jedoch anzu-

nehmen, dass weder die Budgets noch die Komplexität der Programme erheblich

sinken werden. Allfällige Deltas zum hier ausgewiesenen Bedarf würden, falls rele-

vant, in den Finanzierungsbotschaften für die Teilnahmen an den entsprechenden Pro-

grammen ausgewiesen werden.

Tabelle 2.8.9.1 (5): Übersicht über die bestehenden unbefristeten und befristeten

Stellen sowie die im Zusammenhang mit der Assoziierung ans Horizon-Paket

und Erasmus+ beim SBFI zusätzlich benötigten Stellen (befristet oder unbefris-

tet)

2026

2027

2028

2029

2030

2031

2032 -

2035

Horizon-Paket

Bestand unbe-

fristete Stellen

Bestand

(in

VZÄ)

10,7

10,7

10,7

10,7

10,7

10,7

10,7

Bestand befris-

tete Stellen (in

VZÄ)

9,0

9,0

7,0

7,0

7,0

5,0

0,0

Zusätzliche

befristete Stel-

len oder Wei-

terführung be-

fristete Stellen

(VZÄ)

4,0

4,0

6,0

6,0

4,0

3,0

5,0

Total VZÄ

23,7

23,7

23,7

23,7

21,7

18,7

15,7

Erasmus+

Bestand unbe-

fristete Stellen

(in VZÄ)

3,7

3,7

3,7

3,7

3,7

3,7

3,7

Zusätzliche

unbefristete

Stellen bei As-

soziierung ab

2027 (in VZÄ)

-

3,0

3,0

3,0

3,0

3,0

3,0

Total Mehrbedarf

525 / 931

Total zusätzli-

che VZÄ

4,0

7,0

9,0

9,0

7,0

6,0

8,0

Mehrkosten in

CHF

720 00

0

1 260 0

00

1 620 0

00

1 620 0

00

1 260 0

00

1 080 0

00

1 440 0

00

Für die Berechnung wurde mit CHF 180 000 pro Vollzeitstelle inkl. Arbeitgeberbei-

träge gerechnet. Die Arbeitsplatzkosten von CHF 12 000 pro Person und pro Jahr

wurden nicht aufgerechnet.

Der Bundesrat wird den ausgewiesenen Ressourcenbedarf zu gegebener Zeit überprü-

fen und darauf achten, dass ein allfälliger Mehrbedarf an Personalaufwand innerhalb

des Eigenbereichs des Bundes kompensiert wird. Da infolge der Assoziierung – mit

Ausnahme der Übergangsmassnahmen, deren Begleitung voraussichtlich 2035 abge-

schlossen sein wird – keine Aufgaben wegfallen, ist eine Verzichtsplanung erforder-

lich. Ergänzend ist bei der Ressourcensteuerung zu prüfen, in welchen Bereichen über

den Entwicklungsrahmen im Eigenbereich des Bundes zusätzliche Finanzmittel zuzu-

teilen sind.

2.8.9.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf

urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

Horizon-Paket

Die Assoziierung an die EU-Programme für Forschung und Innovation hat keine di-

rekten Auswirkungen auf städtische Zentren, Agglomerationen und Berggebiete. Alle

Schweizer Regionen profitieren indirekt durch die Möglichkeit, Projekte durchzufüh-

ren bzw. Forschungsbeiträge zu akquirieren. Damit haben besonders Regionen mit

Hochschulen, Forschungsinstituten und innovativen Unternehmen Vorteile von der

Teilnahme am Horizon-Paket. Eine erfolgreiche Beteiligung an den Programmen

stärkt zudem die Reputation der Teilnehmenden und ihrer Region. Kantone und Ge-

meinden können auch direkt an Forschungs- und Innovationsprojekten teilnehmen

und entsprechende Mittel akquirieren.

Erasmus+

Beim Programm Erasmus+ steht der Zugang zu geförderten Aktivitäten Einzelperso-

nen sowie Institutionen und Organisationen aus allen Landesteilen offen. Die geför-

derten Aktivitäten und die zur Verfügung stehenden Fördermittel kommen insbeson-

dere kantonalen Bildungsinstitutionen in der Schul-, Berufs- und Hochschulbildung

zugute.

2.8.9.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Horizon-Paket

Die Teilnahme am Horizon-Paket ermöglicht der Schweiz und der Schweizer Wirt-

schaft eine enge und kompakte Anbindung an internationale Forschungskooperatio-

nen. Damit bietet sich die Möglichkeit, grenzüberschreitende Projekte, Partnerschaf-

ten und Netzwerke zu realisieren, die durch nationale Förderinstrumente nicht im

gleichen Umfang abgedeckt werden können. Diese Anbindung stärkt die Schweiz im

526 / 931

globalen Wettbewerb um Ressourcen, Ideen und Kooperationen und damit ihre Be-

deutung im Bereich Forschung und Innovation. Die EU-Programme für Forschung

und Innovation fördern alle Teile der Wertschöpfungskette von der Grundlagenfor-

schung bis hin zur Markteinführung. Mit einer Assoziierung an den EU-Programmen

werden der Zugang zu deren Förderinstrumenten und damit auch die Vernetzung mit

dem Ausland vereinfacht. Besonders KMU und Startups erhalten durch die Assozi-

ierung an die EU-Programme Zugang zu Einzelfördermitteln und Beteiligungskapital

zur Entwicklung von Innovationen bis zur Marktreife. Schweizer Unternehmen wer-

den von der vollständigen Einbindung der Schweiz in den Europäischen Innovations-

rat (EIC) profitieren, und gleichzeitig werden kollaborative Projekte zur Erreichung

der Marktreife neuer Technologien gefördert.

Laut einer Befragung im Auftrag des SBFI von Ende 2018 führen Projektbeteiligun-

gen oft zu Umsatzsteigerungen und Unternehmensgründungen (vgl. Bericht des SBFI

«Auswirkungen der Beteiligung der Schweiz an den europäischen Forschungsrah-

menprogrammen 2019»).

490

Fast jede zweite Projektbeteiligung durch Schweizer Un-

ternehmen resultiert in einem Patent, und zwei von drei Projekten entwickeln markt-

nahe innovative Produkte. Auch die Teilnahme an ITER bietet Chancen für Schweizer

Unternehmen in der Entwicklung von bahnbrechenden Technologien. So haben

Schweizer Unternehmen zwischen 2014 und 2020 Verträge im Gesamtwert von 215

Millionen Franken erhalten.

Für Arbeitnehmende und Konsumenten hat eine Beteiligung an den Forschungspro-

grammen ebenfalls positive Auswirkungen: Im Durchschnitt entsteht pro Projektbe-

teiligung ein neuer Arbeitsplatz in der Schweiz. Daneben führen vor allem ange-

wandte Forschungsprojekte zur Entwicklung neuer Dienstleistungen oder Produkte,

zu Patenten und zur Gründung von Startups.

Die Beteiligung an den EU-Rahmenprogrammen für Forschung und Innovation stei-

gert die Wettbewerbsfähigkeit und Exzellenz des Standorts Schweiz, da Projekte im

internationalen Wettbewerb eingeworben werden müssen. Konkret wurden während

der Laufzeit des Vorgängerprogramms Horizon 2020 1 819 Projektbeteiligungen (260

pro Jahr) von Unternehmen umgesetzt, fast 70 % davon von Startups und KMU.

491

Dies erhöht auch den nationalen Wettbewerb und macht den Standort attraktiver für

innovative Unternehmen. Langfristig sollte die gesteigerte Innovation die Produktivi-

tät positiv beeinflussen.

Eine von Ecoplan 2025 im Auftrag des SECO erstellte Studie analysierte die langfris-

tigen Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen Verträge I auf das Schweizer BIP

und bestätigte den erheblichen Nutzen dieser Abkommen.

492

Der Wegfall von Projek-

ten im Rahmen des Horizon-Pakets mindert die Effizienz und Attraktivität der

490

Abrufbar unter: www.sbfi.admin.ch > Forschung und Innovation > Internationale For-

schungs- und Innovationszusammenarbeit > EU-Rahmenprogramme > Zahlen und Fakten

zur Schweizer Beteiligung.

491

Siehe Publikation «Beteiligung der Schweiz an EU-Programmen und -Initiativen für For-

schung und Innovation: Zahlen und Fakten 2023», abrufbar unter: www.sbfi.admin.ch >

Forschung und Innovation > Internationale Forschungs- und Innovationszusammenarbeit >

EU-Rahmenprogramme > Zahlen und Fakten zur Schweizer Beteiligung.

492

www.seco.admin.ch > Wirtschaftslage & Wirtschaftspolitik > Grundlagen für die Wirt-

schaftspolitik.

527 / 931

Schweizer F&I, was zu einem Qualitätsverlust führt. Beim Einsatz von gleichen fi-

nanziellen Mitteln wird geschätzt, dass im Jahr 2045 das BIP bei einer Nicht-Assozi-

ierung um 0,18 % tiefer läge als bei einer Assoziierung.

Bei einer Nicht-Assoziierung an das Horizon-Paket würde insbesondere die Einzel-

projektförderung wegfallen. Die Auswirkungen hat eine Studie von BSS Volkswirt-

schaftliche Beratung im Auftrag des SBFI untersucht.

493

Die Studie stellt fest, dass die

Teilnahme an den EU-Einzelförderprojekten aufgrund des hohen Wettbewerbs und

der internationalen Kooperationsmöglichkeiten mit einem hohen Renommee für die

Schweizer Forschenden, wie auch für Forschungseinrichtungen, KMU und Start-ups

verbunden ist. Ohne eine Assoziierung ist es für den Schweizer Forschungsplatz

schwieriger, Spitzenforschende zu rekrutieren und zu halten.

Erasmus+

Eine Assoziierung an Erasmus+ stärkt die Politik des Bundes und der Kantone zur

Förderung von internationaler Zusammenarbeit und Mobilität in der Bildung. Dies

trägt zur Erreichung der gemeinsamen bildungspolitischen Ziele von Bund und Kan-

tonen aus dem Jahr 2023 bei, wonach Austausch und Mobilität in der Bildung veran-

kert und auf allen Bildungsstufen gefördert werden.

494

Die Schweizer Unternehmen profitieren davon, dass auf dem Arbeitsmarkt besser aus-

gebildete Fachkräfte verfügbar sind, unter anderem mit breiteren Sprach-, Fach- und

Sozialkompetenzen. Die Förderung der Mobilität dient auch dem Arbeitskräftepoten-

tial: Einerseits sammeln Mobilitätsteilnehmende aus allen Bildungsbereichen (z.B.

Studierende, Berufslernende, Ausbildende, etc.) aus der Schweiz wertvolle Auslan-

derfahrungen, anderseits lernen ausländische Mobilitätsteilnehmende Bildungssys-

tem, Gesellschaft und Arbeitsmarkt der Schweiz kennen.

Für Arbeitnehmende schlagen sich die erweiterten Kompetenzen in einer besseren

Beschäftigungsfähigkeit sowie in besseren Löhnen nieder.

Die Standortattraktivität wird verbessert, indem die Schweiz auf europäischer Ebene

und in internationalen Netzwerken als qualitativ hochstehender Bildungsstandort

wahrgenommen wird. Weitere positive Auswirkungen einer Assoziierung an Eras-

mus+ sind die Teilhabe an der Weiterentwicklung von qualitativ hochstehenden und

innovativen Bildungsangeboten sowie die verstärkte Vernetzung der Schweizer Bil-

dungsakteure und -institutionen im europäischen Bildungsraum (s. Ziff. 2.8.2).

2.8.9.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Horizon-Paket

Die EU-Förderpolitik für Forschung und Innovation zielt darauf ab, eine innovative

und ressourcenschonende Wirtschaft zu fördern und dadurch gesellschaftlichen Nut-

zen zu schaffen. Die Auswirkungen auf Gesellschaft, Umwelt und Wissenschaft sind

493

Abrufbar unter: www.sbfi.admin.ch > Forschung und Innovation > Internationale For-

schungs- und Innovationszusammenarbeit > EU-Rahmenprogramme > Zahlen und Fakten

zur Schweizer Beteiligung > Einzelförderung der EU-Rahmenprogramme für Forschung

und Innovation: Auswirkungen der Schweizer Beteiligung.

494

www.sbfi.admin.ch > Bildung > Bildungsraum Schweiz > Bildungszusammenarbeit Bund

– Kantone > Gemeinsame Grundlagen > Chancen optimal nutzen.

528 / 931

schwer messbar, doch die Förderung von Forschung über alle Bereiche hinweg führt

zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen in den unterschiedlichsten Forschungsge-

bieten. Forschungsergebnisse werden zudem genutzt, um neue politische Strategien

und Massnahmen zu entwickeln, die am Ende auch der Gesellschaft zugutekommen.

Horizon Europe fördert den Transfer von Forschungsergebnissen in die Öffentlichkeit

sowie den Austausch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Das Programm Digital

Europe beispielsweise soll Unternehmen, Bürger und öffentliche Verwaltungen mit

digitaler Technologie und den entsprechenden Kompetenzen ausstatten. Damit wer-

den zentrale Herausforderungen in den Bereichen digitale Technologie und Infra-

struktur angegangen, um die digitale Wettbewerbsfähigkeit und kritische digitale Ka-

pazitäten zu fördern.

Ein weiteres Ziel der EU-Programme ist die Stärkung der Geschlechtergleichstellung

in der Forschung sowie die Förderung akademischer Karrieren. Horizon Europe und

andere Initiativen legen besonderen Wert auf diese Themen, indem sie beispielsweise

gezielt in Ausschreibungen den Miteinbezug von Gleichstellungsfragen im For-

schungsinhalt einfordern und ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis in Projekten

und Evaluationsgremien anstreben.

Erasmus+

Die Chancengerechtigkeit ist ein Grundpfeiler des Programms Erasmus+. Im Rahmen

des Programms werden Menschen mit geringeren Chancen und Organisationen, die

mit diesen Zielgruppen arbeiten, Instrumente und Ressourcen zur Verfügung gestellt,

um die Hürden für die Teilnahme an Programmaktivitäten abzubauen. Eine Assoziie-

rung der Schweiz eröffnet einem breiten Spektrum von Organisationen und Instituti-

onen Zugang zu europäischen Fördermitteln. Auch werden durch die Massnahmen

mehr Personen erreicht, die aufgrund von Behinderungen, gesundheitlichen Ein-

schränkungen oder sozio-ökonomischen Faktoren geringere Chancen auf eine erwei-

terte Bildung haben. Dies leistet einen Beitrag zur Verringerung von Benachteiligun-

gen und zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts.

2.8.9.5

Auswirkungen auf die Umwelt

Horizon-Paket

Der Umweltaspekt spielt mit der angestrebten gleichzeitigen Förderung von Digitali-

sierung und Nachhaltigkeit (der sogenannten «Twin Transition»), dem «Green Deal»

(dem Plan der EU, bis 2050 klimaneutral zu werden) und dem Link zu den

«Sustainable Development Goals» (SDGs, 17 globale Ziele der Vereinten Nationen

zur Förderung von Frieden, Wohlstand und Umweltschutz) eine wichtige Rolle in den

Prioritäten der EU-Programme für Forschung und Innovation. In Horizon Europe sol-

len 35 % des Budgets die Erreichung der Klimaziele unterstützen, indem in sämtlichen

Bereichen von Horizon Europe durch einen systemorientierten Ansatz Forschung zu

sauberer Energie, nachhaltiger Ressourcennutzung, sauberem Wasser, Boden und

Luft sowie zum Erhalt der Umwelt gefördert wird. Ein besonderer Schwerpunkt wird

in den Programmbereichen „Klima, Energie und Mobilität“ sowie „Lebensmittel und

natürliche Ressourcen“ gesetzt. Das Euratom-Programm und ITER tragen langfristig

ebenso zu den Bemühungen um eine nachhaltige Dekarbonisierung der Wirtschaft

529 / 931

bei. Einerseits wird die Entwicklung von verschiedenen Anwendungen der Nuklear-

technologien (Energieerzeugung, Strahlenschutz, Abfallentsorgung oder auch Nukle-

armedizin) gefördert und andererseits werden Technologien für die Nutzung von Fu-

sion als Energiequelle erforscht. Das Programm Digital Europe will mit der

Vorzeigeinitiative „Destination Earth“ ein hochpräzises digitales Modell der Erde (di-

gitalen Zwilling) entwickeln, mit dem sich Naturphänomene, Gefahren und die damit

verbundenen menschlichen Aktivitäten modellieren, überwachen und simulieren las-

sen.

Die Schweiz wird durch ihre Beteiligung am Horizon-Paket zur globalen Agenda

2030 und zu nationalen Zielen wie nachhaltiger Ressourcennutzung und Klimaschutz

beitragen.

Erasmus+

Erasmus+ ist auf europäischer Ebene ein wichtiges Instrument für die Förderung von

Kompetenzen in nachhaltiger Entwicklung. Projekten, die der Entwicklung entspre-

chender Kompetenzen, Methoden und Innovationen dienen, wird Vorrang einge-

räumt. Dadurch werden auch entsprechende Ziele der Schweizer BFI-Politik zuguns-

ten des Standorts Schweiz gestärkt.

2.8.10

Rechtliche Aspekte des Paketelements

2.8.10.1

Verfassungsmässigkeit des Abkommens

Das EUPA stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 der Bundesverfassung (BV)

495

, wonach

der Bund für die auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV

ermächtigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu ratifi-

zieren. Nach Artikel 166 Absatz 2 BV ist die Bundesversammlung für die Genehmi-

gung völkerrechtlicher Verträge zuständig, sofern für deren Abschluss nicht aufgrund

von Gesetz oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (Art. 24 Abs.

2 ParlG

496

und Art. 7a Abs. 1 RVOG

497

). Beim EUPA handelt es sich nicht um einen

völkerrechtlichen Vertrag, für dessen selbstständigen Abschluss der Bundesrat auf-

grund eines Gesetzes oder eines von der Bundesversammlung genehmigten völker-

rechtlichen Vertrags ermächtigt ist.

So enthält das EUPA in Artikel 12 Absatz 13 Verpflichtungen für die Schweiz zur

Zusammenarbeit mit der Europäischen Staatsanwaltschaft (EPPO). Die Schweiz hat

diese Möglichkeit zur Zusammenarbeit zwar schon auf Grund von Artikel 1 Absatz

3

ter

des Bundesgesetzes über internationale Rechtshilfe in Strafsachen (SR 351.1); die

völkerrechtliche Verpflichtung dazu ist aber eine neue Pflicht, die nicht durch die

Kompetenzdelegation an den Bundesrat in Artikel 31 FIFG und Artikel 8 BIZMB

gedeckt ist. Zusätzlich liegt auch keine formelle Gesetzesgrundlage für den Abschluss

von völkerrechtlichen Verträgen durch den Bundesrat vor, um das Protokoll für

EU4Health abzuschliessen.

495

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999, SR

101

.

496

Bundesgesetz über die Bundesversammlung vom 13. Dezember 2002, SR

171.10

.

497

Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz vom 21. März 1997, SR

172.010

.

530 / 931

Schliesslich handelt es sich beim EUPA auch nicht um einen völkerrechtlichen Ver-

trag von beschränkter Tragweite nach Artikel 7a Absatz 2 RVOG. Das EUPA ist folg-

lich der Bundesversammlung zur Genehmigung zu unterbreiten.

2.8.10.2

Verfassungsmässigkeit der Umsetzungsgesetzgebung und

Begleitmassnahmen

Die Kompetenz des Bundes im Bereich der internationalen Zusammenarbeit und Mo-

bilität in der Bildung stützt sich auf Artikel 54 BV und Artikel 66 BV. Der Bund und

die Kantone fördern gemäss Artikel 61a Absatz 1 BV die Qualität und Durchlässigkeit

des Bildungsraumes Schweiz. Die Zuständigkeit der Bundesversammlung für den

vorliegenden Finanzierungsbeschluss ergibt sich aus Artikel 167 BV. Nach Artikel 7

BIZMB werden die Mittel als Zahlungsrahmen oder Verpflichtungskredite jeweils für

mehrere Jahre bewilligt. Die gesetzliche Grundlage für die Ausgaben bildet Artikel 4

Absatz 1 Buchstaben a und c BIZMB.

2.8.10.3

Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen

der Schweiz

Das EUPA und die Protokolle regeln die Teilnahme der Schweiz an Programmen der

EU.

Es bestehen keine internationalen Verpflichtungen der Schweiz, die im Konflikt mit

der Beteiligung der Schweiz an den Massnahmen der EU im Bereich Forschung und

Innovation (Horizon Europe, Euratom-Programm, ITER, Programm Digital Europe)

stehen.

Ebenso bestehen keine internationalen Verpflichtungen der Schweiz, die im Konflikt

mit einer Assoziierung der Schweiz an Erasmus+ stehen würden.

Des Weiteren bestehen keine internationalen Verpflichtungen der Schweiz, die im

Konflikt mit dem Protokoll «EU4Health» stehen.

2.8.10.4

Erlassform

Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 der Bundesverfassung (BV) unterlie-

gen völkerrechtliche Verträge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige recht-

setzende Bestimmungen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesge-

setzen erfordert. Nach Artikel 22 Absatz 4 des Parlamentsgesetzes vom

13. Dezember 2002

498

(ParlG) sind unter rechtsetzenden Normen jene Bestimmungen

zu verstehen, die in unmittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten

auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen. Als wichtig gelten Best-

immungen, die auf der Grundlage von Artikel 164 Absatz 1 BV in der Form eines

Bundesgesetzes erlassen werden müssten.

Das EUPA enthält wichtige rechtsetzende Bestimmungen. Es handelt sich insbeson-

dere um Artikel 12 Absatz 13 EUPA, der die Schweiz zur Zusammenarbeit mit der

europäischen Staatsanwaltschaft EPPO verpflichtet. Der Bundesbeschluss über die

498

SR

171.10

531 / 931

Genehmigung des Abkommens untersteht deshalb dem fakultativen Referendum nach

Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV (siehe aber die Varianten unter 4.1).

2.8.10.5

Vorläufige Anwendung

Der Bundesrat hat am 09. April 2025 die vorläufige Anwendung des EUPA beschlos-

sen. Sollte die Unterzeichnung bis am 15. November 2025 erfolgen, wird das EUPA

rückwirkend ab dem 1. Januar 2025 vorläufig angewendet. Sollte sie später stattfin-

den, würde das EUPA ab dem 1. Januar 2026 vorläufig angewendet.

Nach Artikel 7

b

Absatz 1 RVOG

499

kann der Bundesrat bei völkerrechtlichen Verträ-

gen, für deren Genehmigung die Bundesversammlung zuständig ist, die vorläufige

Anwendung beschliessen oder vereinbaren, wenn die Wahrung wichtiger Interessen

der Schweiz und eine besondere Dringlichkeit es gebieten. Artikel 152 Absatz 3

bis

Buchstabe a ParlG

500

verlangt, dass der Bundesrat die zuständigen Kommissionen kon-

sultiert, bevor er einen völkerrechtlichen Vertrag vorläufig anwendet, dessen Ab-

schluss durch die Bundesversammlung genehmigt werden muss. Nach Artikel 7

b

Ab-

satz 1

bis

RVOG und Artikel 152 Absatz 3

ter

ParlG verzichtet der Bundesrat auf die

vorläufige Anwendung eines völkerrechtlichen Vertrags, wenn sich die zuständigen

Kommissionen beider Räte dagegen aussprechen.

Die Voraussetzungen der Wahrung wichtiger Interessen der Schweiz sowie der be-

sonderen Dringlichkeit sind in Ziffer 2.8.2 detailliert dargelegt und sind aus Sicht des

Bundesrates zusammengefasst aus folgenden Gründen erfüllt:

Die rückwirkende vorläufige Anwendung ist im Interesse der Schweiz. Die EU kann

damit Förderverträge mit Schweizer Forschenden abschliessen, die sich bei den Aus-

schreibungen 2025 im Rahmen der laufenden Übergangsregelung zur Programmteil-

nahme erfolgreich um EU-Förderbeiträge bei Horizon Europe, beim Euratom-Pro-

gramm und beim Programm Digital Europe beworben hatten. Die vorläufige

Anwendung hat zur Folge, dass die Schweiz bei diesen Programmen als assoziiert gilt.

Sie sollte möglichst noch im Jahr 2025 beginnen, damit Schweizer Forschende, die

sich für die Ausschreibungen dieses Jahres erfolgreich um Finanzhilfen der EU be-

worben haben, auch tatsächlich von der EU finanziert werden können.

Für ITER gilt die vorläufige Anwendung ab 1. Januar 2026. Damit können sich

Schweizer Akteure erneut an dem Bau und der Weiterentwicklung dieser Forschungs-

infrastruktur beteiligen. Die Schweizer Beteiligung an ITER soll die Entwicklung ei-

ner hochmodernen Industriekette im Bereich der Kernfusion in der Schweiz ermögli-

chen. Die Beteiligung an der Bauphase ist dabei von entscheidender Bedeutung, so

dass die Wiederaufnahme der Beteiligung dank der vorläufigen Anwendung nach fünf

Jahren Unterbrechung absolut dringend ist. Darüber hinaus wird es den Schweizer

Akteuren ermöglicht, sich an der Ausarbeitung des Zeitplans für die wissenschaftliche

Nutzung der Infrastruktur zu beteiligen.

499

SR

172.010

500

SR

171.10

532 / 931

Eine Beteiligung der Schweiz an Erasmus+ ist im EUPA ab 1. Januar 2027 vorgese-

hen. Ein zeitlicher Vorlauf ist notwendig, damit die Teilnahme der Schweizer Institu-

tionen und Organisationen an Projekten der Programmausschreibungen 2027 sicher-

gestellt ist und das nationale Implementationssystem ein halbes Jahr vor dem

Programmeinstieg akkreditiert werden kann.

Im EUPA wird vereinbart, die vorläufige Anwendung bis längstens Ende 2028 wei-

terzuführen. Sollte das EUPA im Rahmen des Pakets Schweiz-EU vom Parlament

oder vom Volk nicht genehmigt werden, wird der Bundesrat der EU das Ende der

vorläufigen Anwendung mitteilen müssen. Der Zeitpunkt der Beendigung der vorläu-

figen Anwendung wird vom Bundesrat beschlossen werden, sobald ein allfälliger ab-

lehnender Beschluss des Parlaments ergangen ist, beziehungsweise wenn das Datum

der Volksabstimmung, aus welcher sich allenfalls ein ablehnendes Resultat ergeben

könnte, feststeht. Dabei wird der Bundesrat die Situation der Gesuchstellenden für

EU-Beiträge mitberücksichtigen. Die EU sollte die zum Zeitpunkt einer Nicht-Geneh-

migung bereits bezahlten Pflichtbeiträge der Schweiz noch in geordneter Weise für

den Abschluss der Verträge für das entsprechende Programmjahr mit Schweizer For-

schenden verwenden können. Dafür ist es notwendig, dass das EUPA noch für eine

bestimmte Zeit über das Datum einer allfälligen Nicht-Genehmigung hinaus vorläufig

angewendet wird.

Für die Schweiz sollen nach einer Nichtgenehmigung keine neuen

finanziellen Verpflichtungen mehr entstehen.

Eine Teilnahme an EU4Health während der vorläufigen Anwendung des EUPA ist

nicht vorgesehen.

Der Bundesrat wird die aussenpolitischen Kommissionen von National- und Ständerat

vor der vorläufigen Anwendung anhören (Art. 152 Abs. 3

bis

ParlG).

2.8.10.6

Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass

2.8.10.6.1

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Nach Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV unterstehen die Pflichtbeiträge zu Horizon

Europe der Ausgabebremse. Dies wurde im Rahmen des Bundesbeschlusses vom 16.

Dezember 2020 dargelegt. Nach Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV bedürfen die

beantragten Mittel für die Assoziierung an Erasmus+ der Zustimmung der Mehrheit

der Mitglieder beider Räte, da die Bestimmung eine neue einmalige Ausgabe von

mehr als 20 Millionen Franken nach sich zieht.

2.8.10.6.2

Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der

fiskalischen Äquivalenz

Gemäss Artikel 64 Absatz 1 BV fördert der Bund in politischer Hauptverantwortung

die wissenschaftliche Forschung und Innovation

501

. Gemäss Artikel 61a Absatz 1 BV

sorgen Bund und Kantone gemeinsam im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für eine hohe

Qualität und Durchlässigkeit des Bildungsraumes Schweiz. Die Aufgabenteilung zwi-

schen Bund und Kantonen wird mit der Beteiligung der Schweiz am Horizon-Paket

und am Programm Erasmus+ nicht geändert.

501

Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht, Bildungs-, Kultur- und Sprachenrecht, Band

XI, Markus Metz, Rz. 13.

533 / 931

2.8.10.6.3

Einhaltung der Grundsätze des Subventionsgesetzes

Artikel 5 des Subventionsgesetzes vom 5. Oktober 1990 (SuG)

502

verpflichtet den Bun-

desrat, sämtliche Subventionen mindestens alle sechs Jahre zu überprüfen und dem

Parlament über die Ergebnisse dieser Prüfung Rechenschaft abzulegen. Die Rechen-

schaftsablage findet teils im Rahmen von Botschaften, mit denen der Bundesrat dem

Parlament mehrjährige Finanzbeschlüsse oder Änderungen bestehender Subventions-

bestimmungen beantragt, teils in der Staatsrechnung statt. Die Überprüfung der Ein-

haltung der Grundsätze des Subventionsgesetzes bei der Beteiligung am Forschungs-

rahmenprogramm Horizon Europe, am neuen Programm Digital Europe sowie am

Euratom-Programm und ITER unterliegt dem sechsjährigen Überprüfungszyklus. Zu-

letzt hat der Bundesrat im Rahmen der Staatsrechnung 2018 (Band 1, Ziff. A55)

503

und

der Staatsrechnung 2024

504

Bericht erstattet. Über die Beteiligungen an Erasmus+ wird

der Bundesrat voraussichtlich erstmals im Jahr 2030 Bericht erstatten, unter der Vo-

raussetzung, dass die Schweiz auch an der nächsten Programm-Generation 2028 –

2034 assoziiert ist.

502

Bundesgesetz über die Finanzhilfen und Abgeltungen vom 5. Oktober 1990, SR 616.1.

503

Abrufbar unter: www.efv.admin.ch > Finanzberichte > Staatsrechnung.

504

Abrufbar unter www.efv.admin.ch > Finanzberichte > Staatsrechnung.

534 / 931

2.9

Weltraum

2.9.1

Zusammenfassung

Ziel des EUSPA-Abkommens ist es, die langfristige Teilnahme der Schweiz an der

Agentur der EU für das Weltraumprogramm (

European Union Agency for the Space

Programme

, EUSPA) sicherzustellen. Das Abkommen ergänzt das unbefristete Ko-

operationsabkommen vom 18. Dezember 2013

505

über die europäischen Satellitenna-

vigationsprogramme (GNSS-Kooperationsabkommen), welches seit dem 1. Ja-

nuar 2014 vorläufig angewendet wird.

Die EUSPA ist die operative Agentur für das EU-Weltraumprogramm und seiner

Komponenten – darunter das Satellitennavigationsprogramm Galileo, das «Europäi-

sche geostationäre Navigationssystem» (

European Geostationary Navigation Overlay

Service

, EGNOS) und das Erdbeobachtungsprogramm Copernicus. Die Aufgaben der

Agentur bestehen darin, zur Durchführung des EU-Weltraumprogramms beizutragen,

die Sicherheit seiner Komponenten zu gewährleisten sowie marktfähige Anwendun-

gen zu entwickeln, mit denen zuverlässige, sichere und geschützte weltraumbezogene

Dienste bereitgestellt werden können. Die Europäische Weltraumorganisation (

Euro-

pean Space Agency

, ESA), bei welcher die Schweiz Mitglied ist, führt ebenfalls einen

wichtigen Teil des Weltraumprogramms der EU durch

506

. Alle Komponenten des EU-

Weltraumprogramms stellen sicher, dass Europa seine Unabhängigkeit gegenüber den

Systemen der USA, Russlands und Chinas wahren kann, was insbesondere in einer

von geopolitischer Instabilität und globalen Krisen geprägten Welt von entscheiden-

der Bedeutung ist und wovon auch die Schweiz profitiert.

Die Schweiz beteiligt sich im Rahmen des GNSS-Kooperationsabkommens bereits an

vielen der an die EUSPA delegierten Aufgaben, ohne jedoch Zugang zu relevanten

Informationen betreffend den operativen Betrieb und die Weiterentwicklung der

Komponenten des EU-Weltraumprogramms zu haben. Mit dem EUSPA-Abkommen

soll diese Informationslücke geschlossen werden. Bei der Entwicklung der Kompo-

nenten des EU-Weltraumprogramms stehen wichtige Schritte an, beispielsweise die

Einführung von Authentifizierungsdiensten und die Inbetriebnahme des hochsicheren

öffentlichen regulierten Dienstes (

Public Regulated Service

, PRS) von Galileo, der

ausschliesslich staatlich autorisierten Nutzenden zugänglich und deshalb insbeson-

dere für Behörden oder Organisationen mit höheren Sicherheitsanforderungen (bei-

spielsweise Blaulichtorganisationen, Nachrichtendienste, Armee und Grenzschutz)

zentral ist. Viele dieser Richtungsentscheide werden von der EUSPA massgeblich

mitbestimmt. Die Teilnahme an der EUSPA ist eine Vorgabe der EU für den Zugang

zum PRS.

Das EUSPA-Abkommen regelt die wesentlichen technischen Aspekte sowie die

Rechte und Pflichten der Vertragsparteien. Es erlaubt der Schweiz eine Teilnahme an

den Aktivitäten der Agentur, die sich auf Programmkomponenten beziehen, für die

ein entsprechendes Kooperationsabkommen besteht. Es sieht den Zugang zum Ver-

waltungsrat und zum Gremium für die Sicherheitsakkreditierung vor, jedoch ohne

Stimmrecht, da dieses den EU-Mitgliedstaaten vorbehalten ist. Im Gegenzug zu den

505

SR

0.741.826.8

506

SR

0.425.09

535 / 931

gewährten Rechten beteiligt sich die Schweiz auf der Basis eines vom Bruttoinland-

produkt (BIP) abhängigen Berechnungsschlüssels anteilsmässig an der Finanzierung

der EUSPA.

Das EUSPA-Abkommen wird – wie das GNSS-Kooperationsabkommen – auf unbe-

schränkte Zeit abgeschlossen, kann jedoch von beiden Vertragsparteien unter Einhal-

tung einer sechsmonatigen Kündigungsfrist aufgelöst werden. Eine allfällige vorläu-

fige Anwendung des Abkommens ist ab dem 1. Januar 2026 möglich, wenn die

Unterzeichnung vor dem 1. Juli 2026 erfolgt. Findet sie nach dem 30. Juni 2026 statt,

erfolgt die allfällige vorläufige Anwendung ab dem 1. Januar des Folgejahres.

Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt. Er beantragt

im Rahmen des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU die Genehmigung des

EUSPA-Abkommens.

2.9.2

Ausgangslage

2.9.2.1

Die europäischen Satellitennavigationsprogramme

Mitte der 1990er Jahre lancierten die ESA und ihre Mitgliedstaaten, darunter die

Schweiz, in Abstimmung und Kooperation mit der EU zwei Programme für den Auf-

bau und Betrieb eines eigenständigen europäischen Satellitennavigationssystems Ga-

lileo sowie des europäischen geostationären Navigationssystems EGNOS. Die

Schweiz hat diese Programme im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in der ESA von An-

beginn unterstützt und daran teilgenommen. Seit 2008 liegt die Gesamtverantwortung

dieser Programme ausschliesslich bei der EU. Die ESA ist an der Weiterentwicklung

beteiligt.

Bei Galileo handelt es sich um ein globales Navigationssatellitensystem (

Global Na-

vigation Satellite System

, GNSS), welches als zivile und unabhängige Alternative zu

den militärischen GNSS der USA (

Global Positioning System

, GPS), Russlands

(GLONASS) sowie Chinas (Beidou) konzipiert wurde. Das System besteht aus einer

Konstellation von Satelliten und einem weltweiten Netz von Bodenstationen. Galileo

bietet seit 2016 Geolokalisationsdienste an.

EGNOS ist ein ziviles regionales Satellitennavigationssystem, das aus mehreren geo-

stationären Satelliten und einem Netz von Bodenstationen in Europa und Nordafrika

besteht. Seit dessen Inbetriebnahme im Jahre 2011 verbessert das System die Genau-

igkeit und Zuverlässigkeit der Satellitensignale des amerikanischen GPS sowie in ei-

ner späteren Phase auch des europäischen Galileo.

Die europäischen GNSS-Programme nehmen bereits heute in verschiedenen Berei-

chen der Satellitennavigationstechnologie – beispielsweise bei der Signalpräzision

und -zuverlässigkeit – eine internationale Vorreiterrolle ein und werden diese voraus-

sichtlich mit der Bereitstellung weiterer Dienste noch ausbauen können.

2.9.2.2

Teilnahme

der

Schweiz

an

den

europäischen

Satellitennavigationsprogrammen

Die Schweiz hat mit der EU das unbefristete GNSS-Kooperationsabkommen abge-

schlossen. Dieses regelt die Teilnahme der Schweiz an den europäischen GNSS-

Programmen Galileo und EGNOS.

536 / 931

Das GNSS-Kooperationsabkommen wird seit dem 1. Januar 2014 vorläufig angewen-

det. Der Zeitpunkt des Inkrafttretens hängt vom Abschluss der jeweiligen internen

Genehmigungsverfahren und von der entsprechenden Notifikation der Vertragspar-

teien ab. Nicht nur die EU, sondern auch die einzelnen EU-Mitgliedstaaten sind Ver-

tragsparteien, was das Inkrafttreten verzögert hat. Im Jahr 2024 hat der letzte ausste-

hende EU-Mitgliedstaat seine internen Verfahren zur Ratifizierung abgeschlossen.

Dadurch kann die EU ihr Ratifizierungsverfahren ebenfalls durchführen. Seitens

Schweiz sind alle erforderlichen Prozesse abgeschlossen.

Das GNSS-Kooperationsabkommen sieht vor, dass die Schweiz in den Gremien der

Programme ohne Stimmrecht Einsitz nimmt. Die Schweiz nimmt seit Beginn der vor-

läufigen Anwendung aktiv an den Sitzungen des GNSS-Programmausschusses teil.

Sie wird im Rahmen dieses Gremiums über die Entwicklung der Programme infor-

miert und kann ihre Einschätzungen einbringen. Zusätzlich trifft sich die Schweiz in

der Regel mindestens einmal jährlich mit der Europäischen Kommission in einem

Gemischten Ausschuss, um Fragen betreffend das GNSS-Kooperationsabkommen zu

klären.

Mit der Teilnahme an den europäischen GNSS-Programmen trägt die Schweiz aktiv

zum Aufbau und Betrieb von Galileo und EGNOS bei. Sie sichert sich dadurch den

Zugang zu den Signalen beziehungsweise Diensten der europäischen Systeme. Das

GNSS-Kooperationsabkommen gewährt der schweizerischen Industrie ausserdem

Zugang zu den Ausschreibeverfahren für Aufträge im Zusammenhang mit Galileo

und EGNOS. Im Gegenzug beteiligt sich die Schweiz gemäss einem vom BIP abhän-

gigen Finanzierungsschlüssel an

den

eingegangenen

Verpflichtungen

der

GNSS-Programme.

Im Weiteren sieht das GNSS-Kooperationsabkommen das Recht der Schweiz zur

Teilnahme an der EUSPA (bis Mai 2021:

European GNSS Agency

, GSA) und den

Zugang zum hochsicheren öffentlichen regulierten Galileo-Dienst PRS vor. Die Mo-

dalitäten dieser Teilnahme beziehungsweise des Zugangs müssen in zwei separaten

Zusatzabkommen geregelt werden.

Mit dem EUSPA-Abkommen sowie dem anschliessend auszuhandelnden Abkommen

über den Zugang zum PRS wird die schweizerische Teilnahme – wie im GNSS-

Kooperationsabkommen vorgesehen – vervollständigt.

2.9.2.3

Die

Agentur

der

Europäischen

Union

für

das

Weltraumprogramm

Die EUSPA mit Sitz in Prag nimmt innerhalb des Weltraumprogramms der EU eine

bedeutende Rolle ein.

Die EUSPA wurde 2021 durch die Verordnung (EU) 2021/696

507

als Nachfolgeror-

ganisation der GSA eingerichtet. Die GSA war verantwortlich für die Programmsi-

507

Verordnung (EU) 2021/696 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Ap-

ril 2021 zur Einrichtung des Weltraumprogramms der Union und der Agentur der Europäi-

schen Union für das Weltraumprogramm und zur Aufhebung der Verordnungen

(EU) Nr. 912/2010, (EU) Nr. 1285/2013 und (EU) Nr. 377/2014 sowie des Beschlusses

Nr. 541/2014/EU, ABl. L 170 vom 12.5.2021, S. 69.

537 / 931

cherheit, die Sicherheitsakkreditierung sowie die Bereitstellung der Dienste der bei-

den GNSS-Programme Galileo und EGNOS. Mit der Einrichtung der EUSPA wurden

das Tätigkeitsfeld und der Zuständigkeitsbereich der Agentur auf weitere Komponen-

ten des EU-Weltraumprogramms – darunter das Erdbeobachtungsprogramm Coper-

nicus, die staatliche Satellitenkommunikationsinfrastruktur (

European Union

Governmental Satellite Communications

, GOVSATCOM), die als Basis für die Kons-

tellation

Infrastructure for Resilience, Interconnectivity and Security by Satellite

(IRIS

2

) dient, sowie das Weltraumlageerfassungsprogramm

Space Situational Awa-

reness

(SSA) – ausgeweitet. Die EUSPA ist somit die operative Agentur aller Kom-

ponenten des EU-Weltraumprogramms und zuständig für den Betrieb, die Instandhal-

tung und den Schutz der Infrastruktur. Sie beteiligt sich an der Weiterentwicklung der

Programmkomponenten und der von ihnen bereitgestellten Dienste und nachgelager-

ten Anwendungen.

Die EUSPA wird operativ von einer Exekutivdirektorin oder einem Exekutivdirekto-

ren geleitet. Für die strategische Führung ist der Verwaltungsrat zuständig. Die wich-

tige Aufgabe der Sicherheitsakkreditierung aller Komponenten des EU-

Weltraumprogramms erfolgt durch das agenturinterne Gremium für die Sicherheits-

akkreditierung. Der Verwaltungsrat und das Gremium für die Sicherheitsakkreditie-

rung setzen sich aus Vertreterinnen und Vertretern der Mitgliedstaaten, verschiedener

Gremien der EU sowie von Drittstaaten (ohne Stimmrecht) zusammen.

Die Kernausgaben der EUSPA werden durch einen jährlichen Beitrag aus dem Haus-

halt der EU sowie festgelegten Beiträgen von teilnehmenden Drittstaaten finanziert.

Diese Ausgaben setzen sich aus Personal-, Verwaltungs-, Betriebs- und Infrastruktur-

kosten der Agentur zusammen.

Die zusätzlichen Aufgaben, die der EUSPA durch die Europäische Kommission über-

tragen werden – sogenannte delegierte Aufgaben, dazu zählt beispielsweise der ope-

rative Betrieb von Galileo und EGNOS – werden zweckgebunden ebenfalls aus dem

Haushalt der EU finanziert. An diesen delegierten Aufgaben beteiligt sich die Schweiz

im Rahmen des GNSS-Kooperationsabkommens bereits.

2.9.2.4

Verhandlungen 2018/2019

Der Bundesrat beabsichtigte, die Verhandlungen über die schweizerische Teilnahme

an der EUSPA – beziehungsweise an ihrer Vorgängeragentur GSA – unmittelbar nach

Unterzeichnung des GNSS-Kooperationsabkommens aufzunehmen. Erste Gespräche

über die Modalitäten der Teilnahme an der GSA fanden kurz nach Vorliegen des ent-

sprechenden Verhandlungsmandats der EU im Jahr 2018 statt. Für die Schweiz galt

das Verhandlungsmandat vom 9. März 2009 (siehe Ziffer 2.9.3.2).

Unter der Federführung des Bundesamts für Strassen (ASTRA) wurden die Verhand-

lungen Schweiz-intern in einer Arbeitsgruppe und einem entsprechenden Entschei-

dungsgremium vorbereitet. Gemäss dem schweizerischen Verhandlungsmandat

wirkte die Abteilung Europa (ehemals die Direktion für europäische Angelegenheiten,

DEA) des Staatssekretariats des Eidgenössischen Departements für auswärtige Ange-

legenheiten (STS-EDA) als «mitverantwortliche Unterhändlerin» mit. Ebenfalls in die

Arbeiten miteinbezogen wurden das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und In-

novation (SBFI) und das Bundesamt für Rüstung (armasuisse).

538 / 931

Nach mehreren informellen technischen Gesprächen fand am 8. November 2018 eine

erste Verhandlungsrunde in Brüssel statt. Im Nachgang konnten sich beide Seiten im

März 2019 auf einen Abkommensentwurf einigen.

Die Paraphierung des Abkommensentwurfs wurde dann allerdings seitens EU mit

Verweis auf die offenen institutionellen Fragen blockiert. Aus demselben Grund

konnten die Verhandlungen über eine Teilnahme der Schweiz am PRS bisher nicht

aufgenommen werden.

2.9.2.5

Common Understanding

Das

Common Understanding

hielt fest, dass Verhandlungen über die Umsetzung und

damit

die

Weiterentwicklung

des

bereits

bestehenden

GNSS-

Kooperationsabkommens wieder aufgenommen werden können.

2.9.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

2.9.3.1

Zielsetzung

Ziel des EUSPA-Abkommens ist die Sicherstellung der Teilnahme der Schweiz an

der EUSPA. Hierzu regelt es die wesentlichen technischen Aspekte sowie die Rechte

und Pflichten beider Vertragsparteien.

Die Teilnahme der Schweiz an der EUSPA muss im Zusammenhang mit der Beteili-

gung der Schweiz an den Programmkomponenten Galileo und EGNOS des

EU-Weltraumprogramms betrachtet werden. Das EUSPA-Abkommen ist eine Kom-

plettierung des unbefristeten GNSS-Kooperationsabkommens und soll der langfristi-

gen Sicherstellung der Investition der Schweiz in die EU-Infrastrukturprojekte Gali-

leo und EGNOS dienen.

Eine Nichtbeteiligung an der EUSPA hätte für die Schweiz eine grosse Tragweite.

Der voraussetzungsfreie Zugang zum PRS ist den EU-Mitgliedstaaten vorbehalten.

Drittstaaten können nur mittels eines Abkommens Zugang erhalten und Verhandlun-

gen über den Zugang zum PRS werden von der EU an eine Teilnahme an der EUSPA

geknüpft. Aus sicherheitspolitischer Perspektive ist der Zugang zum PRS für die

Schweiz von besonderem Interesse. Beim PRS handelt es sich um einen Dienst, der

ausschliesslich staatlich autorisierten Nutzenden zugänglich und deshalb insbeson-

dere für Behörden oder Organisationen mit höheren Sicherheitsanforderungen (bei-

spielsweise Blaulichtorganisationen, Nachrichtendienste, Armee und Grenzschutz)

zentral ist. PRS ist besonders robust und vollständig verschlüsselt, um die Kontinuität

des Dienstes in nationalen Notfällen oder Krisensituationen zu gewährleisten. PRS

kann die Nutzenden insbesondere vor zwei Bedrohungen schützen: Schutz vor Mani-

pulation des Signals (

Spoofing

) und Schutz vor Störung des Signals (

Jamming

). Mit-

hilfe von PRS können die Resilienz und Abwehrfähigkeiten der Schweiz verbessert,

die Funktionsfähigkeit von kritischen Sektoren der Infrastruktur bei Störungen sicher-

gestellt und die Robustheit der Gesellschaft gegenüber Bedrohungen erhöht werden.

539 / 931

2.9.3.2

Verhandlungsmandat

Für die Verhandlungen über die Teilnahme der Schweiz an der EUSPA gilt das Ver-

handlungsmandat vom 9. März 2009, das schweizerischerseits die Verhandlungen

zum GNSS-Kooperationsabkommen und zur Teilnahme an der GSA freigegeben hat.

Am 27. Februar 2008 definierte der Bundesrat die EU-Programme Galileo und

EGNOS als eines der prioritären Dossiers für eine Vertiefung der Beziehungen mit

der EU. Der vertragliche Einbezug der Schweiz sollte schrittweise erfolgen, da ge-

wisse relevante EU-Rechtstexte noch nicht verabschiedet waren. Das Mandat enthielt

deshalb die Verhandlungsdirektiven für den Abschluss eines ausbaufähigen Erstab-

kommens – das GNSS-Kooperationsabkommen – welches nun mit dem EUSPA-

Abkommen ergänzt werden soll.

2.9.3.3

Verhandlungsverlauf

Nach Abschluss der exploratorischen Gespräche Ende Oktober 2023 konnten die Ver-

handlungen zur Teilnahme der Schweiz an der EUSPA im Rahmen des Pakets

Schweiz–EU wieder aufgenommen werden.

Der Abkommensentwurf aus den Verhandlungen von 2018/2019 konnte in grossen

Teilen übernommen werden. Insbesondere die unbefristete Teilnahme an der EUSPA

– analog zum GNSS-Kooperationsabkommen – und die vorläufige Anwendung konn-

ten sichergestellt werden.

Das Schweizer Verhandlungsmandat vom 9. März 2009 bezog sich auf die bereits er-

läuterten Aktivitäten der GSA (siehe Ziffer 2.9.2.3). Da sich die Agentur zur EUSPA

weiterentwickelt und dies die Ausweitung ihrer Aktivitäten auf weitere Komponenten

des EU-Weltraumprogramms mit sich gebracht hatte, konnte das Mandat dementspre-

chend nicht im vormals angedachten Umfang umgesetzt werden. In Anbetracht dieser

Tatsache musste die Schweiz für die Sicherstellung ihrer Teilnahme an den Aktivitä-

ten der EUSPA bezogen auf die Komponenten Galileo und EGNOS ihre finanzielle

Beteiligung auf die im Mandat nicht vorgesehenen Programmkomponenten der

EUSPA (Copernicus, GOVSATCOM und SSA) ausweiten.

Die EU sieht für Drittstaaten einzig eine finanzielle Vollbeteiligung an der EUSPA

vor, unabhängig von den Programmkomponenten, an denen sie teilnehmen. Ein an-

teilsmässiger finanzieller Beitrag nach Programmkomponenten konnte in den Ver-

handlungen nicht durchgesetzt werden, denn dies war auch keinem anderen Drittstaat

gewährt worden. Im ungünstigsten Fall könnte nicht ausgeschlossen werden, dass die

Schweiz ab einem gewissen Zeitpunkt einen grösseren Beitrag an Aktivitäten der

EUSPA bezogen auf Programmkomponenten des EU-Weltraumprogramms leisten

müsste, an denen sie nicht beteiligt ist. Das Budget der EUSPA könnte sich in diesem

Fall zu Ungunsten der Schweiz hin zu den anderen Programmkomponenten verschie-

ben. Zurzeit wird das Budget der EUSPA zu 95 Prozent für Galileo und EGNOS ver-

wendet

508

und es ist nicht zu erwarten, dass sich dies mittelfristig erheblich ändert.

Würde das Ungleichgewicht zwischen den Aktivitäten der EUSPA bezogen auf Gali-

508

www.euspa.europa.eu > About us > Corporate documents > Single Programming Docu-

ment (SPD) > EUSPA Single Programming Document 2025-2027.

540 / 931

leo und EGNOS und den Aktivitäten der EUSPA bezogen auf die anderen Programm-

komponenten zu gross, bestünde – als

ultima ratio

– jederzeit die Möglichkeit einer

Kündigung des EUSPA-Abkommens. Eine Kündigung würde allerdings zum Verlust

der von der Schweiz bis zu diesem Zeitpunkt an die EUSPA geleisteten Beiträge füh-

ren.

Das Verhandlungsmandat legt fest, dass «die schweizerische Delegation [...] beauf-

tragt [wird], einen Abzug für [...] die vorerst partielle Teilnahme auszuhandeln» und

dass «nachträgliche Budgetaufstockungen auf Seiten der EU [...] nicht automatisch zu

einer Erhöhung des Schweizer Beitrags [führen].» In Anbetracht dessen, dass das

Mandat aus dem Jahr 2009 stammt und dass es sich auf die Vorgängeragentur der

EUSPA bezieht, kann dieser Verweis auf die nur teilweise Beteiligung nicht direkt

auf einen anteiligen finanziellen Beitrag an der EUSPA nach Programmkomponenten

angewandt werden. Beide Passagen verdeutlichen jedoch, dass die Absicht bestand,

die Schweiz vor unverhältnismässigen finanziellen Beiträgen zu schützen. Dies erfor-

derte in den Verhandlungen die Aufnahme von Leitplanken für den Fall einer künfti-

gen Ausweitung der Aktivitäten der EUSPA, an welchen sich die Schweiz nicht be-

teiligt. Eine Änderung der Verordnung (EU) 2021/696 könnte Drittstaaten wie der

Schweiz auf den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) ab 2028 ermöglichen,

einen Beitrag zu bezahlen, der sich auf die Aktivitäten beschränkt, an denen sie teil-

nehmen. Aus diesem Grund wird im EUSPA-Abkommen die Möglichkeit eines zu-

künftigen anteiligen finanziellen Beitrags an der EUSPA nach Programmkomponen-

ten berücksichtigt.

Neu gegenüber dem Abkommensentwurf von 2019 ist eine Teilnahmegebühr von

vier Prozent des jährlichen Beitrags. Eine solche wird erst seit dem laufenden MFR

ab 2021 für Drittstaaten für die Teilnahme an EU-Agenturen erhoben. Für die ersten

beiden Teilnahmejahre konnte eine Staffelung ausgehandelt werden. Zusätzlich erhält

der Gemischte Ausschuss des EUSPA-Abkommens die Kompetenz, die Gebühr ab

dem neuen MFR ab 2028 zu ändern.

Zur Aushandlung des Abkommens fanden sieben Verhandlungsrunden statt, die letzte

am 27. November 2024. Die Verhandlungen konnten am 20. Dezember 2024 materi-

ell abgeschlossen werden. Die Verhandlungsdelegation der Schweiz setzte sich aus

dem ASTRA, der Abteilung Europa des STS-EDA (Co-Verhandlungsleitung), dem

SBFI und dem Bundesamt für Umwelt (BAFU) zusammen.

2.9.4

Vorverfahren

Aufgrund der Verhandlungen von 2018/2019 konnte auf dem damals ausgehandelten

Abkommensentwurf aufgebaut werden (siehe Ziffer 2.9.2.4). Weitere Vorarbeiten

waren nicht notwendig. Ein exploratorisches Gespräch mit der EU zur Wiederauf-

nahme der Verhandlungen fand im Februar 2024 statt.

Da keine weitgehenden volkswirtschaftlichen Auswirkungen erwartet werden, wurde

auf eine Regulierungsfolgenabschätzung verzichtet. Ebenfalls waren keine Studien

oder Gutachten notwendig.

541 / 931

2.9.5

Grundzüge des Abkommens

Das EUSPA-Abkommen erlaubt der Schweiz eine Teilnahme an den Aktivitäten der

EUSPA, die sich auf Programmkomponenten beziehen, für die ein entsprechendes

Kooperationsabkommen besteht. Es sieht den Zugang zum Verwaltungsrat und zum

Gremium für die Sicherheitsakkreditierung vor, jedoch ohne Stimmrecht, da dieses

den EU-Mitgliedstaaten vorbehalten ist. Ausserdem erlaubt es die Beschäftigung von

Schweizer Bürgerinnen und Bürgern als temporäre Angestellte und die Entsendung

als national abgeordnete Experten. Die Teilnahme sieht auch einen finanziellen Bei-

trag der Schweiz vor.

Das Abkommen wird – wie das GNSS-Kooperationsabkommen – auf unbeschränkte

Zeit abgeschlossen. Eine vorläufige Anwendung des Abkommens ist ab dem 1. Ja-

nuar 2026 möglich, wenn die Unterzeichnung vor dem 1. Juli 2026 erfolgt. Findet sie

nach dem 30. Juni 2026 statt, erfolgt die vorläufige Anwendung ab dem 1. Januar des

Folgejahres. Das Abkommen kann von beiden Vertragsparteien unter Einhaltung ei-

ner sechsmonatigen Kündigungsfrist jederzeit aufgelöst werden.

Das EUSPA-Abkommen erweitert die strategische Mitwirkung der Schweiz an den

Programmkomponenten Galileo und EGNOS des EU-Weltraumprogramms und er-

laubt ihr, sich an deren Ausgestaltung und Weiterentwicklung zu beteiligen. Eine

langfristige Teilnahme an der EUSPA bietet ausserdem die grösstmögliche Sicherheit

für die baldige Teilnahme am PRS, was für die Schweizer Beteiligung an den europä-

ischen GNSS insgesamt ein wesentliches Element darstellt und den Nutzen der lang-

jährigen und unbefristeten Investitionen in Galileo und EGNOS massiv vergrössern

wird.

Das Abkommen umfasst 17 Artikel sowie drei Anhänge, welche ein integraler Be-

standteil des Abkommens sind.

2.9.6

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Abkommens

Art. 1-3

Umfang der schweizerischen Teilnahme

Die Artikel 1-3 regeln den Umfang der Teilnahme der Schweiz an der Agentur sowie

der Beteiligung am Verwaltungsrat (

Administrative Board

) und am Gremium für die

Sicherheitsakkreditierung (

Security Accreditation Board

). Die Schweiz beteiligt sich

gemäss Artikel 1 Absatz 1 an den Aktivitäten der EUSPA bezogen auf die Programm-

komponenten Galileo und EGNOS des EU-Weltraumprogramms. Artikel 1 Absatz 2

eröffnet künftig die Möglichkeit der Teilnahme der Schweiz an Aktivitäten der

EUSPA bezogen auf weitere Programmkomponenten des EU-Weltraumprogramms,

beispielsweise Copernicus, sofern dies im EU-Programmabkommen vorgesehen

wird.

Die Schweiz kann im Verwaltungsrat als Beobachterin ohne Stimmrecht teilnehmen.

Dies entspricht der Regelung in anderen Agenturabkommen zwischen der Schweiz

und der EU. Im Sicherheitsakkreditierungsgremium erhält die Schweiz einen be-

schränkten Zugang und kann nur bei direkt die Schweiz betreffende Themen als Be-

obachterin Einsitz nehmen. Die Fragen, die die Schweiz unmittelbar betreffen, werden

542 / 931

in der Tagesordnung, die von der oder dem Vorsitzenden des Gremiums für die Si-

cherheitsakkreditierung vor jeder Sitzung erstellt wird, aufgeführt und der Schweiz

vor der Sitzung mitgeteilt.

Art. 4

Finanzielle Beteiligung der Schweiz

Artikel 4 verweist auf den Anhang I und sieht Bestimmungen bezüglich der finanzi-

ellen Beteiligung der Schweiz vor. Der Finanzierungsschlüssel für die Berechnung

des schweizerischen Beitrags an die EUSPA entspricht dem Finanzierungsschlüssel

für die Berechnung der schweizerischen Beiträge an die europäischen GNSS-

Programme: effektiv eingesetzte Mittel x (BIP

CH

/ BIP

EU-Mitgliedstaaten)

= Schweizer Bei-

trag. Es ist vorgesehen, dass dieser Schlüssel auf jene Teile des Budgets angewendet

wird, welche relevant für die Beteiligung der Schweiz an der EUSPA sind. Aktuell ist

das Budget der EUSPA unteilbar, weshalb der Finanzierungsschlüssel auf das ge-

samte Budget angewandt wird. Eine Änderung der Verordnung (EU) 2021/696 könnte

Drittstaaten wie der Schweiz auf den nächsten MFR ab 2028 ermöglichen, einen Bei-

trag zu bezahlen, der sich nach dem Umfang der Aktivitäten richtet, an denen sie teil-

nehmen.

Ausserdem wird eine Teilnahmegebühr erhoben. 2026 beträgt sie 2 Prozent des

Schweizer Beitrags an die EUSPA, 2027 3 Prozent und ab 2028 4 Prozent, wobei der

Gemischte Ausschuss des EUSPA-Abkommens diese Prozentzahl ab 2028 anpassen

kann.

Die Schweiz hat ihren finanziellen Beitrag spätestens 45 Tage nach Erhalt der Zah-

lungsaufforderung zu entrichten. Bei Zahlungsverzug werden der Schweiz ab dem

Zahlungstermin Verzugszinsen für den ausstehenden Betrag berechnet. Als Zinssatz

wird der von der Europäischen Zentralbank für ihre Hauptrefinanzierungsgeschäfte

zugrunde gelegte Zinssatz zuzüglich 3,5 Prozentpunkten angewendet.

Art. 5

Datenschutz

Die Schweiz wendet ihre nationalen Vorschriften über den Schutz natürlicher Perso-

nen bei der Bearbeitung von Personendaten an. Ausserdem sind die in der Geschäfts-

ordnung des Verwaltungsrats und des Gremiums für die Sicherheitsakkreditierung der

Agentur festgelegten Vorschriften über die Vertraulichkeit von Dokumenten im Be-

sitz der Agentur zu beachten.

Art. 6-8

Rechtliche Aspekte und Gerichtsbarkeit

Artikel 6 befasst sich mit der Rechtsform der EUSPA. Sie besitzt in der Schweiz die

weitestgehende Rechts- und Handlungsfähigkeit, die juristischen Personen nach

schweizerischem Recht zuerkannt wird. Sie kann insbesondere bewegliches und un-

bewegliches Vermögen erwerben und veräussern und ist parteifähig. Die Arti-

kel 7 und 8 befassen sich mit der Regelung der Haftung der Agentur und der Trag-

weite der exklusiven Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs hinsichtlich der

EUSPA. Letztere betrifft einen sehr begrenzten Bereich und kommt nur im Falle eines

Verfahrens gegen die EUSPA im Rahmen einer Schadenersatzforderung zur Anwen-

dung.

Artikel 9-10

Vorrechte und Befreiungen der Agentur sowie Agenturpersonal

543 / 931

Artikel 9 regelt gemeinsam mit Anhang II die Vorrechte und Befreiungen der Agentur

sowie des Agenturpersonals. Die Regelung ist identisch zur Regelung in anderen Ab-

kommen des Pakets Schweiz–EU (siehe Ziffer 2.1.5.7).

Artikel 10 regelt die Anstellungsbedingungen des Agenturpersonals und hält die

Möglichkeit für Schweizer Bürgerinnen und Bürger fest, als temporäre Angestellte

bei der Agentur beschäftigt wie auch als national abgeordnete Experten in die Agentur

entsandt zu werden.

Art. 11

Betrugsprävention

Artikel 11 regelt die Möglichkeit einer von der EU in der Schweiz durchgeführten

Finanzkontrolle betreffend schweizerische Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Tä-

tigkeiten der Agentur bezogen auf Artikel 95 der Verordnung (EU) 2021/696 und

wird durch Anhang III ergänzt. Die EU-Kommission und das Europäische Amt für

Betrugsbekämpfung werden berechtigt, auf schweizerischem Hoheitsgebiet Kontrol-

len und Überprüfungen durchzuführen. Die zuständige schweizerische Prüfbehörde,

die Eidgenössische Finanzkontrolle, wird von den auf schweizerischem Hoheitsgebiet

durchgeführten Prüfungen zuvor unterrichtet.

Art. 12-13

Gemischter Ausschuss des EUSPA-Abkommens und Streitbeile-

gung

Analog zu anderen Abkommen mit der EU wird nach Artikel 12 ein Gemischter Aus-

schuss (

Committee

) aus Vertreterinnen und Vertretern der Schweiz und der EU ein-

gesetzt, um das Abkommen zu verwalten und bei Bedarf weiterzuentwickeln sowie

den Informationsaustausch sicherzustellen. Er tritt auf Antrag der Schweiz oder der

EU-Kommission zusammen und kann Änderungen der Anhänge des Abkommens be-

schliessen.

Bei Unklarheiten bezüglich Interpretation oder Umsetzung des Abkommens soll ent-

sprechend des Artikels 13 der Gemischte Ausschuss des EUSPA-Abkommens kon-

sultiert werden.

Art. 14

Anhänge

Laut Artikel 14 sind die Anhänge Bestandteil des Abkommens.

Art. 15-17

Inkrafttreten, Geltungsdauer und vorläufige Anwendung

Artikel 15 regelt das Ratifizierungsverfahren, das Inkrafttreten des Abkommens im

Kontext des Pakets Schweiz–EU (siehe Ziffer 2.1.5.6.) sowie die vorläufige Anwen-

dung. Die Artikel 16 und 17 regeln die Modalitäten für allfällige Anpassungen, die

Geltungsdauer sowie die Beendigung des Abkommens. Das Abkommen wird – wie

das GNSS-Kooperationsabkommen – auf unbeschränkte Zeit abgeschlossen.

Eine vorläufige Anwendung des Abkommens ist ab dem 1. Januar 2026 möglich,

wenn die Unterzeichnung vor dem 1. Juli 2026 erfolgt. Findet sie nach dem

30. Juni 2026 statt, erfolgt die vorläufige Anwendung ab dem 1. Januar des Folgejah-

res.

Das Abkommen kann von beiden Vertragsparteien unter Einhaltung einer sechsmo-

natigen Kündigungsfrist jederzeit aufgelöst werden. Sollte künftig das GNSS-

544 / 931

Kooperationsabkommen aufgelöst werden und kein Abkommen mehr bestehen, wel-

ches die Teilnahme der Schweiz an der EUSPA vorsieht, tritt das EUSPA-Abkommen

ebenfalls ausser Kraft.

2.9.7

Grundzüge des Umsetzungserlasses

Für das EUSPA-Abkommen ist kein Umsetzungserlass notwendig.

2.9.7.1

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

Die Teilnahme an der EUSPA dient der Komplettierung des GNSS-

Kooperationsabkommens. Erst nach der Unterzeichnung des EUSPA-Abkommens ist

eine Verhandlung zur Teilnahme am PRS möglich, was den Nutzen von Galileo und

EGNOS für die Schweiz durch die Beteiligung an einem hochsicheren Dienst erheb-

lich vergrössern wird. Die zusätzlichen Kosten sind gering im Verhältnis zu den Ge-

samtkosten der Teilnahme an den GNSS-Programmen. Ausserdem erhält die Schweiz

Zugang zu relevanten Informationen betreffend den operativen Betrieb und die Wei-

terentwicklung der EU-Weltraumprogramme.

Die Schweiz beteiligt sich im Rahmen des GNSS-Kooperationsabkommens bereits

heute an vielen der an die Agentur delegierten Aufgaben, ohne jedoch über die ent-

sprechenden vertieften Informationen des Verwaltungsrats und des Gremiums für die

Sicherheitsakkreditierung zu verfügen.

2.9.8

Auswirkungen des Paketelements

2.9.8.1

Auswirkungen auf den Bund

2.9.8.1.1

Finanzielle Auswirkungen

Mit dem Abschluss des Abkommens verpflichtet sich die Schweiz zur Beteiligung an

den laufenden Kosten der EUSPA. Der von der Schweiz zu leistende Beitrag ist –

aufgrund des Finanzierungsschlüssels (siehe Ziffer 2.9.6) – abhängig von verschiede-

nen Parametern, auf welche die Schweiz keinen Einfluss nehmen kann. Dies sind na-

mentlich die Entwicklung des BIP der Schweiz sowie der EU-Mitgliedstaaten und das

Budget der EUSPA.

Das Budget der EUSPA für 2024 betrug rund 80 Millionen Euro

509

. Bei einem pro-

portionalen Faktor von 4,86 Prozent (entspricht dem für 2024 für das GNSS-

Kooperationsabkommen gültigen proportionalen Faktor) hätte sich daraus für 2024

ein Schweizer Beitrag von umgerechnet rund 3,8 Millionen Franken für die Beteili-

gung an der EUSPA ergeben.

Der Schweizer Beitrag für die Programmkomponente Galileo und EGNOS betrug

2024 rund 61,7 Millionen Euro. Der Beitrag an die EUSPA ist gering im Verhältnis

zu den Gesamtkosten der Teilnahme an den GNSS-Programmen.

Die Frage, wie ein allfälliger Mehraufwand finanziert werden soll, wird sich im Hin-

blick auf den neuen MFR ab 2028 erneut stellen, sowohl in Bezug auf die EUSPA als

auch für die Teilnahme am GNSS-Kooperationsabkommen. Zurzeit ist noch offen,

509

www.euspa.europa.eu > About us > Corporate documents > Multiannual Work Pro-

gramme > Multiannual Work Programme 2021-2027.

545 / 931

wie hoch das durch die EU für die Weltraumprogramme und die EUSPA im neuen

MFR bereitgestellte Budget sein wird. Eine gewisse Aufstockung des Budgets ist

möglich, worauf die Schweiz aber keinen Einfluss hat.

Bei einer zukünftigen Teilnahme am PRS fallen gemäss heutigem Wissensstand keine

zusätzlichen Beiträge an, dieser Dienst ist vom allgemeinen Beitrag an Galileo und

EGNOS gedeckt. Allerdings werden für die Nutzung von PRS spezielle Empfangsge-

räte benötigt, die beschafft werden müssten. Zusätzlich würden Kosten anfallen für

den Betrieb der benötigten Infrastruktur, insbesondere einer nationalen PRS-Behörde.

2.9.8.1.2

Personelle Auswirkungen

Die sich aus der Teilnahme an der EUSPA ergebenden Pflichten für die Schweiz las-

sen sich mit den vorhandenen beim ASTRA angesiedelten personellen Ressourcen

erfüllen. Das Abkommen hat folglich keine personellen Auswirkungen auf den Bund.

2.9.8.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf

urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

Das EUSPA-Abkommen hat keine unmittelbaren Auswirkungen auf Kantone, städti-

sche Zentren, Agglomerationen und Berggebiete. Die Kantone haben mit der Teil-

nahme an der EUSPA keine finanziellen Auswirkungen zu gewärtigen.

Mit der Unterzeichnung des Abkommens wird über die Teilnahme am PRS verhandelt

werden können. PRS kann beim Bevölkerungsschutz (Polizei und Rettungsdienste)

auch den Kantonen unmittelbar bei der Erfüllung ihrer Aufgaben dienen.

2.9.8.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Die erwarteten Auswirkungen des Abkommens auf Unternehmen werden aufgrund

der beschränkten Anzahl Akteure im Weltraumbereich als gering eingeschätzt. In der

Schweiz sind rund 120 Unternehmen im Bereich Raumfahrt tätig, was ungefähr 1000

Arbeitsplätzen entspricht, die direkt an Raumfahrtaktivitäten beteiligt sind. Diese Un-

ternehmen haben bereits durch das GNSS-Kooperationsabkommen die Möglichkeit

zur Teilnahme an Ausschreibungen bezüglich den Programmkomponenten Galileo

und EGNOS des EU-Weltraumprogramms.

Die Teilnahme an der EUSPA verbessert die Rahmenbedingungen und eröffnet wei-

tere Möglichkeiten für diejenigen Schweizer Unternehmen, die Produkte und Dienst-

leistungen im Bereich Satellitentechnologie, -signale und -daten anbieten. In den ver-

gangenen Jahren mussten Unternehmen und Hochschulen zum Teil darum kämpfen,

berücksichtigt zu werden, selbst wenn sie die Voraussetzungen für die Teilnahme an

Ausschreibungen bezüglich den Programmkomponenten Galileo und EGNOS des

EU-Weltraumprogramms erfüllten. Die Mitgliedschaft in der EUSPA wird ihre Teil-

nahme an Ausschreibungen und Konsortien erleichtern und ein positives Zeichen für

die Integration von Schweizer Akteuren setzen. Bei einer zukünftigen Teilnahme am

PRS könnten sich neue Geschäftsmöglichkeiten ergeben.

Auf die Forschung, insbesondere auf die Hochschulen, werden aufgrund der be-

schränkten Anzahl Akteure geringe Auswirkungen erwartet. Es gibt ungefähr zwei bis

drei Forschungsinstitute in der Schweiz in diesem Bereich. Die Auswirkungen der

Teilnahme an der EUSPA auf ihre Publikationen ist allerdings schwer abschätzbar.

546 / 931

2.9.9

Rechtliche Aspekte des Paketelements

2.9.9.1

Verfassungsmässigkeit des Abkommens

Das EUSPA-Abkommen stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 der Bundesverfas-

sung

510

(BV), wonach der Bund für die auswärtigen Angelegenheiten und den Ab-

schluss von völkerrechtlichen Verträgen zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV er-

mächtigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu

ratifizieren. Die Bundesversammlung ist nach Artikel 166 Absatz 2 BV für die Ge-

nehmigung völkerrechtlicher Verträge zuständig; ausgenommen sind die Verträge, für

deren Abschluss auf Grund eines Gesetzes oder eines von der Bundesversammlung

genehmigten völkerrechtlichen Vertrags der Bundesrat zuständig ist (Artikel 24 Ab-

satz 2 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 2002

511

[ParlG]; Artikel 7

a

Ab-

satz 1 des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 1997

512

[RVOG]).

Beim EUSPA-Abkommen handelt es sich nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag,

für dessen selbstständigen Abschluss der Bundesrat aufgrund eines Gesetzes oder ei-

nes von der Bundesversammlung genehmigten völkerrechtlichen Vertrags ermächtigt

ist. Es handelt sich auch nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag von beschränkter

Tragweite nach Artikel 7

a

Absatz 2 RVOG. Das EUSPA-Abkommen ist folglich der

Bundesversammlung zur Genehmigung zu unterbreiten.

2.9.9.2

Verfassungsmässigkeit der Umsetzungsgesetzgebung und

Begleitmassnahmen

Das EUSPA-Abkommen bedarf weder einer Umsetzungsgesetzgebung noch Begleit-

massnahmen.

2.9.9.3

Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen

der Schweiz

Der Abschluss des Abkommens ist in Artikel 16 des GNSS-Kooperationsabkommens

vorgesehen.

Die schweizerische Teilnahme an der EUSPA steht im Einklang mit dem Überein-

kommen vom 30. Mai 1975 zur Gründung der ESA.

Das EUSPA-Abkommen ist mit den von der Schweiz ratifizierten Weltraumverträgen

der Organisation der Vereinten Nationen und den anderweitigen internationalen Ver-

pflichtungen der Schweiz im Bereich Weltraumforschung und Raumfahrt vereinbar.

2.9.9.4

Erlassform

Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV unterliegen völkerrechtliche Ver-

träge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige rechtsetzende Bestimmungen

enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Nach Ar-

510

SR

101

511

SR

171.10

512

SR

172.010

547 / 931

tikel 22 Absatz 4 ParlG sind unter rechtsetzenden Normen jene Bestimmungen zu ver-

stehen, die in unmittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten auf-

erlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen. Als wichtig gelten Bestim-

mungen, die auf der Grundlage von Artikel 164 Absatz 1 BV in der Form eines

Bundesgesetzes erlassen werden müssten.

Das EUSPA-Abkommen enthält wichtige rechtsetzende Bestimmungen. Es handelt

sich insbesondere um die Bestimmungen im Anhang III, welche die Finanzkontrolle

bei der Schweizer Beteiligung an Aktivitäten der EUSPA regeln.

Der Bundesbeschluss über die Genehmigung des Abkommens untersteht deshalb dem

fakultativen Referendum nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV (siehe

Varianten unter Ziffer 4.1).

2.9.9.5

Vorläufige Anwendung

Artikel 15 Absatz 3 des EUSPA-Abkommens sieht vor, dass eine vorläufige Anwen-

dung des Abkommens ab dem 1. Januar 2026 möglich ist, wenn die Unterzeichnung

vor dem 1. Juli 2026 erfolgt. Findet sie nach dem 30. Juni 2026 statt, erfolgt die vor-

läufige Anwendung ab dem 1. Januar des Folgejahres.

Nach Artikel 7

b

Absatz 1 RVOG kann der Bundesrat bei völkerrechtlichen Verträgen,

für deren Genehmigung die Bundesversammlung zuständig ist, die vorläufige Anwen-

dung beschliessen oder vereinbaren, wenn die Wahrung wichtiger Interessen der

Schweiz und eine besondere Dringlichkeit es gebieten. Artikel 152 Absatz 3

bis

Buch-

stabe a ParlG verlangt, dass der Bundesrat die zuständigen Kommissionen konsultiert,

bevor er einen völkerrechtlichen Vertrag vorläufig anwendet, dessen Abschluss durch

die Bundesversammlung genehmigt werden muss. Nach Artikel 7

b

Absatz 1

bis

RVOG

und Artikel 152 Absatz 3

ter

ParlG verzichtet der Bundesrat auf die vorläufige Anwen-

dung eines völkerrechtlichen Vertrags, wenn sich die zuständigen Kommissionen bei-

der Räte dagegen aussprechen.

Die Voraussetzungen der Wahrung wichtiger Interessen der Schweiz sowie der be-

sonderen Dringlichkeit sind aus Sicht des Bundesrates aus folgenden Gründen erfüllt:

Die Unterzeichnung und die vorläufige Anwendung des Abkommens erlauben der

Schweiz, an der Arbeit der EUSPA teilzunehmen und dadurch die langfristige Zusam-

menarbeit zwischen der Schweiz, der EU und den EU-Mitgliedstaaten im Bereich der

Satellitennavigation zu fördern, zu erleichtern und zu vertiefen. Die Schweiz wird

insbesondere ermächtigt werden, Einsitz im Verwaltungsrat der Agentur zu nehmen,

in diesem Gremium ohne Stimmrecht mitzuwirken und dadurch relevante Informati-

onen über die Arbeit der EUSPA zu erhalten. Die beiden GNSS-Programme Galileo

und EGNOS stehen vor wichtigen Entwicklungsschritten (beispielsweise die Einfüh-

rung von Authentifizierungsdiensten und die Inbetriebnahme von PRS). Viele dieser

Richtungsentscheide werden von der EUSPA massgeblich mitbestimmt. Je rascher

die Schweiz an der EUSPA beteiligt ist, desto vorteilhafter ist dies für die Schweizer

Interessen im GNSS-Bereich.

Die Schweiz ist zudem an einem baldigen Zugang zum PRS und den damit verbun-

denen sicherheitsrelevanten Signalen interessiert. Der Bundesrat betrachtet diesen als

ein wichtiges Element der Teilnahme an den europäischen GNSS-Programmen. PRS

ist vollständig verschlüsselt. Dies gewährleistet die Kontinuität, Widerstandsfähigkeit

548 / 931

und Robustheit des Dienstes auch dann, wenn der Satellitenzugang beeinträchtigt ist,

beispielsweise durch böswillige Störungen. Mit diesem System kann die Schweiz

schnell und zuverlässig auf Notfälle reagieren. PRS wird in den nächsten Monaten in

Betrieb genommen und anschliessend schrittweise zu einem vollen Dienst ausgebaut

werden. Ab Inbetriebnahme wird PRS im Bereich Sicherheit und Verteidigung in Eu-

ropa eine herausragende Rolle spielen und die Unabhängigkeit Europas von US-

amerikanischen, russischen und chinesischen Satellitennavigationssystemen weiter

vergrössern. In einer von geopolitischer Instabilität und globalen Krisen geprägten

Welt ist der möglichst rasche Zugang zum PRS für die Schweiz von strategischer

Notwendigkeit.

Die Teilnahme an der EUSPA ist eine Vorgabe der EU für die Aufnahme von Ver-

handlungen

über

einen

Zugang

zum

PRS,

welcher

das

GNSS-

Kooperationsabkommen komplettiert. Während der EUSPA-Verhandlungen wurde

seitens EU-Kommission darauf hingewiesen, dass die Unterzeichnung und die vor-

läufige Anwendung des EUSPA-Abkommens ausreichend sind, um mit den Gesprä-

chen zu PRS beginnen zu können.

Der Bundesrat kann beschliessen, der EU mit der Unterzeichnung des Abkommens

sein Einverständnis zu notifizieren, das Abkommen vor dessen Genehmigung durch

die Bundesversammlung gemäss Artikel 15 Absatz 3 des EUSPA-Abkommens ab

dem 1. Januar 2026 vorläufig anzuwenden. Die zuständigen Kommissionen des Nati-

onalrats und des Ständerats werden gemäss Artikel 152 Absatz 3

bis

ParlG zur vorläu-

figen Anwendung des Abkommens konsultiert.

Nach Artikel 7

b

Absatz 2 RVOG endet die vorläufige Anwendung, wenn der Bundes-

rat nicht binnen sechs Monaten ab Beginn der vorläufigen Anwendung der Bundes-

versammlung den Entwurf des Bundesbeschlusses über die Genehmigung des Ab-

kommens unterbreitet.

2.9.9.6

Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass

Es ist keine Umsetzungsgesetzgebung vorgesehen.

2.9.9.7

Datenschutz

Aufgrund des EUSPA-Abkommens ergibt sich kein gesetzgeberischer Handlungsbe-

darf im Zusammenhang mit dem Datenschutz. Artikel 5 Absatz 1 des EUSPA-

Abkommens verweist für den Schutz von Personendaten auf die Einhaltung des

Schweizer Datenschutzrechts.

549 / 931

2.10

Schweizer Beitrag

2.10.1

Zusammenfassung

Mit dem Schweizer Beitrag investiert die Schweiz seit 2007 in die Stabilität und den

Zusammenhalt in Europa. Beides sind wesentliche Voraussetzungen für einen gut

funktionierenden EU-Binnenmarkt, an dem die Schweiz sektoriell teilnimmt. Die

Verstetigung des Schweizer Beitrags ist ein wichtiges Element des Pakets zur Stabi-

lisierung und Weiterführung des bilateralen Wegs. Die EU fordert einen solchen Bei-

trag grundsätzlich von jenen Staaten, die am Binnenmarkt teilnehmen. Entsprechend

leisten auch Länder wie Island, Liechtenstein und Norwegen, die dem Europäischen

Wirtschaftraum (EWR) angehören, seit 1994 einen regelmässigen Beitrag in der Höhe

von derzeit rund 440 Millionen Franken pro Jahr, wovon der Grossteil (430 Mio.

CHF) auf Norwegen entfällt.

513

Das Abkommen mit der EU über den regelmässigen finanziellen Beitrag der Schweiz

zur Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in der EU (Bei-

tragsabkommen) gehört zum Stabilisierungsteil des Pakets Schweiz–EU. Es schafft

einen klaren, vorhersehbaren Rahmen für den Schweizer Beitrag an die Kohäsion und

die Bewältigung wichtiger gemeinsamer Herausforderungen, wie aktuell die Migra-

tion. Zudem erhöht sich damit die Rechtssicherheit und finanzielle Planbarkeit für die

Schweiz. Ebenfalls Teil der Vorlage ist der Entwurf eines Umsetzungsgesetzes zum

Beitragsabkommen, dem Bundesgesetz über die Beiträge der Schweiz zur Stärkung

der Kohäsion in Europa (Kohäsionsbeitragsgesetz). Dieses ist als neue innerstaatliche

Rechtsgrundlage für die Umsetzung des Beitragsabkommens notwendig. Das Bun-

desgesetz vom 30. September 2016

514

über die Zusammenarbeit mit den Staaten Ost-

europas, die gesetzliche Grundlage für die bisherigen Schweizer Beiträge, war nur bis

am 31. Dezember 2024 gültig. Da mit dem Beitragsabkommen ein rechtsverbindli-

cher Mechanismus für einen regelmässigen Schweizer Beitrag geschaffen wird, soll

auch das Kohäsionsbeitragsgesetz unbefristet gültig sein.

Die jeweiligen Schweizer Beiträge werden allerdings weiterhin befristet sein. Wie

bisher werden die Mittel nicht ins EU-Budget fliessen, sondern direkt den Partner-

staaten zugutekommen. Die Höhe der Beiträge sowie weitere Elemente für deren Um-

setzung werden für jede Beitragsperiode gemäss den Bestimmungen des Beitragsab-

kommens jeweils in einem rechtlich unverbindlichen

Memorandum of Understanding

(MoU) neu festgelegt. Einzig für den ersten Beitrag für die Beitragsperiode 2030–

2036 enthält das Beitragsabkommen bereits gewisse Elemente, darunter die Höhe des

Beitrags von 350 Millionen Franken pro Jahr (308 Mio. CHF Kohäsion und 42 Mio.

CHF Migration). Umgesetzt und ausbezahlt wird der erste Beitrag im Zeitraum 2030–

2039. Teil dieser Vorlage sind daher auch die beiden Verpflichtungskredite Kohäsion

und Migration, die zusammen mit dem im Betrag enthaltenen Eigenaufwand der Bun-

desverwaltung von 5 % und dem

Swiss Expertise and Partnership Fund

(SEPF) von

2 % den ersten Schweizer Beitrag 2030–2036 gemäss dem neuen Mechanismus bil-

den.

513

Finanzierungsmechanismen des EWR und Norwegens 2021–2028: www.eeagrants.org.

514

SR

974.1

550 / 931

Im Rahmen des Paketansatzes hat sich die Schweiz zudem zu einer einmaligen zu-

sätzlichen finanziellen Leistung verpflichtet, die den Umfang der Partnerschaft mit

der EU und die Zusammenarbeit im Zeitraum zwischen dem materiellen Abschluss

der Verhandlungen Ende 2024 und dem Inkrafttreten des neuen rechtsverbindlichen

Mechanismus widerspiegeln soll. Dieser Zeitraum ist aufgeteilt in eine Phase vor und

eine Phase nach dem Inkrafttreten des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU.

Die einmalige finanzielle Verpflichtung beläuft sich auf jährlich 130 Millionen Fran-

ken ab Ende 2024 bis zum Inkrafttreten des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–

EU. Für die Phase zwischen dem Inkrafttreten des Stabilisierungsteils des Pakets

Schweiz–EU und dem Start des ersten Schweizer Beitrags im Jahr 2030 beläuft sie

sich auf jährlich 350 Millionen Franken. Die einmalige zusätzliche finanzielle Ver-

pflichtung wird ausschliesslich im Bereich Kohäsion über einen Zeitraum von zehn

Jahren ab dem Beginn der Beitragsperiode 2030 umgesetzt. Teil der Vorlage ist daher

auch ein Verpflichtungskredit für eine einmalige zusätzliche finanzielle Verpflich-

tung. Dabei wird von einem frühestmöglichen Inkrafttreten des Stabilisierungsteils

des Pakets Schweiz–EU per 1. Januar 2028 ausgegangen. Bei einem späteren Inkraft-

treten würde der Verpflichtungskredit entsprechend nicht ausgeschöpft.

Die Höhe des Schweizer Beitrags in künftigen Beitragsperioden nach 2036 wird zwi-

schen der Schweiz und der EU gestützt auf den im Beitragsabkommen vorgesehenen

Mechanismus bestimmt, was beiden Parteien die notwendige Planungssicherheit ge-

währt. Der Bundesrat wird dem Parlament jeweils zu gegebener Zeit entsprechende

Verpflichtungskredite für die Beitragsperioden nach 2036 zur Genehmigung unter-

breiten.

Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt. Er beantragt

im Rahmen des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU die Genehmigung des

Beitragsabkommens und der dazugehörenden Umsetzungsgesetzgebung.

2.10.2

Ausgangslage

Der Schweizer Beitrag ist seit vielen Jahren Teil des bilateralen Wegs. Die Schweiz

beteiligt sich mit dem Erweiterungs- beziehungsweise Kohäsionsbeitrag seit 2007 und

dem zweiten Schweizer Beitrag seit 2019 an der Verringerung der wirtschaftlichen

und sozialen Ungleichheiten in der EU. Partnerstaaten des Erweiterungsbeitrags in

der Höhe von einer Milliarde Franken waren ursprünglich die 2004 beigetretenen zehn

EU-Mitgliedstaaten Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien,

Tschechische Republik, Ungarn und Zypern (EU-10). Der Erweiterungsbeitrag wurde

nach ihrem EU-Beitritt 2009 auf Bulgarien und Rumänien (257 Mio. CHF) und 2014

auf Kroatien (45 Mio. CHF) ausgeweitet. Der zweite Schweizer Beitrag ab 2019 ist

mit insgesamt 1,302 Milliarden Franken gleich hoch wie der Erweiterungsbeitrag.

Partnerstaaten im Bereich Kohäsion sind dieselben 13 Länder. Dazu kam ein Fokus

auf die Bewältigung von Migrationsbewegungen in jenen EU-Mitgliedstaaten, die ei-

nem besonderem Migrationsdruck ausgesetzt sind, wie beispielsweise Italien und

Griechenland.

Die Kohäsionspolitik ist ein zentraler Politikbereich der EU. Sie umfasst verschiedene

Instrumente, darunter den EU-Kohäsionsfonds, und macht im langfristigen EU-

Budget – dem mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) – für die Jahre 2021–2027 mit

551 / 931

392 Milliarden Euro fast einen Drittel aus.

515

Aus Sicht der EU sind die Anstrengun-

gen zur Förderung der Kohäsion zwischen den Mitgliedstaaten und ihren Regionen

das Gegenstück zur Schaffung eines Binnenmarktes. Dementsprechend fordert die EU

eine Beteiligung an der Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichhei-

ten auch von jenen Ländern, die aufgrund ihrer Abkommen mit der EU am Binnen-

markt teilnehmen. Daher leisten auch Norwegen, Island und Liechtenstein entspre-

chende Beiträge (derzeit rund 440 Mio. CHF pro Jahr) im Rahmen ihrer Beteiligung

am EWR, nicht aber jene Länder, die wie das Vereinigte Königreich nicht am Bin-

nenmarkt teilnehmen und deren Beziehungen zur EU beispielsweise auf einem Frei-

handelsansatz beruhen.

Die Schweiz leistet die Beiträge bisher autonom. Sie stärkt damit ihre bilateralen Be-

ziehungen zu den Partnerstaaten und fördert die Kohäsion, die ein wesentliches Ele-

ment für Stabilität und Sicherheit in Europa ist. Die Beiträge werden grundsätzlich

direkt mit den Partnerstaaten umgesetzt. Dabei kann die Schweiz eigene thematische

Schwerpunkte einbringen und Schweizer Projektpartner einbeziehen, die zur Qualität

der unterstützten Programme beitragen und die bilateralen Beziehungen stärken. Dies

fördert die wirtschaftliche Vernetzung zwischen der Schweiz und den Partnerstaaten.

Mit Blick auf die exploratorischen Gespräche mit der EU hatte der Bundesrat am

23. Februar 2022 seine Bereitschaft erklärt, im Rahmen des Paketansatzes eine Ver-

stetigung des Schweizer Beitrags zu prüfen. Gestützt auf die exploratorischen Gesprä-

che haben sich die Europäische Kommission und die Schweiz im

Common Under-

standing

vom 27. Oktober 2023 darauf verständigt, dass die Grundlage für einen

regelmässigen, gemeinsam vereinbarten und fairen finanziellen Beitrag der Schweiz

zur Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten geschaffen wer-

den soll. Dabei soll auch auf wichtige gemeinsame Herausforderungen reagiert wer-

den. Der neue rechtsverbindliche Mechanismus soll für den nächsten MFR der EU

bereit sein. Zudem soll eine einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung für den

Zeitraum zwischen Ende 2024 und dem Inkrafttreten des rechtsverbindlichen Mecha-

nismus das Niveau der Partnerschaft und der Zusammenarbeit zwischen der Schweiz

und der EU in diesem Zeitraum angemessen widerspiegeln.

516

2.10.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

Das Schweizer Mandat für die Verhandlungen mit der EU vom 8. März 2024 hält fest,

dass ein rechtsverbindlicher Mechanismus für einen regelmässigen Kohäsionsbeitrag

an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten festgelegt werden soll. Dabei können andere

wichtige gemeinsame Herausforderungen, zum Beispiel im Bereich der Migration,

berücksichtigt werden. Im Rahmen dieses Mechanismus sollen auch die Modalitäten

des nächsten Beitrags vereinbart werden, sowie jene der einmaligen zusätzlichen fi-

nanziellen Verpflichtung, welche den Umfang der Partnerschaft und der Zusammen-

arbeit im Zeitraum zwischen Ende 2024 und dem Inkrafttreten des rechtsverbindli-

chen Mechanismus widerspiegeln soll. Schliesslich sollen der neue Mechanismus

sowie die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung im Kontext des Pakets

515

Siehe www.ec.europa.eu/regional_policy/policy/what/investment-policy.

516

Siehe

Common Understanding

, Ziff. 18.

552 / 931

Schweiz–EU umgesetzt werden. Die Verhandlungen in der Verhandlungsgruppe

«Schweizer Beitrag» wurden am 21. März 2024 aufgenommen. Die Delegationen

führten 19 offizielle Verhandlungsrunden sowie mehrere Sitzungen auf technischer

Ebene durch. Offene Fragen wurden insbesondere in der Schlussphase auf Stufe der

Chefunterhändler geklärt.

Da die bisherige rechtliche Grundlage für den Schweizer Beitrag, das Bundesgesetz

über die Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas bis zum 31. Dezember 2024

befristet war, hat der Bundesrat bereits am 21. Juni 2023 anlässlich der Verabschie-

dung der Eckwerte für das Verhandlungsmandat mit der EU den Auftrag erteilt, mit

der Ausarbeitung der Kernelemente einer neuen gesetzlichen Grundlage für einen re-

gelmässigen Schweizer Beitrag an die EU zu beginnen. Anlässlich der Genehmigung

des Entwurfs des Verhandlungsmandats mit der EU am 15. Dezember 2023 hat der

Bundesrat beschlossen, die neue gesetzliche Grundlage zur Umsetzung des Beitrags-

abkommens parallel zu den Verhandlungen mit der EU vorzubereiten.

2.10.4

Vorverfahren

Anlässlich des Entscheids vom 26. Mai 2021, den Entwurf für ein institutionelles

Rahmenabkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen, hat der Bundesrat beschlossen,

sich für eine rasche Deblockierung der Verpflichtungskredite des zweiten Schweizer

Beitrags an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten einzusetzen. Dieser Beitrag wurde 2019

vom Parlament zwar genehmigt, dies aber unter der Bedingung, dass keine Verpflich-

tungen eingegangen werden, solange diskriminierende Massnahmen der EU gegen die

Schweiz in Kraft sind. Diese Bedingung hatte die Umsetzung des Beitrags zuvor ver-

hindert.

Die rasche Freigabe des zweiten Schweizer Beitrags war Teil der europapolitischen

Agenda des Bundesrates mit Blick auf die Fortführung des bilateralen Wegs. Sie hatte

zum Ziel, der Dynamik in den Beziehungen zur EU einen neuen Impuls zu geben.

Gestützt auf die am 11. August 2021 überwiesene Botschaft

517

hat das Parlament der

Freigabe der Verpflichtungskredite am 30. September 2021 zugestimmt

.518

Bereits vor dem Entscheid des Bundesrates vom 26. Mai 2021 hatte ein Gutachten des

Lehrstuhls für Verhandlungsführung und Konfliktmanagement der ETH Zürich fest-

gehalten, dass mit Blick auf eine Normalisierung der Zusammenarbeit mit der EU eine

Erhöhung des finanziellen Beitrags der Schweiz ins Auge gefasst werden sollte. Das

Gutachten schlug für den Fall einer Beendigung der Verhandlungen zu einem institu-

tionellen Rahmenabkommen einen jährlichen Beitrag als Teil eines «Interimsabkom-

mens» vor. Dieser Beitrag sollte sich gemäss Gutachten an Zahlungen vergleichbarer

EU/EWR-Länder orientieren und in der Grössenordnung von einer Drittel Milliarde

Franken pro Jahr liegen

.519

517

BBl

2021

1921

518

BBl

2021

2517

519

Alternativen im Verhandlungsprozess: Gutachten von Prof. Dr. M. Ambühl und Dr. D.

Scherer (ETH Zürich). Siehe www.eda.admin.ch/europa/de/home.html > Bilateraler Weg

> Überblick > Institutionelles Abkommen (bis 2021) > Informationen und Dokumente

zum Institutionellen Abkommen

553 / 931

Das Parlament befasste sich zudem insbesondere im Rahmen der Behandlung der Mo-

tion 22.3012 der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates (APK-N) «Dring-

liche Massnahmen zugunsten des Schweizer Forschungs-, Bildungs- und Innovations-

standorts» vom 1. Februar 2022 mit der Frage einer einmaligen, sofortigen Erhöhung

des laufenden zweiten Schweizer Beitrags im Fall einer umgehenden Assoziierung

unter anderem an

Horizon Europe

und Erasmus+ für die Programmperiode 2021–

2027. Während der Nationalrat der Motion im Juni 2022 zustimmte, lehnte der Stän-

derat sie im März 2023 gemäss dem Antrag des Bundesrates ab, da das darin vorge-

schlagene Vorgehen nicht zuletzt vor dem Hintergrund der in der Zwischenzeit inten-

sivierten exploratorischen Gespräche mit der EU (s. Ziff. 1.3.1) nicht als zielführend

angesehen wurde.

2.10.5

Grundzüge des Abkommens

2.10.5.1

Rahmen für den regelmässigen Schweizer Beitrag

Als Teil des Pakets Schweiz–EU schafft das Beitragsabkommen einen rechtsverbind-

lichen Mechanismus für einen regelmässigen Schweizer Beitrag an ausgewählte EU-

Mitgliedstaaten. Hauptpfeiler des Schweizer Beitrags bleibt die Stärkung der Kohä-

sion innerhalb der EU. Künftig sollen mindestens 90 % der Mittel des Schweizer Bei-

trags in diesem Bereich eingesetzt werden. Wie von der Schweiz angestrebt, kann im

Rahmen des Schweizer Beitrags aber wie bisher auf andere wichtige gemeinsame

Herausforderungen – wie aktuell im Bereich Migration – reagiert werden. Hierfür ist

ein Anteil von maximal 10 % des jeweiligen Beitrags vorgesehen – die Schweiz und

die EU entscheiden jeweils gemeinsam, ob dafür ein Bedarf besteht. Dies erlaubt eine

flexible Reaktion auf zukünftige Entwicklungen.

Das Beitragsabkommen legt den Rhythmus des Schweizer Beitrags in sogenannten

Beitragsperioden fest. Die Beitragsperioden beginnen jeweils zwei Jahre nach dem

Start des MFR der EU und dauern gleich lang, das heisst aktuell sieben Jahre. Dank

diesem zeitversetzten Start kann die Schweiz zusammen mit den Partnerstaaten ge-

zielt Bereiche für die Zusammenarbeit identifizieren, für die keine oder unzureichende

EU-Mittel zur Verfügung stehen. So kann die Schweiz mit ihrer Expertise einen sub-

stanziellen Mehrwert für die Partnerstaaten und deren Bevölkerung schaffen. Die Um-

setzungsperiode ist der Zeitraum, in dem die Unterstützungsmassnahmen umgesetzt

und die entsprechenden Gelder ausbezahlt werden. Sie ist länger als die Beitragsperi-

ode und beträgt mindestens zehn Jahre.

Mit den bisherigen Beiträgen hat die Schweiz im Bereich Kohäsion jene EU-

Mitgliedstaaten unterstützt, welche der EU nach dem 1. Mai 2004 beigetreten sind.

Neu erfolgt die Auswahl der Partnerstaaten im Bereich Kohäsion anhand ihrer wirt-

schaftlichen Entwicklung: Partnerstaaten im Bereich Kohäsion sind künftig jene EU-

Mitgliedstaaten, deren Bruttonationaleinkommen (BNE) pro Kopf kaufkraftbereinigt

weniger als 90 % des EU-Durchschnitts beträgt. Das bedeutet, dass der Schweizer

Beitrag im Bereich Kohäsion bedarfsgerecht in den wirtschaftlich schwächeren EU-

Mitgliedstaaten eingesetzt wird. Die Partnerstaaten des Schweizer Beitrags werden

jeweils für eine Beitragsperiode bestimmt.

554 / 931

Die einzelnen Elemente für die Umsetzung des Beitrags werden für jede Beitragspe-

riode gemäss den Bestimmungen des Beitragsabkommens neu festgelegt. Dies ge-

schieht wie bei den bisherigen Schweizer Beiträgen auf zwei Ebenen: erstens in einem

rechtlich unverbindlichen MoU mit der EU und zweitens in länderspezifischen, recht-

lich verbindlichen Umsetzungsabkommen mit den Partnerstaaten des Beitrags. Das

MoU enthält insbesondere die Höhe des jeweiligen Beitrags, die Aufteilung der Mittel

auf die Partnerstaaten, die thematische Ausrichtung im Bereich Kohäsion und gege-

benenfalls die Modalitäten eines Beitrags zur Bewältigung von anderen wichtigen ge-

meinsamen Herausforderungen. In den länderspezifischen Umsetzungsabkommen

mit den Partnerstaaten werden insbesondere die thematische Verteilung der Gelder,

die vorgesehenen Unterstützungsmassnahmen und Vorgaben zur Beachtung der ge-

meinsamen Werte und Umsetzungsprinzipien festgelegt. Die Schweiz und die EU be-

ginnen jeweils drei Jahre vor Ende der laufenden Beitragsperiode Gespräche über das

MoU für die nächste Beitragsperiode und schliessen diese spätestens innerhalb von

zwei Jahren ab. Die Umsetzungsabkommen mit den Partnerstaaten im Bereich Kohä-

sion müssen spätestens zwei Jahre nach Beginn der Beitragsperiode abgeschlossen

sein. Im Bereich andere wichtige gemeinsame Herausforderungen müssen die Umset-

zungsabkommen spätestens fünf Jahre nach Beginn der Beitragsperiode abgeschlos-

sen sein. Dies erlaubt eine grössere Flexibilität bei der Reaktion auf andere wichtige

gemeinsame Herausforderungen. Damit bleibt beispielsweise eine Umsetzung in zwei

Phasen, wie beim zweiten Schweizer Beitrag im Bereich Migration, weiterhin mög-

lich.

Wie im Schweizer Verhandlungsmandat vorgesehen, enthält Anhang II des Beitrags-

abkommens bereits die wesentlichen Modalitäten für den ersten Schweizer Beitrag

2030–2036 (s. Ziff. 2.10.5.5). Daher weicht das Vorgehen für die erste Beitragsperi-

ode 2030–2036 leicht vom oben geschilderten langfristigen Mechanismus ab.

2.10.5.2

Umsetzungsbestimmungen

Das Beitragsabkommen legt Grundsätze für die Umsetzung und Mittelverwaltung des

Schweizer Beitrags fest. Die Gesamtverwaltung des Beitrags obliegt der Schweiz. Da-

her ist im Beitragsabkommen festgelegt, dass auch der Schweizer Verwaltungsauf-

wand (Eigenaufwand) Teil des Gesamtbeitrags des jeweiligen Beitrags ist und damit

in der Schweiz nicht zu zusätzlichen Kosten führt.

Die Schweiz verfolgt bei der Umsetzung ihres Beitrags einen partnerschaftlichen An-

satz. Die Unterstützungsmassnahmen werden in der Regel von den Partnerstaaten mit-

finanziert. Die Durchführung der Unterstützungsmassnahmen liegt mit wenigen Aus-

nahmen in der Verantwortung der Partnerstaaten, die eine ordnungsgemässe

Umsetzung sicherstellen müssen. Dafür stellen sie angemessene Verwaltungs- und

Kontrollsysteme zur Verfügung. Die Schweiz begleitet die Umsetzung eng und kann

diese gemäss ihren eigenen Vorschriften kontrollieren. Wenn Unterstützungsmass-

nahmen direkt von der Schweiz durchgeführt werden, sorgt die Schweiz selber für

angemessene Verwaltungs- und Kontrollsysteme.

Das Beitragsabkommen hält fest, dass der Schweizer Beitrag im Einklang mit den

gemeinsamen Werten hinsichtlich der Achtung der Menschenrechte, der Demokratie,

der Rechtsstaatlichkeit, der Menschenwürde und der Gleichberechtigung umgesetzt

555 / 931

wird. Zusätzlich wurden im Beitragsabkommen weitere Umsetzungsprinzipien wie

die gute Regierungsführung, Transparenz, Nichtdiskriminierung, Effizienz und Re-

chenschaftspflicht verankert. Die Schweiz und die Partnerstaaten sind bestrebt, jegli-

che Form von Korruption bei der Umsetzung des Schweizer Beitrags wirksam zu be-

kämpfen. Bei Anhaltspunkten für eine Verletzung der gemeinsamen Werte und

Umsetzungsprinzipien kann die Schweiz eine Untersuchung durchführen. Im Rahmen

dieser Untersuchung kann sich auch der Partnerstaat zum Sachverhalt äussern. Im An-

schluss kann die Schweiz geeignete, verhältnismässige und wirksame Massnahmen

ergreifen. Das bedeutet: In gravierenden Fällen kann dies eine Suspendierung oder

Beendigung der betroffenen Unterstützungsmassnahmen zur Folge haben.

2.10.5.3

Höhe des Schweizer Beitrags für zukünftige

Beitragsperioden

Mit dem Beitragsabkommen wird der Schweizer Beitrag verstetigt. Die Schweiz ver-

pflichtet sich, in Zukunft regelmässig einen finanziellen Beitrag an ausgewählte EU-

Mitgliedstaaten zu leisten. Das Beitragsabkommen legt in Anhang I fest, wie die Höhe

des Schweizer Beitrags für zukünftige Beitragsperioden bestimmt wird. Dies bringt

Planungssicherheit und liegt damit auch im Interesse der Schweiz. Ausgangspunkt ist

dabei die Höhe des Beitrags der vorherigen Beitragsperiode. Um die Kaufkraft über

die Zeit zu erhalten, wird der Schweizer Beitrag zudem an die Inflation angepasst.

Schliesslich kann der künftige Beitrag aufgrund politischer Überlegungen – zum Bei-

spiel aufgrund der zwischenzeitlichen Entwicklung der Beziehungen zwischen der

Schweiz und der EU – um bis zu 10 % erhöht oder reduziert werden.

Im Falle einer Erweiterung der EU wird der Schweizer Beitrag künftig verhältnismäs-

sig angepasst, sofern ein neuer EU-Mitgliedstaat die Kriterien eines Partnerstaats im

Bereich Kohäsion erfüllt. Bei einem Austritt eines solchen Partnerstaats aus der EU

wird die Höhe des Beitrags ebenfalls verhältnismässig angepasst. Die Höhe der An-

passung wird durch die Vertragsparteien definiert, das heisst ihr genauer Umfang ist

Gegenstand von Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU und wird in ge-

eigneter Weise festgehalten werden. Dies erlaubt es unter anderem, die Auswirkungen

einer EU-Erweiterung auf die Gesamtbeziehungen Schweiz–EU zu berücksichtigen.

2.10.5.4

Streitbeilegung

Das Beitragsabkommen sieht ein Streitbeilegungsverfahren für den Fall vor, dass es

zu Schwierigkeiten über die Auslegung oder Anwendung des Beitragsabkommens

kommen sollte. Die Streitbeilegung beruht auf einem Schiedsgerichtsmodell und sieht

keine Rolle für den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) vor. Zunächst müs-

sen die Parteien versuchen, einen Streitfall einvernehmlich im Gemischten Ausschuss

beizulegen. Wenn dieser innert einer Frist von drei Monaten nach seiner Befassung

keine einvernehmliche Lösung findet, kann jede Partei ein Schiedsverfahren einleiten.

Das Schiedsgericht beurteilt, ob eine Partei das Beitragsabkommen verletzt hat. Streit-

fälle über die Umsetzung der länderspezifischen Abkommen sind vom Schiedsver-

fahren ausgenommen – sie werden gemäss den in den Umsetzungsabkommen vorzu-

sehenden Verfahren beigelegt.

556 / 931

Der gefällte Schiedsspruch ist für die Parteien verbindlich. Sofern eine Partei den

Schiedsspruch nicht umsetzt, kann die andere Partei verhältnismässige Ausgleichs-

massnahmen in den Abkommen des Pakets Schweiz–EU ergreifen. Dazu gehören ne-

ben dem Beitragsabkommen die Binnenmarktabkommen sowie das EUPA, das

EUSPA-Abkommen und das Gesundheitsabkommen. Die Verhältnismässigkeit der

Ausgleichsmassnahmen kann ebenfalls durch das Schiedsgericht geprüft werden. Wie

in den Binnenmarktabkommen kann das Schiedsgericht unter gewissen Vorausset-

zungen die aufschiebende Wirkung gewähren, sodass die Ausgleichsmassnahmen

während der Beurteilung ihrer Verhältnismässigkeit noch nicht in Kraft treten.

2.10.5.5

Erster Schweizer Beitrag unter dem Beitragsabkommen

Gemäss dem Schweizer Verhandlungsmandat wurden die Modalitäten des ersten

Schweizer Beitrags in Anhang II des Beitragsabkommens festgelegt. Dieser erste

Schweizer Beitrag beläuft sich auf 350 Millionen Franken pro Jahr für die sieben

Jahre von 2030–2036 (308 Mio. CHF Kohäsion und 42 Mio. CHF Migration). Die

EU hatte in den Verhandlungen ursprünglich einen Beitrag in der Höhe von über

520 Millionen Franken pro Jahr gefordert. Sie nahm dafür Bezug auf die EU-

Kohäsionsgelder, welche im aktuellen MFR der EU 56 Milliarden Euro pro Jahr be-

tragen, sowie auf die Grösse der Schweizer Volkswirtschaft. Für die Schweiz war es

demgegenüber zentral, dass die Höhe des Schweizer Beitrags in einem angemessenen

Verhältnis zu den Beiträgen der EWR/EFTA-Staaten wie insbesondere Norwegen so-

wie zur Höhe des aktuellen Schweizer Beitrags steht.

Mit 350 Millionen Franken pro Jahr liegt die Höhe des Schweizer Beitrags deutlich

unter dem aktuellen Beitrag Norwegens im Rahmen der Finanzierungsmechanismen

des EWR und Norwegens.

520

Für die Periode 2021–2028 leistet Norwegen in diesem

Rahmen einen Beitrag in der Höhe von umgerechnet rund 430 Millionen Franken pro

Jahr. Hinzu kommt, dass für die Periode ab 2029 allein aufgrund der Inflation ein

Anstieg auf mehr als 490 Millionen Franken pro Jahr zu erwarten ist. Norwegen ist

mit 5,5 Millionen Einwohnern bevölkerungsmässig zudem deutlich kleiner als die

Schweiz. Pro Kopf liegt die Höhe des Schweizer Beitrags folglich klar unter jenem

Norwegens. Gründe hierfür sind, dass die Schweiz mit dem sektoriellen bilateralen

Weg über eine deutlich weniger umfangreiche Binnenmarktteilnahme verfügt als Nor-

wegen im Rahmen des EWR. Zudem erbringt die Schweiz aufgrund ihrer geografi-

schen Lage wesentliche Zentrumsleistungen für die Infrastruktur in Europa.

Die erste Beitragsperiode beginnt 2030, um die gewünschte zeitliche Verschiebung

zum MFR der EU 2028–2034 zu erreichen (s. Ziff. 2.10.5.1). Bei einem Inkrafttreten

des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU vor 2030 steht damit genügend Zeit

für die Vorbereitung der Umsetzung zur Verfügung. Die Umsetzungsperiode dauert

zehn Jahre von 2030–2039. Die genaueren Umsetzungsmodalitäten wie die Vertei-

lung der Mittel unter den Partnerstaaten im Bereich der Kohäsion wird die Schweiz

mit der EU in einem MoU innerhalb von einem Jahr nach Inkrafttreten des Stabilisie-

520

Siehe www.eeagrants.org.

557 / 931

rungsteils des Pakets Schweiz–EU festhalten. Die Partnerstaaten im Bereich der Ko-

häsion werden zu diesem Zeitpunkt gemäss dem im Beitragsabkommen festgelegten

Kriterium (weniger als 90 % des durchschnittlichen EU-BNE) identifiziert.

Da Migrationsbewegungen den europäischen Kontinent weiterhin vor grosse gemein-

same Herausforderungen stellen, wurde als Teil des ersten Schweizer Beitrags ein

Beitrag für die Zusammenarbeit im Bereich Migration in der Höhe von 42 Millionen

Franken pro Jahr vereinbart. Partnerstaaten im Bereich Migration sind wie bisher EU-

Mitgliedstaaten mit besonderem Migrationsdruck und/oder Staaten, in welchen ein

gemeinsames Interesse besteht, die Migrationsgouvernanz zu stärken.

2.10.5.6

Einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung

Im Rahmen der exploratorischen Gespräche forderte die EU zunächst einen nächsten

Schweizer Beitrag ab Ende 2024. Die Schweiz kann aber für die Periode ab 2025

keinen solchen Beitrag sprechen, da seit dem Auslaufen des Bundesgesetzes über die

Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas Ende 2024 keine gesetzliche Grundlage

für Beiträge im Bereich Kohäsion mehr existiert. Im

Common Understanding

verstän-

digten sich die Schweiz und die EU darauf, dass im Rahmen der Verhandlungen eine

einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung für die Übergangsperiode ab Ende

2024 bis zum Start des neuen Mechanismus vereinbart werden soll. Diese einmalige

zusätzliche finanzielle Verpflichtung soll den Umfang der Partnerschaft und der Zu-

sammenarbeit Schweiz–EU im Zeitraum ab Ende 2024 widerspiegeln. Die Schweiz

hat ihre Bereitschaft zu dieser einmaligen zusätzlichen finanziellen Verpflichtung in

ihrem Verhandlungsmandat bestätigt. Auch diese Mittel können erst verpflichtet wer-

den, wenn das Beitragsabkommens und das Kohäsionsbeitragsgesetz in Kraft getreten

sind.

Der Umfang der Partnerschaft und der Zusammenarbeit nach Abschluss der Verhand-

lungen wird in einer gemeinsamen Erklärung zwischen der Schweiz und der EU fest-

gehalten. Gemäss der Erklärung wird die Zusammenarbeit Schweiz–EU nach Ab-

schluss der Verhandlungen ausgebaut (s. Ziff. 1.3.4). Sie umfasst die Anwendung der

Übergangslösung bei den EU-Programmen, mit der insbesondere das Forschungspro-

gramm

Horizon Europe

ab dem 1. Januar 2025 für schweizerische Forschende geöff-

net wird, sowie die Weiterführung eines

Modus Vivendi

, namentlich in den Bereichen

Strom, Gesundheit, Landverkehr und Finanzregulierungsdialog, die im

Common Un-

derstanding

für den Zeitraum der Verhandlungen vorgesehen waren.

521

Darüber hin-

aus halten beide Seiten hinsichtlich der bestehenden Binnenmarktabkommen fest,

dass sie eng und in Treu und Glauben zusammenarbeiten wollen, um deren gutes

Funktionieren sicherzustellen. Schliesslich sieht die Erklärung vor, dass mit Blick auf

den Ratifikationsprozess beide Seiten dessen erfolgreichen Abschluss unterstützen

sollen – sprich sich aller Massnahmen enthalten, die diesen Prozess gefährden könn-

ten.

Die Modalitäten der einmaligen zusätzlichen finanziellen Verpflichtung sind in An-

hang III des Beitragsabkommens festgelegt. Die einmalige zusätzliche finanzielle

521

Siehe

Common Understanding

, Ziff. 20.

558 / 931

Verpflichtung ist aufgeteilt in eine Phase vor und eine Phase nach dem Inkrafttreten

des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU. Bis zum Inkrafttreten des Stabilisie-

rungsteils beläuft sie sich auf 130 Millionen Franken pro Jahr. Dies trägt der vorgese-

henen Vertiefung der Zusammenarbeit mit der EU ab Ende 2024, wie in der gemein-

samen Erklärung festgehalten, Rechnung. Die EU hatte für diesen Zeitraum einen

doppelt so hohen Betrag gefordert. Aus Schweizer Sicht war hingegen wichtig, dass

dieser Betrag vor Inkrafttreten nicht höher ausfällt als der zweite Schweizer Beitrag,

der sich ebenfalls auf durchschnittlich 130 Millionen Franken pro Jahr beläuft. Für

die Periode zwischen dem Inkrafttreten des Stabilisierungsteils und Ende 2029 wird

die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung 350 Millionen Franken pro Jahr

betragen. Dies berücksichtigt, dass ab diesem Zeitpunkt der Stabilisierungsteil des

Paket Schweiz–EU in Kraft sein wird, womit die Schweiz und die EU ihre Zusam-

menarbeit nochmals deutlich vertiefen. Ab 2030 startet anschliessend die Beitragspe-

riode des ersten Beitrags unter dem neuen Mechanismus.

Wie für den Schweizer Beitrag müssen auch für die einmalige zusätzliche finanzielle

Verpflichtung mit dem Beitragsabkommen und dem Kohäsionsbeitragsgesetz zuerst

die rechtlichen Grundlagen geschaffen werden. Eine Umsetzung der einmaligen zu-

sätzlichen finanziellen Verpflichtung bereits ab 2025 ist daher nicht möglich. Die ein-

malige zusätzliche finanzielle Verpflichtung wird entsprechend erst mit Inkrafttreten

des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU und über einen Zeitraum von zehn

Jahren von 2030–2039 umgesetzt. Die Mittel werden ausschliesslich im Bereich Ko-

häsion eingesetzt. Die genaueren Umsetzungsmodalitäten, wie zum Beispiel die Ver-

teilung der Mittel zwischen den Partnerstaaten, werden spätestens ein Jahr nach In-

krafttreten des Beitragsabkommens ebenfalls in einem MoU mit der EU festgehalten.

Zu diesem Zeitpunkt wird auch die genaue Höhe der einmaligen zusätzlichen finan-

ziellen Verpflichtung in Abhängigkeit des Zeitpunkts des Inkrafttretens des Stabili-

sierungsteils des Pakets Schweiz–EU im MoU festgehalten. Da die Umsetzung der

einmaligen zusätzlichen finanziellen Verpflichtung parallel zur Umsetzung des ersten

Beitrags unter dem Beitragsabkommen erfolgt, wird mit den Partnerstaaten im Be-

reich Kohäsion jeweils nur ein Umsetzungsabkommen zu beiden Elementen abge-

schlossen.

2.10.6

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Abkommens

Teil I – Allgemeine Bestimmungen

Art. 1

Ziele

Artikel 1 setzt das Ziel des Beitragsabkommens fest. Die Schweiz leistet im Kontext

des Pakets Schweiz–EU einen Beitrag zur Verringerung der wirtschaftlichen und so-

zialen Ungleichheiten in der EU. Damit sollen die Beziehungen der Schweiz zur EU

und ihren Mitgliedstaaten gestärkt und auf wichtige gemeinsame Herausforderungen

reagiert werden.

Art. 2

Gegenstand

559 / 931

Das Beitragsabkommen schafft die Grundlage für den regelmässigen Schweizer Bei-

trag. Der Schweizer Beitrag ergänzt die Massnahmen der EU und ihrer Mitgliedstaa-

ten im Bereich der Kohäsion und bei der Bewältigung wichtiger gemeinsamer Her-

ausforderungen.

Art. 3

Begriffsbestimmungen

Bst. a

Liste der Abkommen

Die Liste der Abkommen enthält die Binnenmarktabkommen, das EUPA, das

EUSPA-Abkommen und das Gesundheitsabkommen. Es handelt sich um jene Ab-

kommen im Paket Schweiz–EU, auf welche neben dem Beitragsabkommen insbeson-

dere in Artikel 17 (Ausgleichsmassnahmen) Bezug genommen wird.

Bst. b

Beitragsperiode

Das Beitragsabkommen sieht vor, dass jeder Schweizer Beitrag einem bestimmten

Zeitrahmen zugeordnet wird. Dieser Zeitrahmen wird als Beitragsperiode bezeichnet.

Bst. c

Umsetzungsperiode

Die Beitragsperiode ist von der Umsetzungsperiode zu unterscheiden. In diesem Zeit-

rahmen wird der jeweilige Schweizer Beitrag umgesetzt und werden die Mittel aus-

bezahlt. Jede Umsetzungsperiode beläuft sich auf mindestens zehn Jahre und dauert

somit länger als die Beitragsperiode des jeweiligen Schweizer Beitrags. Dies ent-

spricht der Länge der Umsetzungsperiode der bisherigen Schweizer Beiträge und soll

eine geordnete Durchführung der unterstützten Programme und Projekte ermöglichen.

Bst. d

Partnerstaat

Der Begriff «Partnerstaat» bezeichnet einen EU-Mitgliedstaat, der während einer be-

stimmten Beitragsperiode durch den Schweizer Beitrag unterstützt wird.

Bst. e

Partnerstaaten im Bereich Kohäsion

Partnerstaaten im Bereich Kohäsion bezeichnet jene EU-Mitgliedstaaten, welche ein

kaufkraftbereinigtes Pro-Kopf-BNE von weniger als 90 % des EU-Durchschnitts auf-

weisen. Dieses Kriterium sowie der relevante Bezugszeitraum entsprechen jenen, wel-

che die EU für die Festlegung der Mitgliedstaaten verwendet, die Mittel aus dem EU-

Kohäsionsfonds erhalten. Dadurch wird sichergestellt, dass die Schweiz im Bereich

Kohäsion nur wirtschaftlich schwächere EU-Mitgliedstaaten unterstützt.

Bst. f

Unterstützungsmassnahme

Im Beitragsabkommen wird Unterstützungsmassnahme als Oberbegriff für Pro-

gramme und Projekte verwendet, die mit der Unterstützung des jeweiligen Schweizer

Beitrags durchgeführt werden.

Art. 4

Rahmen für den regelmässigen finanziellen Beitrag der Schweiz

560 / 931

Art. 4 Abs. 1

Artikel 4 Absatz 1 enthält die zeitlichen Rahmenbedingungen für den regelmässigen

Schweizer Beitrag. Dieser wird in aufeinanderfolgende Beitragsperioden gegliedert.

Eine Beitragsperiode wird jeweils zwei Jahre nach dem MFR beginnen und dieselbe

Laufzeit wie der entsprechende MFR haben. Mit diesem gegenüber dem MFR zeit-

versetzten Start der Beitragsperioden können gezielt Bereiche identifiziert werden, für

die keine oder unzureichende EU-Mittel zur Verfügung stehen und/oder in welchen

die Schweiz über eine besondere Expertise verfügt. Zudem sind zu diesem Zeitpunkt

die Ressourcen der Partnerstaaten nicht mehr mit der Planung von Projekten und Pro-

grammen der EU-Kohäsionspolitik ausgelastet.

Art. 4 Abs. 2

Artikel 4 Absatz 2 regelt die erste von zwei Etappen des rechtsverbindlichen Mecha-

nismus für die regelmässigen Schweizer Beitrag. Sie umfasst den Abschluss eines

MoU zwischen der Schweiz und der EU für die jeweilige Beitragsperiode.

Buchstabe a hält fest, dass die Schweiz in jeder Beitragsperiode einen Beitrag leistet,

der gemäss Anhang I festgelegt wird. Anhang I enthält Elemente für die Ermittlung

der Beitragshöhe, die Zuteilung an die Partnerstaaten sowie die Aufteilung zwischen

den Bereichen Kohäsion und andere wichtige gemeinsame Herausforderungen (s. Er-

läuterungen zu Anhang I).

Buchstabe b hält fest, dass die Parteien für jede Beitragsperiode ein rechtlich unver-

bindliches MoU abschliessen. Damit ein rechtzeitiger Start der Beitragsperiode ge-

währleistet ist und der Schweiz genug Zeit verbleibt, um die länderspezifischen Ab-

kommen zur Umsetzung des Schweizer Beitrags mit den Partnerstaaten

(Umsetzungsabkommen) abzuschliessen (s. Erläuterungen zu Art. 5), nehmen die

Parteien 36 Monate vor Ende der laufenden Beitragsperiode Gespräche über das MoU

für die folgende Beitragsperiode auf. Das MoU soll spätestens zwölf Monate vor Be-

ginn der folgenden Beitragsperiode abgeschlossen sein.

Das MoU hat zum Ziel, das gemeinsame Verständnis der Parteien betreffend die unter

Buchstabe b Ziffern i–vi aufgelisteten Elemente für die jeweilige Beitragsperiode

festzuhalten. Diese Elemente sind:

Ziffer i: Die Höhe des Schweizer Beitrags, die sich aus den in Anhang I aufgeführten

Elementen ergibt.

Ziffer ii: Die Aufteilung der Beitragsmittel unter den Partnerstaaten im Bereich Ko-

häsion, die nach dem Verteilschlüssel in der Anlage 2 zum Anhang I erfolgt.

Ziffer iii: Die Themenbereiche für die Zusammenarbeit im Bereich Kohäsion. Diese

bilden die Richtschnur für die Auswahl der Unterstützungsmassnahmen durch die

Schweiz und die Partnerstaaten während der Verhandlungen über die länderspezifi-

schen Umsetzungsabkommen (s. Erläuterungen zu Art. 5).

561 / 931

Ziffer iv: Falls ein Beitrag zur Bewältigung anderer wichtiger gemeinsamer Heraus-

forderungen vorgesehen ist, werden die identifizierten gemeinsamen Herausforderun-

gen festgehalten. In diesem Fall soll das MoU zudem die Kriterien für die Auswahl

der Partnerstaaten und die Aufteilung der Mittel auf die Bereiche Kohäsion und der

identifizierten gemeinsamen Herausforderungen festhalten.

Ziffer v: Eine allgemeine Beschreibung des geplanten Inhalts der länderspezifischen

Umsetzungsabkommen.

Ziffer vi: Die genaue Dauer der Umsetzungsperiode des jeweiligen Beitrags. Diese

darf die im Beitragsabkommen festgelegte Mindestdauer von zehn Jahren nicht un-

terschreiten.

Buchstabe c: Sofern das MoU nicht spätestens zwölf Monate vor Beginn der folgen-

den Beitragsperiode abgeschlossen ist, besteht für jede Partei die Möglichkeit, ein

Streitbeilegungsverfahren einzuleiten (s. Erläuterungen zu Art. 16). Ruft eine Partei

das Schiedsgericht an, beurteilt dieses, ob die Parteien während der Gespräche über

das MoU nach Treu und Glauben gehandelt haben. Mit dieser Regelung wird klarge-

stellt, dass das Verpassen dieser Frist für den Abschluss des MoU nicht zwingend eine

Verletzung des Beitragsabkommens durch eine Partei darstellt. Die Parteien sind aber

verpflichtet, das ihnen Zumutbare zu unternehmen, um den fristgerechten Abschluss

des MoU zu erreichen. Ein Verhalten wider Treu und Glauben würde hingegen eine

Verletzung des Beitragsabkommens darstellen. Ein solches Verhalten läge beispiels-

weise dann vor, wenn eine Partei die Aufnahme von Elementen in das MoU fordern

würde, welche sich ausserhalb der Vorgaben des Beitragsabkommens befinden, oder

wenn sie den Abschluss des MoU generell verweigern würde.

Art. 5

Länderspezifische Abkommen und weitere Unterstützungsmassnahmen

Artikel 5 regelt die zweite Etappe des rechtsverbindlichen Mechanismus für die Aus-

richtung regelmässiger Beiträge, nämlich den Abschluss der länderspezifischen Um-

setzungsabkommen mit den Partnerstaaten und gegebenenfalls die Durchführung wei-

terer Unterstützungsmassnahmen durch die Schweiz.

Art. 5 Abs. 1

Absatz 1 sieht drei Formen für die Umsetzung des Schweizer Beitrags vor. Erstens

schliesst die Schweiz nach dem Abschluss des MoU mit der EU Umsetzungsabkom-

men mit den betroffenen Partnerstaaten ab. Dies betrifft den Grossteil des Beitrags

(mindestens 90 % der Mittel im Bereich Kohäsion, s. Erläuterungen zu Anhang I).

Zweitens kann die Schweiz im beschränkten Rahmen auch weitere Unterstützungs-

massnahmen vorbereiten, welche direkt von der Schweiz umgesetzt würden, bei-

spielsweise in der Form eines Schweizer Fonds. Drittens sind gegebenenfalls Beiträge

an Finanzierungsinstrumente Dritter möglich. Alle drei Formen für die Umsetzung

des Schweizer Beitrags erfolgen nach Massgabe der diesbezüglich relevanten Best-

immungen des Beitragsabkommens (s. Erläuterungen zu Teil II) sowie im Einklang

mit dem MoU.

Art. 5 Abs. 2

562 / 931

Der Schweizer Beitrag ergänzt gemäss Artikel 2 des Beitragsabkommens die Mass-

nahmen der EU und ihrer Mitgliedstaaten im Bereich Kohäsion und bei der Bewälti-

gung anderer wichtiger gemeinsamer Herausforderungen. Dieser Grundsatz erfährt in

Artikel 5 Absatz 2 insoweit eine Konkretisierung, als dass die länderspezifischen Um-

setzungsabkommen die EU-Strategien sowie die Nationalen Strategischen Rahmen-

pläne der Partnerstaaten, welche die Europäische Kommission genehmigt hat, berück-

sichtigen müssen.

Art. 5 Abs. 3

Artikel 5 Absatz 3 umschreibt den Mindestinhalt der länderspezifischen Umsetzungs-

abkommen. Es handelt sich dabei insbesondere um die Mittelzuteilung nach Themen-

bereichen, die Unterstützungsmassnahmen, die Verwaltungs- und Kontrollstrukturen

sowie die zuständigen Behörden des Partnerstaats. Diese Elemente sind bereits in den

Umsetzungsabkommen der bisherigen Schweizer Beiträge enthalten gewesen.

Art. 5 Abs. 4 und 5

Wie bei den bisherigen Schweizer Beiträgen erfolgt die Verpflichtung der Beitrags-

mittel an die Partnerstaaten durch den Abschluss der Umsetzungsabkommen. Die Ab-

sätze 4 und 5 enthalten eine Frist, bis wann die Schweiz und der Partnerstaat die Ab-

kommen grundsätzlich abschliessen müssen. Dabei ist eine Differenzierung zwischen

den Umsetzungsabkommen im Bereich Kohäsion und denjenigen im Bereich der

identifizierten gemeinsamen Herausforderungen vorgesehen. Im Bereich Kohäsion

sind die Umsetzungsabkommen innert zwei Jahren ab Beginn der Beitragsperiode ab-

zuschliessen, im Bereich der identifizierten gemeinsamen Herausforderungen gilt eine

Frist von fünf Jahren. Grund für diese unterschiedlichen Fristen ist, dass im Bereich

andere wichtige gemeinsame Herausforderungen oft eine grössere Flexibilität erfor-

derlich ist, zum Beispiel im Hinblick auf die sich schnell verändernden Migrations-

routen nach Europa.

Art. 5 Abs. 6

Falls der Abschluss der Umsetzungsabkommen nicht fristgerecht erfolgt, besteht für

die Schweiz und die EU die Möglichkeit, ein Streitbeilegungsverfahren gemäss Arti-

kel 16 des Beitragsabkommens einzuleiten (s. Erläuterungen zu Art. 16). Die Hand-

lungen der Partnerstaaten werden dabei jeweils der EU als Partei des Beitragsabkom-

mens zugerechnet. Falls das Schiedsgericht mit dem Streitfall befasst wird, überprüft

es, ob die Schweiz und der jeweilige Partnerstaat während der Verhandlungen über

das betroffene Umsetzungsabkommen nach Treu und Glauben gehandelt haben. Dies-

bezüglich kann auf die Ausführungen zur analogen Regelung für das MoU verwiesen

werden (s. Erläuterungen zu Art. 4 Abs. 2 Bst. c).

Art. 5 Abs. 7

Artikel 5 Absatz 7 sichert die bisherige Praxis ab, wonach die Mittel eines bestimmten

Schweizer Beitrags nur bis zum Ende seiner Umsetzungsperiode zur Verfügung ste-

hen. Werden sie vom Partnerstaat nicht innert dieser Frist beansprucht, verfallen sie

563 / 931

ersatzlos. Nicht abgerufene Mittel werden somit nicht auf den nachfolgenden Schwei-

zer Beitrag übertragen.

Art. 6

Kommunikation zwischen der Schweiz und der Kommission

Gemäss Absatz 1 informiert die Schweiz die Europäische Kommission über die Um-

setzungsabkommen mit den Partnerstaaten jeweils innert einem Monat nach deren

Publikation in der Amtlichen Sammlung des Bundesrechts. Absatz 2 sieht zudem ei-

nen regelmässigen technischen Austausch zwischen der Schweiz und der Europäi-

schen Kommission über die Umsetzung der Schweizer Beiträge vor.

Art. 7

Kofinanzierungssätze

Die von den Partnerstaaten umgesetzten Unterstützungsmassnahmen werden grund-

sätzlich von ihnen kofinanziert. Artikel 7 sieht vor, dass die Partnerstaaten diese Un-

terstützungsmassnahmen jeweils zur gleichen Rate kofinanzieren, welche die EU im

Rahmen ihrer Kohäsionspolitik anwendet (derzeit 15 %). Die Schweiz und die Part-

nerstaaten können allerdings in den Umsetzungsabkommen vereinbaren, von dieser

Rate abzuweichen.

Art. 8

Staatliche Beihilfen und Vergabe öffentlicher Aufträge

Artikel 8 hält fest, dass bei der Umsetzung der Unterstützungsmassnahmen die an-

wendbaren Regeln zu staatlichen Beihilfen und zur Vergabe öffentlicher Aufträge ein-

gehalten werden müssen. Dies bedeutet, dass in der Schweiz Schweizer Recht gilt und

in den Partnerstaaten EU-Recht beziehungsweise das jeweils nationale Recht.

Art. 9

Haftung

Artikel 9 beschränkt die Verantwortung der Schweiz auf die Bereitstellung der Mittel

im Rahmen der Umsetzungsabkommen und weiterer Unterstützungsmassnahmen und

schliesst eine Haftung der Schweiz gegenüber Dritten aus.

Art. 10

Änderungen in der Mitgliedschaft der Union

Artikel 10 legt die künftige Anpassung des Schweizer Beitrags bei einem Beitritt oder

Austritt eines EU-Mitgliedstaats fest. Im Falle eines EU-Beitritts oder -Austritts eines

Staats, welcher die Kriterien für die Partnerstaaten des Schweizer Beitrags im Bereich

Kohäsion gemäss Artikel 3 erfüllt, wird gemäss Absatz 1 der Schweizer Beitrag ver-

hältnismässig angepasst. Die Anpassung gilt ab dem Zeitpunkt der Änderung der Mit-

gliedschaft. Die verhältnismässige Anpassung wird gemäss Absatz 2 durch die beiden

Vertragsparteien festgelegt, das heisst ihr genauer Umfang wäre Gegenstand von Ver-

handlungen zwischen der Schweiz und der EU. Dies erlaubt es, die Auswirkungen

eines EU-Beitritts oder -Austritts auf die Gesamtbeziehungen Schweiz–EU mit zu be-

rücksichtigen.

Teil II – Umsetzung und Verwaltung der Mittel

Art. 11

Gemeinsame Werte

564 / 931

In Artikel 11 wird festgehalten, dass die Umsetzung des Beitrags auf den gemeinsa-

men Werten hinsichtlich der Achtung der Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaat-

lichkeit, Menschenwürde und Gleichberechtigung beruht.

Art. 12

Verwaltung des regelmässigen finanziellen Beitrags der Schweiz

Für die Gesamtverwaltung des Beitrags ist gemäss Absatz 1 die Schweiz zuständig.

Ihr Verwaltungsaufwand wird gemäss Absatz 2 jeweils durch den im MoU aufgeführ-

ten Gesamtbetrag gedeckt.

Art. 13

Grundsätze der Umsetzung

Artikel 13 regelt die Grundsätze der Umsetzung des Beitrags. Die Verhandlungen und

die Umsetzung mit den Partnerstaaten erfolgen gemäss Absatz 1 im Sinne einer

gleichberechtigten Partnerschaft. Die Umsetzung der Unterstützungsmassnahmen

liegt laut Absatz 2 in der Verantwortung der Partnerstaaten. Diese stellen für eine ord-

nungsgemässe Umsetzung der Massnahmen angemessene Verwaltungs- und Kon-

trollsysteme bereit. Absatz 3 hält fest, dass für Massnahmen, welche direkt von der

Schweiz durchgeführt werden, die Schweiz verantwortlich ist und ebenfalls für eine

ordnungsgemässe Umsetzung der Massnahmen angemessene Verwaltungs- und Kon-

trollsysteme bereitstellt.

Bei der Umsetzung der Massnahmen müssen laut Absatz 4 die in Artikel 11 festge-

legten Werte eingehalten werden. Zudem müssen die Prinzipien der guten Regie-

rungsführung und der ordnungsgemässen Haushaltsführung eingehalten werden.

Auch Transparenz, Nichtdiskriminierung, Effizienz und Rechenschaftspflicht müssen

sichergestellt sein. Die Umsetzung beruht zudem auf der gemeinsamen Verpflichtung

der Schweiz und der Partnerstaaten, jegliche Form der Korruption bei der Umsetzung

zu bekämpfen. Dafür werden wirksame Massnahmen und Verfahren bereitgestellt, um

jegliche Handlungen, die eine ordnungsgemässe Verwendung der Mittel gefährden,

zu verhindern, zu erkennen und dagegen vorzugehen. Die Massnahmen und Verfah-

ren berücksichtigen identifizierte Korruptionsrisiken.

Gestützt auf Absatz 5 kann die Schweiz bei einer Verletzung der in Absatz 4 beschrie-

benen Verpflichtungen, welche die ordnungsgemässe Umsetzung gefährdet oder ge-

fährden könnte, geeignete, verhältnismässige und wirksame Massnahmen bezüglich

der betroffenen Unterstützungsmassnahme ergreifen. In schwerwiegenden Fällen

könnte zum Beispiel eine Suspendierung oder Beendigung der betroffenen Unterstüt-

zungsmassnahme geeignet, verhältnismässig und wirksam sein. Die Schweiz führt vor

Ergreifen der Massnahmen eine Untersuchung durch. Im Rahmen dieser Untersu-

chung hat der Partnerstaat das Recht, sich zum Fall zu äussern.

Die Schweiz kann laut den Absätzen 6 und 7 gemäss ihren innerstaatlichen Vorschrif-

ten Kontrollen durchführen. Die Partnerstaaten unterstützen die Schweiz dabei mit

allen benötigten Informationen und Unterlagen. Die Schweiz führt ihre Prüfungen ri-

sikobasiert durch und berücksichtigt dabei die Grundsätze der Einzigen Prüfung und

der Verhältnismässigkeit hinsichtlich des Risikos, mit dem Ziel, die Kosten der Prü-

fungen sowie den administrativen Aufwand für die Begünstigten möglichst gering zu

halten.

565 / 931

Wie in Artikel 5 Absatz 3 festgehalten, konkretisieren die Schweiz und die Partner-

staaten die Bestimmungen von Artikel 13 in den Umsetzungsabkommen. Sie können

dabei über die im Beitragsabkommen gesetzten Mindeststandards hinausgehen.

Teil III – Institutionelle Bestimmungen

Art. 14

Gemischter Ausschuss

Durch das Beitragsabkommen wird ein Gemischter Ausschuss eingerichtet (Abs. 1),

der von einer Vertreterin oder einem Vertreter der Schweiz und einer Vertreterin oder

einem Vertreter der EU gemeinsam geleitet wird (Abs. 2). Die einzelnen Zuständig-

keiten des Gemischten Ausschusses sind abschliessend in Absatz 3 umschrieben: Si-

cherstellung der ordnungsgemässen Funktionsweise und der wirksamen Verwaltung

und Anwendung des Abkommens, Abgabe von Empfehlungen an die Vertragspar-

teien, Treffen der im Abkommen vorgesehenen Beschlüsse, sowie Ausübung jeder

anderen im Abkommen vorgesehenen Zuständigkeit; der Gemischte Ausschuss dient

den Vertragsparteien ferner als Gremium für gegenseitige Konsultationen und einen

ständigen Informationsaustausch, insbesondere um eine Lösung für Schwierigkeiten

bei der Auslegung und Anwendung des Beitragsabkommens zu finden. Beschlüsse

des Gemischten Ausschusses müssen einvernehmlich gefasst werden. Sie sind für die

Vertragsparteien bindend, welche alle geeigneten Massnahmen zu ihrer Umsetzung

treffen (Abs. 4). Der Gemischte Ausschuss tagt mindestens einmal im Jahr (Abs. 5),

gibt sich seine eigene Geschäftsordnung (Abs. 6) und kann Arbeits- oder Experten-

gruppen einrichten, die ihn bei der Ausübung seiner Aufgaben unterstützen (Abs. 7).

Art. 15

Ausschliesslichkeitsgrundsatz

Das Beitragsabkommen sieht ein Streitbeilegungsverfahren vor. Artikel 15 verpflich-

tet die Parteien dazu, sich zur Beilegung allfälliger Streitigkeiten über die Auslegung

und Anwendung des Beitragsabkommens ausschliesslich dieses Streitbeilegungsver-

fahrens zu bedienen. Es handelt sich um eine übliche Verpflichtung in völkerrechtli-

chen Verträgen, um etwaiges

Forum Shopping

zu unterbinden. Die Binnenmarkt- und

das Gesundheitsabkommen sehen materiell identische Bestimmungen für die dort vor-

gesehenen Streitbeilegungsverfahren vor (s. Ziff. 2.1.5.4.1).

Art. 16

Verfahren bei Auslegungs- oder Anwendungsschwierigkeiten

Das Streitbeilegungsverfahren ist zweistufig aufgebaut und beruht auf einem klassi-

schen völkerrechtlichen Schiedsgerichtsmodell.

Zunächst müssen die Parteien versuchen, einen Streitfall einvernehmlich im Gemisch-

ten Ausschuss beizulegen: Ziel ist es, alle Möglichkeiten zu prüfen, um das gute Funk-

tionieren des Abkommens aufrechtzuerhalten (Abs. 1). Findet der Gemischte Aus-

schuss innerhalb einer Frist von drei Monaten ab seiner Befassung keine Lösung für

den Streitfall, kann jede Vertragspartei die Einsetzung eines paritätisch besetzten

Schiedsgerichts verlangen (Abs. 2). Das Schiedsgerichtsprotokoll regelt im Einzel-

nen, wie sich das Schiedsgericht konstituiert und wie das Schiedsverfahren abläuft.

Die vorgesehenen Regeln entsprechen grundsätzlichen denjenigen in den Binnen-

566 / 931

marktabkommen (s. Ziff. 2.1.5.4.2). Die wenigen Bestimmungen des Schiedsge-

richtsprotokolls, die keine Entsprechung in den Binnenmarktabkommen finden, sind

in den Erläuterungen zum Schiedsgerichtsprotokoll näher beschrieben.

Das Schiedsgericht allein ist für die Auslegung des Beitragsabkommens zuständig.

Dabei muss es die zwischen den Parteien geltenden Regeln und Grundsätze über die

Auslegung völkerrechtlicher Verträge anwenden (Art. IV.3 Abs. 1 Schiedsge-

richtsprotokoll). Im Gegensatz zu den Binnenmarktabkommen sieht Artikel 16 keinen

Beizug des EuGH im Streitbeilegungsverfahren vor. Der Grund dafür ist die Natur

des Beitragsabkommens: Die Schweiz nimmt über das Beitragsabkommen nicht am

EU-Binnenmarkt teil, daher gibt es auch keine Übernahme von EU-Recht und die

Auslegungshoheit des EuGH wird nicht tangiert. Die spezifisch für die Teilnahme am

EU-Binnenmarkt konzipierten institutionellen Elemente, wie der eng begrenzte Bei-

zug des EuGH durch die Schiedsgerichte für die Binnenmarktabkommen (s. Ziff.

2.1.5.4.2), sind daher im Beitragsabkommen nicht vorgesehen.

Das Schiedsgericht kann bei seiner Beurteilung der Vereinbarkeit der Massnahmen

einer Partei mit dem Beitragsabkommen mit einer Vorfrage über die Auslegung des

Rechts einer Partei konfrontiert werden. Dieser Umstand ist darauf zurückzuführen,

dass gewisse Bestimmungen des Beitragsabkommens auf das Recht einer oder beider

Parteien verweisen. So verweist beispielsweise Artikel 13 Absatz 6 für die Durchfüh-

rungen von Kontrollen durch die Schweiz in den Partnerstaaten auf die internen

schweizerischen Vorschriften. In so einem Fall darf das Schiedsgericht das Recht der

jeweiligen Partei, soweit angebracht, als Tatsache (

matter of fact

) gemäss der vorherr-

schenden Praxis berücksichtigen (Abs. 3). Dabei ist es an die Praxis derjenigen Be-

hörden, Gremien und dergleichen gebunden, welche für die Auslegung des infrage-

stehenden Rechtssatzes zuständig sind. Bei einer Vorfrage zum schweizerischen

Landesrecht wäre es somit an die vorherrschende Praxis der schweizerischen Behör-

den und Gerichte gebunden. Es handelt sich um ein Modell, welches bereits in anderen

Abkommen vorgesehen ist, so jüngst auch im Abkommen über Solidaritätsmassnah-

men zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung zwischen der Schweiz, Deutsch-

land und Italien.

522

Nicht in die Zuständigkeit des Schiedsgerichts fallen Streitfälle, welche die Umset-

zung der länderspezifischen Umsetzungsabkommen zwischen der Schweiz und den

Partnerstaaten betreffen (Abs. 4). Das Verfahren für die Beilegung solcher Streitfälle

wird in den Umsetzungsabkommen geregelt. Dazu gehören namentlich Streitfälle

über Massnahmen, welche die Schweiz infolge von Mängeln in den Bereichen ge-

meinsame Werte und Umsetzungsprinzipien bei einer Unterstützungsmassnahme er-

greift (s. Erläuterungen zu Art. 13). Diese Regelung trägt dem Umstand Rechnung,

dass die Umsetzung des Schweizer Beitrags primär die bilaterale Zusammenarbeit

zwischen der Schweiz und dem jeweiligen Partnerstaat betrifft und nicht diejenige

zwischen der Schweiz und der EU.

522

BBl

2024

2318

567 / 931

Die Entscheide des Schiedsgerichts sind für die Schweiz und die EU verbindlich. Die

unterlegene Partei teilt der Gegenpartei und dem Gemischten Ausschuss die Mass-

nahmen mit, die sie ergriffen hat, um dem Entscheid des Schiedsgerichts Folge zu

leisten (Abs. 5).

Art. 17

Ausgleichsmassnahmen

Teilt eine Partei, die gemäss dem Schiedsgericht gegen das Beitragsabkommen

verstossen hat, nicht innert einer vom Schiedsgericht angesetzten angemessenen Frist

mit (s. Art. IV.2 Abs. 6 Schiedsgerichtsprotokoll), welche Massnahmen sie zur Um-

setzung des Entscheids des Schiedsgerichts ergriffen hat, oder wenn die andere Ver-

tragspartei der Auffassung ist, dass die mitgeteilten Massnahmen dem Entscheid des

Schiedsgerichts nicht entsprechen, kann letztere gemäss Artikel 17 Absatz 1 Aus-

gleichsmassnahmen ergreifen.

Grundvoraussetzung für das Ergreifen von Ausgleichsmassnahmen ist somit stets das

Vorliegen eines Schiedsspruchs, wobei die betroffene Partei zusätzlich entweder die

Mitteilung von Umsetzungsmassnahmen innert angemessener Frist unterlassen muss

oder aber Umsetzungsmassnahmen mitgeteilt hat, die nach Auffassung der anderen

Partei den Entscheid des Schiedsgerichts nicht umsetzen.

Innerhalb des Beitragsabkommens sind verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen –

insbesondere falls diese durch die EU ergriffen würden – kaum möglich. Allfällige

Ausgleichsmassnahmen können daher auch in den anderen Abkommen des Pakets

Schweiz–EU, die in der Liste der Abkommen in Artikel 3 Buchstabe a aufgeführt

sind, ergriffen werden. Dazu gehören neben dem Beitragsabkommen die Binnen-

marktabkommen sowie das EUPA, das EUSPA-Abkommen und das Gesundheitsab-

kommen. Hintergrund dafür ist, dass der Schweizer Beitrag als Teil eines ausgewo-

genen Pakets Schweiz–EU mit gegenseitigen Rechten und Pflichten beider Parteien

verstetigt wird. Die Ausgleichsmassnahmen müssen verhältnismässig ausgestaltet

sein. Die Verhältnismässigkeit ist im Einzelfall zu beurteilen. Ausgangspunkt bildet

dabei die Schwere der konkreten Vertragsverletzung. Die Partei, welche Ausgleichs-

massnahmen ergreifen möchte, muss diese der anderen Partei notifizieren. Im Grund-

satz treten die Ausgleichsmassnahmen sodann nach Ablauf von drei Monaten in Kraft.

Die Ausgleichsmassnahmen dürfen keine Rückwirkung haben und nicht in bereits er-

worbene Rechte der Bürgerinnen und Bürger sowie der Wirtschaftsteilnehmenden

eingreifen (Abs. 4). Bestehen Meinungsverschiedenheiten über die Verhältnismässig-

keit der notifizierten Ausgleichsmassnahmen, kann der Gemischte Ausschuss mit die-

ser Frage befasst werden. Soweit der Gemischte Ausschuss nicht innert einem Monat

seit der Notifizierung der infragestehenden Ausgleichsmassnahmen einen Beschluss

über deren Aussetzung, Änderung oder Aufhebung gefällt hat, kann jede Partei die

Verhältnismässigkeit der Ausgleichsmassnahmen durch das Schiedsgericht prüfen

lassen (Art. 17 Abs. 2). Wie in den Binnenmarktabkommen kann das Schiedsgericht

auf Antrag einer Partei das Inkrafttreten der Ausgleichsmassnahmen unter gewissen

Voraussetzungen für die Dauer des Verfahrens aufschieben (s. Ziff. 2.1.5.4.3).

Teil IV – Schlussbestimmungen

568 / 931

Art. 18

Erster finanzieller Beitrag der Schweiz gemäss diesem Abkommen und ein-

malige zusätzliche finanzielle Verpflichtung

Artikel 18 Absatz 1 sieht vor, dass die Schweiz einen ersten Beitrag für die Beitrags-

periode vom 1. Januar 2030 bis zum 31. Dezember 2036 leistet, wie in Anhang II des

Beitragsabkommens festgehalten wird. Dazu kommt eine einmalige zusätzliche finan-

zielle Verpflichtung für die Periode zwischen Ende 2024 und Ende 2029, die in An-

hang III näher geregelt wird. Es handelt sich hierbei um spezifische Bestimmungen

für die erste Beitragsperiode, welche teilweise von den generellen Bestimmungen des

Mechanismus in den Artikeln 4 und 5 abweichen.

Sowohl für den ersten Beitrag (Abs. 2) als auch für die einmalige zusätzliche finanzi-

elle Verpflichtung (Abs. 3) werden die Umsetzungsmodalitäten, soweit sie noch nicht

in Anhang II oder Anhang III festgelegt sind, innerhalb von zwölf Monaten nach In-

krafttreten des Beitragsabkommens in einem MoU festgehalten werden. Spätestens

drei Jahre nach Inkrafttreten müssen die Umsetzungsabkommen mit den Partnerstaa-

ten für den Beitrag im Bereich Kohäsion sowie für die einmalige zusätzliche finanzi-

elle Verpflichtung abgeschlossen sein (Abs. 4). Für den Bereich Migration muss der

Abschluss der länderspezifischen Umsetzungsabkommen spätestens fünf Jahre nach

dem Start der Beitragsperiode erfolgt sein (Abs. 5). Grund für diese Differenzierung

sind die unterschiedlichen Ansätze der Bereiche Kohäsion und Migration bei der Um-

setzung und die bei der Migration erforderliche grössere zeitliche Flexibilität (s. die

Erläuterungen zu Art. 5 Abs. 4 und 5).

Bei einem Nichtabschluss der MoU (Abs. 6) oder der Umsetzungsabkommen (Abs. 7)

könnte, wie in Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe c bzw. in Artikel 5 Absatz 6 vorgesehen,

eine Partei ein Streitbeilegungsverfahren einleiten. Gegebenenfalls hätte das Schieds-

gericht zu beurteilen, ob die Parteien nach Treu und Glauben verhandelt haben (s.

Erläuterungen zu Art. 4 und 5).

Art. 19

Protokoll, Anhänge und Anlagen

Artikel 19 stellt klar, dass das Schiedsgerichtsprotokoll, die Anhänge und deren An-

lagen integrale Bestandteile des Beitragsabkommens bilden.

Art. 20

Inkrafttreten

Das Beitragsabkommen ist im Stabilisierungsteil des Pakets Schweiz–EU (s.

Ziff. 2.1.5.6). Es tritt am ersten Tag des zweiten Monats nach der Notifizierung des

Abschlusses der internen Verfahren zur Genehmigung aller völkerrechtlichen Instru-

mente des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU in Kraft.

Art. 21

Kündigung

Das Beitragsabkommen kann durch jede Partei gekündigt werden. Die Kündigung ist

der anderen Partei zu notifizieren. Anschliessend tritt das Beitragsabkommen nach

Ablauf von sechs Monaten ausser Kraft. Eine rechtliche Verknüpfung der Kündigung

dieses Abkommens mit anderen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU

569 / 931

(«Guillotine-Klausel») ist nicht vorgesehen. Die EU dürfte aber auch künftig die Fort-

setzung des bilateralen Wegs mit der Verstetigung des Schweizer Beitrags verknüp-

fen.

Anhang I

Elemente für den regelmässigen finanziellen Beitrag der Schweiz ge-

mäss Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe (a) in den folgenden Beitragsperioden

Anhang I legt die Elemente zur Berechnung der Höhe des Schweizer Beitrags für die

jeweils folgende Beitragsperiode fest. Die Höhe des folgenden Beitrags basiert erstens

auf der Höhe des Beitrags aus der Vorperiode (Ziff. 1 Bst. a). Ist während der Vorpe-

riode gemäss Artikel 10 eine verhältnismässige Anpassung des Beitrags aufgrund ei-

nes Beitritts oder Austritts eines EU-Mitgliedstaats erfolgt, wird diese beim folgenden

Beitrag berücksichtigt. Um die Kaufkraft des Beitrags zu erhalten, wird der Beitrag

der Vorperiode zweitens an die aufgelaufene Inflation angepasst (Ziff. 1 Bst. b). Das

genaue Vorgehen dazu ist in Anlage 1 geregelt. Da der Beitrag in Franken festgelegt

ist, erfolgt dieser Ausgleich zunächst anhand der Inflation in der Schweiz. Ein Aus-

gleichsfaktor berücksichtigt zudem die Abweichung zwischen der Schweizer Inflation

und der Inflation in den Partnerstaaten, soweit diese nicht durch die Entwicklung des

Wechselkurses ausgeglichen wird. Der daraus resultierende Betrag kann drittens aus

politischen Überlegungen innerhalb einer Bandbreite von 10 % erhöht oder reduziert

werden (Ziff. 1 Bst. c).

Anhang I regelt zudem, dass der Anteil des Schweizer Beitrags, der für den Bereich

Kohäsion bestimmt ist, mindestens 90 % des jeweiligen Beitrags ausmachen muss

(Ziff. 2). Damit sind jeweils höchstens 10 % des Schweizer Beitrags für den Bereich

andere wichtige gemeinsame Herausforderungen vorgesehen.

Innerhalb des Bereichs Kohäsion sind 90 % der Mittel für die Umsetzungsabkommen

reserviert (Ziff. 3). Damit sind jeweils höchstens 10 % vorgesehen für den Eigenauf-

wand von derzeit bis zu 5 % und für weitere Unterstützungsmassnahmen, die entwe-

der die Schweiz selbst verwaltet oder in relevante Finanzierungsinstrumente einflies-

sen.

Schliesslich legt Anhang I fest, dass der im Bereich Kohäsion für die Umsetzungsab-

kommen reservierte Betrag gemäss dem Verteilschlüssel in Anlage 2 den Partnerstaa-

ten zugewiesen wird (Ziff. 4).

Die Aufnahme verbindlicher Bestimmungen über die Höhe und Aufteilung des regel-

mässigen Schweizer Beitrags beruht auf einem Interessenausgleich. Die EU erhält die

Sicherheit, dass die Schweiz die Partnerstaaten zukünftig regelmässig mit Beiträgen

in bestimmter Höhe unterstützt. Demgegenüber erhält die Schweiz Sicherheit und

Planbarkeit über diese Elemente, da insbesondere der Entwicklung der Beitragshöhe

klare Grenzen gesetzt werden. So kann die EU zukünftig keine andere Berechnungs-

methode für die Höhe des Schweizer Beitrags – wie beispielsweise eine anteilsmäs-

sige Beteiligung an ihren Kohäsionsgeldern – fordern. Für die Schweiz ist diese

Rechtssicherheit von nicht zu unterschätzender Bedeutung.

Anlage 1 – Methode zur Bestimmung der Anpassung gemäss Anhang I Absatz 1

Buchstabe (b)

570 / 931

Anlage 1 legt die Methode zur Berechnung des Inflationsausgleichs fest. Die Anpas-

sung an die Inflation erfolgt auf der Grundlage des harmonisierten Verbraucherpreis-

index (HVPI). Dafür wird zum Zeitpunkt der Berechnung die Differenz zwischen dem

arithmetischen Mittel der Schweizer Inflation der letzten zwölf Monate und dem arith-

metischen Mittel der Schweizer Inflation im ersten Jahr der vorangegangenen Bei-

tragsperiode ermittelt. Langfristig ist zu erwarten, dass mit dieser Anpassung die

Kaufkraft des Schweizer Beitrags erhalten bleibt.

Um kurzfristige Schwankungen, wie eine starke Aufwertung des Frankens, auszuglei-

chen, wird in einem weiteren Schritt ein Ausgleichsfaktor berechnet. Dieser Aus-

gleichsfaktor korrigiert die Differenzen zwischen der Inflation in der Schweiz und der

Inflation in den Partnerstaaten, sofern diese nicht bereits durch die Entwicklung des

Wechselkurses ausgeglichen wurden. Der Ausgleichsfaktor misst die Entwicklung

des realen Wechselkurses der Partnerstaaten gegenüber der Schweiz. Er widerspiegelt

die reale Auf- oder Abwertung, die die Partnerstaaten in der vorhergehenden Beitrags-

periode erfahren haben. Wenn sich der Franken zum Beispiel stärker aufwertet, als

die Unterschiede in der Inflation dies erwarten liessen, so würde der Ausgleichsfaktor

die Inflationsanpassung nach unten korrigieren. Der Ausgleichsfaktor wird durch die

Europäische Kommission basierend auf Daten vom Statistischen Amt der Europäi-

schen Union (Eurostat), der Europäischen Zentralbank, den Zentralbanken der Part-

nerstaaten und/oder der Schweizerischen Nationalbank berechnet. Sie teilt die Be-

rechnung mit der Schweiz über den Gemischten Ausschuss.

Anlage 2

Verteilschlüssel für den regelmässigen finanziellen Beitrag der

Schweiz im Bereich Kohäsion

Anlage 2 legt fest, wie der Verteilschlüssel für die Aufteilung der Beitragsmittel im

Bereich Kohäsion auf die jeweiligen Partnerstaaten berechnet wird. Die Berechnung

orientiert sich, wie bei den bisherigen Schweizer Beiträgen, weitgehend an der Me-

thode zur Ermittlung der länderspezifischen Anteile der EU-Kohäsionszahlungen.

Massgebend hierfür ist der Bevölkerungs- und Flächenanteil des Partnerstaats im Ver-

gleich zu allen Partnerstaaten, wobei bei sehr hoher Bevölkerungsdichte nur der Be-

völkerungsanteil berücksichtigt wird. Anschliessend erfolgt eine Verringerung oder

Erhöhung der so erhaltenen Prozentsätze durch einen Koeffizienten mit dem Ziel,

wirtschaftlich schwächere Partnerstaaten stärker zu berücksichtigen und wirtschaft-

lich stärkere entsprechend weniger zu gewichten. Abschliessend werden die Anteile

so neu skaliert, damit ihre Summe 100 % ergibt.

Anhang II

Erster finanzieller Beitrag der Schweiz gemäss diesem Abkommen

für die Periode 2030–2036

Anhang II legt die Modalitäten für den ersten Beitrag unter dem Beitragsabkommen

fest. Die Schweiz leistet in der Beitragsperiode von 2030–2036 einen jährlichen Bei-

trag in der Höhe von 350 Millionen Franken. Die Umsetzungsperiode startet gleich-

zeitig mit der Beitragsperiode ab 2030 und läuft über zehn Jahre bis 2039. Die

Schweiz kann bis zu 5 % des Gesamtbeitrags für ihre eigenen Verwaltungskosten ver-

wenden (Eigenaufwand). Für den

Swiss Expertise and Partnership Fund

(SEPF) kön-

nen bis zu 2 % des Gesamtbeitrags verwendet werden. Der SEPF wird für Schweizer

571 / 931

Expertise und Partnerschaften sowie für die Unterstützung der «Swissness» und der

Qualität der Programme und Projekte eingesetzt.

Für den Bereich Kohäsion sind durchschnittlich 308 Millionen Franken pro Jahr re-

serviert. Davon werden mindestens 90 % im Rahmen von Umsetzungsabkommen mit

den Partnerstaaten verpflichtet. Neben Verwaltungskosten von 5 % und dem SEPF

von 2 % könnte daher ein zusätzlicher Fonds im Bereich Kohäsion im Umfang von

maximal 3 % geschaffen werden. Der thematische Schwerpunkt eines solchen Fonds

(z. B. zur Unterstützung von Organisationen der Zivilgesellschaft oder ein zentral ver-

walteter Forschungsfonds) sowie dessen spezifischer Umfang würde im MoU für die

Beitragsperiode 2030–2036 festgehalten werden.

Die Partnerstaaten im Bereich der Kohäsion sind jene, die zum gegebenen Zeitpunkt

das im Beitragsabkommen festgelegte Kriterium erfüllen (weniger als 90 % des EU-

BNE). Sie werden im MoU für die Beitragsperiode 2030–2036 bestimmt. Darin wird

auch die Verteilung der Gelder unter den identifizierten Partnerstaaten gemäss dem

Verteilschlüssel in Anlage 2 festgehalten. Anhang II setzt bereits grobe thematische

Schwerpunkte für den Beitrag zur Kohäsion: (i) Inklusive menschliche und soziale

Entwicklung, (ii) Nachhaltige und inklusive wirtschaftliche Entwicklung, (iii) Ökolo-

gischer Wandel, (iv) Demokratie und Partizipation. Die detaillierte thematische Aus-

richtung wird im MoU ausgeführt werden.

Für die Zusammenarbeit im Bereich Migration sind 12 % des Gesamtbetrags reser-

viert, das entspricht durchschnittlich 42 Millionen Franken pro Jahr. Der Anteil für

die Bewältigung der gemeinsamen Herausforderung Migration am Gesamtbeitrag ist

somit in der Beitragsperiode 2030–2036 leicht höher als der Anteil, welcher für künf-

tige Beitragsperioden vorgesehen ist (s. Erläuterungen zu Anhang I, Ziff. 2). Dies be-

rücksichtigt, dass die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung im gleichen

Zeitraum vollumfänglich im Bereich Kohäsion eingesetzt werden soll. Die Partner-

staaten im Bereich Migration sind EU-Mitgliedstaaten, die unter besonderem Migra-

tionsdruck stehen, und/oder EU-Mitgliedstaaten, mit welchen ein gemeinsames Inte-

resse besteht, die Migrationsgouvernanz zu stärken. Wie bereits unter dem zweiten

Schweizer Beitrag kann die Schweiz einen Teil der Mittel im Bereich Migration für

einen

Rapid Response Fund

reservieren. Dieser Fonds ermöglicht eine schnelle Un-

terstützung bei unerwarteten Entwicklungen im Bereich Migration in den EU-

Mitgliedstaaten. Der genaue Umfang dieses Fonds würde im MoU für die Beitrags-

periode 2030–2036 festgehalten.

Anhang III

Einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung der Schweiz für

den Zeitraum von Ende 2024 bis Ende 2029

Die Bestimmungen zur einmaligen zusätzlichen finanziellen Verpflichtung befinden

sich in Anhang III. Die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung ist aufgeteilt

in eine Phase vor und eine Phase nach dem Inkrafttreten des Stabilisierungsteils des

Pakets Schweiz–EU. Die Schweiz leistet eine einmalige zusätzliche finanzielle Ver-

pflichtung von jährlich 130 Millionen Franken von Ende 2024 bis zum Inkrafttreten

des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU. Diese Verpflichtung widerspiegelt

572 / 931

den Umfang der Partnerschaft und Zusammenarbeit der Schweiz und der EU in die-

sem Zeitraum, wie er in der Gemeinsamen Erklärung zwischen der Schweiz und der

EU festgehalten wird (s. Ziff. 1.3.4). Zwischen dem Inkrafttreten des Stabilisie-

rungsteils des Pakets Schweiz–EU und dem Start der Beitragsperiode des ersten

Schweizer Beitrags unter dem Beitragsabkommen am 1. Januar 2030 beträgt die ein-

malige zusätzliche finanzielle Verpflichtung jährlich 350 Millionen Franken. Bei ei-

nem unterjährigen Inkrafttreten würde die Höhe der einmaligen zusätzlichen finanzi-

ellen Verpflichtung anteilsmässig berechnet. Die Gesamthöhe der einmaligen

zusätzlichen finanziellen Verpflichtung wird entsprechend im MoU aufgeführt wer-

den.

Die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung wird ausschliesslich im Bereich

Kohäsion über einen Zeitraum von zehn Jahren ab dem Start der Beitragsperiode 2030

umgesetzt. Die weiteren Bestimmungen, wie jene zur Auswahl der Partnerstaaten, zur

Verteilung der Mittel und zu den thematischen Schwerpunkten, entsprechen jenen für

den Bereich Kohäsion in Anhang II. Die spezifischen Modalitäten werden in einem

MoU ein Jahr nach Inkrafttreten des Beitragsabkommens festgehalten.

Schiedsgerichtsprotokoll

Das Schiedsgerichtsprotokoll des Beitragsabkommens beruht auf dem Schiedsge-

richtsmodell für die Binnenmarktabkommen. Diesbezüglich kann auf die Erläuterun-

gen unter Ziffer 2.1.5.4.2 und Ziffer 2.1.5.4.3 verwiesen werden. Aufgrund der von

den Binnenmarktabkommen abweichenden Natur des Beitragsabkommens, das keine

Teilnahme der Schweiz am EU-Binnenmarkt bezweckt (s. Erläuterungen zu Art. 16),

bestehen folgende drei Abweichungen.

Erstens sieht das Streitbeilegungsverfahren des Beitragsabkommens, wie in den Er-

läuterungen zu Artikel 16 dargestellt, keinen Beizug des EuGH durch das Schiedsge-

richt vor. Dementsprechend beinhaltet das Schiedsgerichtsprotokoll auch keine Best-

immungen, welche einen Beizug des EuGH durch das Schiedsgericht regeln (für die

institutionelle Elemente s. insb. Art. III.9 der Anlage des institutionellen Protokolls

des Luftverkehrsabkommens über das Schiedsgericht [AnlSchG-IP-LVA]).

Zweitens wird mit dem Beitragsabkommen kein EU-Recht übernommen und es ent-

hält auch nicht das (gemäss den neuen institutionellen Regeln) für die Binnenmarkt-

abkommen vorgesehene Prinzip der einheitlichen Auslegung und Anwendung. Daher

ist auch die Bestimmung zum anwendbaren Recht im Schiedsgerichtsprotokoll des

Beitragsabkommens nicht identisch mit derjenigen in den Schiedsgerichtsregeln der

Binnenmarktabkommen. Nach Art. IV.3 Abs. 1 Schiedsgerichtsprotokoll setzt sich

hier das anwendbare Recht zusammen aus dem Beitragsabkommen sowie den Regeln

und Grundsätzen des Völkerrechts, die zwischen den Parteien bei der Auslegung von

Verträgen anwendbar sind (für die Regelung in den Binnenmarktabkommen s.

Art. IV.3 AnlSchG-IP-LVA).

Drittens sieht das Schiedsgerichtsprotokoll des Beitragsabkommens im Vergleich zu

den Regeln für die Binnenmarktabkommen zwei zusätzliche Konstellationen vor, in

denen die Verfahrensfristen halbiert werden: Zum einen, wenn die Frist für den Ab-

schluss des MoU in Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe c beziehungsweise in Artikel 18

573 / 931

Absatz 6, überschritten wird (Art. III.8 Abs. 3 Bst. b), und zum anderen, wenn innert

der in Artikel 5 Absätze 4 und 5 beziehungsweise Artikel 18 Absatz 7, gesetzten Fris-

ten überhaupt kein Umsetzungsabkommen abgeschlossen wurde (Art. III.8 Abs. 3

Bst. c). In diesen Fällen wäre die Umsetzung eines Beitrags grundsätzlich in Frage

gestellt, was die Halbierung der Fristen rechtfertigt. Die beiden anderen Konstellatio-

nen, in denen halbierte Verfahrensfristen gelten – dringliche Fälle (Art. III.8 Abs. 3

Bst. a) und bei Vereinbarung zwischen den Parteien (Art. III.8 Abs. 3 Bst. d) – sind

auch in den Schiedsgerichtsregeln der Binnenmarktabkommen vorgesehen.

2.10.7

Grundzüge des Umsetzungserlasses

Für die Umsetzung des Beitragsabkommens ist ein neues Bundesgesetz über die Bei-

träge der Schweiz zur Stärkung der Kohäsion in Europa (nachstehend «Kohäsionsbei-

tragsgesetz») notwendig. Das Bundesgesetz über die Zusammenarbeit mit den Staaten

Osteuropas, welches als Grundlage für den Erweiterungsbeitrag und den Kohäsions-

teil des zweiten Schweizer Beitrags an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten gedient hat,

war befristet und ist per 31. Dezember 2024 ausgelaufen. Neu basiert der Schweizer

Beitrag auf dem Beitragsabkommen mit der EU. Das Kohäsionsbeitragsgesetz spezi-

fiziert daher nur jene innerstaatlichen Aspekte, die für die Umsetzung der auf dem

Beitragsabkommen basierenden Beiträge zur Stärkung der Kohäsion in Europa not-

wendig sind. Gestützt auf das Gesetz soll eine Verordnung die verwaltungsinterne

Organisation und Koordination regeln.

Gemäss dem Beitragsabkommen kann im Rahmen des Schweizer Beitrags neben der

Stärkung der Kohäsion auch auf andere wichtige gemeinsame Herausforderungen re-

agiert werden. Für den ersten Beitrag unter dem Beitragsabkommen 2030–2036

wurde erneut das Thema Migration als wichtige gemeinsame Herausforderung defi-

niert (s. Anhang II des Beitragsabkommens). Die Beiträge für Unterstützungsmass-

nahmen im Bereich Migration stützen sich dabei wie bisher auf das Asylgesetz vom

26. Juni 1998

523

(AsylG). In Zukunft sollen Beiträge zur Bewältigung anderer wich-

tiger gemeinsamer Herausforderungen (z. B. Migration) weiterhin auf eine separate

Gesetzesgrundlage gestützt werden.

2.10.7.1

Umsetzungsgesetzgebung

Das neue Kohäsionsbeitragsgesetz regelt die innerstaatliche Umsetzung des Beitrags-

abkommens im Bereich Kohäsion. Es konzentriert sich auf das Ziel des Beitragsab-

kommens, die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in den wirtschaftlich

schwächeren EU-Mitgliedstaaten zu verringern (Kohäsion). Die innerstaatlichen Um-

setzungsbestimmungen für die Bewältigung anderer gemeinsamer Herausforderungen

befinden sich in anderen Bundesgesetzen. Wie das Beitragsabkommen ist auch das

neue Kohäsionsbeitragsgesetz zeitlich nicht befristet. Die einzelnen Beiträge und die

entsprechenden Verpflichtungskredite werden aber jeweils befristet.

Das Kohäsionsbeitragsgesetz hält fest, wie die Schweiz die in Artikel 3 Buchstabe f

des Beitragsabkommens vorgesehenen Programme und Projekte unterstützt. Es regelt

523

SR

142.31

574 / 931

die Zusammenarbeit mit Dritten, die Finanzierung der Beiträge sowie die Zuständig-

keiten, wie zum Beispiel die Kompetenzen zum Abschluss von Verträgen. Zudem

enthält es Bestimmungen zur Evaluation und Berichterstattung. Der Wegfall des Bun-

desgesetzes über die Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas beziehungsweise

das neue Kohäsionsbeitragsgesetz haben zudem kleinere Anpassungen in anderen Ge-

setzen und später im Verordnungsrecht zur Folge.

2.10.7.2

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

Die Umsetzung des Schweizer Beitrags wird von der Schweiz über die gesamte Um-

setzungsperiode eng begleitet. Sie umfasst die Planungsphase, die Durchführung, ei-

nen geordneten Projektabschluss und eine Evaluation. Die dafür nötigen Mittel (Ei-

genaufwand) sind Teil des Schweizer Beitrags und fallen nicht zusätzlich an. Die

Eidgenössische Finanzkontrolle (EFK) hielt in ihrem Prüfungsbericht zum Erweite-

rungsbeitrag 2015

524

fest, dass im damals laufenden Erweiterungsbeitrag das Kosten-

dach von 5 % zwar eingehalten werden konnte (Kap. Management Kosten 7.1.), dass

dafür aber eine «disziplinierte Kostenkontrolle» nötig gewesen sei. Im Vergleich dazu

ist im Rahmen der Finanzierungsmechanismen des EWR und Norwegens ein Anteil

von 7 % reserviert,

525

das heisst, es stehen anteilsmässig mehr Mittel für die Verwal-

tung zur Verfügung, obwohl diese Finanzierungsmechanismen ein grösseres Finanz-

volumen aufweisen.

2.10.7.3

Umsetzungsfragen

Das Kohäsionsbeitragsgesetz erteilt dem Eidgenössische Departement für auswärtige

Angelegenheiten (EDA) und dem Eidgenössischen Departement für Wirtschaft, Bil-

dung und Forschung (WBF) die Zuständigkeit zur Umsetzung der Beiträge. Der Bun-

desrat wird die Ausführungsbestimmungen zum Kohäsionsbeitragsgesetz in der Ver-

ordnung über die Beiträge der Schweiz zur Stärkung der Kohäsion in Europa

(Kohäsionsbeitragsverordnung) erlassen. Die Direktion für Entwicklung und Zusam-

menarbeit (DEZA) und das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) koordinieren sich

mit den Bundesämtern, die für die Beiträge zur Bewältigung anderer wichtiger ge-

meinsamer Herausforderungen zuständig sind, sowohl bei der Planung als auch der

Durchführung. Sie können andere Bundesämter und öffentliche Institutionen mit ent-

sprechenden Fachkompetenzen für die Durchführung von Unterstützungsmassnah-

men beiziehen. Die Modalitäten und Rahmenbedingungen (z. B. Vereinbarungen zwi-

schen Bundesämtern für die Durchführung der Unterstützungsmassnahmen) werden

zwischen den betroffenen Stellen vereinbart.

Der Steuerungsausschuss Kohäsion koordiniert die Umsetzung der Beiträge. Der Aus-

schuss wird von der DEZA und vom SECO abwechslungsweise geleitet und darin

sind auch die Abteilung Europa des Staatssekretariats des EDA sowie jene Bundes-

ämter, die Beiträge im Bereich anderer wichtiger gemeinsamer Herausforderungen

524

Siehe www.efk.admin.ch > Publikationen > Berichte > Der Schweizer Erweiterungsbei-

trag – Erlaubt die Aufgabenteilung mit den EU-Partnerländern eine effiziente Umsetzung?

(EFK-14447).

525

Siehe Art. 1.9 Abs. 2 der

Regulations on the implementation of the EEA grants 2021-2028

,

abrufbar unter unter www.eeagrants.org > Menu > Resources > Regulations.

575 / 931

umsetzen, vertreten. Im ersten Beitrag (2030–2036) wird daher das Sekretariat für

Migration (SEM), das für das Thema Migration zuständig ist, im Ausschuss vertreten

sein. In der Kohäsionsbeitragsverordnung ist des Weiteren die Koordination mit an-

deren involvierten Bundesämtern geregelt. Sie erfolgt auf Ebene einer spezifischen

Unterstützungsmassnahme oder für einen ganzen thematischen Bereich (z. B. For-

schung). Zudem können im Steuerungsausschuss Kohäsion die meistinvolvierten

Bundesämter beigezogen werden.

Die vereinbarten Unterstützungsmassnahmen werden grundsätzlich durch die Part-

nerstaaten durchgeführt, welche für ein geeignetes Verwaltungs- und Kontrollsystem

sorgen müssen. Für Unterstützungsmassnahmen, die durch die Schweiz verwaltet

werden, hat die Schweiz dieselbe Verpflichtung. Die zuständigen Bundesämter, das

heisst die DEZA und das SECO, legen Ausführungsmodalitäten zu den Umsetzungs-

abkommen fest, in denen die Anforderungen an die Überwachung detailliert festge-

halten werden. Die Rückforderungs- und Zahlungsprozesse werden für jeden Partner-

staat in den Umsetzungsabkommen festgelegt und durch die zuständigen Behörden

vorgängig geprüft. Zudem werden risikobasierte Überprüfungen der Unterstützungs-

massnahmen verlangt, und die zuständigen Bundesämter können im Rahmen der

Bestimmungen in Artikel 13 des Beitragsabkommens jederzeit selbst in eigener Regie

Prüfungen durchführen lassen.

2.10.8

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des

Umsetzungserlasses

Art. 1

Gegenstand

Das Kohäsionsbeitragsgesetz regelt die Umsetzung der Beiträge der Schweiz zur Ver-

ringerung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in der EU, wie sie im Bei-

tragsabkommen zwischen der Schweiz und der EU vorgesehen sind. Die Beiträge zur

Bewältigung anderer wichtiger gemeinsamer Herausforderungen werden nicht im Ko-

häsionsbeitragsgesetz geregelt.

Art. 2

Unterstützte Programme und Projekte

Artikel 3 Buchstabe f des Beitragsabkommens (im Gesetz «Abkommen») definiert

den Begriff «Unterstützungsmassnahme» als Programm oder Projekt, das mit der Un-

terstützung der Schweiz umgesetzt wird. Im Gesetz wird der Verständlichkeit halber

durchwegs von «Programmen und Projekten» gesprochen.

Drei Formen der Beiträge sind in Artikel 5 Ziffer 1 des Beitragsabkommens geregelt:

1)

Gestützt auf die Umsetzungsabkommen werden Programme und Projekte

direkt von den Partnerstaaten geplant und durchgeführt, aber vorgängig so-

wohl durch den Partnerstaat als auch durch die Schweiz (entweder die

DEZA oder das SECO) genehmigt. Diese Genehmigungen basieren auf der

gemeinsamen Vorauswahl von Programmen/Projekten in den Umsetzungs-

abkommen.

576 / 931

2)

Es besteht zudem die Möglichkeit, dass die Schweiz im beschränkten Rah-

men selbst verwaltete Unterstützungsmassnahmen umsetzt. So kann sie

zum Beispiel selber einen Fonds für Forschungszusammenarbeit oder Zi-

vilgesellschaft verwalten.

3)

Die Schweiz kann gegebenenfalls auch zu Finanzierungsinstrumenten Drit-

ter beitragen (s. nachfolgend Erläuterungen zu Art. 3).

Art. 3

Formen der Unterstützung

Gemäss Artikel 3 des Kohäsionsbeitragsgesetzes kann die Form der Unterstützungs-

massnahmen verschieden ausgestaltet sein. Dies sind insbesondere nicht rückzahlbare

Geldleistungen, Darlehen, Beteiligungen oder Garantien; wobei in der Praxis derzeit

die nicht rückzahlbaren Geldleistungen überwiegen. Es können aber auch andere Mo-

dalitäten sein, wie technische Expertise oder Beiträge an Finanzierungsinstrumente,

die von anderen Geldgebern (bspw. den Finanzierungsmechanismen Norwegens und

des EWR oder multilateralen Organisationen) finanziert werden, solange diese dem

Ziel und den Grundsätzen des Beitragsabkommens entsprechen. Die genauen Anfor-

derungen an Unterstützungsmassnahmen und die Prozesse zu deren Planung, Durch-

führung und Monitoring werden in den Ausführungsmodalitäten zu den Umsetzungs-

abkommen beschrieben.

Art. 4

Zusammenarbeit mit Dritten

Der Bund kann für die Planung und Durchführung der Programme und Projekte Dritte

beauftragen. Unter «Dritten» werden verwaltungsexterne natürliche oder juristische

Personen des privaten oder öffentlichen Rechts verstanden. Die Beauftragung Dritter

ist zentral für eine effiziente Durchführung der Unterstützungsmassnahmen. Im Rah-

men des zweiten Schweizer Beitrags werden gewisse Forschungsprogramme zum

Beispiel vom Schweizerischen Nationalfonds durchgeführt, was sich bereits beim Er-

weiterungsbeitrag bewährt hatte. Die meisten Programme profitieren auch von der

Expertise von Schweizer Experten aus der Privatwirtschaft, von Dachverbänden oder

Nichtregierungsorganisationen, die dadurch die Qualität der Programme verbessern

und Swissness einbringen. Die Auswahl der Dritten, an die solche Aufträge vergeben

werden können, richtet sich nach den Normen und dem Bundesgesetz vom 21. Juni

2019

526

über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB) sowie dessen Verordnung

527

.

Der Bund wird nur Vorhaben Dritter unterstützen, die den Zielen und Grundsätzen

des Abkommens entsprechen. Dabei geht es darum, die Erfahrungen, Fähigkeiten und

Initiativen Dritter im Sinne eines rationellen Einsatzes des in der Schweiz und inter-

national vorhandenen Potenzials zu nutzen. Falls diese Beiträge an Dritte unter das

Bundesgesetz über Finanzhilfen und Abgeltungen vom 5. Oktober 1990

528

(Subven-

tionsgesetz) fallen, muss eine solche Unterstützung auf Gesuch hin erfolgen, wobei

das Einreichen eines Programm- oder Projektvorschlags als Antwort auf einen Aufruf,

solche einzureichen, als Gesuch betrachtet wird.

526

SR

172.056.1

527

SR

172.056.11

528

SR

616.1

577 / 931

Zudem kann der Bund mit Kantonen, Gemeinden und öffentlichen Institutionen zu-

sammenarbeiten und diese unterstützen. Dies ist sehr wertvoll, weil sie mit ihrer an-

gewandten Expertise, mit ihren Kenntnissen oder Erfahrungen die Umsetzung der

Massnahmen bereichern. Der Begriff «öffentliche Institutionen» bezieht sich zum

Beispiel auf kantonale und eidgenössische Hoch- und Fachschulen, die auf ihrem Ge-

biet über ein Fachwissen verfügen, das sie befähigt, Projekte für den Bund durchzu-

führen, Beratungsaufgaben zu übernehmen oder Projektstudien durchzuführen. Eine

solche Zusammenarbeit kann durch den Einsatz und Abgeltung von Fachexpertise der

Kantone, Gemeinden oder öffentlichen Institutionen stattfinden. Die Zusammenarbeit

mit Kantonen, Gemeinden und öffentlichen Institutionen kann die Form von Subven-

tionen annehmen (z. B. wenn die Kantone mit den Partnerstaaten arbeiten), oder über

die Eigenmittel finanziert werden, wenn die Dienstleistung an die Bundesämter er-

folgt.

Zur effizienten Umsetzung der Beiträge kann es zweckmässig sein, dass sich der Bund

an juristischen Personen beteiligt oder solche gründet. In diesem Artikel wird jedoch

auf eine Norm dazu verzichtet, weil gemäss Artikel 52 des Bundesgesetzes vom

7. Oktober 2005

529

über den eidgenössischen Finanzhaushalt in jedem Fall eine neue

Gesetzesgrundlage nötig wäre.

Art. 5

Finanzierung

Die Finanzierung der Beiträge wird mittels Verpflichtungskrediten für jeweils meh-

rere Jahre beantragt, welche vom Parlament mit einfachem Bundesbeschluss bewilligt

werden müssen.

Art. 6

Verträge

Zur Durchführung der Unterstützungsmassnahmen sollen wie bisher völkerrechtliche

Verträge mit den Partnerstaaten abgeschlossen werden, welche die allgemeinen

Grundsätze der Zusammenarbeit festlegen. In Übereinstimmung mit Artikel 166 Ab-

satz 2 BV

530

ermächtigt Artikel 6 des Kohäsionsbeitragsgesetzes den Bundesrat zum

Abschluss von länderspezifischen Umsetzungsabkommen mit den Partnerstaaten im

Rahmen der Beiträge zur Stärkung der Kohäsion in Europa. Diese Bestimmung dient

auch der Entlastung des Parlaments von weniger wichtigen Routinegeschäften.

Programme und Projekte in Partnerstaaten können nur dann erfolgreich durchgeführt

werden, wenn sie auf vertraglicher Basis beruhen. Diese Projekt- und Programmab-

kommen sind Staatsverträge; sie sind aber rein technischer Natur, finanziell begrenzt,

zeitlich befristet und auf die jeweilige Unterstützungsmassnahme beschränkt. Deshalb

ermächtigt das Gesetz die zuständigen Bundesämter, derartige völkerrechtliche Ver-

träge über Einzelprojekte und Einzelprogramme abzuschliessen. In Übereinstimmung

mit Artikel 48

a

Absatz 2 des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes

vom 21. März 1997

531

(RVOG) erstattet der Bundesrat dem Parlament jährlich Be-

529

SR

611.0

530

SR

101

531

SR

172.010

578 / 931

richt über die von ihm, von den Departementen oder von Bundesämtern abgeschlos-

senen Verträge. Zudem können die zuständigen Bundesämter in eigener Kompetenz

auch privatrechtliche Verträge (z. B. für Evaluationsaufträge) oder öffentlich-rechtli-

che Verträge zu den Unterstützungsmassnahmen abschliessen.

Art. 7

Zuständigkeiten

Artikel 7 hält die gemeinsame Zuständigkeit des EDA (DEZA) und des WBF (SECO)

für die Umsetzung der Beiträge zur Stärkung der Kohäsion in Europa fest. Die Zu-

ständigkeiten für die Umsetzung der Beiträge zur Bewältigung anderer gemeinsamer

Herausforderungen liegen bei jenen Bundesstellen, die in der Bundesverwaltung für

die in der jeweiligen Beitragsperiode festgelegten Themen zuständig sind. Diese ha-

ben aber unter diesem Gesetz keine formelle Zuständigkeit und benötigen eine andere

rechtliche Grundlage als dieses Gesetz. Für das Thema Migration im Rahmen des ers-

ten Beitrags 2030–2036 ist dies das Asylgesetz.

Art. 8

Monitoring, Evaluationen und Berichterstattung

Der Bundesrat überwacht den Vollzug dieses Gesetzes und des Abkommens, insbe-

sondere die wirksame Verwendung der Mittel. Die zuständigen Bundesämter sind für

das Monitoring verantwortlich und veranlassen regelmässige Evaluationen, um die

Zweckmässigkeit, die Effektivität und Wirtschaftlichkeit der getroffenen Unterstüt-

zungsmassnahmen zu überprüfen. Die Evaluationsberichte werden veröffentlicht. Der

Bundesrat unterbreitet dem Parlament für jeden Beitrag einen Rechenschaftsbericht

über die Zielerreichung, Umsetzung, Verwendung und Wirksamkeit des Beitrags. Die

Berichterstattung beinhaltet unter anderem die Resultate der Evaluationen. Den ge-

machten Erfahrungen soll in der Vorbereitung der künftigen Beiträge Rechnung ge-

tragen werden. Die innerstaatlichen Vorschriften zu den einseitigen Kontrollen von

Unterstützungsmassnahmen der Schweiz werden in der Kohäsionsbeitragsverordnung

geregelt und daher nicht in diesem Gesetz erwähnt.

Art. 9

Vollzug – keine Erläuterungen

Art. 10

Änderung anderer Erlasse

Da das Bundesgesetz über die Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas Ende

2024 ausgelaufen ist, muss der Verweis auf die «Ostzusammenarbeit» im BöB geän-

dert werden. Im Anhang 5 Ziffer 1 Buchstabe d BöB wird dabei die Bezugnahme auf

die «Ostzusammenarbeit» durch die Bezugnahme auf das Kohäsionsbeitragsgesetz

ersetzt. Die Verordnungen, die einen Verweis auf die «Ostzusammenarbeit» oder ähn-

liche Formulierungen behalten, werden mit dem Erlass der Verordnung zum Kohäsi-

onsbeitragsgesetz geändert.

Im Bundesgesetz vom 19. Dezember 2003

532

über Massnahmen zur zivilen Friedens-

förderung und Stärkung der Menschenrechte wird in Artikel 1 Absatz 2 Buchstabe b

ein Verweis auf das Kohäsionsbeitragsgesetz eingefügt. Dieser Buchstabe b enthielt

532

SR

193.9

579 / 931

einen Verweis auf das Bundesgesetz über die Zusammenarbeit mit den Staaten Ost-

europas, das bis 31. Dezember 2024 in Kraft war. Da Programme und Projekte im

Kohäsionsteil des Schweizer Beitrags auch Ziele der zivilen Friedensförderung und

der Stärkung der Menschenrechte verfolgen könnten, wird mittels dieses Verweises

sichergestellt, dass für diese Programme und Projekte nur das Kohäsionsbeitragsge-

setz anwendbar ist.

Art. 11

Referendum und Inkrafttreten – keine Erläuterungen

2.10.9

Inhalt der drei Kreditbeschlüsse

Im Beitragsabkommens werden die zentralen Elemente der ersten Beitragsperiode

2030–2036 festgelegt (s. Ziff. 2.10.5.5). Dazu zählt die Aufteilung zwischen den in-

haltlichen Pfeilern Kohäsion und gemeinsame Herausforderungen, wobei für letztere

die Migration als Thema für den ersten Beitrag definiert wurde. Zudem wurden die

Eckwerte der einmaligen zusätzlichen finanziellen Verpflichtung (Ende 2024–Ende

2029) in Anhang III festgelegt (s. Ziff. 2.10.5.6). Deshalb beinhaltet diese Vorlage die

entsprechenden Verpflichtungskredite: Je ein Kreditbegehren im Rahmen des ersten

Schweizer Beitrags für die Bereiche Kohäsion (Umsetzung durch die DEZA und das

SECO) und Migration (Umsetzung durch das SEM) sowie ein Kreditbegehren für die

einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung (nur Bereich Kohäsion), die gemein-

sam mit dem Verpflichtungskredit Kohäsion umgesetzt werden soll. Die entsprechen-

den Mittel fliessen nicht ins EU-Budget, sondern werden direkt den Partnerstaaten

zugutekommen.

Die detaillierten organisatorischen und thematischen Spezifitäten für die ab 2030 um-

zusetzenden Programme, die über die Eckwerte hinausgehen, wurden im Beitragsab-

kommen bewusst offengelassen. Diese sollen zeitnahe vor Beginn der Umsetzung mit

der EU in einem MoU festgehalten werden. Entsprechend konzentrieren sich die nach-

folgenden Abschnitte unter Ziffer 2.10.9 auf die für den nächsten Beitrag zentralen

konzeptionellen Punkte.

2.10.9.1

Verpflichtungskredit Kohäsion

2.10.9.1.1

Thematische Ausrichtung

Die Schweiz will mit dem Beitrag zur Stärkung der Kohäsion weiter zum Abbau von

wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten zwischen den ausgewählten wirtschaft-

lich schwächeren Partnerstaaten und den übrigen EU-Mitgliedstaaten beitragen; zu-

dem möchte sie den Abbau von Ungleichheiten auch innerhalb der einzelnen Partner-

staaten fördern. Gleichzeitig ist es ein zentrales Schweizer Anliegen, die bilateralen

Beziehungen zu diesen Ländern nachhaltig zu stärken und ihr Ansehen als vertrau-

enswürdiger starker europäischer Partner zu festigen. Damit setzt die Schweiz ihren

erfolgreichen Ansatz grundsätzlich fort, den sie mit dem Erweiterungsbeitrag und dem

derzeit laufenden zweiten Schweizer Beitrag eingeschlagen hat. Für den Bereich Ko-

häsion sind gemäss Anhang II des Beitragsabkommens für die Beitragsperiode 2030–

2036 durchschnittlich 308 Millionen Franken pro Jahr vorgesehen. Für den Verpflich-

tungskredit werden davon die 5 % Eigenmittel und die 2 %, die für den SEPF be-

stimmt sind, abgezogen. Die Partnerstaaten im Bereich der Kohäsion werden gemäss

580 / 931

dem im Beitragsabkommen festgelegten Kriterium identifiziert (weniger als 90 % des

durchschnittlichen EU-BNE). Es dürfte dabei im Vergleich zum zweiten Schweizer

Beitrag allenfalls zu leichten Verschiebungen kommen, sollten einzelne Länder diese

Schwelle über- oder unterschreiten.

Die externe Evaluation des Erweiterungsbeitrags an die EU-10 (Estland, Lettland, Li-

tauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn und Zy-

pern)

533

hatte bestätigt, dass der im Vergleich zu den Strukturfonds und dem Kohäsi-

onsfonds der EU wesentlich kleinere Schweizer Beitrag signifikante Resultate

erzielen konnte. Dies erfolgte effizient, auch in Bezug auf die Begleit- und Manage-

mentkosten. Die externe Evaluation prüfte 29 Programme im Detail und bestätigte

einen Mehrwert zur sozio-ökonomischen Entwicklung in den Zielregionen. Ausser-

dem bestätigte die Evaluation die positiven Auswirkungen auf die bilateralen Bezie-

hungen der Schweiz zu den Partnerstaaten sowie gestärkte Partnerschaften zwischen

Organisationen der beiden Länder und erhöhte wirtschaftliche Opportunitäten für

Schweizer Unternehmen.

Basierend auf den bisherigen Erfahrungen wurden in Anhang II des Beitragsabkom-

mens im Hinblick auf den ersten Beitrag für die Kohäsion vier breite Themenbereiche

festgelegt, in denen die Umsetzung erfolgen soll:

inklusive menschliche und soziale Entwicklung;

nachhaltige und inklusive wirtschaftliche Entwicklung;

ökologischer Wandel;

Demokratie und Partizipation.

Die detaillierten inhaltlichen Spezifitäten sollen zeitnah vor der Umsetzung bestimmt

werden, wobei die Schweiz ihre Prioritäten einbringen wird. So sollen die konkreten

Themen nach Inkrafttreten des Beitragsabkommens in einem MoU mit der EU fest-

gehalten werden. Sie werden anschliessend in die bilateralen Umsetzungsabkommen

mit den Partnerstaaten eingebracht. Die unterschiedlichen Ziele und Aktivitäten, die

mit den einzelnen Partnerstaaten vereinbart werden, sollen sich in die strategischen

Prioritäten der Länder und der EU einfügen. Gleichzeitig wird ein Austausch in Bezug

auf die entsprechenden sektoriellen Aussenpolitiken oder die eigenen innerstaatlichen

Erfahrungen der Schweiz angestrebt. Zudem sollen auch im nächsten Beitrag Partner-

schaften mit kompetenten Schweizer Akteuren in allen vier thematischen Bereichen

gezielt einbezogen und unterstützt werden.

Inklusive menschliche und soziale Entwicklung

Die Gesundheitssituation der Bevölkerung ist in den wirtschaftlich schwächeren Län-

dern der EU deutlich schlechter und die Lebenserwartung tiefer als in den anderen

EU-Mitgliedstaaten. Der demografische Wandel der Bevölkerung, die hohe Prävalenz

533

Siehe www.eda.admin.ch/schweizerbeitrag/de/home.html > Aktuell > Publikationen >

Evaluation zum Erweiterungsbeitrag 2015: Das Wichtigste in Kürze.

581 / 931

von nichtübertragbaren Krankheiten sowie die Abwanderung von Fachkräften (insb.

auch im Gesundheitssektor) stellen die Länder seit Jahren vor erhebliche Herausfor-

derungen. Im Vordergrund stehen Vorhaben zur Stärkung des öffentlichen Gesund-

heitswesens wie die Verbesserung der medizinischen Grundversorgung, die Aus- und

Weiterbildung von Gesundheitspersonal, der Ausbau der Gesundheitsförderung und

Prävention und ähnliche systemische Fragen. Ausserdem soll die Inklusion von sozial

Schwachen und Benachteiligten sowie Migrantinnen und Migranten gezielt gefördert

werden, zum Beispiel über Gesundheits- und Sozialdienste für ältere Menschen und

Kinder sowie Angehörige von Minderheiten. Die Programme zur Unterstützung der

Roma sollen fortgesetzt werden. Diese Bevölkerungsgruppe lebt oft unter prekären

Bedingungen. Deren Teilhabe am gesellschaftlichen Entwicklungsprozess soll auf

verschiedenen Ebenen gefördert werden. Auch die Stärkung der staatlichen und nicht-

staatlichen Strukturen gegen Menschenhandel soll fortgeführt werden.

Nachhaltige und inklusive wirtschaftliche Entwicklung

Aufbauend auf den Programmen des Erweiterungsbeitrags und des zweiten Schweizer

Beitrags werden auch im nächsten Beitrag Programme zur Förderung der wirtschaft-

lichen Entwicklung umgesetzt. Die Festigung offener Märkte und die Schaffung von

Arbeitsplätzen dienen als Grundlage für eine nachhaltige Entwicklung. Dabei wird es

vor allem um strukturelle und institutionelle Fragen gehen. Infrastruktur und inner-

staatliche Dienstleistungen sollen langfristig finanziert werden können, womit auch

das Investitionsklima gefestigt wird. Weiterhin zählt die Berufsbildung zu den Priori-

täten, insbesondere die Schaffung von Perspektiven für junge Menschen und die Aus-

bildung von Fachkräften. Daneben stehen die Forschung und der Zugang zur externen

Finanzierung für Mikrounternehmen und KMU im Vordergrund. Ein weiteres Thema

kann fallweise die Stärkung der Sozialpartnerschaften in den Partnerstaaten sein.

Schweizer Akteure wie Bildungsinstitutionen sowie Berufsverbände und Dachorga-

nisationen der Wirtschaft sollen in die Aktivitäten einbezogen werden, um die Ver-

mittlung der erforderlichen Expertise und den direkten Austausch von Erfahrungen zu

gewährleisten. Im Vordergrund steht ein praxisnaher Bezug zum Arbeitsmarkt.

Zur Stärkung der Forschung und Innovation sollen einerseits die angewandte For-

schung und die Leistungsfähigkeit (Exzellenz) von Forschungszentren mit dem Ziel

der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung gefördert werden, insbesondere durch

die konkrete Anwendung der Forschungsresultate durch die Unternehmen. Anderer-

seits sollen die Forschungslandschaft und die Institutionen in den EU-Ländern ge-

stärkt werden. Dabei kann auf den erfolgreichen Forschungspartnerschaften und aka-

demischen

Austauschprogrammen

mit

Schweizer

Hochschulen

aus

dem

Erweiterungsbeitrag und dem zweiten Schweizer Beitrag aufgebaut werden.

Ökologischer Wandel

Die Schweiz hat sich schon mit dem Erweiterungsbeitrag und dem zweiten Schweizer

Beitrag stark im Umweltbereich engagiert. Dies ist auch in der Beitragsperiode 2030–

2036 vorgesehen, zumal die Nachfrage in den Partnerstaaten gross ist und die Schweiz

über profundes Wissen und entsprechende Erfahrungen verfügt, die für die Koopera-

582 / 931

tion genutzt werden können. Die Programme zum Schutz der Umwelt und zur Anpas-

sung an die Auswirkungen des Klimawandels werden einen substanziellen Teil der

Programme in diesem Themenbereich umfassen. Dazu kommen Projekte zur nach-

haltigen Nutzung der natürlichen Ressourcen und zur Reduktion von Schadstoffemis-

sionen. Mit den Massnahmen sollen insbesondere auch die Lebensqualität der Bevöl-

kerung verbessert, negative Auswirkungen auf die Gesundheit gemindert und die

wirtschaftliche Entwicklung gefördert werden.

Aus heutiger Perspektive stehen folgende Felder im Fokus: Klimaschutz und Reduk-

tion von Treibhausgasen dank Energieeffizienz und erneuerbaren Energien; Vermin-

derung weiterer Luftschadstoffe; konzeptionelle und technische Förderung des öffent-

lichen Verkehrs; verbesserte Infrastruktur und Innovation bei Trinkwasser und

Abwasser, Abfall und Entsorgung sowie der Schutz von Gewässern und Landschaften

und der biologischen Vielfalt. Dabei sollen wo sinnvoll innovative Lösungen geför-

dert werden, in denen Schweizer Expertise aus Forschung und deren Anwendungsge-

biete beigezogen werden können. Zentral ist, dass die lokalen und die diversen insti-

tutionellen Interessengruppen umfassend einbezogen werden. Insgesamt wird eine

Mischung aus modernen innovativen Lösungen sowie Projekten in weniger wohlha-

benden strukturschwachen Regionen angestrebt.

Demokratie und Partizipation

Durch die Förderung des Engagements der Bürgerinnen und Bürger soll deren Mit-

wirkung bei der Entwicklung ihres Landes und so die Stärkung demokratischer Struk-

turen und Prozesse unterstützt werden. Verschiedene Formen von Bürgerengagement

(Verbände, Bürgerinitiativen, Interessensgruppen, NGO) sowie die Medien spielen

eine entscheidende Rolle bei der Förderung pluralistischer Strukturen und bei der Ein-

beziehung der Bürgeranliegen in politische Entscheidungsprozesse. Dank ihrer Ver-

trautheit mit den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger können zum Beispiel

Nichtregierungsorganisationen (NGO) staatliche Stellen bei der Erbringung von

Dienstleistungen ergänzen, namentlich im Umwelt- und Sozialbereich. In allen The-

menbereichen, insbesondere bei der Stärkung von demokratischen Prozessen, sollen

Kapazitäten in dezentralen Strukturen (Regionen, Gemeinden) gestärkt, Korruption

bekämpft und Rechenschaft und Transparenz gefördert werden.

2.10.9.1.2

Strategie und Umsetzungsprinzipien

Die Grundsätze und die Umsetzungskonzepte der beiden bisherigen Beiträge haben

sich insgesamt bewährt. Weil ab 2030 substanziell mehr finanzielle Mittel eingesetzt

werden, wird es aber auch neue Formen der Zusammenarbeit brauchen: Neben inno-

vativen Pilotmassnahmen sind dies insbesondere grössere Programme mit etablierten

Partnern sowie, in Ländern mit starken Kapazitäten, umfassendere Ausschreibungen

für eine dezentralisierte Operationalisierung. Die entsprechenden Modalitäten werden

sorgfältig vorbereitet und mit erfahrenen Spezialistinnen und Spezialisten umgesetzt

werden. Gleichzeitig orientiert sich die Arbeit an den bisherigen Erfahrungen, an den

Empfehlungen aus den Prüfungen der EFK des ersten und zweiten Beitrags und wei-

teren Evaluationen. Die Umsetzungsmodalitäten in den einzelnen Partnerstaaten kön-

nen je nach deren Bedürfnissen, eigenen Möglichkeiten und dem Entwicklungsstand

variieren. Da die innerstaatlichen regionalen Unterschiede immer noch gross sind,

583 / 931

sollen insbesondere in den grösseren Partnerstaaten rund die Hälfte der Mittel in struk-

turschwachen Regionen eingesetzt werden. Besonders in diesen Regionen und bei

Themen, in denen es den beteiligten Institutionen an Expertise und Kapazitäten fehlt,

braucht es eine enge Begleitung durch die Schweiz.

Die Modalitäten der Umsetzung werden im Detail in den Umsetzungsabkommen mit

den Partnerstaaten definiert. Das bilaterale Leistungsangebot der Schweiz umfasst die

Finanzierung von Ausrüstung und Infrastruktur sowie Dienstleistungen (Kapazitäts-

förderung, Beratung und Ausbildung). Die Umsetzung soll gemäss den folgenden

Prinzipien erfolgen.

Nachfrageorientierung:

Die strategischen Prioritäten der Partnerstaaten bilden die

Grundlage für die bilateralen Zusammenarbeitsprogramme. Für die Wirksamkeit der

Zusammenarbeit ist es unabdingbar, dass diese bedürfnisorientiert festgelegt wird.

Die Länder stützen sich bei ihrer Planung insbesondere auf den strategischen Rahmen

der EU-Kohäsionspolitik. Auch die Kohäsionsanstrengungen der EWR/EFTA-

Staaten werden beachtet, wobei für die Zukunft auch gemeinsame Programme ins

Auge gefasst werden können.

Schweizer Interesse

: Schweizer Interessen unterschiedlicher Art (thematisch, institu-

tionell, politisch) werden berücksichtigt; sie sind im Spannungsfeld zwischen Nach-

frageorientierung und Stärkung der bilateralen Beziehungen entsprechend zu gewich-

ten.

Schweizer Expertise:

Bei ausgewählten Themen soll weiterhin ausgewiesene Schwei-

zer Expertise in die Zusammenarbeit eingebracht werden. Mögliche Beispiele: duale

Berufsbildung, Erfahrungen aus dem Umweltbereich und aus der Forschung.

Komplementarität:

Der Schweizer Beitrag soll sich auf prioritäre Sektoren konzent-

rieren, für die zu wenig Eigen- respektive EU-Mittel zur Verfügung stehen (finanzi-

elle Komplementarität) oder die durch die Instrumente der EU-Kohäsionspolitik nicht

oder nicht ausreichend abgedeckt werden (thematische Komplementarität).

Finanzielle Beteiligung durch die Partnerstaaten:

Die Partnerstaaten haben in der Re-

gel einen finanziellen Eigenbeitrag von 15 % der Programm- und Projektkosten zu

leisten (s. Erläuterungen zu Art. 7 des Beitragsabkommens). Neben der finanziellen

Bedeutung wird damit sichergestellt, dass die Programme und Projekte für den Part-

nerstaat hohe Priorität haben. Ausserdem werden die meisten Programme von den

Partnerstaaten oder von der ausführenden Institution vorfinanziert und die Kosten

durch die Schweiz periodisch zurückerstattet. Dies soll die ordnungsgemässe Verwen-

dung der Mittel gewährleisten.

Stärkung des Programmansatzes:

Die Umsetzung grösserer Programme ist oft effizi-

enter und insgesamt kostengünstiger. Kleinere Projekte aus demselben Themenbe-

reich werden vorzugsweise in einem thematischen Programm mit einem gemeinsa-

men Budget und projektübergreifenden Zielen gebündelt.

584 / 931

Fortführung von Programmen und Projekten:

Erfolgreiche Programme und Projekte

der beiden vorangegangenen Beiträge sollen bei entsprechendem Bedarf, guten Re-

sultaten und bewährten Partnern nach Möglichkeit weiter unterstützt werden.

Sichtbarkeit:

Die Projekte sollen zur Sichtbarkeit und zum Ansehen der Schweiz im

Partnerstaat beitragen. Bei der Auswahl und Durchführung der Projekte soll dieses

Potenzial berücksichtigt werden.

Auswahl und Genehmigung von Programmen und Projekten

Die Schweiz wird gemeinsam mit jedem Partnerstaat aus den vier in Ziffer 2.10.9.1.1

genannten Themenbereichen Unterthemen und Programme identifizieren und diese in

den Umsetzungsabkommen vereinbaren. Ausserdem werden in diesen Umsetzungs-

abkommen die Höhe des Beitrags, die Grundsätze und Modalitäten der Zusammenar-

beit sowie bei Bedarf die geografische Ausrichtung festgelegt. Wichtig bei der Aus-

wahl ist, dass die Programme und Projekte dazu beitragen, wirtschaftliche und soziale

Ungleichheiten zu verringern und dass sie den strategischen Umsetzungsprinzipien (s.

oben) entsprechen. Die umfassende Vorbereitung der Massnahmen ist Voraussetzung

für deren Genehmigung. Die Unterstützung bei der Vorbereitung und die technische

Begleitung von komplexen Programmen und Projekten durch die Schweiz bis zum

Abschluss sollen beibehalten werden. Bei der Programm- und Projektauswahl sind

die angestrebte Wirkung und die Perspektiven für die langfristige Nachhaltigkeit eines

Vorhabens massgebend. Bei der Auswahl der verantwortlichen Umsetzungsorganisa-

tionen sind namentlich folgende Kriterien wichtig: technische, fachliche und organi-

satorische Fähigkeiten, vorhandene Kapazitäten und Gewährleistung einer effizienten

und wirksamen Mittelverwendung. Die einzelnen Programme und Projekte müssen

durch den Partnerstaat und die Schweiz bewilligt werden:

Generelle Durchführung

Wie beim Erweiterungsbeitrag und beim zweiten Schweizer Beitrag sind die DEZA

und das SECO gemeinsam für die Durchführung des Verpflichtungskredits Kohäsion

zuständig. Die Kohärenz mit der Schweizer Europapolitik wird in Absprache mit der

Abteilung Europa des Staatssekretariats des EDA sichergestellt. Wie bisher werden

personelle Ressourcen bedarfsgerecht in den Schweizer Vertretungen in den Partner-

staaten eingesetzt, um die Umsetzung vor Ort zu begleiten. Der technische Erfah-

rungsaustausch mit Norwegen, dem Finanzmechanismus des EWR und mit den

Diensten der Europäischen Kommission werden weitergeführt.

Um die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und den Partnerstaaten zu stär-

ken, ist eine gezielte Kommunikation im In- und Ausland in Zusammenarbeit mit den

zuständigen Informationsdiensten des Bundes und Präsenz Schweiz vorzusehen.

Operationelle Umsetzung

Für die Zusammenarbeit spielen die Regierungsstellen in den Partnerstaaten eine

Schlüsselrolle, allen voran die jeweilige nationale Koordinationseinheit. Letztere ist

für die Gesamtkoordination im Partnerstaat zuständig und die zentrale Ansprechstelle

585 / 931

für die Schweiz. Die Zusammenarbeit mit nationalen Institutionen wie Fachministe-

rien und Universitäten sowie mit regionalen Partnern (Regionalverwaltung, Gemein-

den) spielt bei der Formulierung und Umsetzung der Programme eine wichtige Rolle.

Diese sind im Bereich Kohäsion oft die eigentlichen Umsetzungspartner.

Auf Schweizer Seite werden ebenfalls diverse Partner und Institutionen an der Beur-

teilung und Begleitung der Programme beteiligt. Dazu gehören neben staatlichen Stel-

len Verbände, NGO, der Privatsektor sowie Ausbildungs- und Forschungsstätten.

Diese können sich zudem gleichberechtigt wie Leistungserbringer aus den EU-

Ländern an den Ausschreibungen von Vorhaben beteiligen, die über den Schweizer

Beitrag finanziert werden. Die öffentlichen Ausschreibungen werden in Übereinstim-

mung mit den gesetzlichen Vorgaben auf den einschlägigen Plattformen der EU und

des Partnerstaats sowie in ausgewählten Fällen in der Schweiz publiziert. Im Übrigen

können sich Schweizer Leistungserbringer auch an zahlreichen öffentlichen Aus-

schreibungen von Vorhaben beteiligen, die über die Strukturfonds und den Kohäsi-

onsfonds der EU finanziert werden.

Die Finanzierung der Programme wird wie bis anhin über eine zentrale Zahlstelle im

Partnerstaat abgewickelt werden. Die Zahlungsabwicklung in der Schweiz erfolgt

über die üblichen Finanzwege des Bundes. Der Mitteleinsatz kann von der Schweiz

jederzeit einem zusätzlichen Prüfverfahren unterzogen werden.

2.10.9.1.3

Controlling und Evaluation

Die Schweiz misst einem leistungsfähigen und effizienten Überwachungs- und Steu-

erungssystem für die Programme hohe Bedeutung bei. Sowohl auf der Ebene der Län-

derprogramme als auch der einzelnen Projekte werden zu Beginn der Umsetzung Mo-

nitoringsysteme etabliert, die auf den Erfahrungen der bisherigen Beiträge basieren.

Von zentraler Bedeutung ist die periodische Berichterstattung durch die Umsetzungs-

verantwortlichen über die getroffenen Massnahmen sowie die Fort- oder Rückschritte

an die jeweilige nationale Koordinationseinheit. Die Überwachung erfolgt in erster

Linie durch die jeweilige nationale Koordinationseinheit. Die Schweiz wird eigene

Fortschrittskontrollen durch die Schweizer Vertretung vor Ort und durch die Zentra-

len der DEZA und des SECO vornehmen. Dabei werden die schweizerischen und lo-

kalen Fachkräfte Effizienz und Wirksamkeit der Projekt- und Programmumsetzung

und die Mittelverwendung überprüfen. Neben der korrekten Durchführung der Pro-

gramme steht die Erreichung der geplanten Resultate im Zentrum des Interesses.

In den bilateralen Umsetzungsabkommen werden rechtlich verbindliche Regeln für

sensible Phasen der Zusammenarbeit festgelegt. Dazu gehören:

die Auswahl von Programm- und Projektvorschlägen;

die Vergabe von Liefer- und Dienstleistungsaufträgen;

die Überprüfung der Umsetzung der vereinbarten Unterstützungsmassnah-

men.

586 / 931

Weiter enthalten die Umsetzungsabkommen eine Anti-Korruptionsklausel gemäss

Artikel 13 des Beitragsabkommens. Damit verpflichten sich die Schweiz und der Part-

nerstaat, jegliche Formen von Korruption zu bekämpfen.

Die finanziellen Prüfverfahren sind sowohl auf der Programm- als auch auf der Pro-

jektebene angelegt. Auf Programmebene ist die nationale Revisionsbehörde zustän-

dig; auf Projektebene werden auch Aufträge an private Treuhand- und Revisionsun-

ternehmen vergeben. Die Schweiz darf auch jederzeit selbst Prüfungen vornehmen.

Auf der Ebene der strategischen und operativen Gesamtprogrammsteuerung finden in

jedem der Partnerstaaten jährlich formelle Besprechungen statt. Dabei prüft die

Schweiz zusammen mit der zuständigen nationalen Koordinationseinheit, inwieweit

und für welche Massnahmen die Mittel verpflichtet wurden, wie die Umsetzung vo-

ranschreitet und wie die vorgegebenen Ziele erreicht werden. Ausserdem wird bei

Bedarf gemeinsam vereinbart, Programm- und Projektanpassungen vorzunehmen.

Dabei werden auch allfällige Risiken analysiert und allfällige Massnahmen verein-

bart.

Jeder Partnerstaat wird nach Abschluss des bilateralen Zusammenarbeitsprogramms

einen umfassenden Schlussbericht verfassen. Zudem können sowohl die Partnerstaa-

ten als auch die Schweiz auf der Programm- und Projektebene Evaluationen durch-

führen lassen. Es ist vorgesehen, gegenüber dem Parlament einen Bericht über den

Verlauf und die Ergebnisse des Gesamtprogramms abzuliefern.

2.10.9.1.4

Ressourcen

Die finanziellen und personellen Auswirkungen, die sich aus diesem Verpflichtungs-

kredit ergeben, werden in Ziffer 2.10.10.1.1 dargestellt. Da die Schweiz die Umset-

zung durch die Partnerstaaten eng und umfassend begleiten will, fallen entsprechende

Personalkosten und anderweitige Eigenmittel unter anderem für die notwendige Risi-

kokontrolle und die Qualitätssicherung an. Weitere Ressourcen sind nötig für die Vor-

bereitung und Begleitung jener Unterstützungsmassnahmen, welche direkt von der

Schweiz umgesetzt werden. Diese Ressourcenaufwendungen entsprechen dem Ver-

handlungsergebnis; im Beitragsabkommen mit der EU wurden für den Bereich Kohä-

sion maximal 5 % des Gesamtbetrags vereinbart, die als Eigenleistungen der Schweiz

verbucht werden dürfen (Anhang II Ziff. 6). Die Erhöhung der eingesetzten Mittel in

der Periode 2030–2036 führt

nominal

zu einem Anstieg des Eigenmittelbedarfs. Es

wird aber insbesondere für den Personalaufwand darauf geachtet, Skaleneffekte zu

erzielen und die Gemeinkosten so tief wie möglich zu halten. Gleichzeitig basieren

die angefragten Eigenmittel auf Erfahrungswerten; sie waren in der Vergangenheit

knapp bemessen.

2.10.9.2

Verpflichtungskredit Migration

2.10.9.2.1

Beschreibung

In Bezug auf den ersten Schweizer Beitrag unter dem Beitragsabkommen wurde ver-

einbart, dass das Migrationsmanagement eine gemeinsame Herausforderung für beide

Seiten darstellt. Mit dem Beitrag sollen jene EU-Staaten unterstützt werden, deren

Strukturen für das Migrationsmanagement unter besonderem Druck stehen und/oder

587 / 931

solche, die sich mit der Schweiz auf die Notwendigkeit einer Stärkung ihrer Migrati-

onsgouvernanz geeinigt haben. Gemäss Anhang II des Beitragsabkommens sollen im

Zeitraum 2030–2036 jährlich durchschnittlich 42 Millionen Franken für diesen

Zweck bereitgestellt werden. Auch hier werden für den Verpflichtungskredit die für

die Eigenmittel reservierten 5 % sowie die 2 %, die für den SEPF bestimmt sind, ab-

zogen. Die Umsetzung des Verpflichtungskredits Migration stützt sich auf das Asyl-

gesetz.

Im Rahmen der asylrechtlichen Vorgaben können die Mittel des Verpflichtungskre-

dits Migration für Massnahmen zur Verhinderung irregulärer Migration verwendet

werden. Diese Massnahmen betreffen unter anderem die Harmonisierung der Asyl-

verfahren und der Aufnahmebedingungen in den EU-Mitgliedstaaten. Darüber hinaus

sieht das Schweizer Recht auch Massnahmen zur Unterstützung der freiwilligen

Rückkehr und der Reintegration vor. Die Umsetzung des Verpflichtungskredits Mig-

ration erfolgt in zwei Phasen über bilaterale Mehrjahresprogramme mit Partnerstaa-

ten, die aufgrund ihrer Bedürfnisse im Migrationsbereich ausgewählt werden. Darüber

hinaus sieht das Beitragsabkommen, wie schon beim zweiten Schweizer Beitrag, die

Einrichtung eines

Rapid Response Fund

vor, der in Krisensituationen im Zusammen-

hang mit unerwarteten und/oder grossen Entwicklungen im Bereich der Migration

eingesetzt werden kann. Schliesslich besteht auch die Möglichkeit, sich an Finanzie-

rungsinstrumenten zu beteiligen, mit denen Programme und Projekte in einem oder

mehreren EU-Staaten unterstützt werden können. Diese verschiedenen Formen der

Beiträge ermöglichen es der Schweiz, die EU-Staaten auf flexible Weise zu unterstüt-

zen und dabei der Volatilität im Migrationsbereich Rechnung zu tragen. Die Auftei-

lung auf die verschiedenen Formen wird im MoU zwischen der Schweiz und der EU

festgelegt.

Durch die Unterstützung von EU-Staaten, die eine grosse Verantwortung im Migrati-

onsbereich haben, trägt die Schweiz zur Stärkung des Migrationsmanagements in Eu-

ropa bei, wovon sie direkt profitiert. Die Schweiz vertieft so ausserdem ihre bilatera-

len Beziehungen mit den Partnerstaaten und mit der EU.

2.10.9.2.2

Umfeld

Als der Bereich Migration im Rahmen des zweiten Schweizer Beitrags zu einer Prio-

rität erklärt wurde, herrschte eine Situation, die sich bis heute nicht grundlegend ge-

ändert hat. Das Migrationsmanagement wird auch in den kommenden Jahren eine

grosse Herausforderung darstellen, insbesondere aufgrund der Konflikte in mehreren

Regionen der Welt, des Klimawandels oder ganz allgemein des Ringens um Einfluss

unter den Grossmächten. In den Jahren 2023 und 2024 verzeichneten mehrere EU-

Staaten und die Schweiz den höchsten Stand an Asylanträgen seit 2015 und 2016, was

auf besonders starke Migrationsbewegungen zurückzuführen war. Der Konflikt und

die Spannungen im Nahen Osten sowie der russische Angriffskrieg in der Ukraine

sind Faktoren, die sich unmittelbar auf die Migration nach Europa auswirken können.

Obwohl sich die Routen ändern, bleiben zudem die Migrationsbewegungen vom afri-

kanischen Kontinent über das Mittelmeer und den Atlantik nach Europa auf einem

hohen Niveau.

588 / 931

Vor diesem Hintergrund haben sich die EU-Mitgliedstaaten im Mai 2024 auf den

neuen Migrations- und Asylpakt geeinigt. Diese Reform der europäischen Migrati-

onspolitik zielt darauf ab, das europäische Asylsystem und die Resilienz der EU ge-

genüber der irregulären Migration zu stärken. Der EU-Pakt soll im Juni 2026 in Kraft

treten und wird sich massgebend auf das Migrationsmanagement in Europa auswir-

ken. Mit dem neuen Pakt wird im EU-Recht zum ersten Mal ein obligatorischer Soli-

daritätsmechanismus verankert. Über diesen Mechanismus unterstützen sich die EU-

Mitgliedstaaten gegenseitig, um Staaten mit starkem Migrationsdruck zu entlasten.

Eine Teilnahme der assoziierten Staaten, darunter die Schweiz, ist auf freiwilliger Ba-

sis möglich. Ausserdem unterstützt die EU die Behörden der Mitgliedstaaten mit dem

Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF), um unter anderem die Aufnahme-

bedingungen von Migrantinnen und Migranten, die Bearbeitung von Asylgesuchen

und die Umsetzung von Rückführungen zu verbessern. Auch ein Teil des Beitrags der

EFTA/EWR-Staaten wird zur Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Un-

gleichheiten in Europa für Projekte im Migrationsbereich eingesetzt. Vor diesem Hin-

tergrund ist es wichtig, dass die aus dem Schweizer Beitrag finanzierten Massnahmen

im Bereich Migration und die Massnahmen, die im Rahmen von Programmen der EU

und der EFTA/EWR-Staaten durchgeführt werden, komplementär sind.

Der Verpflichtungskredit Migration ist auch vor dem Hintergrund der Erweiterung

des Schengen-Raums zu sehen, dem Bulgarien und Rumänien am 1. Januar 2025 voll-

ständig beigetreten sind. Die Zahl der Staaten, die Verantwortung für die Kontrolle

der EU-Aussengrenzen übernehmen, wird dadurch grösser, was auch die Anforderun-

gen an das Migrationsmanagement in den betroffenen Ländern erhöht.

2.10.9.2.3

Thematische Ausrichtung

Unter Berücksichtigung der ersten Erfahrungen mit der Umsetzung des zweiten

Schweizer Beitrags und der Ziele des Verpflichtungskredits Migration sollen insbe-

sondere die folgenden Bereiche finanziell unterstützt werden:

Asylverfahren

: Die Zusammenarbeit betrifft namentlich die Registrierung

der Asylsuchenden und die Durchführung des Asylverfahrens. Die Erkennt-

nisse des SEM aus der Revision des Asylgesetzes 2019 sowie die erfolgten

Anpassungen bei den Verfahren könnten mit anderen europäischen Staaten

geteilt werden.

Unterkünfte für Schutzbedürftige

: Die von den Migrationsbewegungen be-

sonders betroffenen EU-Staaten sollen dank des Schweizer Beitrags eine

bessere Betreuung der Migrantinnen und Migranten gewährleisten können.

Deshalb sollen insbesondere mit Blick auf die Bedürfnisse von besonders

schutzbedürftigen Migrantinnen und Migranten geeignete Infrastrukturen

bereitgestellt werden. Im Rahmen des zweiten Schweizer Beitrags wurden

mehrere Zentren für unbegleitete minderjährige Asylsuchende finanziert.

Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr und der Reintegration

: Die

Schweiz verfügt über umfangreiche Erfahrungen und Fachkenntnisse in

diesem Bereich, der in vielen europäischen Ländern Bestandteil der Migra-

589 / 931

tionspolitik ist. Der Erfahrungsaustausch und die Finanzierung von Pro-

grammen für eine freiwillige Rückkehr in enger Zusammenarbeit mit den

nationalen Behörden und den zuständigen internationalen Organisationen

sind deshalb ein möglicher Kooperationsbereich.

Integration von Schutzbedürftigen

: Integrationsmassnahmen tragen dazu

bei, die Situation der Betroffenen vor Ort zu verbessern, und können so die

irreguläre Primär- oder Sekundärmigration verhindern. Bei der Umsetzung

des zweiten Schweizer Beitrags gab es seitens der Partnerstaaten ein starkes

Interesse am Schweizer Integrationsmodell. Da das Thema Integration im

weiteren Sinne über den Verpflichtungskredit Kohäsion abgedeckt wird, ist

in diesem Bereich eine enge Koordination zwischen den beiden Krediten

vorgesehen, namentlich in Staaten, in denen beide Kredite zum Tragen

kommen.

2.10.9.2.4

Strategie und Umsetzungsprinzipien

Die finanzielle Unterstützung im Rahmen des Beitragsabkommens ist Teil der Ge-

samtstrategie des Bundesrates für die internationale und insbesondere die europäische

Zusammenarbeit im Migrationsbereich. Gemäss Artikel 113, 1. Satz, AsylG beteiligt

sich der Bund an der Harmonisierung der europäischen Flüchtlingspolitik auf europä-

ischer Ebene sowie an der Lösung von Flüchtlingsproblemen im Ausland. Mit dem

zweiten Schweizer Beitrag hatte der Bundesrat bereits seine Absicht bekundet, sich

an einer wirksamen Bewältigung der Herausforderungen im Zusammenhang mit den

Migrationsbewegungen in Europa zu beteiligen. Mit dem vorliegenden Verpflich-

tungskredit setzt der Bundesrat diesen Weg fort, der auch im Interesse der Schweiz

liegt. Durch den Abbau von Ungleichheiten im Migrationsbereich zwischen den eu-

ropäischen Ländern setzt sich die Schweiz unter anderem dafür ein, die irreguläre Se-

kundärmigration innerhalb der EU und in die Schweiz zu verringern.

Die Strategie und ihr Umsetzungsplan beruhen auf den während des zweiten Schwei-

zer Beitrags gemachten Erfahrungen, insbesondere auf den Empfehlungen, die im

Rahmen verschiedener Evaluationen ausgesprochen wurden und werden. Die Umset-

zungsgrundsätze können von Land zu Land variieren, um den Besonderheiten des lo-

kalen Kontexts Rechnung zu tragen. Damit die Schweiz einen Mehrwert bieten kann,

wird sie einerseits Bereiche identifizieren, in denen sie ihr eigenes Fachwissen ein-

bringen kann, und andererseits jene Bedürfnisse der Partnerstaaten berücksichtigen,

die nicht durch andere Finanzierungsinstrumente abgedeckt werden. Ausserdem wird

auch auf die Wahrung der Interessen der Schweiz geachtet. Die einzelnen Programme

und Projekte müssen durch den Partnerstaat und die Schweiz bewilligt werden.

Die Schweiz und die Partnerstaaten stützen sich bei der Umsetzung des Schweizer

Beitrags auf die Prinzipien der europäischen Wertegemeinschaft, die auf der Wahrung

der Menschenrechte, auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenwürde und

Gleichberechtigung beruht, so wie es in den Artikeln 11 und 13 des Beitragsabkom-

mens festgelegt wurde. Bei Verfehlungen kann die Schweiz auch im Bereich Migra-

tion geeignete, verhältnismässige und wirksame Massnahmen ergreifen. In gravieren-

den Fällen kann dies eine Suspendierung oder Beendigung der betroffenen

590 / 931

Unterstützungsmassnahmen zur Folge haben. Zudem beruht das Schweizer Engage-

ment weiterhin auf Transparenz, Resultatorientierung, Rechenschaftsablegung, Ei-

genverantwortung, Einbezug sozial benachteiligter Gruppen, Geschlechtergerechtig-

keit und Nachhaltigkeit. Die für den Kohäsionsteil gültigen Umsetzungsprinzipien (s.

Ziff. 2.10.9.1.2) gelten auch für den Bereich Migration.

Generelle Durchführung

Im Rahmen der Umsetzung des vom Parlament bewilligten Verpflichtungskredits

Migration schliesst der Bundesrat mit den ausgewählten Partnerstaaten jeweils ein

Umsetzungsabkommen ab. In diesen Umsetzungsabkommen werden der Betrag zu-

gunsten des betreffenden Landes sowie die Zeitspanne der Unterstützung, die Moda-

litäten für die Mittelverwaltung und die Ziele der Unterstützung festgehalten. Die zu-

ständigen Parlamentskommissionen müssen gemäss Artikel 114 Asylgesetz vor

Abschluss der Umsetzungsabkommen konsultiert werden.

Wird ein Partnerstaat sowohl aus dem Verpflichtungskredit Migration als auch aus

dem Verpflichtungskredit Kohäsion unterstützt, schliesst die Schweiz mit dem Land

zwei separate Umsetzungsabkommen ab, eines im Bereich Migration und eines im

Bereich Kohäsion, wobei jedes dieser Abkommen unterschiedliche Themenbereiche

und Zeiträume abdeckt. Situationsbezogen und bei Bedarf werden wie bisher perso-

nelle Ressourcen in den Schweizer Vertretungen in den Partnerstaaten eingesetzt, um

die Umsetzung vor Ort eng zu begleiten. Dabei wird auch auf mögliche Synergien mit

dem Bereich Kohäsion geachtet. Regelmässige Austausche finden mit Vertreterinnen

und Vertretern der EU in den Partnerstaaten statt, um die Komplementarität sicherzu-

stellen. Um die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und den Partnerstaaten

zu stärken, ist auch eine gezielte Kommunikation im In- und Ausland in Zusammen-

arbeit mit den zuständigen Informationsdiensten des Bundes und Präsenz Schweiz

vorzusehen.

Bei ausgewählten Themen soll der Einbezug von Schweizer Expertise weiterhin ge-

fördert werden. Zum Beispiel kann im Bereich der Betreuung unbegleiteter minder-

jähriger Asylsuchenden Schweizer Expertise für Ausbildungsmassnahmen verwendet

werden, wie es im zweiten Schweizer Beitrag der Fall war. Auch Expertenaustausche

zu den verschiedenen abgedeckten Themen können vorgesehen werden, wie sie im

Rahmen des zweiten Schweizer Beitrags unter anderem zu den Themen Integration

und Asylverfahren stattfanden.

Operationelle Umsetzung

Das SEM wird mit der Verwaltung des Verpflichtungskredits Migration und insbe-

sondere mit der Mehrjahresplanung, mit der Kontrolle der Umsetzung sowie der Bud-

getverwaltung beauftragt. Dabei stützt sich das SEM insbesondere auf die Erfahrun-

gen, die bei der Umsetzung des zweiten Schweizer Beitrags gemacht wurden. Die

Koordination innerhalb der Bundesverwaltung wird durch die Strukturen des Schwei-

zer Beitrags, das heisst die Steuerungsausschüsse Migration und Kohäsion, sicherge-

stellt. Der Steuerungsausschuss Migration wird vom SEM geleitet. Darin vertreten

sind ausserdem die Abteilung Europa des Staatssekretariats EDA, die DEZA und das

591 / 931

SECO. Damit wird auch die Kohärenz mit der Europapolitik der Schweiz sicherge-

stellt.

Für die Zusammenarbeit spielen die Regierungsstellen in den Partnerstaaten eine

Schlüsselrolle, allen voran die jeweilige nationale Koordinationseinheit. Letztere ist

für die Gesamtkoordination des Beitrags im Bereich Migration im Partnerstaat zustän-

dig und die zentrale Ansprechstelle für die Schweiz. Idealerweise ist diese Einheit

auch für die Verwaltung der Mittel aus anderen Unterstützungsfonds der EU und der

EFTA/EWR-Mitgliedstaaten sowie gegebenenfalls für die Verwaltung des Verpflich-

tungskredits Kohäsion zuständig. Partner zur Umsetzung von Programmen und Pro-

jekten können die zuständigen Ministerien, zentrale, regionale und lokale Migrations-

behörden, internationale Organisationen, NGO und akademische Einrichtungen sein.

Auf Schweizer Seite fliesst das Fachwissen der zuständigen Stellen des Bundes und

allenfalls der Kantone ein.

Die Finanzierung der Programme wird wie bis anhin über eine zentrale Zahlstelle im

Partnerstaat abgewickelt werden. Die Zahlungsabwicklung in der Schweiz erfolgt

über die Schweizerische Nationalbank. Im Prinzip soll sich der Partnerstaat mit min-

destens 15 % der Kosten beteiligen. Je nach Finanzkraft des Partners oder Kontext

können andere Kofinanzierungssätze zur Anwendung kommen. Alle Programme wer-

den durch ein Audit geprüft. Zudem können sie von der Schweiz jederzeit einem zu-

sätzlichen Prüfverfahren unterzogen werden.

Für die Verwaltung des

Rapid Response Fund

ist ausschliesslich das SEM zuständig;

es identifiziert und wählt die Projekte aus und steht in direktem Kontakt mit den Part-

nern vor Ort. Um eine rasche Umsetzung zu gewährleisten, werden direkt zwischen

dem SEM und hauptsächlich internationalen, nichtstaatlichen Organisationen oder

akademischen Einrichtungen Projektabkommen abgeschlossen, unter Einhaltung der

Finanzkompetenzen, die in der Asylverordnung 2 vom 11. August 1999

534

über Fi-

nanzierungsfragen definiert sind.

Neben den erwähnten Formen der Umsetzung soll auch die Möglichkeit in Betracht

gezogen werden, mit einem Teilbetrag des Verpflichtungskredits Migration einen fi-

nanziellen Beitrag an Finanzierungsinstrumente zu leisten, die ähnliche Ziele verfol-

gen. Sofern hierfür Anpassungen im Asylgesetz nötig wären, würden diese im Rah-

men eines separaten Gesetzgebungsverfahrens vorgenommen werden.

Wenn die für die Jahresprogramme vorgesehenen Finanzmittel nicht ausgeschöpft

werden, können sie dem

Rapid Response Fund

neu zugewiesen oder an bestehende

Finanzierungsinstrumente ausbezahlt werden.

Zeitliche Dimension

Die Umsetzung des Schweizer Beitrags im Migrationsbereich muss genügend Spiel-

raum vorsehen, damit auf kurzfristige Schwankungen der Migrationsbewegungen und

Änderungen der Migrationsrouten reagiert werden kann, und gleichzeitig eine effizi-

ente Verwendung der Mittel ermöglichen. Daher wird der Verpflichtungskredit mit

534

SR

142.312

592 / 931

zwei Mehrjahresprogrammen umgesetzt, die einen Zeitraum von rund fünf Jahren um-

fassen. Die beiden Phasen können sich für einen begrenzten Zeitraum überschneiden.

Die Partnerstaaten sowie die unterstützten Themenbereiche werden im Laufe der vor-

bereitenden Planungsphase des jeweiligen Mehrjahresprogramms festgelegt.

Der

Rapid Response Fund

und allfällige Beiträge an Finanzierungsinstrumente kön-

nen während der gesamten Umsetzungsperiode des Verpflichtungskredits Migration

verwendet werden. Sie sollen kurzfristige Bedürfnisse im Migrationsbereich abde-

cken und ergänzen die bilateralen Programme, die längerfristig angelegt sind.

Geografische Dimension

Die Partnerstaaten im Migrationsbereich werden anhand von Kriterien ausgewählt,

die insbesondere das Ausmass der Migrationsbewegungen und die strukturellen De-

fizite, mit denen diese Staaten konfrontiert sind, widerspiegeln. Auch Aspekte im Zu-

sammenhang mit der Wirtschaftstätigkeit in den betroffenen Staaten sowie mögliche

allgemeine Auswirkungen der Migrationssituation im Partnerstaat auf die Schweiz

werden berücksichtigt. Auch die Erfahrungen bei der Umsetzung des zweiten Schwei-

zer Beitrags sowie politische Erwägungen können einen Einfluss haben. Anhand die-

ser Kriterien führt das SEM Vorgespräche mit potenziellen Partnerstaaten, um deren

Bedürfnisse im Migrationsbereich und ihr Interesse an einer Zusammenarbeit mit der

Schweiz zu ermitteln. Dazu kann auch ein Austausch mit internationalen Organisati-

onen, NGO oder akademischen Einrichtungen beitragen.

Welche Länder für das jeweilige Mehrjahresprogramm ausgewählt werden, hängt von

der Analyse der genannten Aspekte sowie von den Vorgesprächen ab. Zu den vorge-

schlagenen Partnerstaaten wird der Steuerungsausschuss Migration konsultiert. Auf

der Grundlage der Stellungnahmen entscheidet schliesslich das Eidgenössische Justiz-

und Polizeidepartement (EJPD), mit welchen Partnerstaaten Verhandlungen aufge-

nommen werden sollen. Die im jeweiligen Mehrjahresprogramm vorgesehenen Ge-

samtmittel werden entsprechend der Analyse der genannten Kriterien auf die Emp-

fängerländer aufgeteilt. Darüber hinaus spielt auch die Art der geplanten Projekte und

Programme eine Rolle. Massnahmen im Bereich der Infrastruktur beispielsweise sind

in der Regel teurer als Massnahmen im Bereich der Integration.

2.10.9.2.5

Controlling und Evaluation

Für bilaterale Kooperationsprogramme im Bereich Migration gelten die gleichen

Grundsätze wie für den Bereich Kohäsion (s. Ziff. 2.10.9.1.3). Die Aufgaben, die im

Bereich Kohäsion beim SECO und bei der DEZA liegen, fallen hier in die Zuständig-

keit des SEM. Die Verwendung der Mittel aus dem

Rapid Response Fund

und mög-

liche Zahlungen an Finanzierungsinstrumente werden grundsätzlich ebenfalls evalu-

iert. Dabei sollen auch Evaluationen, die andere Stellen durchführen, genutzt werden.

Das SEM überwacht jedes Projekt und kontrolliert die Mittelverwendung sowie die

Umsetzung. Ausserdem sind für die Projekte Audits und Evaluationen sowie Monito-

ring-Besuche vorgesehen. Letztere finden auf der Grundlage einer Risikoanalyse statt

und sollen eine effiziente Mittelverwendung sicherstellen.

593 / 931

2.10.9.2.6

Ressourcen

Die finanziellen und personellen Auswirkungen, die sich aus diesem Verpflichtungs-

kredit ergeben, werden in Ziffer 2.10.10.1.1 dargestellt. Da die Schweiz die Umset-

zung durch die Partnerstaaten eng und umfassend begleiten will, fallen entsprechende

Personalkosten und anderweitige Eigenmittel unter anderem für die notwendige Risi-

kokontrolle und die Qualitätssicherung an. Weitere Ressourcen sind nötig für die Vor-

bereitung und Begleitung jener Unterstützungsmassnahmen, welche direkt von der

Schweiz umgesetzt werden. Diese Ressourcenaufwendungen entsprechen dem Ver-

handlungsergebnis. Im Beitragsabkommen wurden auch für den Bereich Migration

maximal 5 % des für diesen Bereich vorgesehenen Betrags vereinbart (Anhang II,

Ziff. 6). Basierend auf den Erfahrungswerten sollen bei der Umsetzung Skaleneffekte

erzielt und die Gemeinkosten so tief wie möglich gehalten werden.

2.10.9.3

Verpflichtungskredit für die einmalige zusätzliche

finanzielle Verpflichtung

Die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung ist aufgeteilt in eine Phase vor

und eine Phase nach dem Inkrafttreten des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–

EU. Für die Periode von Ende 2024 bis zum Inkrafttreten des Stabilisierungsteils leis-

tet die Schweiz eine einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung von 130 Millio-

nen Franken pro Jahr. Ab Inkrafttreten des Stabilisierungsteils bis Ende 2029 beläuft

sich die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung auf 350 Millionen Franken

pro Jahr. Mit der Annahme, dass das Paket Schweiz–EU frühestens am 1. Januar 2028

in Kraft tritt, beträgt die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung maximal

1090 Millionen Franken. Bei einem Inkrafttreten ab dem 31. Dezember 2029 würde

die zusätzliche finanzielle Verpflichtung 650 Millionen Franken betragen. Der vorlie-

gende Bundesbeschluss über den Verpflichtungskredit für die zusätzliche finanzielle

Verpflichtung enthält den Betrag, der bei einem Inkrafttreten am 1. Januar 2028 zu

leisten wäre, abzüglich der 5 % Eigenmittel und der 2 %, die für den SEPF bestimmt

sind. Der Verpflichtungskredit wird, abhängig vom Zeitpunkt des Inkrafttretens des

Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU, nicht voll ausgeschöpft werden.

Die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung wird parallel zum ersten Beitrag

unter dem Beitragsabkommen umgesetzt und beschränkt sich auf den Bereich Kohä-

sion. Die Ausführungen in Ziffer 2.10.9.1 zum Verpflichtungskredit Kohäsion gelten

auch für die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung. Da beide Verpflich-

tungskredite im Bereich Kohäsion umgesetzt werden, ist eine begrenzte Durchlässig-

keit von maximal 100 Millionen Franken zwischen diesen vorgesehen. Dies verein-

facht

die

Operationalisierung

der Programme

und

Projekte

und

deren

finanzadministrative Abwicklung.

2.10.10

Auswirkungen des Paketelements

Die Verstetigung des Schweizer Beitrags ist ein wichtiger Teil des Pakets Schweiz–

EU und war für die EU die Voraussetzung für einen erfolgreichen Abschluss. Der

Beitrag zur Stärkung der wirtschaftlichen und sozialen Kohäsion in Europa ermög-

licht es der Schweiz zugleich, ihre bilateralen Beziehungen zu den wirtschaftlich

594 / 931

schwächeren sowie den von anderen wichtigen gemeinsamen Herausforderungen

(z. B. Migration) betroffenen Mitgliedstaaten zu festigen.

2.10.10.1

Auswirkungen auf den Bund

Der Schweizer Beitrag besteht aus nichtrückzahlbaren Beiträgen. Mit der Verpflich-

tung, ab 2030 regelmässig und lückenlos einen solchen Beitrag zu leisten, erhöhen

sich die Ausgaben des Bundes. Für die Verwaltung und Kontrolle der Mittel werden

personelle und administrative Kosten anfallen. Dieser für die Umsetzung notwendige

Eigenaufwand ist Teil des Gesamtbeitrags der Schweizer Beiträge und fällt entspre-

chend nicht zusätzlich an.

2.10.10.1.1

Finanzielle Auswirkungen

Die Ausgaben für den Bund in der Umsetzungsperiode 2030–2039 setzen sich zusam-

men aus dem ersten Beitrag von 350 Millionen Franken pro Jahr für die Beitragsperi-

ode 2030–2036 (d. h. insgesamt 2450 Mio. CHF) und der einmaligen zusätzlichen fi-

nanziellen Verpflichtung, die sich auf 130 Millionen Franken pro Jahr bis zum

Inkrafttreten des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU und danach auf 350 Mil-

lionen Franken pro Jahr bis Ende 2029 beläuft (d. h. bei einem Inkrafttreten auf An-

fang 2028 ein Maximalbetrag von insgesamt 1090 Mio. CHF für den Zeitraum von

Ende 2024–Ende 2029). Den Gesamtbeträgen angerechnet wird der Personal- und

Sachaufwand der Bundesverwaltung von maximal 5 %, der für die Umsetzung der

Programme und Projekte notwendig ist, sowie die Mittel für den SEPF von maximal

2 %. Der Eigenaufwand und die Mittel des SEPF müssen nicht zwingend voll ausge-

schöpft werden. Sie eignen sich jedoch nicht für Sparmassnahmen, da gegenüber der

EU beziehungsweise den Partnerstaaten der vereinbarte Gesamtbetrag des jeweiligen

Beitrags geleistet werden muss.

Der erste Beitrag setzt sich aus einem Beitrag an die Kohäsion und einem Beitrag an

die Bewältigung wichtiger gemeinsamer Herausforderungen im Bereich der Migra-

tion zusammen. Die dafür beantragten Verpflichtungskredite Kohäsion und Migration

sollen eine Beitragsperiode von sieben Jahren abdecken (2030–2036). Aufgrund der

längeren Umsetzungsperiode wird sich die Auszahlungsdauer auf zehn Jahre erstre-

cken (2030–2039). Der Verpflichtungskredit für die einmalige zusätzliche finanzielle

Verpflichtung (referenziert auf Ende 2024–Ende 2029) wird ab 2030 ebenfalls über

zehn Jahre umgesetzt und ausbezahlt.

Die Auszahlungen aus den entsprechenden Verpflichtungskrediten sind ab 2030 im

jeweiligen Budget und Finanzplan einzustellen. Es ist vorgesehen, dass das EDA

(DEZA) und das WBF (SECO) den Verpflichtungskredit Kohäsion sowie den Ver-

pflichtungskredit für die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung je zur Hälfte

bewirtschaften. Der Verpflichtungskredit Migration wird dem EJPD (SEM) zugeteilt.

Im Bereich Kohäsion werden die Finanzmittel gemäss dem im Beitragsabkommen

vorgesehenen Verteilschlüssel auf die ausgewählten Partnerstaaten aufgeteilt. Im Be-

reich Migration wird sich die Zuteilung der Finanzmittel des Verpflichtungskredits

auf die einzelnen EU-Mitgliedstaaten gemäss den vorgesehenen zwei Mehrjahrespro-

grammen ergeben.

595 / 931

Wie bis anhin beim Erweiterungsbeitrag und dem zweiten Schweizer Beitrag werden

die Mittel in Franken verpflichtet und ausbezahlt, sodass die Schweiz während der

Umsetzung des jeweiligen Beitrags kein Wechselkursrisiko trägt.

Die für den Eigenaufwand (5 %) und den SEPF (2 %) im Beitragsabkommen verein-

barten Mittel von insgesamt 7 % sind nicht Teil der drei Verpflichtungskredite. Sie

werden dem Parlament jeweils mit der Botschaft zum Voranschlag zur Genehmigung

unterbreitet.

Der Schweizer Beitrag kann gemäss den Regeln der Organisation für wirtschaftliche

Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) nicht an die öffentliche Entwicklungs-

hilfe der Schweiz angerechnet werden.

Tabelle 2.10.10.1.1 (1): Erster Schweizer Beitrag – Auszahlungsplanung 2030–

2039 (indikativ)

(in Mio. CHF)

2030

2031

2032

2033

2034

2035

2036

2037

2038

2039

Total

VK Kohäsion

10

50

50

100

150

200

350

400

400

295,08 2005,08

davon DEZA

5

25

25

50

75

100

175

200

200

147,54 1002,54

davon SECO

5

25

25

50

75

100

175

200

200

147,54 1002,54

VK Migration

3

5

20

35

40

45

40

40

25

20,42

273,42

Swiss

Exper-

tise and Part-

nership

Fund

(2 %)

4,9

4,9

4,9

4,9

4,9

4,9

4,9

4,9

4,9

4,9

49,00

Eigenaufwand (5 %)

122,50

Erster Schweizer Beitrag - Total

2450

596 / 931

Tabelle 2.10.10.1.1 (2): Einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung – Aus-

zahlungsplanung 2030–2039 (indikativ)

(in Mio. CHF)

2030

2031

2032

2033

2034

2035

2036

2037

2038

2039

Total

VK einm. zus.

fin. Verpflich-

tung

20

40

60

80

120

150

150

150

150

93,70

1013,70

davon DEZA

10

20

30

40

60

75

75

75

75

46,85

506,85

davon SECO

10

20

30

40

60

75

75

75

75

46,85

506,85

Swiss

Exper-

tise and Part-

nership

Fund

(2 %)

2,18

2,18

2,18

2,18

2,18

2,18

2,18

2,18

2,18

2,18

21,80

Eigenaufwand (5 %)

54,50

Einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung - Total

1090

Die im Verpflichtungskredit «einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung» einge-

stellten Mittel entsprechen einem Maximalbetrag. Falls das Paket Schweiz–EU statt

am 1. Januar 2028 erst Anfang 2030 in Kraft treten würde, liegen die Auszahlungen

in den Jahren 2030–2039 insgesamt 440 Millionen Franken (d. h. durchschnittlich

44 Mio. CHF pro Jahr) tiefer.

2.10.10.1.2

Personelle Auswirkungen

Im Beitragsabkommen wurde mit der EU vereinbart, dass die für die Umsetzung des

Schweizer Beitrags nötigen Mittel Teil des Gesamtbetrags sind. Für den ersten Beitrag

wurde festgehalten, dass der Schweiz hierfür maximal 5 % des Betrags zur Verfügung

stehen. Dasselbe gilt für die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung. Die

Schweiz kann diese Mittel von insgesamt maximal 177 Millionen Franken entspre-

chend bis 2039 für Personal- und Sachaufwand einsetzen, ohne dass ihr dadurch zu-

sätzliche Kosten entstehen. Der Eigenaufwand für die einmalige zusätzliche finanzi-

elle Verpflichtung könnte, abhängig vom Zeitpunkt des Inkrafttretens des

Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU bis zu 22 Millionen Franken tiefer aus-

fallen.

Um mit der Umsetzung ab 2030 beginnen zu können, müssen bereits ab Inkrafttreten

des Beitragsabkommens Vorbereitungen getroffen werden. Im Zeitraum 2029–2039

werden daher durchschnittlich rund 13,5 Millionen Franken pro Jahr für den Aufwand

für Personal in der Schweiz und in den Schweizer Vertretungen einschliesslich des

Lokalpersonals (s. Tabelle 2.10.10.1.2 [1]) benötigt. Es werden damit die bestehenden

und zum Teil neuen Stellen (VZÄ bisher: 21,2 in Bern, 27,6 vor Ort, VZÄ zusätzlich:

25–30) unter anderem in den Schweizer Vertretungen finanziert, da der Umsetzungs-

597 / 931

aufwand für die Beiträge aufgrund des substanziell höheren Finanzvolumens vergli-

chen mit dem zweiten Schweizer Beitrag deutlich ansteigt. Das Personal in der

Schweiz ist hauptsächlich für die strategische und finanzielle Steuerung, die Festle-

gung der Vorgaben und Standards, die Kontrolle der operationellen und finanzadmi-

nistrativen Umsetzung sowie Koordinationsaufgaben in der Schweiz verantwortlich.

Das Personal in den Schweizer Vertretungen ist für die Umsetzung und insbesondere

die Überwachung des Programms verantwortlich.

Die Erfahrungen aus den bisherigen Beiträgen haben gezeigt, dass insbesondere für

die Begleitung in den strukturschwächeren Ländern, in denen die inländischen Um-

setzungskapazitäten unzureichend sind, zusätzliche personelle Ressourcen bereitge-

stellt werden müssen. Zwar lassen sich Effizienzgewinne erzielen, indem auf erprobte

Prozesse und Systeme zurückgegriffen wird, und in beschränktem Masse können Ska-

leneffekte beim Design der Programme sowie bei der Replikation von «

One size fits

all

»-Massnahmen genutzt werden. Es wird auch angestrebt, grössere Programme zu

unterstützen, wie das Städteprogramm in Polen unter dem zweiten Schweizer Beitrag,

jedoch ist dieser Ansatz nicht in allen Fällen möglich. Die Erhöhung der eingesetzten

Mittel in der Periode 2030–2036 macht indessen einen erhöhten Bedarf für die Um-

setzungsunterstützung sowie namentlich auch die Qualitätskontrolle und das Risiko-

management (gerade in Bezug auf die Korruptionsgefahren) notwendig. Der perso-

nelle Aufwand wird damit anteilsmässig aber deutlich weniger stark ansteigen als das

für die Beiträge ab 2030 eingesetzte Finanzvolumen.

Eine präzise Ressourcenaufstellung ist zum heutigen Zeitpunkt nicht möglich, da we-

der die genaue Anzahl der begünstigten EU-Mitgliedstaaten noch die detaillierte the-

matische und sektorielle Ausrichtung der Beiträge feststehen. Neben dem Personal-

aufwand müssen mit diesen 5 % auch der Sach- und Betriebsaufwand gedeckt werden.

Darin werden unter anderem auch Kosten für ein neues digitales Managementsystem

sowie die Kosten für die Büros in den Aussenstellen enthalten sein. Schon jetzt ist

absehbar, dass der Eigenaufwand von 5 % für den zweiten Schweizer Beitrag knapp

bemessen war.

Ab Inkrafttreten werden die Mittel für die Umsetzung des Schweizer Beitrags in den

jeweiligen Globalbudgets von EDA (DEZA), WBF (SECO) und EJPD (SEM) einge-

stellt. Bei der Mittelaufteilung pro Jahr handelt es sich um Schätzungen, die jährlich

im Rahmen des jeweiligen Budgetprozesses dem aktuellen Stand der Planung ange-

passt und vom Parlament genehmigt werden müssen.

598 / 931

Tabelle 2.10.10.1.2 (1): Schweizer Beitrag – Indikativer Eigenaufwand

(in Mio. CHF)

2029 2030 2031 2032 2033 2034 2035 2036 2037 2038 2039

Total

29-39

DEZA Personalaufwand

3

7

7

7

7

7

7

7

6,1

6

5

69,1

Sach- und Be-

triebsaufwand

1,6

1,6

1

1

1

1

1

1

1

1

1

12,2

Total

Eigenaufwand

DEZA

4,6

8,6

8

8

8

8

8

8

7,1

7

6

81,3

SECO Personalaufwand

3

7

7

7

7

7

7

6,8

6

6

5

68,8

Sach- und Be-

triebsaufwand

1,6

1,6

1

1

1

1

1

1

1

1

1

12,2

Total

Eigenaufwand

SECO

4,6

8,6

8

8

8

8

8

7,8

7

7

6

81

SEM

Personalaufwand 0,5

0,7

0,9

0,9

1,4

1,4

1,6

1,6

1,6

1,4

1

13

Sach- und Be-

triebsaufwand

0,25

0,25

0,15

0,15

0,14

0,14

0,14

0,14

0,14

0,1

0,1

1,7

Total

Eigenaufwand

SEM

0,75

0,95

1,05

1,05

1,54

1,54

1,74

1,74

1,74

1,5

1,1

14,7

Total Eigenaufwand

9,95 18,15 17,05 17,05 17,54 17,54 17,74 17,54 15,84 15,5

13,1

177

2.10.10.1.3

Auswirkungen auf die Aussenpolitik

Der Schweizer Beitrag ist ein zentrales Element der Beziehungen Schweiz-EU und

damit der Europapolitik der Schweiz. Die Erfahrungen mit dem zweiten Beitrag und

dem Erweiterungsbeitrag zeigen, dass mit dessen Planung und Umsetzung die Bezie-

hungen der Schweiz zu den Partnerstaaten in politischer, wirtschaftlicher und institu-

tioneller Hinsicht gestärkt werden. Das Ansehen der Schweiz wird durch den bilate-

ralen Austausch und die Resultate der unterstützten Programme gefördert. Bei

ministeriellen Besuchen und in politischen Konsultationen in den Partnerstaaten ist

der Beitrag ein wichtiges Thema. Die Partnerschaften mit Schweizer Institutionen

(Bundesstellen, Kantone, Städte, Gemeinden, öffentliche Institutionen, NGO, Sozial-

partner) stärkt die Vernetzung und den Austausch von Erfahrungen und Wissen zum

Nutzen der Partnerstaaten und der Schweiz. Damit wird die Beziehung zu den Part-

nerstaaten auf diversen Ebenen der Verwaltung und der Zivilgesellschaft gestärkt.

Auch für Schweizer Unternehmen, die im Rahmen des Beitrags erfolgreich Projekte

durchführen, eröffnen sich neue Möglichkeiten in den Partnerstaaten.

599 / 931

2.10.10.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf

urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

Der Vollzug der vorgeschlagenen Bundesbeschlüsse obliegt ausschliesslich dem

Bund und hat keine finanziellen oder personellen Auswirkungen auf die Kantone und

Gemeinden. Die mit der Umsetzung beauftragten Ämter können im Rahmen der Um-

setzung des Schweizer Beitrags mit Kantonen und Gemeinden zusammenarbeiten.

2.10.10.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Der erste Schweizer Beitrag 2030–2036 und die einmalige zusätzliche finanzielle

Verpflichtung haben direkte und indirekte Auswirkungen auf die schweizerische

Volkswirtschaft, wie bereits der Erweiterungsbeitrag und der zweite Schweizer Bei-

trag. Die EU hat mit einem Anteil von rund 59 % am Schweizer Warenhandel die mit

Abstand wichtigste Stellung.

535

Der verstetigte Beitrag trägt als substanzieller Teil des

Pakets Schweiz–EU dazu bei, die Binnenmarktbeteiligung der Schweiz abzusichern.

Das Paket baut diese in zusätzlichen Sektoren aus, sodass Schweizer Unternehmen

von einem weitgehend freien Zugang zum EU-Binnenmarkt profitieren.

Der Schweizer Beitrag stärkt die Präsenz und Sichtbarkeit der Schweiz in den Part-

nerstaaten und trägt dazu bei, neue Kontakte aufzubauen und engere Wirtschaftsbe-

ziehungen zu knüpfen. Ferner kann sich die Zusammenarbeit beim Wissens- und Er-

fahrungsaustausch auch positiv auf die Produktivitätsentwicklung in den

Partnerstaaten und in der Schweiz auswirken. Schliesslich trägt der Schweizer Beitrag

zur wirtschaftlichen Entwicklung dieser Länder bei, indem die institutionellen Rah-

menbedingungen und die Rechtssicherheit gefördert werden. Eine dadurch verbes-

serte wirtschaftliche Entwicklung in diesen Ländern kommt auch der Schweizer Wirt-

schaft in Form von attraktiveren Absatzmärkten und Investitionsmöglichkeiten

zugute.

Neben der direkten und der indirekten Auftragsvergabe an Schweizer Unternehmen

im Rahmen des Schweizer Beitrags dürften für Schweizer Unternehmen insbesondere

die öffentlichen Ausschreibungen in der EU, die aus den EU-Struktur- und Kohäsi-

onsprogrammen finanziert werden, wirtschaftlich interessant sein. Für die laufende

Kohäsionsperiode 2021–2027 sind dafür in der EU rund 392 Milliarden Euro vorge-

sehen. Aufgrund der stärkeren Präsenz von Schweizer Unternehmen auf den Märkten

in den Partnerstaaten, auch dank der Schweizer Beiträge, werden deren Chancen er-

höht, sich bei der Auftragsvergabe aus EU-finanzierten Projekten erfolgreich zu posi-

tionieren.

2.10.10.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Der Schweizer Beitrag fördert den Zusammenhalt, die Stabilität und den Wohlstand

in Europa und hat damit auch positive Auswirkungen auf die gesamte Schweizer Ge-

sellschaft. Neue Kontakte werden durch diverse Institutionen wie Universitäten und

535

Abrufbar unter www.eda.admin.ch/europa > Publikationen > Schweiz-EU in Zahlen (basie-

rend auf Total 1, ohne Gold, 2023)

600 / 931

NGO geknüpft, was zu einem besseren gegenseitigen Verständnis und neuen Mög-

lichkeiten für eine langfristige Zusammenarbeit führt.

2.10.10.5

Auswirkungen auf die Umwelt

Mit dem Schweizer Beitrag werden zahlreiche Projekte unterstützt, die den Schutz der

Umwelt zum Ziel haben, so in den Bereichen Energie und Klimaschutz, Wasser und

Luftqualität, biologische Vielfalt und nachhaltige Abfall- und Ressourcenbewirt-

schaftung (s. u. a. Ausführungen zu den Schwerpunkten «ökologischer Wandel» und

«nachhaltige und inklusive wirtschaftliche Entwicklung» unter Ziff. 2.10.9.1.1). Bei

der Umsetzung sämtlicher Programme und Projekte achten die Schweiz und die Part-

nerstaaten darauf, dass sich aufgrund ihrer Massnahmen positive Wirkungen auf die

Umwelt ergeben und negative Folgen vermieden werden.

2.10.11

Rechtliche Aspekte des Paketelements

2.10.11.1

Verfassungsmässigkeit des Abkommens

Das Beitragsabkommen stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 BV, wonach der Bund für

die auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV ermächtigt

den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Nach

Artikel 166 Absatz 2 BV ist die Bundesversammlung für die Genehmigung völker-

rechtlicher Verträge zuständig, sofern für deren Abschluss nicht aufgrund von Gesetz

oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (Art. 24 Abs. 2 des Parla-

mentsgesetzes vom 13. Dezember 2002

536

und Art. 7a Abs. 1 RVOG).

Beim vorliegenden Abkommen handelt es sich nicht um einen völkerrechtlichen Ver-

trag, für dessen selbstständigen Abschluss der Bundesrat aufgrund eines Gesetzes

oder eines von der Bundesversammlung genehmigten völkerrechtlichen Vertrags er-

mächtigt ist. Es handelt sich auch nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag von be-

schränkter Tragweite nach Artikel 7a Absatz 2 RVOG. Zudem erfordert die Umset-

zung des Abkommens den Erlass eines Bundesgesetzes. Das Beitragsabkommen ist

folglich der Bundesversammlung zur Genehmigung zu unterbreiten.

2.10.11.2

Verfassungsmässigkeit der Umsetzungsgesetzgebung

Kohäsionsbeitragsgesetz

Der Entwurf zum Kohäsionsbeitragsgesetz regelt Massnahmen der Schweizer Aus-

senpolitik und stützt sich sowohl auf das Beitragsabkommen als auch auf Artikel 54

Absatz 1 BV, laut dem die auswärtigen Angelegenheiten Sache des Bundes sind.

Verpflichtungskredit Kohäsion

Die Zuständigkeit des Parlaments für den Kreditbeschluss stützt sich auf Artikel 167

BV. Nach Artikel 4 des mit dieser Vorlage ebenfalls vorgelegten Kohäsionsbeitrags-

536

SR

171.10

601 / 931

gesetzes (s. Ziff. 2.10.8) werden die Mittel als Verpflichtungskredite für jeweils meh-

rere Jahre bewilligt. Die gesetzlichen Grundlagen für die Ausrichtung der Subventio-

nen sind das Beitragsabkommen sowie Artikel 2 des genannten Bundesgesetzes.

Verpflichtungskredit Migration

Die Zuständigkeit der Bundesversammlung für den Kreditbeschluss stützt sich eben-

falls auf Artikel 167 BV.

Die materiellen gesetzlichen Grundlagen für die Ausrichtung der Subventionen im

Migrationsbereich sind das Beitragsabkommen und das Asylgesetz (Art. 91 Abs. 7

AsylG in Verbindung mit Art. 113 AsylG sowie Art. 51 der Asylverordnung 2 und

Art. 93 Abs. 1 Bst. c und Abs. 2 AsylG).

Verpflichtungskredit für die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung

Wie beim Verpflichtungskredit Kohäsion stützt sich die Zuständigkeit der Bundes-

versammlung für den Kreditbeschluss auch beim Verpflichtungskredit für die einma-

lige zusätzliche finanzielle Verpflichtung auf Artikel 167 BV sowie auf Artikel 4 des

neuen Kohäsionsbeitragsgesetzes. Die gesetzlichen Grundlagen für die Ausrichtung

der Subventionen sind das Beitragsabkommen sowie Artikel 2 des genannten Bun-

desgesetzes.

2.10.11.3

Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen

der Schweiz

Das Beitragsabkommen, das Kohäsionsbeitragsgesetz und die beantragten Verpflich-

tungskredite sind mit anderen internationalen Verpflichtungen der Schweiz vereinbar.

2.10.11.4

Erlassform

Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV unterliegen völkerrechtliche Ver-

träge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige rechtsetzende Bestimmungen

enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Nach Ar-

tikel 22 Absatz 4 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 2002 sind unter recht-

setzenden Normen jene Bestimmungen zu verstehen, die in unmittelbar verbindlicher

und generell-abstrakter Weise Pflichten auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständig-

keiten festlegen. Als wichtig gelten Bestimmungen, die auf der Grundlage von Artikel

164 Absatz 1 BV in der Form eines Bundesgesetzes erlassen werden müssten. Die

Umsetzung des Abkommens erfordert die Verabschiedung eines Bundesgesetzes. Der

Bundesbeschluss über die Genehmigung des Abkommens untersteht deshalb dem fa-

kultativen Referendum nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV. Zur Frage

der Bündelung der Umsetzungsgesetzgebung, siehe Ziffer 4.2.2.

2.10.11.5

Vorläufige Anwendung

Es ist keine vorläufige Anwendung des Beitragsabkommens vorgesehen.

602 / 931

2.10.11.6

Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass

2.10.11.6.1

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Gemäss Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV bedürfen Artikel 1 des Verpflichtungs-

kredits Kohäsion, Artikel 1 des Verpflichtungskredits Migration sowie Artikel 1 des

Verpflichtungskredits für die einmalige zusätzliche finanzielle Verpflichtung der Zu-

stimmung der Mehrheit der Mitglieder beider Räte, da diese jeweils eine neue einma-

lige Ausgabe von mehr als 20 Millionen Franken nach sich ziehen.

2.10.11.6.2

Einhaltung der Grundsätze des Subventionsgesetzes

In seinem Subventionsbericht 2008 legte der Bundesrat fest, dass in allen Botschaften

zur Schaffung oder Revision von Rechtsgrundlagen für Subventionen wie auch in

Botschaften zur Erneuerung von Kreditbeschlüssen und Zahlungsrahmen in einem se-

paraten Kapitel zwingend über die Einhaltung der Grundsätze gemäss dem Subventi-

onsgesetz Bericht erstattet werden soll. Die drei vorgelegten Verpflichtungskredite

stehen im Einklang mit dem Subventionsgesetz.

Bedeutung der Subvention für die vom Bund angestrebten Ziele: Begründung, Ausge-

staltung und finanzieller Umfang

Die Beiträge an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten beruhen auf dem Beitragsabkom-

men, dem neuen Kohäsionsbeitragsgesetz sowie dem Asylgesetz und sind in der

Schweizer Aussen- und Aussenwirtschaftspolitik verankert. Die ausführliche Begrün-

dung, die Ausgestaltung und der finanzielle Umfang sind in Ziffer 2.10.9 beschrieben.

Die Zuständigkeit für die Zusammenarbeit mit ausgewählten EU-Mitgliedstaaten liegt

beim Bund. Der Bund kann jedoch mit Kantonen oder Gemeinden zusammenarbeiten.

Materielle und finanzielle Steuerung der Subvention

Die materielle Steuerung der eingesetzten Mittel erfolgt ergebnisorientiert. Diese Er-

gebnisorientierung dient in allen Phasen (Planung, Umsetzung, Überwachung) der je-

weiligen Projekte der Verbesserung der Situation für die Zielgruppen. Die Vergabe

von Beiträgen basiert auf klar formulierten Zielen, deren Verwirklichung mit Moni-

toring- und Controlling- sowie Evaluationsinstrumenten überwacht wird. Die materi-

elle Steuerung der Mittel wird in Ziffer 2.10.9.1.3 und Ziffer 2.10.9.2.5 erläutert. Im

Normalfall leisten die Partnerstaaten eine Kofinanzierung und finanzieren alle Kosten

vor. Mittels Rückerstattungsgesuchen und basierend auf Fortschrittsberichten (und

Kontrollen) werden die Gelder für den Schweizer Teil zurückbezahlt. Das Gesamtvo-

lumen der Verpflichtungen und die Mittelverteilung sind in Ziffer 2.10.10.1.1 darge-

stellt.

Verfahren der Beitragsgewährung

In der Verordnung zum neuen Kohäsionsbeitragsgesetz sollen die Finanzkompeten-

zen und die Kontrolle der Mittelverwendung festgelegt werden. Die Modalitäten wer-

den in den Ziffern zu den Verpflichtungskrediten beschrieben. Die DEZA, das SECO

und das SEM haben zudem bereits unter dem zweiten Schweizer Beitrag Ausfüh-

rungsbestimmungen für den ergebnisorientierten Einsatz der Mittel festgelegt. Dies

603 / 931

ist auch künftig vorgesehen. Neben der Subventionsgesetzgebung für die Beitragsge-

währung vergeben sämtliche Stellen Mandate gemäss den Bestimmungen des WTO-

Übereinkommens über das öffentliche Beschaffungswesen, des Abkommens mit der

EU über bestimmte Aspekte des öffentlichen Beschaffungswesens

537

, des BöB und

der dazugehörigen Verordnung vom 12. Februar 2020. Beim Erwerb von Waren,

Dienstleistungen und Bauleistungen sind die DEZA, das SECO und das SEM abge-

sehen von den wirtschaftlichen Aspekten bestrebt, die Einhaltung der Sozial- und Um-

weltstandards innerhalb des vorgesehenen Rechtsrahmens zu fördern und somit die

wirtschaftliche, soziale und ökologische Nachhaltigkeit in der Schweiz und den Part-

nerstaaten zu stärken.

Befristung und degressive Ausgestaltung der Subvention

Das Beitragsabkommen sieht regelmässige Schweizer Beiträge vor. Entsprechend ist

auch das neue Kohäsionsbeitragsgesetz zeitlich nicht begrenzt. Die einzelnen Schwei-

zer Beiträge sind aber weiterhin befristet und werden regelmässig neu zugesprochen.

Die Beiträge sind grundsätzlich nicht degressiv ausgestaltet (s. Ziff. 2.10.5.3).

2.10.11.6.3

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

Die Vorlage beinhaltet keine Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen.

2.10.11.7

Datenschutz

Der Datenschutz ist von der Vorlage nicht betroffen. Die Umsetzung des Schweizer

Beitrags erfolgt gemäss den in der Schweiz und in den Partnerstaaten anwendbaren

Vorschriften. Die Erläuterungen betreffend das Schiedsgericht unter Ziffer 2.1.8.6

gelten auch für das Beitragsabkommen.

537

SR

0.172.052.68

604 / 931

2.11

Strom

2.11.1

Zusammenfassung

Die Schweiz ist über 41 grenzüberschreitenden Stromleitungen mit dem europäischen

Stromsystem verbunden. Sie ist aber nicht Teil des EU-Strombinnenmarktes, weshalb

die dessen harmonisierte Marktregeln bisher für die Schweiz nicht gelten. Dadurch

stösst die Kooperation der Schweiz mit der EU und den Nachbarstaaten an Grenzen.

Dies beeinträchtigt den Austausch und Handel von Strom und insbesondere die Ver-

fügbarkeit der Grenzkapazitäten zum Import von Strom. Ebenso erschwert es den si-

cheren Betrieb der Stromnetze. Beides führt zu höheren Kosten und Risiken, die von

der Stromwirtschaft und den Netzbetreibern respektive den Endverbrauchern*

538

ge-

tragen werden müssen. Gleichzeitig steht die Stromversorgung in ganz Europa auf-

grund der Dekarbonisierung, des Kernenergieausstiegs in gewissen Staaten und der

Elektrifizierung des Energiesystems vor grossen Herausforderungen. Die grenzüber-

schreitenden Stromflüsse in Europa werden dadurch künftig stark steigen. Dies wird

die Herausforderungen der Schweiz aufgrund der fehlenden Einbindung in den Strom-

binnenmarkt verschärfen.

Das Stromabkommen wurde im Rahmen der Weiterentwicklung des bilateralen Wegs

ausgehandelt. Es ermöglicht im Bereich des

Stromhandels

Schweizer Akteuren eine

hindernisfreie Teilnahme und gleichberechtigte Handelsbedingungen im Strombin-

nenmarkt, stärkt die

Versorgungssicherheit

der Schweiz im Fall von Energieknapp-

heit, und gewährleistet die

Netzstabilität

durch eine bessere Planbarkeit der Strom-

flüsse als Folge der mit dem Abkommen verbrieften europäischen Kooperation. Das

Stromabkommen sichert die Einbindung der Schweiz ins europäische Stromsystem

völkerrechtlich ab. Schweizer Behörden und Organisationen können künftig in euro-

päischen Gremien mitarbeiten und die Weiterentwicklung des Strombinnenmarktes

mitgestalten.

Das Stromabkommen umfasst die Produktion, den Handel, die Übertragung und den

Vertrieb von Strom und damit direkt verbundene Bereiche wie erneuerbare Energien.

Das Abkommen umfasst weder den Verbrauch von Strom, noch andere nicht-erneu-

erbare Energieträger (Erdgas, Ölprodukte) oder den Bereich (Gebäude)Energieeffizi-

enz. Mit dem Stromabkommen übernimmt die Schweiz weitgehend die Regeln des

EU-Strombinnenmarktes insbesondere hinsichtlich Marktregulierung, Netzen, Ver-

sorgungssicherheit und teilweise auch für erneuerbare Energien. Das Stromabkom-

men mit der EU ist ein neues Binnenmarktabkommen für die Schweiz. Deshalb bein-

haltet es auch institutionelle Regeln (u.a. dynamische Rechtsübernahme,

Überwachung, Streitbeilegung) sowie eine Teilnahme der Schweiz am EU-

Rechtssetzungsprozess, dem sogenannten

Decision Shaping.

Zudem enthält es auch

Regeln über staatliche Beihilfen im Geltungsbereich des Abkommens.

Wo innenpolitisch notwendig und im Interesse der Schweiz wurden im Stromabkom-

men spezifische Ausnahmen und Präzisierungen ausgehandelt. So hat die Schweiz

beispielsweise das Recht, die Strommarktöffnung mit einer regulierten Grundversor-

gung und regulierten Stromtarifen zu flankieren. Haushaltskunden und kleinere Un-

ternehmen mit einem Jahresverbrauch bis 50 MWh pro Verbrauchsstätte können ihren

538

Die mit einem Sternchen versehenen Begriffe werden im Glossar erklärt.

605 / 931

Stromanbieter frei wählen oder in einer regulierten Grundversorgung - die weitgehend

identisch mit dem heutigen Modell ist - verbleiben respektive in diese zurückkehren.

Das Stromabkommen enthält keine Vorgaben zum Eigentum an Anlagen zur Produk-

tion, Übertragung und Vertrieb von Strom. Das heisst Verteilnetzbetreiber können

trotz den zusätzlichen Vorgaben zur Entflechtung öffentlich-rechtlich organisiert blei-

ben. Der

Service public

in der Schweiz bleibt auch unter dem Stromabkommen ge-

währleitstet. Die Endverbraucher werden durch verschiedene Massnahmen geschützt.

Klare Anforderungen an Vertragsinhalte sowie eine Vergleichsplattform und eine

Ombudsstelle mit Schlichtungsmöglichkeit sorgen für Transparenz und verhindern

Missbrauch. Die Eidgenössische Elektrizitätskommission (ElCom) überwacht den

Kleinkundenmarkt.

Die Schweiz hat in den Verhandlungen das Recht abgesichert, notwendige Reserven

zu erstellen, und sie kann bei der Analyse des Reservebedarfs spezifische Schweizer

Eigenheiten berücksichtigen. Diese Flexibilität ist im Abkommen explizit als Aus-

nahme von der dynamischen Rechtsübernahme festgehalten. Ebenso kann die

Schweiz die Bedingungen für die Nutzung ihrer Energieressourcen inkl. Wasserkraft

und ihren Energiemix weiterhin eigenständig festlegen. Das Stromabkommen macht

keine Vorgaben zur Vergabe von Konzessionen und dem Wasserzins, die diesbezüg-

liche Praxis in der Schweiz wird beibehalten.

Die Interessen der Schweiz sind mit dem Stromabkommen vollständig gewahrt. Das

Abkommen wird die Versorgungssicherheit und den sicheren Netzbetrieb stärken, den

Austausch und Handel mit Strom vereinfachen und einen optimalen Einsatz der fle-

xiblen Schweizer Wasserkraft auf den europäischen Märkten ermöglichen. Es wird

insgesamt tiefere Strompreise und geringere Kosten der Stromversorgung begünsti-

gen, und damit die Wohlfahrtsgewinne steigern sowie den Übergang zu einem klima-

neutralen Energiesystem vereinfachen.

Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt. Er beantragt

im Rahmen des Weiterentwicklungsteils des Pakets Schweiz–EU die Genehmigung

des Stromabkommens und der dazugehörenden Umsetzungsgesetzgebung.

2.11.2

Ausgangslage

Die Schweiz ist Teil der kontinentaleuropäischen Synchronzone, in welcher das

Stromnetz im Verbund und mit einer einheitlichen Frequenz betrieben wird. Die Zu-

sammenschaltung der Stromnetze der Schweiz, Deutschlands und Frankreichs im Jahr

1958 am Stern von Laufenburg bildet den Ursprung dieses heute weltweit grössten

Verbundnetzes. Die Schweizer Stromwirtschaft hat die Integration des europäischen

Stromsystems unter anderem in der

Union for the Co-ordination of Production and

Transmission of Electricity

(UCPTE, eine Vorgängerorganisation vom Verband Eu-

ropäischer Übertragungsnetzbetreiber

ENTSO-E) seit den 1950er Jahren auf privatrechtlicher Basis wesentlich vorangetrie-

ben und mitgeprägt. Seit den 1990er Jahren hat die EU den europäischen Strombin-

nenmarkt aufgebaut. Damit wurde die privatrechtliche Basis sukzessive durch den

EU-

Stromacquis

ergänzt und teilweise abgelöst.

Der EU-Strombinnenmarkt besteht aus den EU-Mitgliedsstaaten und den

EWR/EFTA-Staaten. Die Staaten der Energiegemeinschaft Osteuropas (Westbalkan,

606 / 931

Ukraine, Moldawien) haben sich rechtlich zur Übernahme des EU-

Energieacquis

in-

klusive Strom verpflichtet und sollen künftig in den Strombinnenmarkt integriert wer-

den. Im EU-Strombinnenmarkt wird die Stromversorgung nicht mehr national, son-

dern gesamteuropäisch mit einheitlichen Marktregeln, Institutionen und einem

gemeinsamen Rechtsrahmen optimiert. Da die Schweiz nicht an den Rechtsrahmen

gebunden ist, kann die Schweizer Stromwirtschaft nicht am gekoppelten europäischen

Strombinnenmarkt mit bedeutenden Handels- und Marktvolumina teilnehmen. So be-

lief sich im Jahr 2023 für das Zeitfenster Vortag (

Day Ahead

) das Marktvolumen auf

1700 Terawattstunden (TWh) und der Umsatz auf 170 Milliarden Euro und für das

Zeitfenster innerhalb des Tages (

Intraday

) das Marktvolumen auf 166 TWh und der

Umsatz auf 15 Milliarden Euro. Auch auf den neu erschaffenen, europäischen Platt-

formen für Regelenergie (zum Ausgleich von Netzschwankungen) MARI* und

PICASSO* kann die Schweiz nicht teilnehmen. Auf der Plattform TERRE* kann die

Schweiz zurzeit noch teilnehmen, diese soll auf Anfang 2026 aber eingestellt werden.

Für das Stromsystem und die Strommärkte ist die Berechnung und Allokation der

grenzüberschreitenden Kapazitäten von zentraler Bedeutung. Aufgrund der fehlenden

rechtlichen Integration muss sich die Swissgrid hier mit einer privatrechtlichen Ko-

operation mit den Übertragungsnetzbetreiberinnen* (ÜNB) der Nachbarstaaten behel-

fen. Diese Kooperation hat bislang gut funktioniert, sie ist aber völkerrechtlich nicht

abgesichert. So konnte die Swissgrid beispielsweise Verträge mit den ÜNB der Ka-

pazitätsberechnungsregion

Italy North

(Italien, Frankreich, Österreich, Slowenien)

und CORE (14 EU-Mitgliedsstaaten in West- und Osteuropa) abschliessen. Diese

Verträge müssen jedoch jährlich erneuert und von den Regulierungsbehörden der be-

troffenen Mitgliedsstaaten genehmigt werden. Die EU plant eine Fusion dieser beiden

Regionen zu einer neuen Region Central Europe, womit die Verträge neu ausgehan-

delt werden müssten. Ohne Stromabkommen hat die Schweiz keine Rechtssicherheit,

dass diese privatrechtliche Kooperation künftig noch funktionieren wird.

Die mangelhafte Integration in den Strombinnenmarkt beeinträchtigt die Schweizer

Import-, beziehungsweise Exportfähigkeit von Strom und damit die Versorgungssi-

cherheit führt in zunehmender Weise zu ungeplanten Stromflüssen im Schweizer

Übertragungsnetz*, die das Stromnetz belasten. Die EU und die Schweiz teilen das

Ziel von Netto-Null Treibhausgasemissionen bis 2050. Dies erfordert eine weitere

Elektrifizierung des Energiesystems, den Ausbau von erneuerbaren Energien und die

Abschaltung von konventionellen, steuerbaren Gas- und Kohlekraftwerken. Dadurch

werden die grenzüberschreitenden Stromflüsse in Europa bis 2050 voraussichtlich um

den Faktor zwei bis drei zunehmen. Dies wird die Problematik der fehlenden Einbin-

dung der Schweiz in den europäischen Strombinnenmarkt insbesondere im Bereich

der Netzstabilität noch verschärfen.

2.11.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

2.11.3.1

Zielsetzung der Verhandlungen und Verhandlungsmandat

Das Stromabkommen zielt darauf ab, die ungehinderte Teilnahme der Schweiz am

europäischen Strombinnenmarkt zu ermöglichen, gleiche Rechte und Pflichten im

grenzüberschreitenden Stromhandel zu gewährleisten sowie einen Beitrag an die

Stromversorgungssicherheit und die Aufrechterhaltung der Netzstabilität in der

Schweiz und in Europa zu leisten.

607 / 931

Der Geltungsbereich des Stromabkommens ist auf Produktion, Handel, Übertragung

und Vertrieb von Strom begrenzt. Der Verbrauch soll vom Geltungsbereich ausge-

nommen werden, da die Schweiz die detaillierten Vorgaben der EU im Bereich (Ge-

bäude-)Energieeffizienz nicht übernehmen will und die Förderung des sparsamen und

rationellen Energieverbrauchs, unter anderem bei den Kantonen nicht von völker-

rechtlichen Beihilfebestimmungen betroffen werden soll.

Die Schweiz soll in die technischen Prozesse zum Betrieb des europäischen Stromsys-

tems und in die Kooperation der EU zur Stromkrisenvorsorge und -bewältigung inte-

griert werden.

Gemäss Verhandlungsmandat des Bundesrates zum Stromabkommen vom 8. März

2024 sind im Strombereich insbesondere die folgenden wichtigen Interessen der

Schweiz im Strombereich zu wahren:

Haushalte und Unternehmen unter einer gewissen Verbrauchsschwelle sol-

len auch mit der vollständigen Strommarktöffnung das Recht haben, in einer

regulierten Grundversorgung mit regulierten Preisen zu verbleiben oder in

diese zurückzukehren.

Die zusätzlichen Vorgaben zur Entflechtung der Verteilnetzbetreiber*

(VNB) müssen verhältnismässig sein und diese Betreiber und Stromversor-

ger sollen in öffentlicher Hand verbleiben und in öffentlich-rechtliche Ein-

richtungen integriert bleiben können. Der Aufwand zur Entflechtung der

kleinen VNB in einer Gruppe muss tragbar sein.

Die Möglichkeit der Schweiz, notwendige Reserven wie beispielsweise Re-

servekraftwerke oder Wasserkraftreserven zur Wahrung der Versorgungs-

sicherheit einzurichten.

Die wichtigsten bestehenden staatlichen Beihilfen der Schweiz im Strom-

bereich, namentlich für die Produktion von erneuerbarem Strom, sollen an-

gemessen abgesichert werden.

Grundsätzlich soll im Vergleich zu den vergangenen Verhandlungen keine

zusätzliche Aufnahme von EU-Umweltrecht erfolgen.

Die Schweiz akzeptiert kein unrealistisches Ziel in Bezug auf den Ausbau

von erneuerbaren Energien. Die Übernahme von Normen in diesem Bereich

soll auf das Funktionieren des Strombinnenmarktes beschränkt sein.

Die kantonalen Hoheiten im Strombereich sind zu wahren.

Es soll keine Vorschriften betreffend die Vergabe von Konzessionen für

Wasserkraftwerke geben.

Für die noch bestehenden Einspeisevorränge für Strom aus französischen

Kernkraftwerken und für Grenzwasserkraftwerke braucht es eine ausgewo-

gene Ablösung.

608 / 931

Die Umsetzung des Stromabkommens im nationalen Recht muss innert hin-

reichend langen Fristen und in einem nach Sachgebiet gestaffelten Ansatz

möglich sein.

Die Aufnahme einer Evolutivklausel zur Erweiterung des Stromabkom-

mens auf Wasserstoff soll geprüft werden.

2.11.3.2

Handlungsbedarf

Die EU-Strombinnenmarktintegration schreitet kontinuierlich voran. Durch die Elekt-

rifizierung des Energiesystems und den Ausbau der erneuerbaren Energien nehmen

die grenzüberschreitenden Stromflüsse zu. Dadurch steigen die Kosten und Risiken

der fehlenden Integration der Schweiz in den EU-Strombinnenmarkt in zunehmender

Weise. Mit dem Stromabkommen kann die Integration der Schweiz ins europäische

Stromsystem völkerrechtlich abgesichert werden. Dies sichert die Verfügbarkeit der

Strom-Grenzkapazitäten zum Austausch und Handel von Strom, stärkt die Versor-

gungssicherheit und vereinfacht den sicheren Netzbetrieb.

2.11.3.3

Geprüfte Alternativen und gewählte Lösung

Weiterführen der privatrechtlichen Kooperation (Private, technische Verträge)

Mangels Stromabkommen sichert die Swissgrid die technische Kooperation mit be-

nachbarten Übertragungsnetzbetreibern mit privatrechtlichen Verträgen ab. Es ist

durchaus möglich, dass diese Kooperation auch in Zukunft im Interesse der Schweiz

funktionieren wird. Für diese Zusammenarbeit ist die Schweiz aber auf das Wohlwol-

len der EU und ihrer Mitgliedsstaaten angewiesen. Aufgrund der Optimierung der

Stromversorgung im Binnenmarkt in immer grösseren Räumen und Regionen und der

zunehmenden Anzahl involvierter Akteure und Interessensvertreter besteht aber das

Risiko, dass für die Schweiz wichtige Lösungen aufgrund politischer Erwägungen der

EU oder prozeduraler Erfordernisse des EU-Rechts nicht mehr rechtzeitig getroffen

werden können. Die privatrechtliche, technische Kooperation kann ein Stromabkom-

men insbesondere auch bezüglich Netzsicherheit nicht vollumfänglich ersetzen.

Abkommen mit der EU zur Kooperation bei Versorgungssicherheit und Netzbetrieb

ohne Marktzugang (Bilaterales technisches Abkommen)

Die EU lehnt ein Abkommen mit der Schweiz nur zur Sicherung der Kooperation bei

der Versorgungssicherheit und beim Netzbetrieb ohne Marktzugang ab. Für die EU

ist der Strombinnenmarkt das wesentliche Element zur Gewährleistung der Versor-

gungssicherheit. Die Bereiche Markt und Netz sind im EU-Recht eng verknüpft und

können nicht konsequent voneinander separiert werden. Deshalb ist gemäss EU ein

bilaterales technisches Abkommen über die Versorgungssicherheit und den Netzbe-

trieb ohne Marktzugang nicht möglich. Des Weiteren hat auch die Schweiz ein Inte-

resse am Zugang zum EU-Strombinnenmarkt, um bspw. ihre flexible Wasserkraft

besser vermarkten zu können.

609 / 931

2.11.3.4

Verhältnis zur Legislaturplanung und zur Finanzplanung

sowie zu Strategien des Bundesrates

2.11.3.4.1

Verhältnis zur Legislaturplanung

Die Vorlage ist in der Botschaft vom 24. Januar 2024 zur Legislaturplanung 2023-

2027 und im Bundesbeschluss vom 6. Juni 2024

über die Legislaturplanung 2023-

2027 angekündigt.

Die Legislaturplanung 2023-2027 sieht als Ziel 2, dass die Schweiz ihre Beziehungen

zur EU erneuert. Unter den erforderlichen Geschäften zur Zielerreichung steht das

Stromabkommen mit der EU.

Mit der vorliegenden Vorlage wird die in der Legislaturplanung festgelegte Zielset-

zung zur Verabschiedung eines Stromabkommens erfüllt (Richtliniengeschäft).

2.11.3.4.2

Verhältnis zur Finanzplanung

Im Voranschlag 2025 mit integriertem Aufgaben- und Finanzplan 2026-2028 der Ver-

waltungseinheiten des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie

und Kommunikation (UVEK) ist das Stromabkommen mit der EU als Geschäft zu

den Zielen des Bundesrates 2025 aufgeführt.

2.11.3.4.3

Verhältnis zu Strategien des Bundesrates

In der Bundesverfassung (BV) ist die nachhaltige Entwicklung mehrfach verankert,

unter anderem im einleitenden Artikel 2 zum Zweck der Eidgenossenschaft. Um den

Verfassungsauftrag zu erfüllen, formuliert der Bundesrat seine Absichten seit 1997

regelmässig in der Strategie Nachhaltige Entwicklung (SNE), zuletzt in der Strategie

Nachhaltige Entwicklung 2030.

539

Das Stromabkommen leistet einen wichtigen Beitrag zur Erreichung des Ziels 7.1, das

die Gewährleistung einer «ausreichende[n

]

, breit gefächerte[n

]

, sichere[n

]

, wirtschaft-

liche[n

]

und umweltverträgliche[n

]

Energieversorgung sowie die Resilienz der dafür

benötigten Infrastruktur (…)» fordert.

Das Stromabkommen unterstützt auch die Energiestrategie 2050 des Bundesrates, die

darauf abzielt, eine sichere, umweltverträgliche und kostengünstige Energieversor-

gung zu gewährleisten und gleichzeitig einen hohen Versorgungsstandard zu si-

chern.

540

Durch seine Ausrichtung auf die EU fördert das Stromabkommen zudem die aussen-

politische Strategie 2024-2027

541

.

Es trägt zur Umsetzung des geografischen Ziels 1

bei, indem es die Stabilisierung und Weiterentwicklung des bilateralen Wegs mit der

539

Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030; Bundesrat; 22. März 2022; verfügbar unter:

www.are.admin.ch > Nachhaltige Entwicklung > Strategie Nachhaltige Entwicklung

www.are.admin.ch > Nachhaltige Entwicklung > Strategie Nachhaltige Entwicklung

540

Botschaft vom 4. September 2013 zum ersten Massnahmenpaket der Energiestrategie 2050

und zur Volksinitiative «Für den geordneten Ausstieg aus der Atomenergie (Atomaus-

stiegsinitiative)», BBl

2013

7561.

541

Bundesrat 2024: Aussenpolitische Strategie 2024 – 2027, verfügbar unter ww.eda.ad-

min,ch > Publikationen.

610 / 931

EU unterstützt, ein neues Abkommen ermöglicht und die Beteiligung der Schweiz an

EU-Programmen sichert.

2.11.3.5

Erledigung parlamentarischer Vorstösse

Der Bundesrat beantragt mit der vorliegenden Botschaft die Abschreibung der folgen-

den parlamentarischen Vorstösse:

2021 M 21.3500

Rechtssicherheit für die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz

und der EU im europäischen Stromsystem gewährleisten!

(N 3.5.23, Fraktion M-E; S 5.3.24, N 11.6.24)

2021 M 21.4500

Verhandlung zwischenstaatlicher technischer Vereinbarungen im

Bereich Strom

(N 18.9.23, Fraktion M-E; S 5.3.24, N 11.6.24)

Die erste vom Parlament überwiesene Motion der Mitte-Fraktion verlangt, mit der

EU-Verhandlungen aufzunehmen, um den vielfältigen Beitrag der Schweiz zum

Funktionieren des europäischen Stromsystems auf eine Grundlage der Rechtssicher-

heit abzustützen. Im Rahmen der Verhandlungen mit der EU, die zum Stromabkom-

men geführt haben, kommt der Bundesrat diesem Anliegen nach.

Mit der zweiten eingereichten Motion der Mitte-Fraktion hat das Parlament den Bun-

desrat beauftragt, gestützt auf Artikel 24 Stromversorgungsgesetz (StromVG)

542

,

technische Vereinbarungen mit der EU und/oder den Mitgliedstaaten allenfalls in Zu-

sammenarbeit mit Swissgrid abzuschliessen. Mit dem Stromabkommen sind solche

technischen Vereinbarungen obsolet.

2.11.3.6

Verhandlungsverlauf

Im Jahr 2024 fanden 13 mehrtätige Verhandlungsrunden zum Stromabkommen statt.

Im Dezember 2024 hat der Bundesrat Kenntnis vom materiellen Abschluss der Ver-

handlungen genommen. Von Januar bis April 2025 wurde das Abkommen formell

und redaktionell bereinigt. Die formellen Verhandlungen wurden mit der Paraphie-

rung des Abkommenstexts durch die Chefunterhändler der Schweiz und der EU im

Mai 2025 abgeschlossen.

2.11.4

Vorverfahren

2.11.4.1

Vorarbeiten

2.11.4.1.1

Vergangene Verhandlungen (2007-2018)

Die Schweiz verhandelt mit der EU seit 2007, damals noch basierend auf dem zweiten

EU-Strombinnenmarktpaket, über ein Stromabkommen. Das ursprüngliche Verhand-

lungsmandat von 2006 wurde 2007 nach Konsultationen der Kommissionen des Par-

laments und bei den Kantonen mit zusätzlichen Leitplanken und 2010 aufgrund des

542

SR

734.7

611 / 931

dritten EU-Strombinnenmarktpakets ergänzt. Ab 2013 knüpfte die EU die Stromver-

handlungen an die institutionellen und an weitere Fragen, so dass es in den Stromver-

handlungen mehrmals zu Unterbrüchen kam.

Ab 2018 hat die EU die Fortführung der Stromverhandlungen mit Verweis auf die

fehlenden institutionellen Regeln, respektive den mangelhaften Fortschritt bei den

Verhandlungen, zum institutionellen Rahmenabkommen verweigert.

Vor

allem

mit

dem

Clean

Energy

Package

der

EU

(viertes

EU-

Strombinnenmarktpaket) ab 2019

543

und in geringerem Mass mit dem EU-Paket für

den ökologischen Wandel (

Fit for 55

) aus dem Jahr 2021

544

sowie den EU-

Krisenmassnahmen aus dem Jahr 2022

545

hat sich der EU-

Stromacquis

als Grundlage

für ein Stromabkommen wesentlich weiterentwickelt. Wegen der veränderten Rechts-

basis war auch das bisherige Schweizer Verhandlungsmandat überholt und musste

erneuert werden.

2.11.4.1.2

Breiter Paketansatz und exploratorische Gespräche

Im Februar 2022 hat der Bundesrat die Grundlage des breiten Paketansatzes für Ver-

handlungen mit der EU präsentiert. Seit Februar 2022 hat die Schweiz mit der Euro-

päischen Kommission mehrere Runden von exploratorischen Gesprächen geführt, da-

runter auch Gespräche mit der Generaldirektion für Energie der Europäischen

Kommission über das Stromabkommen.

Am 21. Juni 2023 hat der Bundesrat Eckwerte für ein Verhandlungsmandat mit der

EU verabschiedet. Im Bereich Strom hat er das UVEK in Zusammenarbeit mit dem

Eidgenössischen Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) und

dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) beauf-

tragt, technische Gespräche mit der EU aufzunehmen, um die Fortsetzung der Ver-

handlungen im Strombereich vorzubereiten. Seit Juni 2023 hat das Bundesamt für

Energie (BFE), zusammen mit dem EDA und den Kantonen, mehrere Runden von

technischen Gesprächen im Strombereich mit der Europäischen Kommission geführt.

Die exploratorischen Gespräche zum breiten Paketansatz, darunter auch die techni-

schen Gespräche zu einem Stromabkommen, wurden im Oktober 2023 mit einem

Text zu einer Gemeinsamen Verständigung (

Common Understanding

) abgeschlossen.

2.11.4.1.3

Ergebnis der Gespräche mit der EU im Strombereich

(

Common Understanding

)

Die Schweiz und die EU haben sich im

Common Understanding

bereit erklärt, die

Verhandlungen über ein Stromabkommen auf Basis des bestehenden Entwurfs wieder

aufzunehmen. Beide Seiten sind sich einig, dass ein Stromabkommen von beidseiti-

gem Interesse ist.

543

S. u. a. Pressemitteilung des Rats der EU vom 22. Mai 2019 «Saubere Energie für alle: Rat

verabschiedet verbleibende Dossiers zum Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Agentur für die

Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden» verfügbar unter www.consilium.eu-

ropa.eu > Presse > Pressemitteilungen.

544

S. u. a. Rat der EU, «Fit für 55», verfügbar unter www.consilium.europa.eu > Erklärtexte.

545

S. u. a. Rat der EU, «Energiepreise und Versorgungssicherheit», verfügbar unter

www.consilium.europa.eu > Erklärtexte.

612 / 931

Für die Übergangsphase ab Beendigung der exploratorischen Gespräche teilen die

Schweiz und die EU die Sichtweise, dass die Zusammenarbeit in den bilateralen Be-

ziehungen intensiviert werden soll. Solange die Verhandlungen andauern, bekennen

sich die EU und die Schweiz dazu, alle Massnahmen zu ergreifen, um die operatio-

nelle Netzsicherheit zu erhalten. Entsprechende Vereinbarungen, insbesondere in den

Bereichen Kapazitätsberechnung und Austausch von Regelenergie, sollen zwischen

den schweizerischen und EU-Übertragungsnetzbetreibern und Regulatoren auf tech-

nischer Ebene und gegebenenfalls mit Unterstützung von ENTSO-E getroffen wer-

den. Zu diesem Zweck soll die Eidgenössische Elektrizitätskommission (ElCom) auf

punktueller Basis an den entsprechenden Sitzungen der Regulatoren im Rahmen von

der Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden (ACER) teil-

nehmen können. Soweit dies zweckmässig ist, soll die Schweiz weiterhin punktuell

bei der

Electricity Coordination Group

teilnehmen können.

2.11.4.1.4

Abschluss der exploratorischen Gespräche und

Verhandlungsmandat

Am 8. November 2023 prüfte der Bundesrat die Ergebnisse der internen Arbeiten und

der exploratorischen Gespräche und erklärte letztere als abgeschlossen. Er beauftragte

das EDA, die Arbeiten zu einem Verhandlungsmandat mit Unterstützung der betroffe-

nen Departemente an die Hand zu nehmen. Am 15. Dezember 2023 veröffentlichte

der Bundesrat den Entwurf für das Verhandlungsmandat zum Stromabkommen. Im

Januar und Februar 2024 wurde das Mandat im Parlament, mit den Kantonen und mit

weiteren betroffenen Akteuren konsultiert. Hierzu fanden zwei runde Tische auf Stufe

Departementsvorsteher UVEK und zwei Sitzungen mit einer technischen Begleit-

gruppe bestehend aus Vertretern aus Stromwirtschaft, Kantonen, Städten, Gemeinden,

Sozialpartner und Konsumentenschutzorganisationen statt. Der Bundesrat verab-

schiedete und veröffentlichte am 8. März 2024 das definitive Verhandlungsmandat.

Dieses enthält die Zielsetzung, Bestimmungen zu institutionellen Elementen, die Auf-

hebung der bisherigen Mandate von 2006 bis 2010 und 15 konkrete thematische Leit-

linien.

2.11.4.2

Einbezug der betroffenen Akteure während den

Stromverhandlungen

Während den Stromverhandlungen wurden die betroffenen Akteure von Stromwirt-

schaft, Kantonen, Städten, Gemeinden, Sozialpartnern, Konsumentenschutzorganisa-

tionen und Umweltschutzorganisationen eng eingebunden. Von Mai 2024 bis Januar

2025 hat das BFE in Zusammenarbeit mit dem EDA und dem Staatssekretariat für

Wirtschaft (SECO) vier Sitzungen der technischen Begleitgruppe durchgeführt, an

denen Verhandlungsthemen, Zwischenergebnisse und Vorschläge für die innenpoliti-

sche Umsetzung präsentiert und diskutiert wurden. Die Teilnehmenden konnten dabei

auch ihre Anliegen einbringen. Im Mai 2024 und im Oktober 2024 fanden zwei runde

Tische auf Stufe Departementsvorsteher UVEK mit den gleichen Akteuren statt. Da-

neben hat sich das BFE bilateral in rund zwei Dutzend Sitzungen mit betroffenen Akt-

euren zu relevanten Themen ausgetauscht (s. Ziff. 1.3.3).

613 / 931

2.11.4.3

Studien und Gutachten

Zur Analyse der volkswirtschaftlichen Auswirkungen hat das BFE eine Studie an das

Beratungsbüro Ecoplan vergeben.

546

Die Ergebnisse der Studie sind im Kapitel

2.11.9.3 zusammengefasst. Frontier Economics hat in einer weiteren Studie für das

BFE die Regulierungen der Grundversorgung und Stromtarife in ausgewählten EU-

Mitgliedsstaaten analysiert.

547

Sie zeigt verschiedene Ausgestaltungen der Regulie-

rung in Abhängigkeit der nationalen Gegebenheiten. Das EDA hat eine Umfrage bei

den Schweizer Vertretungen in den EU-Mitgliedsstaaten zu den Erfahrungen mit der

Strommarktöffnung durchgeführt. Diese hat ergeben, dass die positiven Auswirkun-

gen der Strommarktöffnung überwiegen und negative Auswirkungen äusserst selten

sind.

548

2.11.5

Grundzüge des Abkommens

2.11.5.1

Zusammenfassung des Verhandlungsergebnisses

Der Zweck des Stromabkommens ist die Teilnahme der Schweiz am EU-

Strombinnenmarkt, indem die einheitliche Anwendung des Strombinnenmarktrechtes

– ggf. mit den nötigen Anpassungen in Bezug auf die Schweiz– – gewährleistet wird.

Ziel des Abkommens ist die Sicherstellung des gleichberechtigten und gegenseitigen

Marktzugangs für die Marktakteure, inklusive Zugang zu gemeinsamen Handelssys-

temen und -plattformen sowie Koordinationsmechanismen. Über eine verbesserte Al-

lokation und Bewirtschaftung des Übertragungsnetzes und der Interkonnektoren soll

der grenzüberschreitende Austausch von Strom gestärkt werden, ebenso die Integrität

und Transparenz des Strom-Grosshandelsmarktes. Die Stabilität des regionalen

Stromnetzes und die Einbindung des Schweizer Stromnetzes ins europäische Ver-

bundnetz soll sichergestellt sein. Ein hohes Niveau an Versorgungssicherheit soll ge-

währleistet werden. Um den Übergang zu einem Energiesystem mit Netto Null Treib-

hausgasen bis 2050 zu erleichtern, soll der Anteil von Strom aus erneuerbaren

Energien erhöht und ein hohes Niveau an Umweltschutz im Strombereich sicherge-

stellt werden. Schlussendlich soll die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der

EU, deren Regulierungsbehörden und Netzbetreibern im Strombereich gestärkt wer-

den.

Der Geltungsbereich des Stromabkommens ist auf den Strombereich begrenzt. Ange-

sichts der dynamischen Rechtsübernahme (s. Ziff. 2.1) ist diese Begrenzung wichtig.

546

Abrufbar unter: www.bfe.admin.ch > Versorgung > Stromversorgung > Stromabkommen

Schweiz – EU.

547

Bericht vom 25. März 2024 zur Grundversorgung und Preisregulierung in ausgewählten

Ländern der EU, Ergebnisse für Phase 2, Frontier Economics, verfügbar unter

www.bfe.admin.ch > Versorgung > Stromversorgung > Stromversorgungsgesetz > Doku-

mente > Hintergrundstudien Strommarktöffnung > Bericht Grundversorgung und Preisre-

gulierung in ausgewählten Ländern der EU, Ergebnisse für Phase 2.

548

Bericht vom 27. Juni 2024 zur Umfrage im EU-Aussennetz zur Strommarktöffnung

(Kleinkundenmarkt)verfügbar unter www.bfe.admin.ch > Versorgung > Stromver-sorgung

> Stromversorgungsgesetz > Dokumente > Hintergrundstudien Strommark-töffnung > Be-

richt Umfrage im EU-Aussennetz zur Strommarktöffnung (Kleinkun-denmarkt). Bericht

des EDA - Staatssekretariat.

614 / 931

Der Strombereich umfasst im Abkommen die Produktion, den Handel, die Übertra-

gung und der Vertrieb von Strom. Der Verbrauch von Strom wird nicht erfasst. Auch

sind weitere energierelevante Themen wie Klima, Green Deal, Sektorkopplung und-

integration, Mobilität, Gebäudebereich, Gas oder Wasserstoff nicht vom Stromab-

kommen betroffen.

Mit dem Stromabkommen gelten für den Schweizer Strommarkt grundsätzlich die

Vorgaben des EU-

Stromacquis

namentlich hinsichtlich Marktordnung, Netzregulie-

rung, Versorgungssicherheit, Kooperation, Verantwortlichkeiten und Rollen. Das Ab-

kommen regelt für die Schweiz spezifische Ausnahmen und Präzisierungen beispiels-

weise zur Organisation von ÜNBs und VNBs, für die Grundversorgung, für die

Versorgungssicherheit sowie für Energieressourcen und die Wasserkraft.

Zur Gewährleistung von gleichen Wettbewerbsbedingungen werden für die Schweiz

mit dem Stromabkommen Regeln über staatliche Beihilfen im Geltungsbereich des

Abkommens festgelegt. Entsprechend verpflichtet sich die Schweiz, ein mit demjeni-

gen der EU äquivalentes, aber eigenständiges Beihilfeüberwachungssystem einzu-

richten. Dabei sind eine Schweizer Überwachungsbehörde und Schweizer Gerichte

für die Überwachung von Schweizer Beihilfen zuständig (Zwei-Pfeiler-Ansatz). Die

für die Schweiz wichtigsten Fördersysteme für erneuerbare Energien und Umwelt be-

ziehungsweise Gewässerschutz werden im Abkommen explizit als mit dem Binnen-

markt vereinbar erklärt.

Bezüglich Umwelt verpflichten sich die Schweiz und die EU zur Gewährleistung ei-

nes hohen Niveaus an Umweltschutz im Strombereich. Die Schweiz übernimmt die

im Strombereich relevanten Umweltrechtsakte der EU nicht ins nationale Recht, ga-

rantiert diesbezüglich aber mindestens das gleiche Niveau an Umweltschutz wie in

der EU.

Im Bereich der erneuerbaren Energien verpflichten sich die Schweiz und die EU zur

Kooperation namentlich in Bezug auf deren Ausbau und Förderung. Für die Schweiz

gilt ein rechtlich unverbindliches, aber ambitioniertes Ziel für den Anteil der erneuer-

baren Energien am Bruttoendenergieverbrauch von 48,4 Prozent im Jahr 2030 (Anteil

2023: Rund 34,3 %).

Beim Ausbau und der Interoperabilität von Strominfrastrukturen verpflichten sich

beide Parteien zu einer Kooperation namentlich bei der Erarbeitung von Netzentwick-

lungsplänen.

Als Binnenmarktabkommen enthält das Stromabkommen die institutionellen Ele-

mente (s. Ziff. 2.1), einschliesslich dynamischer Rechtsübernahme.

Zur Gewährleistung des ordentlichen Funktionierens und der effektiven Umsetzung

des Abkommens wird ein Gemischter Ausschuss - bestehend aus Vertretern beider

Vertragsparteien - eingerichtet, der im Konsens über die ihm durch das Abkommen

übertragenen Aufgaben entscheidet.

Mit einer Evolutivklausel bekennen beide Parteien ihre Bereitschaft, eine Vertiefung

der Zusammenarbeit über den Stromsektor hinaus zu prüfen, insbesondere in den Be-

reichen Wasserstoff und erneuerbare Gase.

615 / 931

Die Rechte und Pflichten der Schweiz aus dem Stromabkommen gelten grundsätzlich

und wo nicht anders geregelt ab Inkrafttreten des Stromabkommens. Für gewisse As-

pekte regelt das Stromabkommen spezifische, teilweise längere Übergangsfristen für

die Schweiz. Angesichts des Umfangs der geltenden Regeln im Strombinnenmarkt

setzt die Schweiz das Abkommen (in Absprache mit der EU) in zwei zeitlich gestaf-

felten Paketen um, wobei das zweite Paket spätestens drei Jahre nach Inkrafttreten des

Abkommens umgesetzt sein muss. Das erste Paket enthält diejenigen Elemente, wel-

che für das Funktionieren des Strombinnenmarktes notwendig sind. Dazu gehören un-

ter anderem die Marktkopplung* (

Market Coupling

), die Marktöffnung für alle End-

verbraucherinnen und Endverbraucher und Vorgaben für die Entflechtung von VNB.

Das zweite Paket wird weitere und vor allem technische Elemente der Markt- und

Netzregulierung enthalten (s. Ziff. 2.11.7)

Die im Kapitel 2.11.3 genannten Verhandlungsziele und die Vorgaben des Verhand-

lungsmandats des Bundesrates vom 8. März 2024 sind mit dem Verhandlungsergebnis

vollumfänglich erfüllt.

2.11.5.1.1

Für das Stromabkommen relevante EU-Rechtsakte

Das Stromabkommen listet in

Anhang I - Strommarkt

die relevanten Rechtsakte der

EU im Strombereich im Geltungsbereich des Stromabkommens auf. Es handelt sich

dabei im Wesentlichen um Rechtsakte des EU Clean Energy Packages von 2019 in-

klusive zwischenzeitlicher Änderungen und dazugehöriger Durchführungsrechtsakte

sowie delegierte Rechtsakte der Europäischen Kommission:

Verordnung (EU) 2019/941 zur Risikovorsorge im Strombereich

549

Verordnung (EU) 2019/942 zur Etablierung von EU ACER

550

Verordnung (EU) 2019/943 zum Strombinnenmarkt inklusive zugehörige

Durchführungsrechtsakte und delegierte Rechtsakte der Europäischen

Kommission und dabei insbesondere die Strom-Netzwerkcodes

551

Richtlinie (EU) 2019/944 über gemeinsame Regeln zum Strombinnenmarkt

inklusive zugehöriger Durchführungsrechtsakt der Europäischen Kommis-

sion

552

549

Verordnung (EU) 2019/941 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019

über die Risikovorsorge im Elektrizitätssektor und zur Aufhebung der Richtlinie

2005/89/EG, in der Fassung gemäss Anhang I, des Stromabkommens.

550

Verordnung (EU) 2019/942 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019

zur Gründung einer Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit der Energie-

regulierungsbehörden (Neufassung), in der Fassung gemäss Anhang I, des Stromabkom-

mens.

551

Verordnung (EU) 2019/943 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019

über den Elektrizitätsbinnenmarkt (Neufassung), in der Fassung gemässe Anhang I des

Stromabkommens.

552

Richtlinie (EU) 2019/944 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019

mit gemeinsamen Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Änderung der

Richtlinie 2012/27/EU (Neufassung), in der Fassung gemässe Anhang I des Stromabkom-

mens.

616 / 931

Verordnung (EU) 1227/2011 über Grosshandelsmarktintegrität und -trans-

parenz inklusive zugehöriger Durchführungsrechtsakt der Europäischen

Kommission

553

In

Anhang V - Umwelt

sind die für den Strombereich relevanten Rechtsakte der EU

im Umweltbereich aufgelistet. Die Schweiz garantiert diesbezüglich im Sinne eines

Äquivalenzansatzes mindestens das gleiche Niveau an Umweltschutz.

Anhang VI – Erneuerbare Energien

listet die Rechtsakte der EU im Bereich erneuer-

bare Energien im Geltungsbereich des Stromabkommens auf, namentlich die Richtli-

nie (EU) 2018/2001

554

über die Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren

Energien inklusive zugehöriger delegierter Rechtsakte der Europäischen Kommis-

sion. Diese Richtlinie ist nur in Teilen auf die Schweiz anwendbar.

2.11.6

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Abkommens

Allgemeines zur Struktur des Abkommens

Das Stromabkommen gliedert sich in die Präambel, in einen Hauptteil und in mehrere

Anhänge. Die Präambel erläutert die Beweggründe zum Abschluss des Stromabkom-

mens und dient zu dessen Interpretation. Der Hauptteil enthält einerseits stromspezi-

fische Regelungen zu Themen, die für die Schweiz innenpolitisch wichtig sind (z. B.

zur Grundversorgung oder zur Entflechtung). Andererseits enthält er Regeln, die für

die anderen Binnenmarktabkommen des Pakets Schweiz–EU, soweit relevant und

enthalten, weitgehend gleich sind (z. B. staatliche Beihilfen und institutionelle Ele-

mente). Die Anhänge befassen sich unter anderem mit dem EU-

Acquis

, der mit dem

Abkommen für die Schweiz relevant wird (z. B. Anhang I zum EU-Strombinnenmarkt

oder Anhang VI zu den erneuerbaren Energien), mit Sonderfragen (z. B. Anhang II

zum Umgang mit Vorrängen im grenzüberschreitenden Übertragungsnetz oder An-

hang VII zum finanziellen Beitrag) und mit staatlichen Beihilfen (Anhänge III und

IV).

2.11.6.1

Geltungsbereich (Art. 2)

Nach Artikel 2 ist der Geltungsbereich des Abkommens der Strombereich. Laut De-

finition im Abkommen besteht er aus Produktion, Handel, Übertragung und Vertrieb

von Strom. Nicht erfasst sind hingegen der Stromverbrauch, was nicht zuletzt bei den

Beihilferegeln relevant ist (s. Ziff. 2.11.6.10), oder der Gasbereich, was sich unter

anderem insofern bemerkbar macht, als dass die Regeln über Transparenz und Integ-

rität des Energiegrosshandels (REMIT) auf Strom beschränkt sind. Ebenso nicht er-

fasst ist der Bereich (Gebäude-)Energieeffizienz, womit diesbezüglich nicht in die

kantonalen Hoheiten eingegriffen wird. Ausserdem gibt es mit dem Strombereich di-

rekt verbundene, vom Abkommen abschliessend aufgeführte Bereiche, auf die sich

553

Verordnung (EU) Nr. 1227/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Ok-

tober 2011 über die Integrität und Transparenz des Energiegroßhandelsmarkts, in der Fas-

sung gemässe Anhang I des Stromabkommens.

554

Richtlinie (EU) 2018/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember

2018 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen (Neufassung), in

der Fassung gemässe Anhang I des Stromabkommens.

617 / 931

das Abkommen ebenfalls erstreckt, beispielsweise die erneuerbaren Energien. Folg-

lich fallen allfällige weitere direkt mit dem Strombereich verbundene Bereiche, die

nicht im Abkommen aufgeführt sind, nicht in den Geltungsbereich des Abkommens.

Das Abkommen ist nicht unmittelbar anwendbar auf das Bahnstromnetz. In der mit

dem Abkommen übernommenen Richtlinie (EU) 2019/944

555

(nachfolgend Strombi-

nnenmarkt-Richtlinie) finden sich keine expliziten Hinweise, wonach es von dieser

erfasst ist. Das Bahnstromnetz in der Schweiz ist weitgehend von der Regulierung im

StromVG ausgenommen, was so bleiben kann. Das System des Bahnstromnetzes ist

auch in EU-Staaten, wie zum Beispiel in Österreich, in ähnlicher Weise geregelt wie

in der Schweiz.

2.11.6.2

Nicht-Diskriminierung (Art. 3)

Artikel 3 stipuliert die Nicht-Diskriminierung als allgemeinen, das ganze Abkommen

beherrschenden Grundsatz, wie er beispielsweise auch im Landverkehrsabkommen

vorgesehen ist. Es schützt die Vertragsparteien vor diskriminierenden Massnahmen

der anderen Seite. Zudem dürfen auch Rechtssubjekte nicht aufgrund der Nationalität

beziehungsweise bei Unternehmen aufgrund des Sitzstaats diskriminiert werden.

2.11.6.3

Nationale Netzgesellschaft (Art. 5)

Das EU-Recht enthält drei Modelle (s. Ziff. 2.11.6.15.7) für die Entflechtung der ÜNB

(

Transmission System Operator

, TSO), also die Trennung des Betriebs des Übertra-

gungsnetzes von anderen Aktivitäten im Strombereich, wie Produktion und Handel

(Davon können die Mitgliedsstaaten ein Modell auswählen. Artikel 5 nimmt zwei As-

pekte der heutigen Realität zur nationalen Netzgesellschaft Swissgrid auf und erklärt

sie (unter Vorbehalt des EU-Rechts) für weiterhin zulässig. Das betrifft einerseits die

«schweizerische Beherrschung», die im StromVG mit der Vorgabe statuiert ist, dass

es eine direkte oder indirekte Mehrheit durch die Kantone und Gemeinden geben

muss. Andererseits wird der Umstand abgebildet, dass diese Mehrheit nur eine indi-

rekte ist und es (im Besitz der öffentlichen Hand befindliche) Elektrizitätsversor-

gungsunternehmen (EVU) sind, die die Aktien an Swissgrid halten. Bei der Umset-

zung der EU-Vorgaben im StromVG werden die Grundlagen so geschaffen, dass sich

Swissgrid zu einem unabhängigen ÜNB umorganisieren kann (s.Ziff. 2.11.7). Die El-

Com wird Swissgrid unter diesem Modell zertifizieren, damit sie ihre Aufgaben bin-

nenmarktkonform wahrnehmen kann.

2.11.6.4

Entflechtung der Verteilnetzbetreiber (VNB) (Art. 6)

Das EU-Recht schreibt beim Verteilnetz* eine im Vergleich zur in der Schweiz bereits

bestehenden buchhalterischen und informatorischen Entflechtung weitergehende, or-

ganisatorische und rechtliche Entflechtung vor. Demnach ist der Netzbetrieb von den

anderen Aktivitäten eines integrierten Unternehmens hinsichtlich Rechtsform, Orga-

nisation und Entscheidungsgewalt zu trennen, nicht aber eigentumsmässig (s. Ziff.

555

Richtlinie (EU) 2019/944 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019

mit gemeinsamen Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Änderung der

Richtlinie 2012/27/EU, ABl. L 158, vom 14.6.2019, S. 125, zuletzt geändert durch Richtli-

nie (EU) 2024/1711, ABl. L 1711, 26.6.24.

618 / 931

2.11.7). Diese weitergehenden Regeln müssen jedoch nur für VNB ab 100'000 ange-

schlossenen Kundinnen und Kunden (wobei eine Gesamtkonzernbetrachtung relevant

ist) angewandt werden und betreffen in der Schweiz rund 15 VNB. Für die restlichen

Stromversorger bleibt es bei den heutigen Entflechtungsregeln. Das öffentliche Ei-

gentum an den VNB wird in keiner Weise in Frage gestellt, womit keine Privatisie-

rungen nötig sind. Zusätzlich wird, vor allem mit Relevanz für die öffentlich-rechtlich

organisierten Unternehmen festgehalten, dass die Unternehmenssparten – wo das ge-

wollt ist – öffentlich-rechtlich organisiert bleiben können (z. B. als Anstalten).

2.11.6.5

Marktöffnung und Grundversorgung (Art. 7)

Ein zentraler Teil des Stromabkommens ist die Marktöffnung für alle Endverbrauche-

rinnen und Endverbraucher. Die Schweiz behält die Möglichkeit, flankierend zur

Marktöffnung eine regulierte Grundversorgung mit regulierten Preisen für Haushalte

und Unternehmen unter einer gewissen aber im Abkommen nicht näher bestimmten

Verbrauchsschwelle weiterzuführen. Artikel 7 präzisiert das Recht der Schweiz, eine

Grundversorgung beizubehalten, und zwar nicht bloss als Letztversorger-Aufgabe,

und ergänzt, dass auch eine Preisregulierung zulässig ist (unter Vorbehalt des EU-

Rechts). In vielen EU-Staaten kommt Preisregulierung in- und ausserhalb der Grund-

versorgung vor, und zwar in vielseitiger Ausgestaltung, also auch mit unterschiedli-

cher Eingriffstiefe was die Preisgestaltung anbelangt. Nach EU-Recht sind solche

Preisregulierungen zwar als Übergangslösungen gedacht und befristet einzuführen,

ein konkretes Ende der Fristen wird aber nicht geregelt. Somit kann die Schweiz eine

regulierte Grundversorgung mit regulierten Preisen beibehalten, dies grundsätzlich bis

auf weiteres beziehungsweise solange die Schweiz eine Regulierung für nötig hält.

2.11.6.6

Wegfall Vorränge und finanzielle Entschädigung (Art. 8)

Vorränge beziehungsweise Reservierungen, dank denen Stromlieferungen bei der Zu-

teilung von Kapazitäten im grenzüberschreitenden Übertragungsnetz vorab bedient

werden, stehen in Konflikt mit EU-Recht. In der EU wurden solche Vorränge bereits

ab 2003, innert kurzen Fristen und ohne Entschädigungen, abgeschafft. Die Schweiz

kennt noch solche Vorränge einerseits bei (privatrechtlichen) Langzeitverträgen zum

Bezug von Strom aus Kernkraftwerken aus Frankreich oder für den Tausch von Strom

aus Schweizer Wasserkraft und französischer Kernkraft sowie andererseits bei meh-

reren Grenzwasserkraftwerken, wo sich die Vorränge mitunter aus Staatsverträgen er-

geben

556

. Für die erstere Gruppe (inkl. dem Grenzkraftwerk Emosson) entfallen die

Vorränge mit Inkrafttreten des Stromabkommens (Art. 8 Abs. 1). Dafür erhalten die

556

Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Französischen Re-

publik über den Ausbau der Wasserkräfte bei Emosson (SR

0.721.809.349.1

])

Übereinkommen zwischen der Schweiz und Frankreich über die Regelung gewisser

Rechtsverhältnisse betreffend die künftige Ableitung des Rheines bei Kembs (SR

0.721.809.349.7

])

Übereinkommen zwischen der Schweiz und Frankreichüber die Verleihung der Wasser-

kräfte des Doubs bei Châtelot (SR

0.721.809.349.5

)

Vereinbarung zwischen der Schweiz und Italien über die Verleihung der Wasserkräfte des

Reno di Lei (SR

0.721.809.454.2

)

Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Republik Österreich

über die Nutzbarmachung des Inn und seiner Zuflüsse im Grenzgebiet (SR

0.721.809.163.1

)

619 / 931

Vertragshalter während einer Übergangszeit von sieben Jahren eine finanzielle Ent-

schädigung (oder bei einem früheren Vertragsende für diese kürzere Dauer). Bei den

Grenzkraftwerken enthält das Stromabkommen eine Bagatellregelung, wodurch

Grenzkraftwerke Vorränge von weniger als 65 Megawatt (MW) während 15 Jahren

behalten können; bei einem vorherigen Ablauf der Konzessionen erlischt der Vorrang

ebenfalls in diesem Zeitpunkt (Art. 8 Abs. 3). Grenzkraftwerke mit Deutschland ha-

ben die Vorränge schon länger verloren, weil Deutschland die Vorränge für EU-

rechtswidrig hielt und nicht mehr mittrug. Die Verträge mit Wegfall des Vorrangs und

finanzieller Entschädigung betreffen einzig die Grenze mit Frankreich; die Grenz-

kraftwerk-Bagatellfälle betreffen die Grenzen mit Frankreich, Italien und Österreich.

Die Einzelheiten des Übergangsregimes stehen in Anhang II. Die Regelung im Ab-

kommen einschliesslich der Umsetzungsmethodik ist als abschliessend für die ganze

Thematik zu betrachten. Es profitieren nur Verträge vom Regime, die in den Listen in

Anhang II aufgeführt sind. Anhang II legt die Grundsätze des vorgesehenen Entschä-

digungsmechanismus fest. Für die Umsetzung braucht es aber erst noch eine Umset-

zungs-Methodologie, die die Regulatoren Frankreichs und der Schweiz festlegen

müssen (Anhang II ist also nicht «

self-executing

»). Gelingt dies nicht innert drei Mo-

naten, kann der Gemischte Ausschuss mit der Lösungsfindung betraut werden; eine

Verzögerung ändert aber nichts daran, dass die Vertragshalter ab Wegfall der Vor-

ränge Anspruch auf die finanzielle Entschädigung haben. Die Entschädigung wird aus

den Engpasserlösen aus der Vergabe der grenzüberschreitenden Übertragungsnetzka-

pazitäten an der französisch-schweizerischen Grenze finanziert.

2.11.6.7

Versorgungssicherheit und Reserven (Art. 9)

Artikel 9 handelt von der Versorgungssicherheit, deren Gewährleistung respektive

Stärkung mit zu den wichtigsten Zielen des Abkommens gehört. Absatz 1 hält fest,

dass die Kapazitäten für den grenzüberschreitenden Austausch, gerade auch in Kri-

senzeiten, offenstehen. Beide Parteien verpflichten sich, auf Massnahmen, welche die

Versorgungssicherheit gefährden, zu verzichten. Sie verpflichten sich insbesondere

auch, auf ungebührliche Einschränkungen der grenzüberschreitenden Stromflüsse zu

verzichten. Dieser Absatz sichert die Verfügbarkeit der Strom-Importkapazitäten

rechtlich ab, worüber in der Schweiz aufgrund der EU-Vorgabe, wonach 70 Prozent

der für den grenzüberschreitenden Stromhandel relevanten Netzkapazitäten dem Han-

del zur Verfügung zu stellen sind, zuletzt Unsicherheit herrschte. Eine Unsicherheit,

die einer der Beweggründe zur Erstellung von Schweizer Reserven war.

Diese Absicherung reduziert für die Schweiz den Bedarf an inländischen Reserven.

Solche bleiben aber auch unter einem Abkommen möglich, sofern sie notwendig, ver-

hältnismässig und nicht-diskriminierend sind. Für die Ermittlung von deren Bedarf

sind grundsätzlich die gleichen Regeln anwendbar, wie für die EU-Mitgliedsstaaten.

Zusätzlich gesteht das Abkommen der Schweiz die Berücksichtigung besonderer Ei-

genheiten zu. Dies vergrössert den Spielraum in dieser Frage. Grund dafür, dass be-

sondere Eigenheiten berücksichtigt werden können, ist einerseits der Umstand, dass

die Schweiz kein EU-Mitglied ist. Andererseits soll bei der Ermittlung des Reservebe-

darfs berücksichtigt werden, dass unter Umständen in den Nachbarländern Kernkraft

oder Gas für die Stromproduktion nur beschränkt verfügbar sein können. Diese Be-

denken sollen bei der Erstellung von Reserven in verhältnismässiger und vernünftiger

620 / 931

Weise berücksichtigt werden. Mit diesem zusätzlichen Spielraum konnte die Schweiz

eine Ausnahme erreichen, die als solche in Artikel 27 Absatz 7 aufgeführt ist. Diese

Ausnahme ist somit von der dynamischen Rechtsübernahme ausgenommen. Das be-

deutet, selbst wenn die Kriterien der EU dereinst strenger würden, bliebe es hinsicht-

lich der Schweiz bei der vereinbarten Ausnahmeregelung und die strengeren Kriterien

müssten nicht in den Anhang des Abkommens integriert werden.

Absatz 4 hält eine Bestandsklausel beziehungsweise Übergangsbestimmung für die

Anfangszeit des Stromabkommens fest. Die Schweiz hat 2022 mit der Erstellung von

Reserven begonnen und führt diesen Prozess, auch angesichts der Ungewissheit über

die Regelung des Verhältnisses zur EU, momentan weiter. Die Erstellung von Reser-

ven muss mit zeitlichem Vorlauf passieren, da die Realisierung lange dauert. Mit der

Übergangsbestimmung werden die Dispositionen geschützt, welche die Schweiz in

der jetzigen Phase noch trifft. Reserven aus dieser Phase, die im Widerspruch zu den

Regeln des Abkommens sind, müssen nach sechs Jahren eingestellt werden. Umge-

kehrt können vorbestehende Reserven, die im Einklang mit dem Abkommen sind,

beibehalten werden.

In der EU ist es die Europäische Kommission, die Reserven der EU-Mitgliedsstaaten

nach eingehender Prüfung der strom- und beihilferechtlichen Vorgaben genehmigt.

Für die Schweiz entscheidet hinsichtlich Reserven unter dem Stromabkommen eine

Schweizer Behörde (Anhang I, Ziff. 4, Bst. c), die mit der Umsetzungsvorlage defi-

niert wird. Sollte es zu einem Streitfall kommen (s. Ziff. 2.1.6.4), können sich sowohl

Fragen zum EU-Reserverecht sowie zu den ausgehandelten Schweizer Eigenheiten

stellen. Im Falle der Einsetzung eines Schiedsgerichts würde dieses den EuGH nur

soweit beiziehen, als dass sich Fragen des erwähnten EU-Rechts stellen sowie dies für

die Beantwortung der Streitfrage relevant und notwendig ist. Die übrigen Aspekte,

also zum Beispiel die verhältnismässige und vernünftige Berücksichtigung der

Schweizer Eigenheiten, würde das Schiedsgericht dagegen allein beurteilen, das heisst

ohne Einbezug des EuGHs. Der Entscheid im Streitfall selbst ist ebenfalls Sache des

Schiedsgerichts.

2.11.6.8

Beteiligung an EU-Behörden und -Stellen (Art. 10)

Ohne Stromabkommen war die Schweiz in den letzten Jahren in zahlreiche europäi-

sche Prozesse, Gremien, Plattformen, usw. nicht eingebunden und wurde sukzessive

aus diesen ausgeschlossen. Der Ausschluss betraf unter anderem die Marktkopplung

für verschiedene Zeitfenster und teilweise die Regelenergie. Mit dem Abkommen sind

die Schweiz und ihre Akteure voll teilnahmeberechtigt,deren Zugang ist gesichert,

und zwar bei allen relevanten EU-Einheiten, EU-Behörden und Regionen etc. Als

Nicht-EU-Staat hat die Schweiz durch diese Teilhabe zwar kein Mitentscheidungs-

und Stimmrecht, sie kann bei der Weiterentwicklung des EU-Strommarkts aber in al-

len Bereichen mitgestalten (sog.

Policy Shaping

). Das ist zentral, weil viele relevante

Entscheide im EU-Strombinnenmarkt im Konsens getroffen werden. Artikel 10 zählt

deklaratorisch und beispielhaft die wichtigsten dieser Beteiligungen auf: jene der El-

Com bei der ACER, jene von Swissgrid bei ENTSO-E und jene der VNB bei der EU

DSO Entity

(Distribution System Operator

, DSO). Das Teilnahmerecht ergibt sich

621 / 931

aus der Übernahme der entsprechenden EU-Rechtsakte in Anhang 1 und dem Abkom-

mensprinzip, wonach die Schweiz und ihre Akteure gleich wie die Mitgliedstaaten

und deren Akteure behandelt werden.

2.11.6.9

Energieressourcen und Wasserkraft (Art. 11)

Artikel 11 stellt klar, dass die Schweiz ihren Energiemix selbständig festlegen kann.

Damit wahrt sich die Schweiz insbesondere die Möglichkeit, weiterhin auf einheimi-

sche Kernkraft zurückgreifen zu können. Weiter haben die Kantone das Recht, wei-

terhin eigenständig zu bestimmen, wie ihre Energieressourcen genutzt werden. Damit

können die Kantone weiterhin selbstständig festlegen, auf welche Energien und wel-

chen Energiemix sie setzen möchten. Diese Autonomie gilt insbesondere für die Was-

serkraft. Das Stromabkommen enthält keine Vorgaben zur Wasserkraft, also auch hin-

sichtlich der Vergabe von Konzessionen oder des Wasserzinses. Ein obligatorischer

EU-Standard, wonach die Mitgliedstaaten Wasserkraftkonzessionen per Ausschrei-

bung vergeben müssen, existiert nicht. Darüber hinaus sind die EU-Rechtsakte, wel-

che Regeln dazu beinhalten (z.B. Konzessionsrichtlinie (EU) 2014/23)

557

, nicht Teil

des Abkommens. Die EU könnte somit auch in Zukunft nicht argumentieren, dass die

Konzessionsrichtlinie oder ihr Nachfolgerechtsakt im Anwendungsbereich des Ab-

kommens sei. Denn wenn dem so wäre, hätte die Konzessionsrichtlinie bereits heute

ins Abkommen aufgenommen werden müssen. Ebenfalls nicht in Frage gestellt ist der

Wasserzins. Weiter stellt Artikel 11 klar, dass das Abkommen des öffentlichen Eigen-

tums an Produktionsanlagen, zu denen auch Wasserkraftanlagen gehören, nicht ent-

gegensteht. Somit erfordert das Stromabkommen keine Privatisierungen.

2.11.6.10

Staatliche Beihilfen (Art. 12-19)

Als

level-playing-field-

Materie deckt das Stromabkommen auch die staatlichen Bei-

hilfen ab. Diese Vorschriften regeln einerseits das direkt anwendbare materielle Bei-

hilfeverbot mit diversen ebenfalls direkt anwendbaren Ausnahmen, andererseits die

Grundpfeiler des Überwachungsverfahrens. Die Vorschriften sind weitgehend iden-

tisch mit denjenigen der beiden anderen Binnenmarktabkommen mit Beihilfebestim-

mungen, namentlich dem Landverkehrs- und dem Luftverkehrsabkommen - mit der

Ausnahme von einzelnen sektoriellen Rechtsakten- und werden in Kapitel 2.2 allge-

mein erläutert. Eine wichtige Determinante für das Beihilferecht ergibt sich aus der

Definition des Geltungsbereichs des Stromabkommens. Dass dieser insbesondere den

Stromverbrauch nicht erfasst (Art. 2), bestimmt wiederum den Geltungsbereich der

Beihilferegeln (Ziff. 2.2.5.3). Somit fallen zum Beispiel zahlreiche Fördermassnah-

men für Stromgrossverbraucher oder nationale und kantonale Systeme zur Förderung

von Energieeffizienz oder dem rationellen Stromverbrauch nicht unter das Stromab-

kommen, dies im Unterschied zu den EU-Staaten.

Zu den völkerrechtlichen Beihilfebestimmungen gehören ferner die Anhänge III und

IV sowie eine gemeinsame Erklärung, welche dem Abkommen beigefügt ist. Anhang

III hält für die sechs wichtigsten bestehenden Schweizer Beihilferegelungen im

Strombereich fest, dass sie beihilferechtskonform sind (Legalausnahmen): bei den er-

557

ABl L 94 28.03.2014, S. 1

622 / 931

neuerbaren Energien die gleitende Marktprämie und die Investitionsbeiträge (inklu-

sive Reduktion des Wasserzinses in Fällen von Investitionsbeiträgen), die Betriebs-

kostenbeiträge für Biomasse und die Garantien für die Geothermie sowie beim Ge-

wässerschutz die Förderung respektive Abgeltungen für die Restwassersanierung und

die Sanierung der Wasserkraft. Bei der gleitenden Marktprämie und den Investitions-

beiträgen für erneuerbare Energien muss die Schweiz zwar noch geringe Anpassun-

gen vornehmen (hinsichtlich Direktvermarktung und zur Vermeidung von Produkti-

onsanreizen in Negativpreisphasen). Im Wesentlichen sind diese Instrumente aber

schon heute beihilferechtskonform. Darüber hinaus kann der Gemischte Ausschuss

des Stromabkommens künftig zusätzliche Ausnahmetatbestände formulieren, die vom

EU-Recht abweichen können.

Zur Auflistung im Abkommen sind mehrere Punkte festzuhalten: So darf aus der Liste

nicht gefolgert werden, dass andere, nicht aufgeführte Beihilfen unzulässig sind. In

den Verhandlungen zum Stromabkommen wurden bewusst, unter anderem wegen des

Zweipfeiler-Ansatzes bei der Beihilfeüberwachung, nur wenige, wichtige Beihilfen

analysiert. Ferner folgt aus dem Umstand, dass die Beihilfen auf der Liste solche des

Bundesrechts sind, nicht, dass kantonale oder kommunale Regelungen unzulässig sind

– im Gegenteil; für analoge kantonale oder kommunale Instrumente ist davon auszu-

gehen, dass sie ebenfalls beihilfekonform sind. Richtig einzuordnen ist auch die zeit-

liche Aussage zur Konformität. Dass die Beihilfen für sechs beziehungsweise für zehn

Jahre konform erklärt werden, ist verfahrenstechnisch motiviert (weil beihilferechtli-

che Beurteilungen in der EU nur zeitlich limitierten Charakter haben) und nicht ma-

teriell. Diese Fristen sind keine Auslauffristen, nach deren Ablauf die Beihilfen unzu-

lässig werden. Vielmehr müssen diese danach in die fortlaufende Prüfung bestehender

Beihilferegelungen durch die Schweizer Überwachungsbehörde einfliessen. Die jet-

zige positive Bewertung ist auch ein starkes Signal für die Zeit nach Ablauf der ge-

nannten Fristen. Umgekehrt ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass diese Beihilfen

später (nach Ablauf der sechs bzw. zehn Jahre) unzulässig werden, zum Beispiel we-

gen einer neuen Rechtslage. Umsetzungsbeihilfen auf der Grundlage dieser Beihil-

feregelungen dürften dann nicht mehr gewährt werden. Dank einer Übergangsregel

des Abkommens (Art. 14 Abs. 3 und Art. 15 Abs. 3) hat die Schweiz fünf Jahre nach

Inkrafttreten des Abkommens Zeit, eine Überwachungsbehörde zu errichten. Die

Überwachungsbehörde hat danach ein weiteres Jahr, um sich einen Überblick über

bestehende Beihilferegelungen zu verschaffen. In diesem Rahmen werden mögliche

Beihilfen des Stromsektors, die das Abkommen nicht explizit nennt, von der Schwei-

zer Überwachungsbehörde zu prüfen sein. Für etwaige von der Überwachungsbe-

hörde vorzuschlagende Anpassungen an den Beihilferegelungen (übrigens nicht an

den konkret im Einzelfall gewährten Beihilfen) enthält das Abkommen keine zeitli-

chen Vorgaben.

2.11.6.11

Umweltrecht (Art. 20)

Mit Artikel 20 wird eine weitere

level-playing-field

-Materie erfasst, nämlich das Um-

weltrecht. Gemäss dem dazugehörigen Anhang V wird ein überschaubares Set von

sechs Rechtsakten des EU-Umweltrechts für relevant erklärt: (1) zur Umweltverträg-

lichkeitsprüfung bestimmter öffentlicher und privater Projekte, (2) zur Prüfung von

Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme, (3) Industrieemissionen,

(4) Verringerung des Schwefelgehalts bestimmter flüssiger Kraft- und Brennstoffe,

623 / 931

(5) zum Erhalt von wildlebenden Vogelarten und (6) zur Umwelthaftung zur Vermei-

dung und Sanierung von Umweltschäden. Die Wirkung beschränkt sich für die

Schweiz auf den Strombereich wie er im Abkommen definiert ist. Es kommt ein An-

satz zum Tragen, der dem Äquivalenzprinzip entspricht. Die EU-Vorschriften sind

hier für die Schweiz somit nicht direkt anwendbar. Die Schweiz muss sicherstellen,

dass sie bei den in Anhang V enthaltenen Rechtsakten ein gleich hohes Niveau an

Umweltschutz hat. Sie darf zudem ein höheres Schutzniveau vorsehen, vorausgesetzt

dass es kein Hindernis für den Zugang zu ihrem Strommarkt darstellt (Art. 27 Abs.

3). Die Schweiz muss das vom EU-Recht geforderte Resultat hinsichtlich des Um-

weltschutzes erreichen, ist bei den dafür notwendigen Instrumenten, Verfahren und

Fristen hingegen nicht an diejenigen der EU gebunden. Mit dem am Resultat orien-

tierten Ansatz wird für die Schweiz vermieden, dass es zu einem fragmentierten Um-

weltrecht kommt - für den Strombereich einerseits und für die übrigen Bereiche an-

dererseits. Im Bereich Strom ist das Schweizer Recht bereits heute mit dem vom

relevanten EU-Recht geforderten Schutzniveau äquivalent, weshalb keine Rechtsan-

passungen nötig sind. Kantonale oder Gemeindekompetenzen in diesem Bereich sind

nicht tangiert.

2.11.6.12

Kooperation im Bereich erneuerbare Energien und

Energieinfrastruktur (Art. 21 und 22)

In diesen Artikeln wurden Kooperationen zwischen der EU und der Schweiz in den

jeweiligen Bereichen vereinbart. Die erste Kooperation betrifft die erneuerbaren Ener-

gien (Art. 21). Beide Parteien bekennen die Absicht, den Anteil der erneuerbaren

Energien im Energiesystem zu erhöhen. Dies umfasst auch ein indikatives Ziel bezie-

hungsweise einen Richtwert von 48,4 Prozent, das sich die Schweiz für den Anteil

erneuerbarer Energien am Bruttoendenergieverbrauch 2030 setzt (s., Ziff. 2.11.6.16,

«Erläuterungen zu Anhang VI»).

Die zweite erwähnte Kooperation betrifft die transeuropäische Energieinfrastruktur

(

Transeuropean Networks – Energy

, TEN-E) im Bereich Strom (Art. 22). Sie stellt

den Einbezug in eine grenzüberschreitende Planung sicher, wobei nur wenige Schwei-

zer Projekte betroffen sein dürften (z. B. der

Greenconnector

). Im Abkommen wurde

der in der Verordnung (EU) 2022/869 (EU-TEN-E-Verordnung) neu eingeführte

Drittstaaten-Ansatz gewählt, wo es um Vorhaben von gemeinsamem Interesse

(Pro-

jects of Mutual Interest

, PMI) geht. Das für die Aufnahme von Projekten aus Dritt-

staaten in die PMI-Listen notwendige hohe Niveau an Konvergenz des Politikrah-

mens, unter anderem in Bezug auf den Binnenmarkt und die Dekarbonisierung, wird

mit dem Stromabkommen als gegeben vermutet. Solche Vorhaben rufen nach raschen

Bewilligungsverfahren. Die Schweiz muss sich aber nicht an die detaillierten EU-

Regeln dazu halten, sondern lediglich über einen ähnlichen Regelungsrahmen verfü-

gen, unter anderem hinsichtlich Verfahrensfristen. Mit den bestehenden Schweizer

Regeln und denjenigen der Vorlage zur Beschleunigung beim Aus- und Umbau der

Stromnetze (Revision des Elektrizitätsgesetzes

558

) ist dieser «ähnliche Regelungsrah-

men» gegeben. Die Frage der grenzüberschreitenden Kostenteilung wird im Einzelfall

558

SR

734.00

624 / 931

zu beantworten sein. Die Finanzierung dieser Projekte ist im Abkommen nicht gere-

gelt. EU-Finanzmittel für in der Schweiz gelegene Vorhaben dürfte es mangels Betei-

ligung am Finanzierungsmechanismus nicht geben. Auf diese Beteiligung wurde sei-

tens Schweiz verzichtet, vor allem, weil dann die Schweiz Nettozahlerin geworden

wäre.

2.11.6.13

Gemischter Ausschuss (Art. 25), Institutionelles (Art. 26 ff.)

und Informationsaustausch (Art. 40 ff.)

Für das gute Funktionieren des Abkommens ist, wie in den anderen bilateralen Ab-

kommen auch, ein Gemischter Ausschuss zuständig (Art. 25). Im Rahmen des Pakets

Schweiz-EU erfolgt, soweit als sinnvoll, eine Vereinheitlichung der GA-

Bestimmungen in allen betroffenen Abkommen (s. Ziff. 2.1.6.7).

Nebst den üblichen

Aufgaben, wie beispielsweise die Verabschiedung von Beschlüssen betreffend die In-

tegration von EU-Rechtsakten ins Abkommen (s. Ziff. 2.1.8), weist das Abkommen

dem Gemischten Ausschuss auch gewisse Kompetenzen zu, die im EU-

Stromsektorrecht eigentlich EU-Institutionen zugewiesen sind

.

Die institutionellen Bestimmungen des Abkommens (Art. 26 ff.) entsprechen denje-

nigen in den anderen Binnenmarktabkommen (s. Ziff. 2.1).

Beim Stromabkommen handelt es sich um ein bilaterales Abkommen in einem Be-

reich betreffend den Binnenmarkt, an dem die Schweiz teilnimmt (Art. 24 Abs. 2).

Entsprechend können die Vertragsparteien zur Behebung eines möglichen Ungleich-

gewichts verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen ergreifen (s. Ziff. 2.1.6.4.3), ent-

weder im Rahmen des Stromabkommens selbst oder im Rahmen eines anderen Ab-

kommens in den Bereichen betreffend den Binnenmarkt, an denen die Schweiz

teilnimmt (Art. 33 Abs. 1).

Spezifisch für das Stromabkommen sind die Artikel 40-42. Mit Artikel 41 Absatz 1

(in Verbindung mit EU-Akten nach Anhang I) wird anerkannt, dass die EU-

Institutionen die im übernommenen EU-Stromsektor vorgesehenen Berichte und Stel-

lungnahmen auch betreffend die Schweiz verfassen dürfen. Im Kontext dieser Doku-

mente ist der Bedarf an Informationsaustausch beträchtlich, aber auch generell dort,

wo die EU von der Schweiz analog zu den EU-Mitgliedstaaten Informationen braucht.

Artikel 40 Absatz 1 sieht für den Fall, dass die Information an die Europäische Kom-

mission erfolgt, als Regelfall den diplomatischen Weg über den Gemischten Aus-

schuss vor. Im Falle von ACER, wo es oft um technischere Fragen geht, ist als Regel-

fall hingegen der direkte Informationsaustausch zwischen den Behörden vorgesehen

(Art. 40 Abs. 5). Dies entspricht den praktischen Bedürfnissen, namentlich da, wo es

eilt. Der Gemischte Ausschuss kann Abweichungen entweder im Voraus oder ad-hoc

festgelegen (Art. 40 Abs. 3 und 5). Schliesslich ist vorgesehen, dass die Kommission

und ACER in der Ausübung ihrer Aufgaben direkt mit Schweizer Unternehmen In-

formationen austauchen dürfen (Art. 40 Abs. 6). Wenn das Abkommen den EU-

Behörden sektorrechtliche Zuständigkeiten auch hinsichtlich der Schweiz zugesteht,

ist für den Informationsaustausch als Grundregel ebenfalls der direkte Informations-

austausch vorgesehen.

625 / 931

Nach Artikel 45 erfolgt der Austausch allfälliger als Verschlusssache eingestufter In-

formationen zwischen den Vertragsparteien gemäss dem Abkommen vom 28. Ap-

ril 2008 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen

Union über die Sicherheitsverfahren für den Austausch von Verschlusssachen. In Ar-

tikel 45 erhält der Gemischte Ausschuss zudem den Auftrag, Handlungsanweisungen

zum angemessenen Schutz der ausgetauschten sensiblen Daten durch spezifischen Be-

schluss festzulegen.

2.11.6.14

Finanzieller Beitrag (Art. 49)

Die Schweiz zahlt einen jährlichen finanziellen Beitrag für ihre Teilnahme bei ACER.

Artikel 49 und Anhang VII regeln detailliert die Berechnung des Beitrags und die

Zahlungsmodalitäten. Der finanzielle Beitrag besteht aus einem Betriebskostenbeitrag

und einer Teilnahmegebühr. Der Betriebskostenbeitrag entspricht dem BIP-Anteil der

Schweiz am EU-BIP, multipliziert mit den Gesamtkosten von ACER, reduziert um 15

Prozent, da die Schweiz nur an den Stromaktivitäten und nicht an den (anteilsmässig

weitaus geringeren) Gasaktivitäten von ACER beteiligt ist. Die Teilnahmegebühr ent-

spricht 4 Prozent des Betriebskostenbeitrags. Der finanzielle Beitrag beträgt damit

rund 1,4 Millionen Franken pro Jahr. Er wird über eine schon bestehende, von Swiss-

grid bei den Endverbraucherinnen und Endverbrauchern erhobene Aufsichtsabgabe

finanziert.

2.11.6.15

Anhang I: Regeln des EU-Strombinnenmarkts

2.11.6.15.1

Generelles zu den Anhängen mit Rechtsübernahme sowie

Zuständigkeiten von EU-Institutionen

In Anhang I werden die EU-Rechtsakte zum Strombinnenmarkt integriert und damit

für die Schweiz verbindlich. Bezüglich Zuständigkeiten ist festzuhalten, dass die

Überwachung der richtigen Anwendung des Abkommens gemäss dem Zwei-Pfeiler-

Ansatz des Abkommens (s. Ziff. 2.1), also für die Schweiz durch Schweizer Behör-

den, hauptsächlich durch die ElCom, erfolgt. Auch nach dem EU-Sektorrecht sind

hauptsächlich die Behörden der EU-Mitgliedsstaaten zuständig. Im EU-Sektorrecht

sind aber auch Zuständigkeiten von EU-Institutionen enthalten, vor allem dann, wenn

die erstzuständigen und betroffenen nationalen Stellen keine Einigung erzielen oder

wenn eine übergeordnete europäische Sicht sachnotwendig ist. Das Abkommen re-

gelt, wie mit solchen Zuständigkeiten in Fällen, in denen die Schweiz betroffen ist,

umzugehen ist. Es regelt für jede Kompetenz einzeln, wer sie ausübt. Ist eine Kompe-

tenz im Abkommen nicht zugeteilt, so sind Schweizer Behörden zuständig. Die Zu-

teilung allfälliger künftiger Kompetenzen, die sich aus der Fortentwicklung von EU-

Recht beziehungsweise neuen relevanten Rechtsakten ergeben, obliegt dem Gemisch-

ten Ausschuss.

Die bei der Kompetenzzuweisung im Stromabkommen verfolgte Logik ist sachorien-

tiert und differenziert. In Bezug auf ACER, wo es oft um sehr technische Inhalte geht,

mitunter aber um solche von erheblicher Tragweite, und wo eine taugliche alternative

Entscheid-Stelle fehlt, werden mehrere Kompetenzen an ACER zugewiesen. Jedoch

wurden in Fällen, wo die Schweizer Souveränität betroffen ist, Sonderlösungen aus-

gehandelt. Dies betrifft zum Beispiel die Zuordnung der Schweiz zu einer Kapazitäts-

berechnungsregion. Anstelle der in der EU geltenden subsidiären ACER-

626 / 931

Zuständigkeit kann die Schweiz in einem sie betreffenden Fall in einem ersten Schritt

den Gemischten Ausschuss anrufen. Dort kann sie mit gleichberechtigter Stimme auf

eine Einigung hinwirken. Mangels Einigung innert sechs Monaten geht die Zustän-

digkeit an ACER über, weil sich der Entscheid zur Schweiz unmittelbar auch auf die

EU-internen Entscheide auswirkt und ein weiteres zeitliches Aufschieben weit über

die Schweiz hinaus zu Komplikationen beziehungsweise Blockaden führen könnte.

Auch bei der Gebotszonenzuordnung weicht das Abkommen von der EU-Ordnung

ab. Der Gemischte Ausschuss muss seine Zustimmung zu einem von der Europäi-

schen Kommission erarbeiteten Vorschlag geben. Weitere Sonderregeln finden sich

beispielsweise bei den polizeiähnlichen Befugnissen, die ACER bei der REMIT-

Verordnung hat. Sie werden für die Schweiz durch eine Lösung ersetzt, bei der die

ElCom die Verfahrensführung innehat. So bleibt die Souveränität der Schweiz ge-

wahrt.

Nicht explizit geregelt ist im Abkommen die Frage des Rechtswegs. Es ist danach zu

unterscheiden, ob die Schweiz als Staat (inkl. ihre Behörden, z. B. die ElCom) oder

ob wirtschaftliche Akteure beziehungsweise Private Beschwerde führen wollen. Der

Staat muss den Weg über die Streitbeilegung gemäss dem Abkommen gehen (Art. 32)

und somit an das Schiedsgericht gelangen. Die übrigen Beschwerdeführenden (z. B.

Schweizer Unternehmen) gelangen dagegen an die EU-Instanzen, also an das Gericht

der EU und den EuGH (und zuvor im Falle von ACER an den ACER-

Beschwerdeausschuss). Beschreiten in einem Geschäft sowohl die Schweiz als auch

ein Unternehmen und zusätzlich allenfalls auch Akteure in der EU den Rechtsweg,

müssen die befassten Gerichte für eine sachdienliche Verfahrenskoordination sorgen,

gegebenenfalls auch mit Sistierungen. Die Anfechtung nationaler Entscheide, zum

Beispiel solche der ElCom, erfolgt selbstverständlich bei schweizerischen Gerichten.

In den Eingangsbemerkungen der Anhänge I und VI werden zwei Grundsätze festge-

halten, welche die Anwendung der in die Anhänge I und VI integrierten EU-

Rechtsakte und die Behandlung der Schweiz wie ein EU-Mitgliedsstaat konkretisie-

ren.

Der erste Grundsatz hält fest, dass die in den in Anhänge I und VI integrierten EU-

Rechtsakten für die Mitgliedstaaten der EU vorgesehenen Rechte und Pflichten auch

für die Schweiz gelten. Diese Bestimmung gilt grundsätzlich auch in den anderen Bin-

nenmarktabkommen des Pakets Schweiz-EU (s. Ziff. 2.1.5.7). Sie stellt sicher, dass

die Schweiz die gleichen Rechte wie die EU-Mitgliedstaaten hat und nicht als «Dritt-

staat» schlechter gestellt werden kann. Der zweite Grundsatz hält schliesslich fest,

dass Bezugnahmen auf natürliche oder juristische Personen mit Wohnsitz oder Nie-

derlassung in den Mitgliedstaaten der EU auch als Bezugnahmen auf natürliche oder

juristische Personen mit Wohnsitz oder Niederlassung in der Schweiz gelten. Diese

Bestimmung, die auch im Lebensmittelsicherheitsabkommen vorgesehen ist, sieht

vor, dass im Geltungsbereich des Stromabkommens für natürliche und juristische Per-

sonen mit Wohnsitz oder Niederlassung in der Schweiz grundsätzlich dieselben Re-

geln zur Anwendung kommen sollen wie für natürliche und juristische Personen mit

Wohnsitz oder Niederlassung in den Mitgliedsstaaten der EU. Beide Grundsätze müs-

sen in vollständiger Beachtung der institutionellen Bestimmungen angewendet wer-

den, das heisst insbesondere unter Beachtung des Zwei-Pfeiler-Ansatzes und nicht im

627 / 931

Anwendungsbereich einer Ausnahme nach Artikel 27 Absatz 8 Stromabkommen. Zu-

dem gelten die Grundsätze nur, sofern in technischen Anpassungen nicht etwas ande-

res vorgesehen ist.

Ein Hinweis ist sodann zu den Verweisen zu machen, die in den übernommenen EU-

Rechtsakten auf nicht übernommene EU-Rechtsakte enthalten sind. Da die Rechts-

akte, auf die verwiesen wird, nicht in die Anhänge integriert wurden, gelten solche

Weiterverweise auf nicht integrierte Rechtsakte nach langer Praxis in den Abkommen

Schweiz-EU nicht für die Schweiz, sofern dies nicht explizit vorgesehen ist. Dies gilt

auch im Stromabkommen, wo dies ebenfalls nicht explizit steht

2.11.6.15.2

Risikovorsorge

Mit der Verordnung (EU) 2019/941 über die Risikovorsorge im Elektrizitätssektor hat

die EU einen Rahmen aufgestellt, der sicherstellen soll, dass die Mitgliedstaaten für

alle Arten von Risiken für die Versorgungssicherheit ausreichend sensibilisiert und

vorbereitet sind. Des Weiteren sind die Aufgaben und Zuständigkeiten für den Notfall

geklärt und grenzüberschreitende Auswirkungen werden berücksichtigt, wenn

Schutzmassnahmen ergriffen werden. Die Verordnung definiert auch, was unter einer

Stromversorgungskrise zu verstehen ist, etwa bei aussergewöhnlicher Nachfragelast

oder Ausfällen wesentlicher Erzeugungs- oder Übertragungsinfrastruktur. Als Kern-

element wird die Krisenprävention, -vorsorge und -bewältigung auf europäische

Ebene gehoben und in Kooperation mehrerer Akteure, unter anderem mit den natio-

nalen zuständigen Behörden ENTSO-E und ACER, werden regionale, das heisst län-

derübergreifende Krisenszenarien bestimmt. Gestützt darauf erstellen die Staaten Ri-

sikovorsorgepläne mit klar definierten, transparenten, verhältnismässigen und nicht-

diskriminierenden Präventions- und Bewältigungsmassnahmen, die auch regional

harmonisierte Bewältigungsmassnahmen umfassen sollen. Die Schweiz wird mit dem

Abkommen Teil dieser Risikovorsorge-Kooperation, was die Stromversorgung resi-

lienter macht. Bei mehreren nicht dringlichen Aspekten hat die Schweiz eine Über-

gangsfrist, so dass deren Umsetzung im zweiten Paket erfolgen wird. Deutschland,

Frankreich, Belgien, die Niederlande, Luxemburg und Österreich setzen die unter der

Verordnung geforderte regionale Kooperation der Krisenvorsorge und -bewältigung

im Rahmen des Pentalateralen Energieforums um. Die Schweiz wirkt dort bereits jetzt

als Beobachterin mit. Mit dem Stromabkommen wird die Schweiz vollwertiges Mit-

glied dieser Kooperation.

2.11.6.15.3

ACER-Verordnung

ACER ist die EU-Agentur für die Kooperation der nationalen Energieregulierungsbe-

hörden der EU-Mitgliedsstaaten für Strom und Gas. Die entsprechende ebenfalls zum

EU-

Acquis

des Strombinnenmarktrechts gehörende ACER-Verordnung (EU

2019/942) errichtet diese Agentur und regelt die Aufgaben von ACER, unter anderem

im Zusammenhang mit der Erarbeitung und Umsetzung der Netzkodizes (s. Ziff.

2.11.6.14.5), mit der Angemessenheit der Stromerzeugung und der Risikovorsorge

sowie der Überwachung der Integrität und Transparenz des Grosshandelsmarkts

(REMIT). Netzkodizes sind EU-übergreifende technische Regeln für den Betrieb, die

Planung und den Zugang zu Strom- und Gasnetzen (s. Ziff. 2.11.6.14.5). Ferner regelt

die ACER-Verordnung mehrere Zuständigkeiten (siehe oben) und die Organe von

628 / 931

ACER, wobei vor allem der Regulierungsrat bedeutsam ist, wo die Vertreter der na-

tionalen Regulatoren Entscheide per qualifizierter Mehrheit treffen. Die ElCom hat

basierend auf einem

Memorandum of Understanding

(MoU) seit 2017 mit ACER zu-

sammengearbeitet und konnte als Beobachterin in den Gremien teilnehmen. Seit der

Kündigung des MoU im Sommer 2021 durch ACER fand diese Zusammenarbeit nicht

mehr statt. Mit dem Stromabkommen wird die ElCom für den Bereich Strom, nicht

aber Gas, bei ACER teilnehmen, und so bei der Erstellung wichtiger Regelwerke und

Entscheide mitgestalten können, dies aber ohne Stimmrecht (auch die EWR-Staaten

haben kein Stimmrecht). Die Anstellung bei ACER steht auch Schweizer Staatsange-

hörigen offen. Weiteres zum Status von ACER ergibt sich aus der Anlage zu Anhang

I.

2.11.6.15.4

Elektrizitätsbinnenmarkt-Verordnung

Die Elektrizitätsbinnenmarkt-Verordnung (EU) 2019/943 bildet zusammen mit der

entsprechenden Richtlinie den eigentlichen Kern des relevanten EU-

Acquis

. Sie ent-

hält teilweise sehr detaillierte Regeln zu einer Vielzahl von Themen. Die meisten die-

ser Regeln würden in der Schweiz unmittelbar Anwendung finden. Das gilt vorder-

hand nicht, wenn die Schweiz eine Übergangsfrist ausgehandelt hat, wie zum Beispiel

für Detailregeln für die priorisierte Einspeisung von Produktionsanlagen für erneuer-

bare Energien (Art. 12 Abs. 2-7) oder zu neuen Verbindungsleitungen (Art. 63). The-

men, zu denen die EU-Verordnung 2019/943 Regeln enthält, sind unter anderem die

folgenden: Bilanzgruppenverantwortung, Regeln zu verschiedenen Markttypen wie

Day-Ahead

,

Intraday

, Terminmärkte und Regelenergiemärkte, Dispatch und Redis-

patch, Kapazitätsvergabe, Engpassmanagement und Engpasserlöse, Strombezugsver-

träge und Netzplanung. Enthalten sind ferner die (auch in der Schweiz in den letzten

Jahren) viel diskutierte Regel, wonach 70 Prozent der für den grenzüberschreitenden

Austausch von Strom relevanten Übertragungskapazitäten für den Handel zur Verfü-

gung stehen müssen (Art. 16). Der Umgang mit Übertragungskapazitäten in Richtung

Drittstaaten ist im EU-Recht nicht geregelt. Mit dem Stromabkommen wird klarge-

macht, dass die Schweiz in den Regeln für die Kapazitätsberechnung und -allokation

mitberücksichtigt ist, womit das Risiko beseitigt ist, dass diese Regeln zum Nachteil

der Schweiz angewendet werden. Das heisst auch, dass die Swissgrid die Vorgabe ab

Inkrafttreten des Stromabkommens erfüllen muss, was technisch für die Schweiz

machbar ist. Ebenso enthalten sind Vorgaben zur Angemessenheit der Ressourcen und

Kapazitätsmechanismen/strategischen Reserven (Art. 20 ff.), was für die Schweizer

Stromreserve relevant ist. Schliesslich sind auch zahlreiche Gremien geregelt, wie

ENTSO-E, die regionalen Koordinierungszentren und die Organisation für Verteil-

netzbetreiber (EU-VNBO).

2.11.6.15.5

Netzkodizes (Networkcodes)

Von grosser praktischer Relevanz sind die sogenannten Netzkodizes beziehungsweise

Networkcodes, die sich auf die Verordnung (EU) 2019/943 stützen und in Verordnun-

gen der Europäischen Kommission enthalten sind, weshalb diese Verordnungen auch

zum relevanten

Acquis

gehören. Es handelt sich um spezifische Vorgaben zur Rege-

lung technischer, operationeller und wirtschaftlicher Sachverhalte bei Betrieb und

Nutzung der grenzüberschreitenden Netzinfrastruktur für einen effizienten und offe-

629 / 931

nen EU-Strombinnenmarkt. Die traditionellen Netzkodizes lassen sich in drei Kate-

gorien einordnen: a) marktbezogene Codes zu Kapazitätsvergabe und Engpassma-

nagement, zur Vergabe langfristiger Kapazität und zum Systemausgleich des Elektri-

zitätsversorgungssystems,

b)

Codes

mit

technischen

Bedingungen

des

Netzanschlusses und c) Codes zum Netzbetrieb. Die Netzkodizes enthalten detaillierte

Regeln, die in der Schweiz, da es sich um ins Stromabkommen integrierte EU-

Verordnungen handelt, gelten und grundsätzlich direkt anwendbar sind. Die marktbe-

zogenen Codes regeln unter anderem die Etablierung und die Funktionsweise der je-

weiligen Plattformen der EU, beispielsweise für die Marktkopplung. Von diesen war

die Schweiz zuletzt ausgeschlossen. Dazu enthält das Abkommen Klauseln, die eine

Teilnahme der Schweiz in der Marktkopplung innert neun Monaten nach Inkrafttreten

ermöglichen.

Die Teilnahme an der Marktkopplung erfordert auch, dass die Schweiz einen neuen

Akteur einführt. Dieser nominierte Strommarktbetreiber (

Nominated Electricity Mar-

ket Operator

, NEMO) betreibt die Strombörse für die Schweizer Gebotszone und in

Zusammenarbeit mit den NEMO der benachbarten Gebotszonen die Marktkopplung.

Aktuell bietet die Strombörse EPEX-Spot-Produkte für die Schweizer Gebotszone an.

Unter dem Stromabkommen ist der Strombörsenbetreiber durch den Regulator for-

mell zu bezeichnen, wobei auch mehrere Strombörsenbetreiber bezeichnet werden

und parallel Produkte für die Schweizer Gebotszone anbieten können. Der NEMO

finanziert sich wie bis anhin über Gebühren der Handelsteilnehmer.

Gestützt auf die Netzkodizes werden ausserdem die technischen Umsetzungsbedin-

gungen und Methodologien (

Terms and Conditions or Methodologies

, TCMs) erlas-

sen, die zum gesamten Regelwerk dazugehören. Bei der Erarbeitung neuer TCM wird

die Schweiz dank des Abkommens vollwertig mitwirken können. Für die Schweiz

wird die ElCom die TCM per Weisung zu einem Teil des relevanten Regulierungsbe-

stands machen. Bis dies erfolgt ist, sind die TCM in der Schweiz kraft des Abkom-

mens (ohne Schweizer Beschluss) provisorisch anwendbar.

Etwas anders geartet ist der neue, ebenfalls übernommene Netzkodex zur Cybersi-

cherheit. Der Kodex ist auf den Strombereich beschränkt, gleichzeitig aber in einen

grösseren EU-Rechtsrahmen zur Cybersicherheit eingebettet, unter anderem mit Akt-

euren mit bestimmten Rollen. Mit dem Abkommen werden diese Akteure, seien sie

nun im Cybersicherheit-Netzkodex oder im allgemeinen EU-Recht zur Cybersicher-

heit begründet, nachgebildet, wobei bewusst vermieden wird, dass das allgemeine Cy-

bersicherheitsrecht der EU für die Schweiz anwendbar wird. Für die Umsetzung des

Netzkodizes wird die Schweiz diverse Stellen mit bestimmten Aufgaben bezeichnen

müssen. Nicht vorgesehen ist eine Teilnahme der Schweiz bei der EU-Agentur für

Cybersicherheit (ENISA), weil die Schweiz nicht in den weiteren rechtlichen Cyber-

rahmen ausserhalb des Strombereichs eingebunden ist.

2.11.6.15.6

ENTSO-E-Transparenzplattform

Die Verordnung (EU) Nr. 543/2013 will die Transparenz der Strommärkte stärken

und sieht dazu detaillierte Pflichten in Bezug auf die Übermittlung und die Veröffent-

lichung von Daten vor. Die Verordnung bildet die Grundlage für den Datenaustausch

über die Transparenzplattform ENTSO-E und legt den gesetzlichen Auftrag für die

630 / 931

Plattform fest. Mit dem Stromabkommen wird diese Verordnung für die Schweiz

ohne nationale Umsetzung anwendbar. Die Verordnung wird von der Swissgrid schon

heute zu einem grossen Teil angewandt, soweit dies auf freiwilliger Basis möglich ist.

Künftig gilt sie für die Swissgrid vollumfänglich. Mit der Übernahme der Verordnung

(EU) Nr. 543/2013 werden zudem die Dateneigentümer, insbesondere die VNB, dazu

verpflichtet, der nationalen Netzgesellschaft die massgebenden Daten zu übermitteln.

2.11.6.15.7

Elektrizitätsbinnenmarkt-Richtlinie

Weitere Kernthemen sind in der Elektrizitätsbinnenmarkt-Richtlinie (EU) 2019/944

geregelt, so zum Beispiel die freie Lieferantenwahl (Marktöffnung für alle Endver-

braucherinnen und Endverbraucher) und die damit zusammenhängenden Rechte von

Konsumentinnen und Konsumenten. Die Schweiz hat eine dreijährige Übergangsfrist

für die Einführung in der EU geltenden der kurzen Wechselfristen. Der Rahmen ist

ferner dafür gesetzt, welche Interventionen beziehungsweise Regulierungen die Staa-

ten vornehmen dürfen. Die oben erwähnte Entflechtung der VNB und die Modelle für

den ÜNBs (TSO-Modelle) sind ebenfalls in der Richtlinie geregelt. Weitere Themen

sind auch die Arealnetze (in der EU: geschlossene Verteilnetze), Flexibilität, Speicher

und Elektromobilität. Schliesslich sind die Anforderungen an den unabhängigen Re-

gulator und seine zahlreichen Aufgaben geregelt. Dazu gehört auch, dass der Regula-

tor Anschluss und Zugang zum Netz, inklusive Tarifierung festlegt. Das ist für die

Schweiz eine wichtige Änderung gegenüber heute. Die Schweiz wird die Kompetenz

aber erst nach einer Übergangsfrist von fünf Jahren ab Inkrafttreten an den Regulator

übertragen müssen. Die meisten Regeln der Richtlinie sind in der Schweiz (gleich wie

in den EU-Staaten) nicht direkt anwendbar, sondern bedürfen der Umsetzung ins

Schweizer Recht.

2.11.6.15.8

Integrität und Transparenz des Grosshandelsmarktes

(REMIT)

Die REMIT-Verordnung (EU) 1227/2011 schafft einen harmonisierten Rahmen, der

die Transparenz und Integrität der Energiegrosshandelsmärkte gewährleisten soll. Es

ist wichtig, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher sowie andere Marktteilneh-

mer Vertrauen in die Integrität dieser Märkte haben können, wo die Preise ein ausge-

wogenes und wettbewerbsorientiertes Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage

widerspiegeln und wo kein Marktmissbrauch stattfindet. Die REMIT-Verordnung

verbietet daher Insiderhandel und Marktmanipulation und enthält Verpflichtungen zur

Registrierung, zur Veröffentlichung von Insiderinformationen und zur Weitergabe

von Informationen über Transaktionen auf den Energiegrosshandelsmärkten. Diese

sind grenzüberschreitend und ACER hat daher Überwachungskompetenzen.

Sonderlösungen

für

die

Schweiz

im

Abkommen

betreffen

ACER-

Unterschungsbefugnisse. Solche gibt es neben der Überwachung durch die nationalen

Regulatoren (wenn diese nicht tätig werden) und in grenzüberschreitenden Fällen.

ACER kann in diesen Fällen Untersuchungen in der Schweiz anstossen. Die eigentli-

chen Untersuchungsmassnahmen, teilweise polizeilicher Natur, wie Hausdurchsu-

chungen oder Beschlagnahmungen, werden aber durch Schweizer Behörden, vor al-

lem die ElCom, durchgeführt. ACER kann diese aber eng begleiten.

631 / 931

Die Schweiz übernimmt die REMIT-Verordnung nur im Bereich Strom, nicht aber

beim Gas. Derweil deckt in der Schweiz das Bundesgesetz über die Aufsicht und

Transparenz auf den Energiegrosshandelsmärkten vom 28. März 2025 (BATE, AS…)

beide Bereiche ab. Der Teil Strom, der REMIT-relevant ist, ist bereits kompatibel mit

dem Stromabkommen. Trotzdem sind, da mit dem Abkommen Ausgangslage und Op-

tik ändern, im Rahmen von dessen Umsetzung Anpassungen am BATE erforderlich

(s. Ziff. 2.11.8.3).

2.11.6.16

Anhänge III, IV und V

Die Anhänge zu den staatlichen Beihilfen (III und IV) und zur Umwelt (V) sind vorne

beim jeweiligen Thema erläutert (s. Ziff. 2.11.6.10 und Ziff. 2.11.6.9).

2.11.6.17

Erneuerbare Energien (Anhang VI)

2.11.6.17.1

Erneuerbaren-Ziel

Die Schweiz übernimmt mit dem Abkommen schliesslich in inhaltlich bedeutendem,

aber im Umfang eingeschränktem Ausmass Teile der Richtline (EU) 2018/2001 zur

Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen (Erneuerbare-Ener-

gien-Richtlinie, RED II). Dies ist ein weiterer Kooperationsbereich mit Bezug zum

Strombinnenmarkt (Art. 21 und Anhang VI). Die mit der RED II angestrebte ver-

mehrte Nutzung erneuerbarer Energien dient unter anderem dem Ziel, bis 2050 eine

ausgeglichene Treibhausgasbilanz zu erreichen. Dieses langfristige Ziel teilen die

Schweiz und die EU. Dafür sieht die RED II unter anderem als Gesamtziel für die EU

vor, einen Anteil von 42,5 Prozent und falls möglich 45 Prozent von erneuerbaren

Energien am Bruttoendenergieverbrauch zu erreichen. Das aktuelle RED-Regime

sieht Beiträge der einzelnen Mitgliedstaaten zur Gesamtzielerreichung vor. Für die

Schweiz gilt nach dem Abkommen ein Richtwert beziehungsweise indikatives Ziel

von 48,4 Prozent am Bruttoendenergieverbrauch, ohne sektorielle Ziele oder Vorga-

ben beispielsweise für Strom, Wärme oder Transport. Das Ziel für die Schweiz ist

ambitioniert, steht aber im Einklang mit der aktuellen Energie- und Klimapolitik der

Schweiz mit ihren Zielen und Instrumenten. Die Berechnung zum Monitoring der Zie-

lerreichung richtet sich nach dem sogenannten SHARES-Tool der EU-

Statistikagentur Eurostat. Das im Abkommen definierte Schweizer Ziel ist ein eigen-

ständiges und wird nicht an das der EU angerechnet. Technisch ist es nur ein Richt-

wert und das Engagement der Schweiz somit politischer Natur, sodass eine allfällige

Nichterreichung keine völkerrechtlichen Folgen hätte. Die EU könnte nicht via die

Streitbeilegung des Abkommens auf Erfüllung bestehen. Wenn die EU ihr Ziel für die

Zeit nach 2030 bestimmt hat, wird das Schweizer Ziel im Lichte des neuen EU-Ziels

beziehungsweise -RED-Regimes aktualisiert werden müssen.

2.11.6.17.2

Herkunftsnachweise (HKN) und Erneuerbare-Energie-

Gemeinschaften

Mangels Stromabkommen wurden Schweizer Herkunftsnachweise* (HKN) in der EU

seit 2021 nicht mehr anerkannt. Mit dem Abkommen ist die Anerkennung wieder ge-

geben, nebst Strom sind auch HKN für Wärme, sowie Erneuerbare Brenn- und Treib-

stoffe anerkannt.

632 / 931

Das EU-Recht sieht verschiedene Gemeinschaftsformen zur besseren Etablierung von

erneuerbaren Energien an der Basis vor, sogenannte «Erneuerbare-Energie-Gemein-

schaften». Anhang VI sieht vor, dass die betreffenden RED-Bestimmungen für die

Schweiz nicht anwendbar sind. Die Schweiz muss aber vergleichbare Regeln haben.

Die Schweiz, die ebenfalls mehrere ähnliche Gemeinschaftsformen kennt, so den Zu-

sammenschluss zum Eigenverbrauch und die lokalen Elektrizitätsgemeinschaften

(LEG), kann mit diesen Formen, die denen der EU ähnlich sind, weiterarbeiten. Sie

kann aber auch eine Neustrukturierung der Instrumente und eine grössere Annäherung

an die EU vornehmen.

2.11.6.17.3

Besonderheiten im Bereich Holz

Gemäss RED II ist für Säge-, Furnier- und Industrierundholz sowie Stümpfe und Wur-

zeln bei der Verbrennung zur Energieerzeugung die finanzielle Unterstützung verbo-

ten. Für die Schweiz wird dieser Förderausschluss nur hinsichtlich Stromproduktion

übernommen. Da aber bei der Wärmeproduktion auf einen HKN verzichtet wird, be-

darf es für die Wärmeproduktion keiner Umsetzung.

Holz-Biomasse darf nur entsprechend ihres höchsten wirtschaftlichen und ökologi-

schen Mehrwerts in der Reihenfolge der so genannten Kaskadennutzung genutzt wer-

den (ressourceneffiziente Nutzung nach dem Kreislaufprinzip): Holz muss zuerst

stofflich verwendet werden, bevor es in letzter Instanz der Energiegewinnung dient.

Da die Kaskadennutzung in der Schweiz sinngemäss bereits gängige Praxis ist, wird

auf zusätzliche Regulierung, die Vollzugsaufwand mit sich brächte, verzichtet.

2.11.6.17.4

Kriterien für Nachhaltigkeit und

Treibhausgaseinsparungen für Biotreibstoffe und

Biobrennstoffe

Für eine Anrechnung an das Ziel für erneuerbare Energien müssen bestimmte Anfor-

derungen erfüllt werden. Insbesondere Biotreibstoffe sowie flüssige Brennstoffe und

feste Biomasse-Brennstoffe müssen Nachhaltigkeitskriterien und Kriterien für Treib-

hausgaseinsparungen erfüllen, wenn sie in Anlagen zur Produktion von Strom,

Wärme und Kälte mit einer Leistung über 7,5 MW verwendet werden. Dies gilt un-

abhängig von der geographischen Herkunft des Brennstoffes und auch dann, wenn er

innerhalb der Schweizer Landesgrenzen erwirtschaftet und anschliessend auch dort

verbraucht wird. Der Nachweis der Einhaltung von Nachhaltigkeitskriterien und Kri-

terien für Treibhausgaseinsparungen ist ebenfalls Voraussetzung für eine finanzielle

Förderung dieser Anlagen. Die Erfüllung der verlangten Kriterien geschieht mittels

Zertifizierung. In der Schweiz soll diese Zertifizierung vorerst auf freiwilliger Basis

erfolgen. Grundsätzlich stellen die nationalen und kantonalen Gesetze im Umwelt-

schutzbereich die Einhaltung der Kriterien bereits sicher.

2.11.6.17.5

Bewilligungsverfahren und Raumplanung bei den

erneuerbaren Energien

Die RED II macht Vorgaben zur Raumplanung (sog. Beschleunigungsgebiete) und zu

den Bewilligungsverfahren für Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien, vor

allem mit dem Ziel der Beschleunigung. Die Stossrichtung der Schweizer Bestim-

633 / 931

mungen ist die gleiche wie diejenige der RED II, ausser was die strategische Umwelt-

prüfung betrifft, die die Schweiz als spezifisches obligatorisches Verfahren nicht

kennt, aber durch verschiedene Raumplanungsinstrumente umsetzt. Insgesamt liegen

die Unterschiede zwar im Kleinen, dennoch wurde von einer eigentlichen Übernahme

der Regeln der RED II zu Raumplanung und Verfahren abgesehen. So wurde vermie-

den, dass die einschlägigen Normen im StromVG und EnG, welche die Schweiz am

9. Juni 2024 angenommen hat, gleich wieder geändert und die Verfahren, die kantonal

sind, angepasst werden müssten. Die Schweiz ist nur verpflichtet, Regeln zu haben,

die mit denen der RED II vergleichbar sind. Das ist mit den heutigen Schweizer Re-

geln und denjenigen, die im Rahmen der Revision des EnG zur Beschleunigung der

Planungs-, Baubewilligungs- und Gerichtsverfahren (Beschleunigungserlass) und der

Vorlage zur Beschleunigung beim Aus- und Umbau der Stromnetze in Vorbereitung

(Revision des Elektrizitätsgesetzes) gegeben. Die Schweiz kann ausserdem weiterhin

ihre eigenen Regelungen für Umweltverträglichkeitsprüfungen anwenden, ohne die

strategische Umweltprüfung der EU einzuführen.

2.11.7

Grundzüge des Umsetzungserlasses

2.11.7.1

Etappierte Umsetzung

2.11.7.1.1

Grundsatz eines etappierten Vorgehens

Die Umsetzung des Stromabkommens im Schweizer Recht erfolgt in zwei Etappen.

Dem Parlament sollen zusammen mit der Botschaft zum Paket Schweiz–EU und der

Genehmigung des Stromabkommens in einem ersten Paket die inhaltlich und zeitlich

wichtigen Gesetzesänderungen unterbreitet werden. Dazu zählen die für das Funktio-

nieren des Strombinnenmarktes notwendigen Elemente, wie die Strommarktöffnung

für alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher. Spätestens drei Jahre später, sollen

in einem zweiten Paket weitere Gesetzesänderungen zur Umsetzung des Stromab-

kommens folgen. Dazu enthält das Abkommen Übergangsfristen.

2.11.7.1.2

Überblick der wichtigsten Themen des zweiten Pakets

Richtlinie (EU) 2019/944

Der wichtigste Punkt des zweiten Pakets betrifft eine zentrale Kompetenz des Regu-

lators (Art. 6, 57–59 RL), das heisst der ElCom. Das EU-Recht räumt dem Regulator

umfassende Kompetenzen in Bezug auf die Bedingungen für den Anschluss und den

Zugang zum Netz einschliesslich der Tarife ein. Hier bedarf es einer Festlegung oder

Genehmigung der entsprechenden Methoden durch die ElCom. Nicht nur die Netzta-

rifierung inklusive Verzinsung (

Weighted Average Cost of Capital

, WACC), sondern

auch weitere Aspekte des Netznutzungsentgelts werden künftig in der Kompetenz der

ElCom sein. Der Gesetzeber kann diese Aspekte künftig nicht mehr regeln. Damit

sind die heutigen Regeln zum Netznutzungsentgelt grundsätzlich nicht materiell in

Frage gestellt. Trotzdem wird in diesem Rahmen geprüft werden müssen, ob sie den

Prinzipien, die das EU-Recht aufstellt, nicht widersprechen. Beim ebenfalls erfassten

Netzanschluss haben bisher vor allem die Kantone und Gemeinden die entsprechen-

den Festlegungen gemacht. Diese Aufgabe wechselt mit dem Abkommen zur ElCom

beziehungsweise zum Bund, wofür dieser mit Artikel 91 der BV über eine Zuständig-

keit verfügt. Die Schweiz hat für diesen Systemwechsel eine Übergangsfrist von fünf

634 / 931

Jahren ausgehandelt. Zu prüfen wird ferner sein, ob das Sanktionssystem des

StromVG zu verschärfen ist (z.B. mit generellen umsatzabhängigen Verwaltungs-

sanktionen), damit wirksam sichergestellt ist, dass sich die Unternehmen an die Re-

geln halten.

Was die Einführung intelligenter Messsysteme (Art. 19–22 der Richtlinie) betrifft,

sind nur kleinere Anpassungen hinsichtlich der Fristen für die Ausserbetriebsetzung

der alten Systeme nötig.

Gesetzliche Anpassungen sind ferner erforderlich in Bezug auf die Interoperabilitäts-

anforderungen und die Verfahren für den Zugang zu Daten (Art. 24 der Richtlinie),

damit der Wettbewerb auf dem Endkundenmarkt gefördert wird und den Beteiligten

keine übermässigen Verwaltungskosten entstehen. Die VNB und die Dienstleister

müssen künftig die vollständige Interoperabilität der Energiedienstleistungen erleich-

tern. Betreffend Datenverwaltung (Art. 23 der Richtlinie) sind nur geringe Anpassun-

gen notwendig.

Ein weiterer Unterschied zum EU-Recht, die eine Anpassung des StromVG erforder-

lich macht, betrifft die Arealnetze. Bei den «geschlossenen Verteilnetzen» in der EU

ist die Ausnahme von der Netzregulierung weniger weitgehend als in der Schweiz und

den Status als solches Netz erlangt man nicht automatisch, sondern nur aufgrund einer

durch den Regulator erteilten Freistellung.

Das EU-Recht sieht weiter Bürgerenergiegemeinschaften vor. Es ist abzuwarten, wie

sich diese in das Gesamtsystem der bestehenden und teilweise erst neu geschaffenen

Schweizer Gefässe, wie z. B. Lokale Elektriztitätsgemeinschaften (LEG), einfügen

werden. Im Gegensatz zu den in der Schweiz bereits bestehenden LEGs dürfen diese

Bürgerenergiegemeinschaften alle Netzebenen nutzen und können sich über mehrere

Netzgebiete erstrecken. Das Recht auf gemeinsame Energienutzung (Art. 15a RL) er-

möglicht zudem die gemeinsame Nutzung von Energie durch Haushalte und KMU als

aktive Kunden. Die Schweiz könnte ein solches Recht auch Grossverbrauchern geben.

Derartige Gemeinschaften gibt es bislang noch nicht.

Was die Veröffentlichung von Flexibilitätsleistungen anbelangt, muss das Schweizer

Recht ebenfalls leicht angepasst werden. Ausserdem sind die rechtlichen Rahmenbe-

dingungen dafür zu schaffen, dass die Swissgrid und die VNB in Netzgebieten mit

beschränkter oder nicht vorhandener Netzkapazität für Neuanschlüsse den Abschluss

von flexiblen Netzanschlussverträgen ermöglichen können.

Im Hinblick auf die Vorgaben der EU zu den schutzbedürftigen Kunden wird näher

zu definieren sein, was in der Schweiz unter dem Begriff «schutzbedürftiger Kunde»

zu verstehen ist. Dabei wird auch zu prüfen sein, ob neben den bereits bestehenden

Transparenz- und Informationspflichten weitere Massnahmen zum Schutz dieser

Kunden zu ergreifen sind.

Verordnung (EU) 2019/943

Weiter werden die Vorgaben zu den grenzüberschreitenden Übertragungsleitungen

(Merchant Lines) mit Blick auf die entsprechende EU-Regelung zu den Verbindungs-

leitungen moderat angepasst werden müssen, insbesondere bezüglich des Verfahrens

und der von der Regelung betroffenen Elektrizitätsnetzen (Wechselstromleitungen).

635 / 931

Richtlinie (EU) 2018/2001 (Erneuerbare-Energien-Richtlinie RED)

Ein rechtlicher Handlungsbedarf in Bezug auf die Vorgaben der Erneuerbare-Ener-

gien-Richtlinie RED II könnte sich punktuell in Bezug auf die Datenplattform erge-

ben. So sind die aktuellen Regelungen des StromVG zur Datenplattform derzeit nicht

auf die Bereitstellung von Messdaten in Echtzeit oder von Funktionen, welche auf

Basis der Messdaten den Gehalt an Treibhausgasemissionen der Elektrizität in Echt-

zeit bereitstellen könnten, ausgelegt. Auch im Bereich der Datenverfügbarkeit und

insbesondere bei der Einbindung von Messdaten neuer Akteure werden Anpassungen

erforderlich sein. Während viele dieser Anliegen durch die Anbindung dieser Akteure

an die Datenplattform und die damit einhergehende regulatorische Ausweitung ihrer

Aufgaben und Funktionalitäten aufgefangen werden können, ist es nicht ausgeschlos-

sen, dass auch grundlegende Prämissen im Messwesen der Schweizer Stromwirtschaft

überdacht werden müssen.

Verordnung (EU) 2019/941 (Risk Preparedness Regulation)

Die EU-Verordnung sieht vor, dass eine zuständige Behörde benannt wird, welche die

Aufgaben in Bezug auf die Risikovorsorgeplanung und das Risikomanagement sowie

die Koordination mit dem Ausland übernimmt (Art. 3 VO). Diese Behörde ist für die

Schweiz zu bezeichnen.

2.11.7.2

Umsetzung des Stromabkommens im nationalen Recht

Um das Abkommen umzusetzen, sind Anpassungen des StromVG, des EnG, des

BATE und des Anhangs A des bilateralen Statistikabkommens zwischen der Schweiz

und der EU notwendig.

2.11.7.2.1

Marktregulierung – Grosshandelsmarkt

REMIT

Das schweizerische Bundesgesetz über die Aufsicht und Transparenz in den Ener-

giegrosshandelsmärkten (BATE) wurde im März 2025

559

verabschiedet. Mit dem

BATE soll das Vertrauen in die Energiegrosshandelsmärkte, auf denen mit schweize-

rischen Energiegrosshandelsprodukten gehandelt wird, gefestigt und eine Annähe-

rung an das EU-Recht erreicht werden. In der Version vom März 2025 beinhaltet das

BATE jedoch weder eine Integration in den EU-Binnenmarkt noch eine Zusammen-

arbeit bei der Marktaufsicht (System REMIT). Die Regelungen des BATE sind aber

bereits vollständig kompatibel mit der Verordnung (EU) Nr. 1227/2011 (REMIT-

Verordnung).

Mit dem Stromabkommen muss die Schweiz die REMIT-Verordnung übernehmen.

Diese wird allerdings nur für den Stromhandel gelten. Damit bleiben für den Strom-

bereich nur noch gewisse Ausführungsbestimmungen des BATE anwendbar (insbe-

sondere die Bestimmungen zu den Aufsichtsinstrumenten, zu den Sanktionen und zur

Amts- und Rechtshilfe), während für den Gasbereich das BATE seine Geltung voll-

ständig behält. Da das BATE schon vor der Übernahme der REMIT-Verordnung mit

dieser kompatibel ist, sind nur kleinere Anpassungen nötig.

559

BBl

2025

1102

636 / 931

2.11.7.2.2

Marktregulierung – Entflechtung und

Endverbrauchermarkt

Unabhängigkeit des Übertragungsnetzbetreibers

Das Schweizer Übertragungsnetz liegt in der Hand (Eigentum und Betrieb) eines ein-

zigen ÜNB, nämlich Swissgrid. Nach StromVG ist Swissgrid bereits als eigenständi-

ges Unternehmen organisiert. Nach EU-Recht muss ein ÜNB aber einem der drei dort

aufgestellten – entflechtungsrechtlich motivierten – ÜNB-Modellen entsprechen: 1)

das Ownership Unbundling (OU), bei dem der ÜNB vollständig unabhängig von Ver-

sorgung und Erzeugung ist; 2) der Independent System Operator (ISO), bei dem das

Netz im Eigentum des integrierten Unternehmens verbleibt, der Betrieb aber durch

einen unabhängigen Betreiber geführt wird und 3) der Independent Transmission

Operator (ITO), bei dem der ÜNB im integrierten Unternehmen verbleiben darf, aber

strenge Vorgaben zur organisatorischen und operativen Unabhängigkeit einhalten

muss. Das verlangt für Swissgrid in jedem Fall nach einer gegenüber heute konse-

quenteren Separierung von an ihr beteiligten Unternehmen, die in der Stromerzeugung

oder -versorgung tätig sind. Swissgrid ist heute am nächsten am ITO-Modell (unab-

hängiger Übertragungsnetzbetreiber). Dieses Modell ist für die Schweiz am sinnvolls-

ten, trotz heutiger Nähe muss das StromVG aber so verschärft werden, dass Swissgrid

die Anforderungen an das ITO-Modell gänzlich erfüllt. Es wird davon abgesehen, das

Modell der eigentumsrechtlichen Entflechtung (

Ownership Unbundling

, OU) der

Swissgrid einzuführen, bei dem die EVUs, die heute Aktionäre von Swissgrid sind,

die Aktien veräussern müssten. Denn das würde, wenn man gleichzeitig die Beherr-

schung durch die öffentliche Hand beibehalten will (schweizerische Beherrschung),

für die Kantone und Gemeinden sehr kapitalintensiv.

Die ElCom wird Swissgrid unter dem gewählten ÜNB-Modell zertifizieren, damit

diese im Binnenmarkt mit den entsprechenden Aufgaben auftreten kann.

Entflechtung der Verteilnetzbetreiber (VNB)

Die europäischen Vorschriften zur Entflechtung von VNB gehen weiter als das

Schweizer Recht, das bisher nur eine informatorische und buchhalterische Entflech-

tung kennt. Nach EU-Recht müssen VNB, die zu einem vertikal integrierten Unter-

nehmen gehören, in ihrer Rechtsform, Organisation und Entscheidungsgewalt von den

übrigen Tätigkeitsbereichen, die nicht mit dem Netzbetrieb zusammenhängen, unab-

hängig sein. Die EU schreibt dabei eine personelle und organisatorische Trennung

zwischen dem Verteilnetzbetrieb und den übrigen Tätigkeitsbereichen sowie die Si-

cherstellung der Unabhängigkeit der Entscheidbefugnisse des VNB über Vermögens-

werte, die für den Betrieb, die Wartung oder den Ausbau des Netzes erforderlich sind,

vor. Die Schweiz setzt dies im StromVG um und macht dabei von der Möglichkeit

Gebrauch, die erwähnten Anforderungen nur für VNB mit mindestens 100’000 ange-

schlossenen Kundinnen und Kunden anzuwenden, womit in der Schweiz rund 15

VNB betroffen sind. Für kleinere VNB bleibt es beim heutigen Entflechtungsregime.

Nach EU-Recht dürfen VNB ausserdem weder Eigentümer von Energiespeicheranla-

gen sein noch diese betreiben, wobei Ausnahmen möglich sind. Zudem ist zu beach-

ten, dass die Schweiz einen Regulierungsrahmen vorsehen muss, um den Anschluss

637 / 931

von öffentlich zugänglichen und privaten Ladepunkten an die Verteilernetze zu er-

leichtern. VNB dürfen dabei weder Eigentümer von Ladepunkten für Elektrofahr-

zeuge sein noch diese betreiben, ausser wenn sie Eigentümer von privaten Ladepunk-

ten sind, die für die eigene Nutzung reserviert sind (Ausnahmen sind auch hier

möglich).

Marktöffnung und Grundversorgung

Zusammen mit dem Stromabkommen wird die Schweiz die Marktöffnung für alle

Endverbraucherinnen und Endverbraucher einführen. Verbunden ist die Marktöff-

nung mit der Beibehaltung einer Grundversorgung, und zwar einer regulierten Grund-

versorgung mit regulierten Preisen. Diese orientiert sich massgeblich an den Vorga-

ben, die mit dem Bundesgesetz für eine sichere Versorgung mit erneuerbaren

Energien ins StromVG und EnG aufgenommen wurden. Die Tarife in der Grundver-

sorgung bemessen sich wie im aktuellen Gesetz für den über die (erweiterte) Eigen-

produktion abgedeckten Anteil anhand der Gestehungskosten und für den über den

Markt (inkl. langfristige Beschaffungsverträge) beschafften Anteil anhand der Be-

schaffungskosten. Der Vorrang für die Inlandproduktion beim Standardprodukt und

bei den Mindestanteilen für die erneuerbaren Energien entfällt, da er unter dem Strom-

abkommen potenziell diskriminierend ist. Die Grundversorgung gilt für Haushalte

und kleinere Unternehmen bis zu einem Jahresverbrauch von 50 Megawattstunden

(MWh). Dies entspricht der EU-Vorgabe, dass eine Grundversorgung nur Haushalten

und Kleinstunternehmen offensteht. Gleichzeitig werden eine Ersatzversorgung defi-

niert und der Anspruch auf dynamische Stromverträge und Verträge mit fixem Preis

und fester Laufzeit umgesetzt. Der Lieferantenwechsel ist unter Einhaltung der Ver-

tragsbestimmungen so schnell wie möglich durchzuführen. Der Grundversorger kann

für die unterjährigen Ein- und Austritte in die, beziehungsweise aus der Grundversor-

gung heraus, ein Ein- oder Austrittsgeld verlangen, das seine Kosten, unter anderem

für die vorgeschriebene langfristige Strombeschaffung oder für die nachträgliche

Strombeschaffung, abdeckt. Die ElCom macht Vorgaben über die zur Berechnung des

Ein- und Austrittsgelds anrechenbaren Kosten. Lieferanten auf dem freien Markt müs-

sen sich bei der ElCom registrieren lassen und haben ein Risikomanagement zu be-

treiben. Seitens der ElCom wird ein Vergleichsinstrument für die Endverbraucherin-

nen und Endverbraucher geschaffen. Weiter erhöhen Anforderungen an die

Vertragsbedingungen die Transparenz im Strommarkt und verhindern Marktmiss-

brauch. Endverbraucherinnen und Endverbraucher können sich bei Streitigkeiten an

eine neu geschaffene Schlichtungsstelle wenden. Die ElCom soll ein Monitoring zur

wirtschaftlichen Entwicklung unter der Marktöffnung für alle Endverbraucherinnen

und Endverbraucher durchführen und dem Bundesrat alle zwei Jahre Bericht erstatten.

Die ElCom beobachtet zudem während der ersten zehn Jahre wie sich die Marktöff-

nung für alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher auf die Arbeitsbedingungen

in der Strombranche auswirkt und erstattet dem Bundesrat darüber Bericht. Sie macht

dies erstmals spätestens vier Jahre nach Inkrafttreten des Abkommens beziehungs-

weise der Marktöffnung für alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher und da-

nach mindestens alle drei Jahre.

2.11.7.2.3

Netze und Versorgungssicherheit

Einspeisevorränge für langfristige Bezugsverträge und Grenzwasserkraftwerke

638 / 931

Bisher schützt das StromVG physische Vorränge im grenzüberschreitenden Übertra-

gungsnetz, die mit langfristigen Verträgen

(Long Term Contracts

, LTCs) über Strom-

bezüge und -lieferungen verbunden sind, sofern die Verträge vor dem 31. Oktober

2002 abgeschlossen wurden (Art. 17 Abs. 2 StromVG).

In der EU, wo Grenzkapazitäten verauktioniert werden, wurden solche Vorränge be-

reits ab 2003, innert kurzen Fristen und ohne Entschädigung abgeschafft. Mit dem

Abkommen erfolgt die Abschaffung nun auch für die Schweizer Grenzen (s. Ziff.

2.11.6.5), weshalb die Vorränge im StromVG zu streichen sind.

Netzkodizes

Die Bestimmungen zu den Netzkodizes gelten ab Inkrafttreten des Stromabkommens

in der Schweiz. Sie sind direkt anwendbar und eine Umsetzung in Schweizer Recht

ist daher nicht notwendig.

Des Weiteren sind im Zusammenhang mit dem Netzkodex zur Cybersicherheit meh-

rere Behörden und Stellen zu bezeichnen.

Engpasserlöse und finanzieller Ausgleichsmechanismus für Stromtransite

Die grenzüberschreitenden Transportkapazitäten werden im EU-Strombinnenmarkt

verauktioniert (langfristige Kapazität) oder implizit an die optimalen Marktgebote

vergeben (Day Ahead, Intraday). Da diese Transportkapazitäten beschränkt sind, er-

geben sich Preisunterschiede zwischen den unterschiedlichen Gebotszonen und dar-

aus Engpasserlöse auf den Grenzen. Die Engpasserlöse werden zentral von den Markt-

betreibern (Gemeinsames Allokationsbüro, NEMOs) gesammelt und mittels einer

definierten EU-Methodologie auf die einzelnen Grenzen zwischen den Gebotszonen

aufgeteilt, wobei sie hälftig den ÜNB der entsprechenden Grenze zukommen. Die

Erlöse müssen gemäss EU-Recht für bestimmte Zwecke eingesetzt werden. Die EU

definiert diese und das StromVG ist daran anzupassen.

Der Inter TSO Compensation (ITC) Mechanismus ist ein finanzieller Ausgleichsme-

chanismus zwischen den TSO für die durch Stromtransite resultierenden Kosten, na-

mentlich für die Breitstellung der Netzinfrastruktur und entstehende Netzverluste. Die

Schweiz ist schon lange Teilnehmerin am ITC Mechanismus. Aufgrund ihrer engen

Einbindung ins europäische Stromsystem und dem gut ausgebauten Übertragungsnetz

ist die Swissgrid Nettoempfängerin des Mechanismus. Mit Abschluss des Stromab-

kommens wird diese Teilnahme abgesichert. Die heutige StromVG-Regelung steht –

trotz der schon bisherigen Schweizer Teilnahme – teilweise im Widerspruch zu den

EU-Prinzipien und ist daher anzupassen. Des Weiteren hat sich gezeigt, dass eine

klare Aufteilung der Netzinvestitionen zwischen grenzüberschreitenden Transiten und

inländischen Anforderungen praktisch unmöglich ist, weswegen dieser Abschnitt

ebenfalls angepasst wird.

Reserven

Die Verordnung (EU) 2019/943 legt Regeln zur Gewährleistung eines adäquaten

Stromsystems fest, darunter auch solche für Stromreserven. Zur Umsetzung dieser

Regeln ist die Zuweisung von neuen Rollen und Verantwortlichkeiten auf Schweizer

Institutionen, respektive die Anpassung von bestehenden Zuweisungen notwendig.

Diese Aufgabenverteilung wird direkt im StromVG vorgenommen. Hierzu braucht es

639 / 931

Anpassungen bestimmter Artikel des StromVG und der Winterreserveverordnung

(WResV), an die Regeln im Stromabkommen, insbesondere im Hinblick auf die Ak-

tivierung der Reserven und die grenzüberschreitenden Interaktionen bei der Erstellung

und Verwaltung der Reserven und ihrer Energieressourcen. Auch Artikel, die sich mit

dem Reservegesetz noch in der parlamentarischen Debatte befinden, werden gegebe-

nenfalls angepasst werden müssen.

2.11.7.2.4

Erneuerbare Energien und Statistik

Themen betr. die Erneuerbaren-Richtlinie

Bei den durch die Schweiz mit dem Abkommen übernommenen Bestimmungen der

Richtlinie für erneuerbare Energien besteht kein Bedarf für Anpassungen auf Geset-

zesstufe. Für bestimmte Bereiche könnten aber Anpassungen auf Verordnungsstufe

nötig sein.

Statistik

Die Schweiz liefert bereits heute energiestatistische Daten an die Internationale Ener-

gieagentur (IEA) und nimmt an Arbeitsgruppensitzungen des statistischen Amts der

EU Eurostat teil. Eine Datenlieferung direkt an Eurostat findet aber nicht statt. Für die

Umsetzung und Weiterentwicklung des EU-Strombinnenmarktes sowie zur Messung

des Fortschritts bei der Zielerfüllung des Ziels für Erneuerbare Energien am Brutto-

endenergieverbrauch ist eine Ausweitung der Kooperation der Schweiz mit dem Sta-

tistiksystem der EU auf den Energiebereich notwendig. Hierzu soll das bilaterale Sta-

tistikabkommen der Schweiz mit der EU über einen Entscheid des Gemischten

Ausschusses zum Statistikabkommen ab Inkrafttreten des Stromabkommens um den

Teil Energie ergänzt werden.

Mit der Ergänzung erhält die statistische Zusammenarbeit mit der EU im Energiebe-

reich eine vertragliche Grundlage, in der die Rechte und Pflichten der Vertragspar-

teien festgelegt sind. Statistische Daten aus der Schweiz werden demzufolge auch aus

dem Energiebereich gemäss den Vorgaben des Statistikabkommens zur Speicherung,

Verarbeitung und Verbreitung an Eurostat übermittelt und als Teil der Statistik

Schweiz/EU an die verschiedenen Benutzergruppen verbreitet.

Aufgrund der spezifischen Anforderungen an die Datenlieferung an Eurostat sind An-

passungen beziehungsweise Erweiterungen von bestehenden energiestatistischen

Grundlagen der Schweiz notwendig. Insbesondere sind eine feinere Aufgliederung

beispielsweise der Branchenstrukturen, bei den Technologien der erneuerbaren Ener-

gien oder zeitlich höher aufgelöste Daten zum Beispiel im Bereich des Kohlever-

brauchs gefordert. Primär wird versucht, dies auf Basis bestehender Datengrundlagen

und Erweiterungen bei bestehenden Datenerhebungen zu erreichen. Es ist jedoch nicht

auszuschliessen, dass auch neue zusätzliche Datenerhebungen notwendig sein wer-

den. Es ist mit zusätzlichem personellem und finanziellem Aufwand bei den Erhe-

bungsstellen insbesondere beim BFE zu rechnen und auch eine zusätzliche Belastung

der Wirtschaft aufgrund erweiterter oder neuer Datenerhebungen ist nicht auszu-

schliessen, soll jedoch auf ein Minimum beschränkt werden.

640 / 931

2.11.7.2.5

Staatliche Beihilfen

Wie in Kapitel 2.2 erläutert, enthält das Stromabkommen Beihilfebestimmungen für

Unternehmen, welche im Geltungsbereich des Binnenmarktabkommens tätig sind.

Diese regeln einerseits das direkt anwendbare materielle Beihilfeverbot mit diversen

ebenfalls direkt anwendbaren Ausnahmen, andererseits die Grundpfeiler des Überwa-

chungsverfahrens. Mit dem Stromabkommen werden die wichtigsten bestehenden

Schweizer Beihilferegelungen –unter Vorbehalt geringfügiger Anpassungen – als mit

dem Abkommen kompatibel erklärt und für mehrere Jahre abgesichert.

Daneben gibt es auf den verschiedenen Schweizer Staatsebenen weitere bestehende

Beihilferegelungen. Für diejenigen, die beim Inkrafttreten des Stromabkommens be-

stehend sind, gibt es eine Übergangsphase. Nach Inkrafttreten des Schweizer Beihil-

feüberwachungsgesetzes (s. Ziff. 2.2.), voraussichtlich und spätestens fünf Jahre nach

Inkrafttreten des Stromabkommens, wird die Überwachungsbehörde innert einem

Jahr eine Übersicht bestehender Beihilferegelungen erstellen. Dabei wird sie eine

erste Einschätzung durchführen, ob diese bestehenden Beihilferegelungen mit dem

materiellen Beihilferecht vereinbar sind (s. Ziff. 2.2.5.5). Nach dieser Übergangs-

phase unterliegen alle bestehenden Beihilferegelungen der fortlaufenden Prüfung

durch die Überwachungsbehörde. Je nach ihrer Beurteilung und allenfalls derjenigen

von Schweizer Gerichten kann für bestimmte Beihilferegelungen ein Anpassungsbe-

darf resultieren oder sie müssen ganz aufgehoben werden. In diese Prüfung kommen

nach Ablauf der jeweiligen Frist auch die im Stromabkommen für beihilferechtskon-

form erklärten Beihilfen. Bei der Konzipierung künftiger Beihilfen von Bund, Kanto-

nen und Gemeinden wird das Beihilferecht von Anfang an einzubeziehen sein, insbe-

sondere auch die im Stromsektor relevanten EU-Leitlinien für Klima-, Umweltschutz-

und Energiebeihilfen von 2022, die in Anhang IV des Abkommens nicht aufgeführt

sind. Gleich wie in der EU wird auch die Schweizer Beihilfeüberwachungsbehörde

bereits im Stadium der Konzipierung einer Beihilfe einbezogen werden können, um

präventiv zu erreichen, dass die geplanten Beihilfen möglichst so ausgestaltet werden,

dass keine Widersprüche zum Abkommen entstehen (s. Erläuterungen zu Art. 6 VE-

BHÜG in Ziff. 2.2.7).

2.11.7.3

Begleitmassnahmen mit Gesetzesanpassungen

Die Strommarktöffnung für alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher wird mit

inländischen Begleitmassnahmen flankiert. Haushalte und kleinere Unternehmen mit

einem Jahresverbrauch von weniger als 50 MWh können ihren Lieferanten frei wäh-

len oder in einer regulierten Grundversorgung mit regulierten Preisen bleiben respek-

tive in diese zurückkehren. Die Tarife in der Grundversorgung sind für ein Jahr fixiert.

Bei einem unterjährigen Wechsel in den Markt darf der Grundversorger eine kosten-

deckende Wechselgebühr verlangen. Lieferanten auf dem freien Markt müssen sich

bei der ElCom registrieren und haben ein Risikomanagement zu betreiben. Für Aus-

fälle von Lieferanten im Strommarkt wird eine regulierte Ersatzversorgung definiert.

Endverbraucher im Markt haben Anspruch auf dynamische Stromverträge oder Ver-

träge mit fixem Preis und fester Laufzeit. Um Transparenz zu gewährleisten und Miss-

brauch zu verhindern macht das StromVG Vorgaben an die Vertragsinhalte im freien

Markt. Für die Endverbraucher wird mindestens eine Vergleichsplattform und eine

Schlichtungsstelle eingerichtet. Die ElCom soll ein Monitoring zur wirtschaftlichen

641 / 931

Entwicklung und der Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen durchführen und

dem Bundesrat Bericht erstatten.

Die Rechte der Konsumenten hinsichtlich Auswahl des Stromprodukts und der Kon-

sumentenschutz werden gestärkt. Im Falle allfälliger negativer Auswirkungen auf das

Personal der Stromwirtschaft, trifft der Bundesrat geeignete Gegenmassnahmen.

Aufgrund der Erfahrungen in der EU, der hohen Wertschöpfung im Stromsektor, des

aktuellen Fachkräftemangels in der Strombranche und der Ausgestaltung der Markt-

öffnung mit einer regulierten Grundversorgung ist nicht davon auszugehen, dass

grosse negative Auswirkungen auf das Personal der Stromwirtschaft eintreten. Die

ElCom beobachtet wie sich die Marktöffnung auf die Arbeitsbedingungen im Strom-

markt auswirkt und erstattet dem Bundesrat darüber Bericht. Falls negative Auswir-

kungen festgestellt werden, trifft der Bundesrat geeignete Gegenmassnahmen. So

könnte er beispielsweise Massnahmen im Bereich der Umschulung sowie der Aus-

und Weiterbildung treffen.

Bei der Umsetzung des Stromabkommens ist nicht eindeutig trennbar, was sich aus

der Umsetzung des Abkommens ergibt und was Begleitmassnahmen mit und ohne

Gesetzesanpassungen sind. Deswegen sind die Begleitmassnahmen in «Umsetzungs-

gesetzgebung» unter Ziffer 2.11.7.2 integriert.

2.11.7.4

Begleitmassnahmen ohne Gesetzesanpassungen

Bei der Umsetzung des Stromabkommens ist nicht eindeutig trennbar, was sich aus

der Umsetzung des Abkommens ergibt und was Begleitmassnahmen mit und ohne

Gesetzesanpassungen sind. Deswegen sind die Begleitmassnahmen in «Umsetzungs-

gesetzgebung» unter Ziffer 2.11.7.2 integriert.

2.11.7.5

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

In Anbetracht der volkswirtschaftlichen Kosten, welche ohne ein Stromabkommen

aufgrund unsicherer Import- und Exporttransportkapazitäten entstehen können, sind

die im Stromabkommen enthaltenen finanziellen Beiträge gerechtfertigt. Der Schwei-

zer Beitrag an ACER (s. Ziff. 2.11.9.1) stellt eine Voraussetzung für den Abschluss

des Stromabkommens dar, welches eine gleichberechtigte Teilnahme am EU-

Strombinnenmarkt ermöglicht, den Stromhandel fördert und zur Versorgungssicher-

heit und Netzstabilität beiträgt. Der Beitrag ist keine wesentliche Zusatzbelastung für

die Stromkonsumentinnen und -konsumenten dar.

2.11.7.6

Umsetzungsfragen

Im EU-Recht gelten Verordnungen in allen EU-Mitgliedstaaten unmittelbar nach der

Inkraftsetzung. Daher sind die Bestimmungen einer EU-Verordnung in der Regel so

präzise, dass sie direkt angewendet werden können und nicht in der schweizerischen

Rechtsordnung konkretisiert werden müssen. Dennoch wird im Gesetz, wenn nötig,

explizit auf die relevanten Artikel der EU-Verordnungen verwiesen, ohne dass dabei

jedoch der Inhalt der Bestimmungen wiederholt wird.

Richtlinien sind im EU-Recht in der Regel nicht direkt anwendbar. Eine Richtlinie ist

für die EU-Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, die

Wahl der Form und der Mittel bleibt jedoch ihnen überlassen. Die Anpassungen im

642 / 931

innerstaatlichen Recht ergeben sich somit hauptsächlich aus den grundsätzlich nicht

direkt anwendbaren EU-Richtlinien. So stammen die im innerstaatlichen Recht um-

gesetzten Elemente vor allem aus den EU-Richtlinien, deren Bestimmungen sich

grundsätzlich an die Gesetzgebungsorgane der Staaten richten.

Das StromVG, das EnG und das BATE werden im Übrigen auch angepasst, um all-

fällige Widersprüche zum geltenden EU-Recht, das in den Anhängen des Stromab-

kommens aufgeführt ist, zu beseitigen.

2.11.8

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des

Umsetzungserlasses

2.11.8.1

Energiegesetz (EnG)

Art. 15

Abnahme- und Vergütungspflicht

Alle Marktteilnehmer sind grundsätzlich für die von ihnen im System verursachten

Bilanzkreisabweichungen verantwortlich (Art. 5 der Strombinnenmarkt-Verord-

nung). Ausgenommen sind Stromproduktionsanlagen aus erneuerbaren Quellen bis

zu einer Leistung von 400 kW (für ab 1. Januar 2026 in Betrieb genommene Anlagen

bis 200 kW). In der Schweiz müssen bislang Netzbetreiber die Elektrizität aus erneu-

erbaren Energien oder fossilen Wärme-Kraft-Kopplungsanlagen (WKK-Anlagen) mit

einer Leistung von bis zu 3 MW abnehmen und vergüten; somit tragen die Betreiber

dieser Anlagen keine Bilanzverantwortung. Die Abnahme- und Vergütungspflicht

muss aufgrund von Artikel 5 der Strombinnenmarkt-Verordnung angepasst werden

(Abs. 1).

Wären den Grundversorgern höhere Vergütungen als die Höhe der Marktpreise vor-

geschrieben, so würden sie zu systematischen Verlusten gezwungen. Die geltende

Vorgabe, wonach sich die Vergütung für Elektrizität aus fossil und teilweise fossil

befeuerten WKK-Anlagen nach dem Marktpreis im Zeitpunkt der Einspeisung richtet,

wird somit auch auf Elektrizität aus erneuerbaren Energien ausgedehnt (Art. 15 Abs. 1

und 2). Wie bei Elektrizität aus den erfassten WKK-Anlagen, sollen auch bei Elektri-

zität aus erneuerbaren Energien die Stundenpreise an der Strombörse für den Folgetag

im Marktgebiet Schweiz massgebend sein (vgl. Art. 12 Abs. 2 der Energieverordnung

vom 1. November 2017

560

[EnV]).

Absatz 3 entspricht Artikel 15 Absatz 4 des EnG in der Fassung, die am 1. Januar

2026 in Kraft treten wird. Die Grundversorger können die übernommene und vergü-

tete Elektrizität über die Belieferung ihren Endverbrauchern in der Grundversorgung

nach Artikel 6

a

Absatz 1 StromVG in die Grundversorgungstarife einrechnen. Der

entsprechende Absatz 3 des EnG wird aufgehoben, da dies bereits in Artikel 7 Ab-

satz 1 Buchstabe c VE-StromVG geregelt ist.

Art. 29d Abs. 4 und Art. 33a Abs. 2

bis

560

SR

730.01

643 / 931

Gemäss EU-Recht müssen Anreize gesetzt werden zur marktbasierten und marktori-

entierten Integration von Strom aus erneuerbaren Energien, wobei unnötige Wettbe-

werbsverzerrungen zu vermeiden und die Netzstabilität zu berücksichtigen ist. Es

muss deshalb sichergestellt werden, dass die Produzenten von Elektrizität aus erneu-

erbaren Energien auf die Preissignale des Marktes reagieren. In Negativpreisperioden

zu fördern, widerspricht diesen Vorgaben diametral und die Schweiz hat sich im Ab-

kommen im Rahmen der Absicherung von staatlichen Beihilfen auch zur Beseitigung

dieses Fehlanreizes verpflichtet (s. Anhang III Teil A Absatz 2). Aus diesem Grund

erhalten Anlagen ab einer Leistung von 150 kW, die mit der gleitenden Marktprämie

oder einem Betriebskostenbeitrag gefördert werden, während der Dauer von negati-

ven Preisen keine Prämie bzw. keinen Beitrag ausbezahlt, wenn der Preis für die

Elektrizität mindestens für eine Stunde ununterbrochen negativ ist. Massgebend sind

die Stundenpreise an der Strombörse für den Folgetag im Marktgebiet Schweiz (Day-

Ahead-Preis). Die Day-Ahead-Preise sind für den Folgetag bekannt und somit kann

der Produzent seine Anlage optimal steuern. Für die gleitende Marktprämie gilt diese

Bestimmung für Anlagen, die ab 1. Januar 2027 in Betrieb gehen. Dagegen gilt die

Änderung für die Anlagen, die einen Betriebskostenbeitrag erhalten ab Inkrafttreten

der Bestimmung.

Art. 75d

Übergangsbestimmung zur Abnahme- und Vergütungspflicht

Eine ähnliche Bestimmung war bereits im Rahmen der Botschaft zum Bundesgesetz

über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien vom 18. Juni 2021 vor-

gesehen (Art. 75

b

E-EnG

561

). Die Betreiber von Anlagen zur Produktion von Elektri-

zität, die ihre Anlage nach dem 1. Januar 2026 und vor dem Inkrafttreten dieser Vor-

lage in Betrieb nehmen, sollen eine gewisse finanzielle Stabilität haben, weshalb sie

während drei Jahren eine Mindestvergütung erhalten.

2.11.8.2

Stromversorgungsgesetz (StromVG)

Art. 1 Abs. 2 Bst c

Im zusätzlichen Buchstaben c gelangt das Konzept der «aktiven Kunden» zum Aus-

druck. Die entsprechenden Anforderungen von Artikel 15 der Strombinnenmarkt-

Richtlinie sind im Schweizer Recht bereits mehrheitlich erfüllt: Insbesondere kann

selbst erzeugte Elektrizität im Rahmen der Vertragsfreiheit bereits jetzt frei abgesetzt

werden; was die Einspeisung ins Elektrizitätsnetz anbelangt, gibt es keine besonderen

Einschränkungen beim Netzzugang (Art. 13 Abs. 1 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 Bst. d). Die

Abnahme- und Vergütungspflicht (Art. 15 EnG) ist dabei aus Sicht des Erzeugers ein

Recht und kein Pflichtprogramm. Alternativ zur Einspeisung kann selbst erzeugte

Elektrizität auch direkt vor Ort verbraucht werden (vgl. Art. 16–18 EnG). Was die

aktive Teilnahme am Elektrizitätsmarkt anbelangt, steht es den Endverbraucherinnen

und Endverbrauchern sowie auch den Erzeugern und Speicherbetreibern überdies frei,

Flexibilitätsdienstleistungen zu erbringen (vgl. Art. 17

c

Abs. 1).

561

BBl

2021

1666

644 / 931

Neu kommt die ausdrückliche Regelung zur Aggregierung hinzu (Art. 17

c

bis

). Diese

bietet den Endverbrauchern und den Erzeugern weitere Opportunitäten für eine aktive

Teilnahme am Elektrizitätsmarkt.

Ferner sei darauf hingewiesen, dass ins Netz eingespeiste und aus dem Netz bezogene

Elektrizität bei der Ermittlung des Netznutzungsentgelts getrennt behandelt wird (vgl.

Art. 14 Abs. 2), so wie dies das EU-Recht auch im vorliegenden Kontext betont

(Art. 15 Abs. 2 Bst. e Abs. 4 Strombinnenmarkt-Richtlinie). Weiter sei angemerkt,

dass auch Endverbraucher und Erzeuger, die über eine Speicheranlage verfügen, nicht

an einer aktiven Teilnahme am Elektrizitätsmarkt gehindert sind (vgl. dazu Art. 15

Abs. 5 Strombinnenmarkt-Richtlinie). Insbesondere gilt die Netzanschlussgarantie

(Art. 5 Abs. 2–4) auch für diese Kundengruppe.

Art. 4 Abs. 1 Bst. bbis

Das EU-Recht enthält zahlreiche Definitionen, die für die Schweiz mit dem Stromab-

kommen relevant werden. Das StromVG erhält neu eine Definition des Elektrizitäts-

versorgungsunternehmens. Nicht definiert wird der Lieferant; das Konzept ist aber so,

dass sowohl Lieferant ist, wer im freien Markt Strom liefert als auch der Grundver-

sorger, der (als spezieller Lieferant) die Lieferung der Grundversorgung vornimmt.

Art. 4a

Freie Lieferantenwahl

Mit der Übernahme des EU-Rechts wird der Strommarkt für alle Endverbraucherin-

nen und Endverbraucher geöffnet. Fortan werden folglich auch die kleineren Endver-

braucherinnen und Endverbraucher ihren Lieferanten frei wählen können. Ohne ak-

tive Wahl eines Lieferanten werden sie weiterhin in der Grundversorgung (Art. 6–6

c

)

vom lokalen Versorger beliefert. Die Bestimmungen im neuen Kapitel 1a gelten für

die Stromlieferungen im freien Markt; auf die Grundversorgung sind sie, sofern es

dort nicht abweichend geregelt ist, nicht anwendbar.

Art. 4b

Organisation und Registrierung der Lieferanten

Die Anforderungen an die Organisation und Tätigkeit der Stromlieferanten sind auf

Ebene des Gesetzes nur in den Grundzügen enthalten; sie werden auf Verordnungs-

stufe näher ausgeführt (

Abs. 1

). Die Vorgaben müssen selbstredend jederzeit und nicht

nur zum Zeitpunkt der Registrierung (vgl.

Abs. 2)

erfüllt sein. Von besonderer Bedeu-

tung ist das Risikomanagement, wozu nach EU-Recht verlangt, dass spezifische An-

forderungen gestellt werden (vgl. Art. 18

a

Strombinnenmarkt-Richtlinie). Dabei geht

es um Absicherungsstrategien, welche die Resilienz der Lieferanten stärken. Risiko-

reiche Strategien (insb. das Anbieten von langfristigen Fixpreisverträgen ohne ent-

sprechende Absicherung) können bei hoher Marktpreisvolatilität zum Ausfall des Lie-

feranten oder zu massiven Preisaufschlägen bei Endverbraucherinnen und

Endverbrauchern mit einem laufenden Vertrag führen. Dies gilt es möglichst zu ver-

hindern, zumal auch Kosten für die Allgemeinheit entstehen können (u.a. unbezahlte

Netzkosten und Ausgleichsenergie sowie Ersatzversorgung).

Von Bedeutung ist weiter der Kundendienst der Stromlieferanten, der zweckmässig

sein und den Bedürfnissen der Kundschaft gerecht werden soll: Beispielsweise sollen

645 / 931

sich die Endverbraucherinnen und Endverbraucher auch bei im Ausland domizilierten

Unternehmen an einen Ansprechpartner im Inland und zu hier üblichen Geschäftszei-

ten wenden können. Der Bundesrat kann zum Kundendienst Vorgaben machen.

Im Zuge der Marktöffnung für alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher müssen

sich die im Schweizer Strommarkt tätigen Lieferanten bei der ElCom registrieren las-

sen

(Abs. 2)

, dies insbesondere aus Gründen des Konsumentenschutzes. Ähnliche Re-

gistrierungspflichten finden sich im Finanzmarktsektor (z.B. Art. 30 des Finanz-

dienstleistungsgesetzes vom 15. Juni 2018

562

). Das Verfahren zur Registrierung wird

auf Verordnungsstufe geregelt, insbesondere die Fristen und der Inhalt der Gesuche.

Dabei kann der Bundesrat den bereits in der Schweiz tätigen Lieferanten einen vo-

rübergehenden Bestandsschutz gewähren und entsprechende Übergangsfristen vorse-

hen. Weiter ist auf Verordnungsstufe zu regeln, wie mit einer Beendigung der Tätig-

keit als Lieferant umzugehen ist.

Art. 4c

Stromlieferverträge

Absatz 1

: Artikel 11 Absatz 1 der Strombinnenmarkt-Richtlinie verlangt, dass das na-

tionale Recht Stromlieferverträge mit fester Laufzeit und Festpreisen und Verträge

mit dynamischen Strompreisen vorgeben muss..

Absatz 1

stellt diese Anforderung si-

cher: Ab einem Kundenstamm von 50 000 Endverbrauchern müssen die Lieferanten

solche Vertragsprodukte anbieten. Aufgrund der Grössenverhältnisse der Schweiz ist

diese Schwelle etwas tiefer angesetzt als in der Richtlinie, wo sie bei 200 000 End-

verbrauchern liegt. Beliefert ein EVU auch Endverbraucher in der Grundversorgung,

werden diese mitgezählt; die Pflicht bezieht sich indes lediglich auf die Tätigkeit im

freien Markt.

Anzumerken ist, dass die Lieferanten ihren Endverbraucherinnen und Endverbrau-

chern keine dynamischen Strompreise aufzwingen dürfen, da deren Zustimmung vo-

rausgesetzt ist (vgl. Art. 11 Abs. 3 Strombinnenmarkt-Richtlinie). Zu beachten ist in

diesem Zusammenhang auch die Pflicht zur Information vor dem Vertragsschluss und

zur Orientierung über die Chancen, Kosten und Risiken der jeweiligen Arten von

Stromlieferverträgen (vgl. Art. 10 Abs. 3 und 5 sowie insb. auch Art. 11 Abs. 1a und

2 Strombinnenmarkt-Richtlinie). Weiter sei mit Blick auf Artikel 11 Absatz 1 Unter-

absatz 3 der Strombinnenmarkt-Richtlinie angemerkt, dass Verträge mit einer festen

Laufzeit (und Festpreis) aufgrund der fest vereinbarten Vertragsdauer weder einseitig

geändert noch vor dem Ende ihrer Laufzeit ordentlich gekündigt werden können.

Absatz 2 Buchstabe a

: Die Stromlieferverträge, die im freien Markt abgeschlossen

werden, müssen nach Artikel 10 Absätze 3 und 5 der Strombinnenmarkt-Richtlinie

bestimmte Inhalte aufweisen und Anforderungen erfüllen. Diese lassen sich de facto

nur mit einem schriftlichen Vertragsschluss einhalten. Ein gesetzliches Schrifterfor-

dernis («einfache Schriftlichkeit») gibt es indes nicht. Ansonsten könnten die Verträge

auf elektronischem Weg nur noch mittels qualifizierter elektronischer Signatur abge-

schlossen werden. Auf rein telefonischem Weg lassen sich die Anforderungen zu den

Inhalten aber nicht abdecken. Dies bietet den Endverbraucherinnen und Endverbrau-

562

SR

950.1

646 / 931

chern einen gewissen Schutz vor ungewollter Telefonwerbung. Hinsichtlich der Kün-

digungsmodalitäten hält das Gesetz keine besonderen Vorgaben bereit. Angemerkt sei

ausserdem, dass das Widerrufsrecht bei Haustürgeschäften (vgl. Art. 40

a

–40

c

OR)

auch auf Stromlieferverträge anwendbar ist. Die konkreten Anforderungen an den

(obligatorischen) Mindestinhalt der Verträge werden in den Ausführungsvorschriften

nach Massgabe von Artikel 10 Absätze 3 und 5 der Strombinnenmarkt-Richtlinie fest-

gelegt (v. a. Leistungen, Qualitätsstufen, Tarife, Vertragsdauer, Kündigungsmodali-

täten, Haftung, Streitbeilegung).

Buchstabe b

: Was genau unter einem Vertrag mit fester Laufzeit und Festpreis

(Abs. 1

Bst. a)

und einem dynamischen Strompreis

(Abs. 1 Bst. b)

zu verstehen ist, wird auf

Verordnungsebene konkretisiert. Der Massstab bilden die Legaldefinitionen in Arti-

kel 2 Ziffern 15 und 15a der Strombinnenmarkt-Richtlinie.

Gestützt auf

Buchstabe c

kann der Bundesrat Ausführungsvorschriften zur Umset-

zung von Artikel 10 Absatz 4 der Strombinnenmarkt-Richtlinie erlassen. Diese Vor-

gabe kommt dann zum Tragen, wenn sich die Lieferanten in den Stromlieferverträgen

ein Recht auf eine einseitige Vertragsanpassung einräumen lassen. Der Bundesrat

kann einseitige Anpassungen für bestimmte Gründe auch für unzulässig erklären. Das

EU-Recht verlangt sodann, dass eine einseitige Vertragsanpassung dem Endverbrau-

cher oder der Endverbraucherin rechtzeitig angekündigt und auf transparente und ver-

ständliche Weise erläutert werden muss. Die konkreten Fristen können auf der Ver-

ordnungsstufe festgelegt werden. Betrifft die Änderung den Lieferpreis muss die

Änderung mindestens zwei Wochen im Voraus angekündigt werden, bei Haushalts-

kunden gar einen Monat im Voraus. Weiter verlangt das EU-Recht, dass die Endver-

braucherin oder der Endverbraucher im Falle einer einseitigen Vertragsänderung das

Recht hat, den Vertrag auf den betreffenden Zeitpunkt hin aufzulösen.

Artikel 4

c

handelt vom Stromliefervertrag und nicht von der Netznutzung. Anders als

bei der Grundversorgung, wo für beide Aspekte eine gemeinsame Rechnung stipuliert

wird (Art. 7 Abs. 4), gibt es im freien Markt keine entsprechende Vorgabe. Dass in

der Praxis zusammen Rechnung gestellt wird, ist gleichwohl möglich. Der Bundesrat

wird ferner Vorgaben für die Rechnung und vor allem zu damit einhergehenden In-

formationen machen (vgl. insgesamt bei Art. 12 und Strombinnenmarkt-Richtlinie).

Art. 4d

Lieferantenwechsel

In

Absatz 1

gelangt Artikel 12 Absatz 1 der Strombinnenmarkt-Richtlinie zum Aus-

druck, wonach der operative Vorgang zum Wechsel des Lieferanten nicht länger als

24 Stunden dauern darf und an jedem Werktag möglich sein muss. Die Vorgabe wird,

auch unter Berücksichtigung der im Abkommen ausgehandelten Übergangsfrist von

drei Jahren, in der Verordnung näher auszuführen sein, insbesondere die Aufgaben

der Beteiligten bei der operativen Abwicklung

(Abs. 3)

. Es ist zu betonen, dass es in

diesem Zusammenhang nicht um die Dauer der Stromlieferverträge und die Modali-

täten zu ihrer Auflösung geht.

Nach

Absatz 2

darf einem Endverbraucher kein besonderes Entgelt auferlegt werden,

wenn er nach Ablauf der Vertragsdauer zu einem anderen Lieferanten wechselt. Ent-

sprechende Vertragsklauseln sind nichtig. Bis anhin war diese Vorgabe nur an die

647 / 931

Netzbetreiber adressiert (Art 12 Abs. 2 StromVG). Nunmehr gilt sie universell, auch

im Verhältnis zu den Lieferanten und den Aggregatoren (vgl. auch Art. 17

c

bis

Abs. 5).

Art. 6

Grundversorgung

In materieller Hinsicht erfahren die Bestimmungen zur Grundversorgung nur gering-

fügige Änderungen. Die wichtigste Änderung betrifft den Kreis der Endverbrauche-

rinnen und Endverbraucher mit Anspruch auf Grundversorgung. Im Zuge der Markt-

öffnung für alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher fällt die massgebende

Verbrauchsschwelle (Jahresverbrauch) von derzeit 100 MWh auf 50 MWh. Diese Ab-

senkung steht auch in Zusammenhang mit den Vorgaben des EU-Rechts, in welchem

der Anspruch auf Grundversorgung nur für Haushaltskunden und Kleinunternehmen

vorgesehen ist (Art. 27 Abs. 1 Strombinnenmarkt-Richtlinie). Neu sind weiter auch

die Regelungen zum Ein- und Austritt bei der Grundversorgung

(Abs. 4 und 5)

und

zur Ersatzversorgung (Art. 7

c

). Die weiteren Änderungen sind formeller Natur, unter

anderem wird der heutige Artikel 6 auf mehrere Artikel verteilt.

Absatz 1

: Am Grundsatz der Pflicht zur Gewährleistung der Grundversorgung ändert

sich nichts. Aus terminologischen Gründen im Zuge der Entflechtung ist indes nicht

mehr vom «Netzbetreiber», sondern vom «Grundversorger» die Rede. Die Pflicht ori-

entiert sich weiterhin an der kantonalen Netzgebietszuteilung (Art. 5 Abs. 1). Auch

wenn diese formal bisher auf den Netzbetreiber ging, ist sie neu so zu verstehen, dass

sie für diejenige EVU-Sparte gilt, die die Grundversorgung besorgt (nicht mehr für

die Netzsparte). Eine neuerliche Zuteilung ist dafür nicht erforderlich. Pro Netzgebiet

gibt es nur einen Grundversorger.

Absatz 2

: Nach Artikel 27 Absatz 1 der Strombinnenmarkt-Richtlinie ist der An-

spruch auf Grundversorgung allen Haushaltskunden einzuräumen. Der Anspruch

kann auf Kleinstunternehmen ausgedehnt werden. Indem der Anspruch auf Grundver-

sorgung erst ab einem Jahresverbrauch von 50 MWh entfällt, ist sichergestellt, dass

der Anspruch in der Schweiz allen Haushaltskunden und auch den kleineren Unter-

nehmen zukommt. Zusammenschlüsse zum Eigenverbrauch (Art. 17 EnG) gelten

weiterhin als ein einziger Endverbraucher. Ab einem Jahresverbrauch von 50'000

kWh (durchschnittlich ca. zehn Haushalte) entfällt der Anspruch auf die Grundver-

sorgung, selbst wenn der Zusammenschluss zum Eigenverbrauch nur Haushaltskun-

den umfasst.

Die Grundversorgung gilt gewissermassen als Standard der Versorgung für Endver-

braucherinnen und Endverbraucher, die ihren Lieferanten nicht aktiv wählen. Das gilt

insbesondere bei Neuanschlüssen. Weiter sei angemerkt, dass diejenigen Endverbrau-

cherinnen und Endverbraucher, die nach Inkrafttreten der Vorlage keinen Anspruch

auf Grundversorgung mehr haben, fortan im freien Markt versorgt werden – es ist

hierzu keine Übergangsbestimmung vorgesehen. Dies schliesst nicht aus, dass sie

weiterhin vom selben Unternehmen und zu denselben Konditionen versorgt werden

können. Das Lieferverhältnis wäre dann indes nicht (mehr) reguliert und unterstünde

mithin nicht der Aufsicht der ElCom.

Absatz 3

: In Übereinstimmung mit der bisherigen Praxis können die EVUs, denen ein

Netzgebiet zugeteilt wurde, die Durchführung der Grundversorgung auf einen Dritten

übertragen, indem sie entsprechende Aufträge erteilen. Dass das Lieferverhältnis in

648 / 931

solchen Fällen zwischen diesem Dritten und den Endverbraucherinnen und Endver-

brauchern besteht, ändert nichts an der Gewährleistungsverantwortung desjenigen

Unternehmens, an das die kantonale Netzgebietszuteilung gerichtet ist. Für allfällige

Verfehlungen des Dritten muss subsidiär dieses Unternehmen einstehen.

Absätze 4 und 5

: Bis anhin konnten Endverbraucher mit Anspruch auf freie Wahl des

Lieferanten nur auf Anfang eines Kalenderjahres in den freien Markt wechseln

(Art. 11 Abs. 2 Satz 1 StromVV). Ausserdem waren im Regime der Teilmarktöffnung

Wiedereintritte in die Grundversorgung nicht möglich (Art. 11 Abs. 2 Satz 2: «einmal

frei, immer frei»). Beides ändert sich nun. Neu soll ein Austritt aus der Grundversor-

gung auch unterjährig möglich sein. Ebenso ist für Endverbraucherinnen und Endver-

braucher mit Anspruch auf die Grundversorgung ein unterjähriger Wiedereintritt

möglich. Ihr Anspruch auf Grundversorgung geht mit der Ausübung des Rechts auf

freie Wahl des Lieferanten nicht unter.

Falls der unterjährige Austritt aus der Grundversorgung für den Grundversorger mit

einem ökonomischen Nachteil verbunden ist, so kann er diesen über einen adäquaten

finanziellen Ausgleich verlangen (das EU-Recht spricht von «Wechselgebühr»). Die

ElCom macht Vorgaben zur Bemessung und entscheidet auch über Streitfälle (Art. 22

Abs. 1). Analog dazu wäre auch beim Eintritt ein solcher Ausgleich möglich. Die

Einzelheiten des Ein- und Austritts regelt der Bundesrat, namentlich die Fristen und

Termine. Dabei kann er die Grundversorger auch dazu verpflichten, die des finanzi-

ellen Ausgleichs oder die Methodik zu dessen Berechnung vor dem Tarifjahr festzu-

legen und zu veröffentlichen.

Art. 6a

Stromlieferverträge

Zahlreiche Vorgaben zu den Verträgen im freien Markt, wie sie sich aus dem EU-

Recht ergeben, schützen die Endverbraucherinnen und Endverbraucher. In der Grund-

versorgung soll kein tieferer Schutz greifen, weshalb Grundversorger mit einem Kun-

denstamm analog zu Artikel 4c Absatz 1 die gleichen Vertragsvorgaben beachten

müssen. Die Artikel 7 ff. bringen für die Grundversorgung zusätzliche Vorgaben.

Art. 7

Tarifgestaltung und Rechnungsstellung

Die Vorgaben zur Tarifgestaltung erfahren keine materielle Änderung.

Absatz 1

über-

nimmt die Vorgaben, die derzeit in Artikel 6 Absatz 5

bis

Buchstabe d

enthalten sind.

Auch in

Absatz 2

werden Bestimmungen aus dem aktuellen Artikel 6 unverändert

übernommen:

Buchstabe a

korrespondiert mit Absatz 3 Satz 2 des geltenden Rechts,

Buchstabe b

mit Absatz 3 des geltenden Rechts,

Buchstabe c

mit Absatz 4 Satz 2 und

Buchstabe d

mit Absatz 5

ter

des geltenden Rechts.

Neu ist die Vorgabe zur Rechnungsstellung (Abs. 4). In der Grundversorgung soll es

im Sinne einer Dienstleistung des Service Public eine Rechnung aus einer Hand vom

Grundversorger geben. Dieser erledigt somit per Rechnung des Netzbetreibers auch

das Inkasso für die Netznutzung und die übrigen mit dem Netz verbundenen Kosten-

positionen. Die genauen Vorgaben und Anforderungen richten sich nach Artikel 12.

649 / 931

Art. 7a

Mindestanteile an erneuerbarer Energie

Sowohl das Standardstromprodukt gemäss

Absatz 1

(aktueller Artikel 6 Absatz 2

bis

)

als auch die beiden Mindestanteile gemäss

Absatz 2

(aktueller Artikel 6 Absatz 5) sind

nur noch auf erneuerbare Energien bezogen, ohne eine inländische Produktion voraus-

zusetzen. Ansonsten übernehmen die neuen Vorgaben den Gehalt des bisherigen

Rechts unverändert.

Art. 7b

Beschaffung der Elektrizität

Auch hinsichtlich der Beschaffung der Elektrizität für die Grundversorgung gibt es

keinerlei Änderungen gegenüber dem bisherigen Recht. Die

Absätze 1–3

dieser Be-

stimmung entsprechen den Vorgaben, die derzeit in Artikel 6 Absatz 5

bis

Buchsta-

ben a –c enthalten sind.

Art. 7c

Ersatzversorgung

Absatz 1

: Zur Ersatzversorgung kommt es zum einen dann, wenn ein Endverbraucher

nach Beendigung seines Elektrizitätslieferverhältnisses, sei es infolge einer Kündi-

gung oder aufgrund einer anfänglichen Befristung, nicht rechtzeitig einen neuen Lie-

fervertrag abgeschlossen hat. Zum anderen wird die Ersatzversorgung dann aktuell,

wenn der vom Endverbraucher gewählte Elektrizitätslieferant ausfällt, er also seine

vertragliche Lieferpflicht nicht mehr gehörig erfüllt (z.B. im Konkursfall).

Weil die Ersatzversorger in der Lage sein müssen, mitunter auch sehr kurzfristige

Dispositionen zu treffen, untersteht die Ersatzversorgung keiner gesetzlichen Tarif-

ordnung. Es besteht lediglich eine Missbrauchskontrolle (Art. 22 Abs. 2 Bst.

b

bis

), mit

welcher die ElCom in offensichtlich übersetzte Tarife eingreifen kann.

Absatz 4

: Auch bei der Ersatzversorgung braucht es Ausführungsvorschriften. Es er-

scheint sinnvoll, dass die Endverbraucherinnen und Endverbraucher die Ersatzversor-

gung möglichst rasch wieder verlassen können, sei es in die Grundversorgung oder

den freien Markt. Ausserdem ist festzuhalten, dass die Ersatzversorgung als ultima

ratio nicht zwingend stattfinden muss; es bleibt den Endverbraucherinnen und End-

verbrauchern unbenommen, vorab oder ad hoc eine andere (vertragliche) Lösung zu

treffen. Der Ersatzversorger muss aber in der Lage sein, die Ersatzversorgung wäh-

rend mindestens sechs Monaten aufrecht zu erhalten (vgl. Art. 11 Abs. 3 Strombin-

nenmarkt-Richtlinie).

Art. 8a Abs. 3

Artikel 8a Absatz 3 regelt die Frage nach den zuständigen Behörden und Stellen ge-

mäss der Delegierten Verordnung (EU) 2024/1366

563

, die in der Schweiz gemäss An-

hang I des Stromabkommens anwendbar ist. Damit die Schweiz die ihr nach dieser

Verordnung obliegenden Aufgaben erfüllen kann, muss der Bundesrat namentlich die

563

Delegierte Verordnung (EU) 2024/1366 der Kommission vom 11. März 2024 zur Ergän-

zung der Verordnung (EU) 2019/943 des Europäischen Parlaments und des Rates durch

Festlegung eines Netzkodex mit sektorspezifischen Vorschriften für Cybersicherheitsas-

pekte grenzüberschreitender Stromflüsse, ABl. L, 2024/1366, 24.5.2024.

650 / 931

zuständigen nationalen Behörden und Stellen bezeichnen. Er wird dies in seiner künf-

tigen Verordnung tun.

2a. Abschnitt: Angemessenheit der Ressourcen für die Stromversorgung und

Energiereserve

Art. 8a

bis

Rahmenbedingungen für die Gewährleistung der

Versorgungssicherheit

Absatz 1

: Artikel 25 Absatz 1 der Elektrizitätsbinnenmarkt-Verordnung (EU)

2019/943 (Strombinnenmarkt-Verordnung) verlangt, dass ein Mitgliedstaat, der Ka-

pazitätsmechanismen anwenden will, über einen Zuverlässigkeitsstandard verfügt. In

der Schweiz gibt es seit dem Jahr 2022 einen solchen Kapazitätsmechanismus: die

sogenannte Stromreserve. Sie wurde für den Winter und den Frühling zur Absiche-

rung der Stromversorgung in ausserordentlichen Situationen wie zum Beispiel kriti-

sche Versorgungsengpässe oder -ausfälle geschaffen und soll auch in den kommenden

Jahren fortgeführt werden. Der Zuverlässigkeitsstandard ist ein europäisch vorgege-

benes Mass für die volkswirtschaftliche Effizienz im Stromsystem. Damit soll sicher-

gestellt werden, dass langfristig nur diejenigen Kapazitäten im Strommarkt vorgehal-

ten werden, deren Nutzung für die Verbraucher die dafür entstehenden Kosten

übersteigt. Demzufolge berechnet sich der Zuverlässigkeitsstandard aus einer Abwä-

gung zwischen den Investitionskosten für neue steuerbare Kapazitäten und der Zah-

lungsbereitschaft der Stromkunden für eine vollständige, unterbrechungsfreie Strom-

versorgung. Die Zahlungsbereitschaft der Stromkunden ist jedoch nicht unbegrenzt.

Würden die Kosten für neue Kapazitäten die Zahlungsbereitschaft übersteigen, wäre

es ökonomisch rational, auf einen (kleinen) Teil des Stromverbrauchs für einen kurzen

Zeitraum zu verzichten. Der Zuverlässigkeitsstandard beschreibt, wie lange dieser

Zeitraum ist. Gleichzeitig dient er als Grundlage für die Beurteilung der Angemessen-

heit der bestehenden Ressourcen der Stromversorgung (Verfügbarkeit von Energie-

trägern, Produktionsanlagen, Netzinfrastruktur etc.). Für die Bestimmung des Zuver-

lässigkeitsstandards muss die in Artikel 23 Absatz 6 Strombinnenmarkt-Verordnung

festgelegte Methode angewendet werden. Diese Berechnungsmethode wurde von

ENTSO-E ausgearbeitet und von ACER genehmigt (Art. 23 Abs. 6 Bst. c und Abs. 7

Strombinnenmarkt-Verordnung). Die Festlegung des Standards erfolgt in Form einer

Verordnung des Bundesrats, auf der Grundlage eines Vorschlags der ElCom.

Absatz 2:

Die Strombinnenmarkt-Verordnung verlangt, dass die Mitgliedstaaten die

Angemessenheit der Ressourcen in ihrem Hoheitsgebiet beobachten (Art. 20 Abs. 1).

Dabei wird untersucht, ob die Nachfrage nach Strom durch das vorhandene Angebot

an den europäischen Strommärkten ausreichend gedeckt werden kann. Die Strombin-

nenmarkt-Verordnung unterscheidet dabei zwischen einer Betrachtung auf europäi-

scher Ebene (vgl. Art. 23) und einer Betrachtung auf nationaler Ebene (vgl. Art. 24).

Auf europäischer Ebene erfolgt die Abschätzung Jahr für Jahr durch ENTSO-E. Die

Übertragungsnetzbetreiber sind dabei gehalten, ENTSO-E die erforderlichen Daten

zur Verfügung zu stellen. In Zukunft wird diesbezüglich auch die nationale Netzge-

sellschaft in der Pflicht stehen. Nach Artikel 20 Absatz 1 der Strombinnenmarkt-Ver-

ordnung steht es den EU-Mitgliedstaaten frei, ergänzend zur Betrachtung auf europä-

ischer Ebene auch eine Abschätzung auf nationaler Ebene durchzuführen. In dieser

651 / 931

können zusätzliche Sensitivitäten berücksichtigt werden. Namentlich, indem Annah-

men über die Besonderheiten von Stromangebot und Stromnachfrage auf nationaler

Ebene getroffen werden (Art. 24 Abs. 1 Strombinnenmarkt-Verordnung, vgl. hierzu

auch Art. 9 Ziff. 3 des Stromabkommens).

Mit der neuen Bestimmung

macht die Schweiz von der Möglichkeit zur ergänzenden

Ressourcenabschätzung auf nationaler Ebene Gebrauch. Diese Aufgabe wird der El-

Com zugewiesen, wobei die Prüfung in Absprache mit dem Bundesamt für Energie

(BFE) erfolgt. Insbesondere sind dem BFE alle relevanten Unterlagen vorzulegen,

und es ist ihm die Gelegenheit zu bieten, Stellung zu nehmen. Von Bedeutung sind

weiter die prozeduralen Vorgaben gemäss Artikel 24 Absätze 2 und 3 der Strombin-

nenmarkt-Verordnung. Darin ist vorgegeben, dass das Ergebnis der Ressourcenab-

schätzung zu veröffentlichen ist. Bestehen Bedenken zur Angemessenheit der Res-

source, die sich bei der Abschätzung auf europäischer Ebene so nicht ergeben haben,

muss die ElCom ihre Ressourcenabschätzung begründen, die Begründung veröffent-

lichen und ACER zur Stellungnahme vorlegen. Falls die ElCom deren Stellungnahme

sodann nicht vollumfänglich Rechnung trägt, muss sie dies in einem zu veröffentli-

chenden Bericht darlegen und im Detail begründen.

Absatz 3

: Bestehen Bedenken bezüglich der Angemessenheit der Ressourcen, sei es

zufolge der Abschätzung auf der europäischen oder jener auf der nationalen Ebene,

so gilt es gemäss Artikel 20 Absätze 2 und 3 der Strombinnenmarkt-Verordnung alle

regulatorischen Verzerrungen oder Fälle von Marktversagen zu ermitteln, die diese

Bedenken verursachen oder begünstigen. Gestützt darauf ist ein sog. Umsetzungsplan

zu entwickeln und zu veröffentlichen. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um ei-

nen Zeitplan für die Verabschiedung geeigneter Massnahmen zur Beseitigung der re-

gulatorischen Defizite oder des festgestellten Marktversagens. Das EU-Recht enthält

einen Katalog möglicher Massnahmen (z.B. Erhöhung der Verbundkapazität, Steige-

rung der Energieeffizienz, Abschaffung regulierter Preise). Für die Zwecke der

Schweiz obliegt die Entwicklung des Umsetzungsplans dem BFE.

Vor seiner Veröffentlichung ist der Umsetzungsplan der Europäischen Kommission

zur Stellungnahme vorzulegen (Art. 20 Abs. 4 Strombinnenmarkt-Verordnung). In ih-

rer nicht bindenden Stellungnahme eruiert die Europäische Kommission, ob die im

Umsetzungsplanenthaltenen Massnahmen ausreichen, um die regulatorischen Verzer-

rungen oder das Marktversagen zu beseitigen. Dabei kann sie die Schweiz auffordern,

Anpassungen vorzunehmen, diese aber nicht verbindlich einfordern (Art. 20 Abs. 5

Strombinnenmarkt-Verordnung). Für die Umsetzung des Umsetzungsplans hat der

Bundesrat zu sorgen. Je nach Art der zu ergreifenden Massnahme setzen diese Ver-

ordnungs- oder Gesetzesänderungen voraus.

Art. 8b

Bildung, Dimensionierung und Auflösung der Energiereserve

Bestehen auch mit den Massnahmen des Umsetzungsplans Bedenken bezüglich der

Angemessenheit der Ressourcen, kann eine Energiereserve gebildet werden. Mit die-

ser Umformulierung in

Absatz 1

wird der bisherige Gesetzeswortlaut auf die Vorga-

ben des EU-Rechts abgestimmt. Nach diesen darf eine Energiereserve, wie sie heute

im StromVG vorgesehen ist, nicht einfach nur zur Absicherung gegen ausserordentli-

652 / 931

che Situationen gebildet werden. Vielmehr kommt die Bildung einer solchen soge-

nannten «strategischen Reserve» erst dann in Betracht, wenn zufolge der Abschätzung

der Ressourcen, sei es auf der europäischen oder auf der nationalen Ebene (Art. 23

und 24 Strombinnenmarkt-Verordnung), begründete Bedenken bestehen und ein Um-

setzungsplan mit geeigneten Massnahmen entwickelt wurde (vgl. Art. 20 Abs. 1 und

2 sowie Art. 21 Abs. 4 Strombinnenmarkt-Verordnung). Bei der sogenannten "strate-

gische Reserve" handelt es sich um einen Kapazitätsmechanismus im Sinn von Artikel

21 Absatz 1 der Strombinnenmarkt-Verordnung. Der Begriff bezeichnet das Vorhal-

ten von Kraftwerken, die nur in Notsituationen mit sehr knappem Stromangebot und

somit sehr hohen Strompreisen zum Einsatz kommen. Eine solche Reserve kann die

Versorgungssicherheit für die Verbraucher erhöhen. Mit der strategischen Reserve

kann in einer Notsituation eine vom Markt nicht gedeckte Stromnachfrage weiter be-

dient werden. Damit kann eine Abschaltung von Strom für Haushalte oder industriel-

len Stromkunden vermieden werden. Artikel 21 Absatz 1 der Strombinnenmarkt-Ver-

ordnung stellt diesbezüglich klar, dass Kapazitätsmechanismen und strategische

Reserven bereits während der Umsetzung des Umsetzungsplans gebildet werden dür-

fen. Der Entscheid zur Bildung der Reserven liegt aber bei der Schweiz und nicht bei

der EU. Weiter ist zu beachten, dass nach Artikel 21 Absatz 3 Strombinnenmarkt-

Verordnung strategische Reserven einer anderen Art von Kapazitätsmechanismus

vorzuziehen sind. Die Energiereserve gemäss Artikel 8

b

ist denn auch als strategische

Reserve konzipiert: Sie wird ausschliesslich für Notsituationen bereitgehalten. Daraus

folgt, dass die Kraftwerke der strategischen Reserve ihren Strom nicht am regulären

Strommarkt anbieten dürfen. Die aus der Teilnahme an der Reserve resultierenden

Gewinnausfälle werden durch eine gesonderte Vergütung kompensiert. Die anfallen-

den Kosten für diese Massnahme zur Sicherung der Stromversorgung werden auf die

Endkunden überwälzt.

Absätze 2 und 3

: Das Stromabkommen lässt offen, welche Instanz innerstaatlich über

die Bildung und Dimensionierung einer strategischen Reserve entscheidet, wenn die

Voraussetzungen für die Bildung einer solchen erfüllt sind.

Absatz 3

stellt den Ent-

scheid darüber in die Kompetenz des UVEK. Bisher lag die Entscheidkompetenz bei

der ElCom. Dies erscheint nun mit dem Stromabkommen nicht mehr sachgerecht, da

dem Entscheid zur Bildung und Dimensionierung der Reserve auch eine politische

Beurteilung erfordert. Vor diesem Hintergrund ist eine Verschiebung der Entscheid-

kompetenz zum UVEK angezeigt. Eine Zuweisung an das UVEK (und nicht an den

Bundesrat) als das fachlich zuständige Departement ist zudem stufengerecht, zumal

es sich beim Entscheid um einen Akt der Rechtsanwendung handelt. Grundlage bzw.

Ausgangspunkt für seinen Entscheid ist der Vorschlag der ElCom. Somit kann das

UVEK den Vorschlag der ElCom genehmigen oder aber die Reserve in geänderter

Form beschliessen (beide diese Möglichkeiten sind vom Abkommen gedeckt, das in

dieser Frage im gemeinsamen Verständnis mit der EU weit zu verstehen ist). Das

UVEK berücksichtigt bei seinem Entscheid die relevanten Stellungnahmen, darunter

insbesondere diejenige der Überwachungsbehörde für staatliche Beihilfen. Was die

Dimensionierung anbelangt, ist der Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu beachten.

Diesbezüglich stellt Artikel 22 Absatz 1 Buchstabe c der Strombinnenmarkt-Verord-

nung klar, dass die Reserve nicht über das hinausgehen darf, was zum Angehen der

Bedenken bezüglich der Angemessenheit der Ressourcen erforderlich ist.

653 / 931

Absatz 4:

Analog zum bisherigen Recht (Art. 8

b

Abs. 3 StromVG) wird die ElCom

die übrigen Eckwerte der Reserve festlegen. Dabei hat sie unter anderem an die Ge-

staltungsgrundsätze für strategische Reserven gemäss Artikel 22 Absatz 2 der Strom-

binnenmarkt-Verordnung zu beachten.

Absatz 5

dient der Umsetzung der Vorgaben des EU-Rechts, die von den Mitglied-

staaten verlangen, dass sie die Notwendigkeit von Kapazitätsmechanismen regelmäs-

sig überprüfen und keine neuen Verträge mehr abschliessen, wenn die Notwendigkeit

nicht mehr gegeben ist (vgl. Art. 21 Abs. 6 und 8 Strombinnenmarkt-Verordnung).

Die Einzelheiten hierzu können, falls notwendig, auf Verordnungsstufe geregelt wer-

den (Art. 8

b

quater

Abs. 4).

Absatz 6

: Die Möglichkeit zur Auflösung ist schon im bisherigen Schweizer Recht

vorgesehen. Das UVEK kann analog zur Entscheidkompetenz bei der Reservebildung

auch über die vorzeitige Auflösung der Reserve entscheiden und dazu Anordnungen

treffen. Aus dem Stromabkommen ergibt sich keine Pflicht, die Reserve als solche

aufzulösen, sondern nur Konformität mit dem Abkommen herzustellen.

Art. 8b

bis

Teilnehmer der Stromreserve

Diese Bestimmung übernimmt den Inhalt des bisherigen Artikels 8

b

Absatz 2 und

wurde neu strukturiert, um die formale Kohärenz der Bestimmungen über die Reserve

zu gewährleisten. Die geringfügige redaktionelle Anpassung hat keine Änderung der

Pflichten der Teilnehmer an der Stromreserve zur Folge.

Art 8

ter

Operative Abwicklung der Energiereserve

Diese Bestimmung übernimmt den Inhalt des bisherigen Artikels 8

b

Absatz 4, der neu

in drei Absätze gegliedert wird. In

Absatz 1

wurde zur besseren Verständlichkeit ein

neuer Verweis eingefügt.

Absatz 2

: Aufgrund der Neustrukturierung des Artikels

wurde der Verweis angepasst.

Art. 8b

quater

Abruf der Energiereserve

Absatz 1

: Die Voraussetzungen zum Abruf der Energiereserve werden an die Vorga-

ben des EU-Rechts angepasst.

Buchstabe a

lässt den Abruf der strategischen Reserve

zu, wenn die Stromnachfrage nicht durch das Angebot gedeckt werden kann.

Buch-

stabe b

hält explizit fest, dass die nationale Netzgesellschaft auf die strategische Re-

serve zurückgreifen kann, wenn die Regelenergie nicht ausreicht, um das Stromnetz

stabil zu halten. Neu ist ausserdem, dass die nationale Netzgesellschaft das UVEK

über einen Abruf der Reserve zu orientieren hat.

Bei

Absatz 3

wird das Verbot gestrichen, die aus der Reserve abgerufene Energie ins

Ausland zu verkaufen. Dieses Verbot ist nicht mit dem EU-Recht vereinbar.

Absatz 4

hält fest, dass dem Bundesrat die Kompetenz zum Erlass von Verordnungs-

bestimmungen zukommt. Diese Bestimmung wird aus dem geltenden Recht übernom-

men. Einzig die bisher in

Buchstaben f

vorgesehene Möglichkeit zum ausnahmswei-

sen Abruf der Energiereserve auch ohne fehlende Markträumung wird aufgehoben,

654 / 931

da sie nicht sind mit dem EU-Recht zu vereinbaren ist (vgl. insb. Art. 22 Abs. 1 Bst.

b

und Abs. 2 Bst.

a

und

e

Strombinnenmarkt-Verordnung).

Art. 8c Abs. 2 erster Satz

Diese Änderung ist rein redaktioneller Natur.

Art. 9d

Bisher waren lediglich die nationale Netzgesellschaft sowie die Netzbetreiber, die

Netze mit einer Nennspannung von über 36 kV betreiben (Netzebene 3), verpflichtet,

einen solchen Mehrjahresplan zu erstellen. Mit dem Stromabkommen müssen auf-

grund der Artikel 32 Absätze 3–5 sowie 51 der Richtlinie (EU) 2019/944 auf Geset-

zesstufe neue Pflichten umgesetzt werden.

Abs. 1: Die Mehrjahrespläne müssen auf der Grundlage des geltenden Szenariorah-

mens erstellt werden. Die Pflichten in Bezug auf die Mehrjahrespläne gelten nicht

mehr nur für die nationale Netzgesellschaft (Netzebene 1) und die Netzbetreiber, die

Netze mit einer Nennspannung von über 36 kV betreiben (Netzebene 3), sondern wer-

den auf alle Netzbetreiber ausgeweitet, die mehr als 100 000 Endkunden versorgen.

Diese Regelung, die in Artikel 32 Absatz 5 der Richtlinie (EU) 2019/944 vorgesehen

ist, wurde direkt ins Gesetz aufgenommen.

Abs. 2: Die nationale Netzgesellschaft erstellt nach Artikel 51 Absatz 2 Buchstabe a

der Richtlinie (EU) 2019/944 einen Mehrjahresplan für die kommenden zehn Jahre.

Abs. 3: Die Delegationsnorm zur Ermächtigung des Bundesrates in Absatz 3 wird

überarbeitet. In seiner Verordnung wird der Bundesrat die Artikel 32 und 51 der

Richtlinie (EU) 2019/944 konkretisieren.

Abs. 4: Der bisherige Absatz 4 wird aufgehoben, da Artikel 51 Absatz 1 der Richtlinie

(EU) 2019/944 die Veröffentlichung von Mehrjahresplänen bereits regelt.

Art. 10

Entflechtung

Bisher beschränkten sich die Entflechtungsvorgaben im Wesentlichen auf ein Gebot

zur buchhalterischen und informatorischen Entflechtung. Mit dem Stromabkommen

sind die zusätzliche Entflechtungsvorgaben nach Artikel 35 der Strombinnenmarkt-

Richtlinie auf Gesetzesebene umzusetzen. Ziel dabei ist, wie bisher, die diskriminie-

rungsfreie Organisation und Abwicklung des Netzbetriebs, um allen Netzzugangsbe-

rechtigten unter gleichen Bedingungen die Nutzung des Netzes zu gewähren. Ebenso

sollen missbräuchliche Querfinanzierungen durch diese weitergehenden Massnahmen

besser eingedämmt werden.

Absatz 1

wird entsprechend dem Absatz 1 von Artikel 35 des Strombinnenmarkt-

Richtline ergänzt. Namentlich wird klargestellt, welche übrigen Tätigkeitsbereiche

vom Netzbetrieb zu trennen sind. Aus systematischen Gründen wird das Verbot der

Querfinanzierung neu in der Auflistung in

Absatz 2

integriert. Der vormalige

Absatz

655 / 931

3

wird neu zusammen mit dem vorgenannten Verbot der Querfinanzierung in

Buch-

stabe a

geregelt. In

Buchstabe b

werden andere leitungsgebundene Infrastrukturen,

die keine Elektrizitätsnetze sind, explizit von den strengen Entflechtungsvorgaben

ausgenommen. Damit sind andere Energienetze gemeint, wie bspw. Gas- oder Fern-

wärmenetz. Diese Bereiche haben zwar nicht mit der Elektrizitätserzeugung, -über-

tragung und -versorgung im engeren Sinn zu tun, gleichwohl müssen sie aus Trans-

parenzgründen vom Netzbereich getrennt werden, weshalb mindesten eine

buchhalterische Trennung gefordert wird. Der vormalige

Absatz 2

wird neu in

Buch-

stabe b

abgebildet.

In

Absatz 3

werden die konkreten Vorgaben von Artikel 35 Strombinnenmarkt-Richt-

line umgesetzt. Zusätzlich zu den allgemeinen Vorgaben nach

Absatz 2

müssen nach

Buchstabe a

Verteilnetzbetriebe in einem EVU ab Erreichung von insgesamt 100 000

angeschlossenen Endverbraucherinnen und Endverbraucher, organisatorisch, perso-

nell und rechtlich von den Bereichen, die mit der Elektrizitätserzeugung und -versor-

gung zu tun haben, entflochten sein.

Massgebend für die Ermittlung der angeschlos-

senen

Endverbrauchermenge,

ist

die

gesamte

Anzahl

angeschlossener

Endverbraucherinnen und Endverbraucher des gesamten EVU, in welchem der VNB

eingegliedert ist, oder des Konzerns, dessen Teil der VNB ist.

Zur organisatorischen Entflechtung gehört, dass die Leitung des Netzbetreibers nicht

an den anderen Teilbereichen des EVU beteiligt sein darf. Umgekehrt dürfen die an-

deren Teilbereiche nicht am Tagesgeschäft der Netzgesellschaft beteiligt sein.

Zur personellen Entflechtung gehört, dass strategische Leistungen, wie Rechtsdienst-

leistungen, Regulierungs- und Kontrollfunktionen vom VNB eigenständig erbracht

werden müssen. Angehörige der Geschäftsleitung des VNB dürfen nicht der Ge-

schäftsleitung oder sonstigen betrieblichen Einrichtungen einer für die anderen Tätig-

keitsbereiche zuständigen Einheit angehören, unabhängig davon, wo sie sich befinden

(Holding oder verbundenes Unternehmen).

Rechtliche Entflechtung bedeutet konkret, dass der Verteilnetzbetrieb funktional und

materiell von den anderen Tätigkeitsbereichen getrennt sein muss. Die Rechtsform

des VNB kann grundsätzlich frei gewählt werden, sofern diese Rechtsform ein aus-

reichendes Mass an Unabhängigkeit der Unternehmensführung des VNB von anderen

Teilen des EVU gewährleistet, um die Anforderungen der funktionalen Entflechtung

zu erfüllen.

Weiter müssen die VNB nach

Buchstabe b

in ihrer Entscheidungsgewalt vom allfäl-

ligen Mutterkonzern oder von den Eignern des EVU unabhängig sein. Dies bedeutet,

dass der VNB über Vermögenswerte, die für den Betrieb, die Wartung, oder den Aus-

bau des Netzes erforderlich sind, die tatsächlichen Entscheidungsbefugnisse haben

muss. Jedoch heisst das nicht, dass die jeweiligen Eigner das Eigentum an den VNB

abgeben müssen, oder dass diese allfälligen Aufsichtsfunktionen nicht mehr nach-

kommen können. Es soll insbesondere weiterhin möglich sein, dass ein Mutterkon-

zern allgemeine Budget- oder Verschuldungsvorgaben machen kann.

Die Entflechtung von VNB mit mehr als 100'000 Kundinnen und Kunden, die entwe-

der als öffentlich-rechtliche Anstalten (Industrielle Werke Basel [IWB]; Service in-

dustriels de Genève [SIG]; Elektrizitätswerk des Kanton Zürich [EKZ]) oder Verwal-

tungseinheiten (Elektrizitätswerk der Stadt Zürich [ewz]; Services industriels de

656 / 931

Lausanne [SiL]) organisiert sind, stellt einen Spezialfall dar und dürfte sich insbeson-

dere aufgrund der dafür notwendigen politischen Prozesse aufwendiger gestalten.

Deshalb wurde im Abkommen für diese Fälle eine Übergangsfrist von drei Jahren

ausgehandelt. Solche Unternehmen führen ebenfalls in der Regel neben dem Netzbe-

trieb weitere Tätigkeitsbereiche, zumeist sowohl im Elektrizitätsbereich als auch in

anderen Infrastrukturbereichen (Wasserversorgung, Fernwärme, Telekommunika-

tion), was zu einer zusätzlichen Komplexität des Entflechtungsverfahren beitragen

kann.

Eine öffentlich-rechtliche Anstalt wird mittels Spezialgesetz errichtet. Dieses hält fest,

welche Aufgaben die Anstalt erfüllen muss, wie sie organisiert ist und welche Ver-

mögenswerte ihr zugewiesen werden. Im Unterschied zur privatrechtlich organisier-

ten Gesellschaft können daher öffentlich-rechtliche Anstalten nicht nach Belieben

umorganisiert werden oder sogar Bereiche auslagern, sofern dies nicht im entspre-

chenden Spezialgesetz vorgesehen ist. Somit können kantonale oder kommunale Ge-

setzesanpassungen notwendig sein. Selbstverständlich kann für den abgespaltenen

Bereich auch eine privatrechtliche Gesellschaft geschaffen werden.

Bei einem als Verwaltungseinheit organisierten VNB kommt als wirksame rechtliche

Entflechtung ebenfalls eine Auslagerung des Netzbereichs aus der Verwaltung durch

Gründung einer privatrechtlichen Gesellschaft oder Schaffung einer öffentlich-recht-

lichen Anstalt infrage. Nicht ganz auszuschliessen ist u.U. die Verschiebung in eine

andere Einheit innerhalb der kommunalen Verwaltung, solange die Entflechtung kon-

sequent umgesetzt ist.

In

Absatz 4

wird der Bundesrat beauftragt eine detaillierte Regelung der strengen Ent-

flechtungsvorgaben nach

Absatz 3

auf Verordnungsstufe vorzunehmen. Namentlich

geht es um die Umsetzung von Artikel 35 Absatz 2 Strombinnenmarkt-Richtlinie, wo-

bei der Bundesrat ebenso die in Artikel 35 Absatz 4 vorgesehene Kompetenz erhält,

Ausnahmen davon vorzusehen.

In

Absatz 5

wird das grundsätzliche Verbot für VNB statuiert, Speicher und Ladesta-

tionen für Elektromobilität zu halten und zu betreiben, wie dies in Artikel 33 und 36

der Strombinnenmarkt-Richtlinie vorgesehen ist, wobei der Bundesrat dazu in An-

wendung von Artikel 33 Absatz 3 (Ladestationen) und Artikel 36 Absatz 2 (Speicher)

der Strombinnenmarkt-Richtlinie Ausnahmen vorsehen kann.

Art. 12 Abs. 1 Bst. b, 2 und 3

Artikel 12

muss im Zuge der Entflechtung bzw. aus terminologischen Gründen (siehe

dazu die Erläuterungen zu Art. 6) neu gefasst werden. So kann die Pflicht zur Veröf-

fentlichung der Energietarife nicht mehr an die Netzbetreiber gerichtet sein, weshalb

sie in Artikel 12 gestrichen wird. Für die Grundversorgung sind es die Grundversor-

ger, die die Elektrizitätstarife publizieren (Art. 7 Abs. 3). Was die Tarife der Ersatz-

versorgung anbelangt, die nicht zwingend für die Dauer des Kalenderjahres festgelegt

werden müssen, sind fortlaufend die jeweils aktuellsten Tarife zu veröffentlichen. Der

Bundesrat kann die Ersatzversorger gestützt auf Artikel 7

c

Absatz 2 zu einer Veröf-

fentlichung verpflichten.

657 / 931

Absatz 2

macht wie bis anhin Vorgaben zur Rechnung. Gegenüber heute sind weniger,

d.h. nur noch die wichtigsten Posten genannt: (a) Netznutzungsentgelt und b) Abga-

ben und Leistungen an Gemeinwesen). Der Bundesrat kann indes das Ausweisen wei-

terer Posten vorsehen (

Bst. c

). Dabei beachtet er insbesondere das Bedürfnis nach

Transparenz, aber auch auf das Anliegen Übersichtlichkeit und Aufwand für die Netz-

betreiber.

Was die Rechnungsstellung anbelangt, ist ausserdem auf zweierlei hinzuweisen: Ers-

tens ist in der Grundversorgung eine gemeinsame Rechnung vorgegeben (Energie und

Netz; vgl. Art. 7 Abs. 4). Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die Anforderungen an

die Darstellung auf Verordnungsebene nach Massgabe der entsprechenden Anforde-

rungen des EU-Rechts noch weiter zu konkretisieren sind (Abs. 3). Dabei geht es bei-

spielsweise um Dinge, wie elektronisch zugestellte Rechnungen oder das Spektrum

an Zahlungsmodalitäten (vgl. u.a. Art. 10 und 18 der Strombinnenmarkt-Richtlinie).

Ausserdem müssen den Endverbraucherinnen und Endverbrauchern zusammen mit

der Rechnung gewisse Informationen zukommen wie Hinweise auf Streitbeilegungs-

verfahren und Preisvergleichsinstrumente (vgl. Anhang 1 Strombinnenmarkt-Richtli-

nie sowie die nachfolgenden Art. 23

a

und 23

b

StromVG).

Der Regelungsgehalt des bisherigen

Absatz 3

ist neu in Artikel 4

d

Absatz 2 enthalten.

Die neue Bestimmung hat indes einen breiteren Adressatenkreis und gilt nicht mehr

nur für die Netzbetreiber.

Art. 13 Abs. 2 Bst. c

Mit dem Stromabkommen ist der aktuell in

Buchstabe c

enthaltene Vorbehalt, wonach

der Netzzugang verweigert werden kann, wenn vom ausländischen Staat bei grenz-

überschreitender Netznutzung kein Gegenrecht gewährt wird, nicht mehr angezeigt.

Die grenzüberschreitende Netznutzung ist einer der zentralen Gegenstände des Ab-

kommens.

Art. 14

bis

Abs. 6

Die Änderung ist rein redaktioneller Natur. Sie rührt daher, dass die Abkürzung

«UVEK» nunmehr bereits in Artikel 8

b

Absatz 3 eingeführt wird.

Art. 16 Abs. 1 zweiter Satz, Abs. 2 und 3

Mit dem Stromabkommen wird Artikel 49 der Verordnung (EU) 2019/943

564

in der

Schweiz anwendbar. Um Widersprüche zwischen dem EU-Recht und dem Schweizer

Recht auszuschliessen, wird Artikel 16 Absätze 1 zweiter Satz, 2 und 3 StromVG auf-

gehoben. Die bereits existierenden Ausgleichsmechanismen zwischen den europäi-

schen Netzbetreibern werden mit der vorliegenden Änderung beibehalten. Sie müssen

564

Verordnung (EU) 2019/943 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019

über den Elektrizitätsbinnenmarkt (Neufassung), Fassung gemäss ABl. L 158 vom

14.6.2019, S. 54.

658 / 931

nur geringfügig an die aktuelle Praxis angepasst werden. Nähere Ausführungen dazu

finden sich in Ziffer 2.11.7.2.3.

Art. 17 Abs. 1, 2 und 5

Absatz 1:

Bisher konnte die ElCom das Verfahren betreffend die Zuteilung der Ver-

fügbaren Kapazitäten im Falle einer Überschreitung der Nachfrage nach grenzüber-

schreitender Übertragungskapazitäten regeln. Mit Inkrafttreten des Stromabkommens

wird Artikel 19 der Verordnung (EU) 2019/943 in der Schweiz anwendbar. Ange-

sichts des Detaillierungsgrades dieser Bestimmung ist eine abweichende Regelung

nicht möglich. Deshalb wird die entsprechend Kompetenz der ElCom ersatzlos gestri-

chen.

Absatz 2

: Die bisherigen physischen Vorränge der Zuteilung von Kapazitäten im

grenzüberschreitenden Übertragungsnetz aufgrund von internationalen Bezugs- und

Lieferverträgen, die vor dem 31. Oktober 2002 abgeschlossen wurden, standen im

Konflikt mit dem EU-Recht. Diese Vorränge fallen gemäss dem Stromabkommen mit

seinem Inkrafttreten weg und werden für maximal sieben Jahre durch eine finanzielle

Kompensation ersetzt. Die dazu anwendbaren Regeln ergeben sich abschliessend aus

dem Abkommen und im StromVG erfolgt somit nur die nötige Streichung. Weiterhin

bestehen bleiben vorderhand die Vorränge betreffend Lieferungen aus Grenzwasser-

kraftwerken mit einer Kapazitätsreservierung von maximal 65 MW. Nach 15 Jahren

oder bei einem früheren Konzessionsende entfallen diese Vorränge ebenfalls. Soweit

die Vorränge in Staatsverträgen, z.B. mit Frankreich, verankert sind, werden diese

anzupassen sein.

Abs. 5

: Mit dem Stromabkommen wird Artikel 19 der Verordnung (EU) 2019/943

565

in der Schweiz anwendbar. Dieser regelt, wie die Erlöse aus dem Engpassmanagement

zu verwenden sind. Sein Absatz 5 sieht diesbezüglich vor, dass die Übertragungsnetz-

betreiber die geplante Verwendung im Voraus genau festlegen und den Regulierungs-

behörden über die tatsächliche Verwendung der Erlöse Bericht erstatten müssen. Ent-

sprechend wird Artikel 17 Absatz 5 StromVG aufgehoben. Das hat zur Folge, dass

die grenzüberschreitenden Übertragungskapazitäten versteigert werden und die Ein-

nahmen daraus für die Zwecke nach Artikel 19 der Verordnung (EU) 2019/943 ver-

wendet werden können. Nähere Ausführungen dazu finden sich in Ziffer 2.11.7.2.3

dieser Botschaft.

Art. 17c

bis

Die neue Bestimmung in Artikel 17

c

bis

dient der Umsetzung von Artikel 13 der

Strombinnenmarkt-Richtlinie.

Absatz 1

hält deklaratorisch fest, was im Rahmen der Vertragsfreiheit bereits jetzt gilt.

Die einzige Voraussetzung zum Abschluss eines Aggregierungsvertrags ist das Vor-

liegen eines intelligenten Messsystems (Art. 17

a

bis

). Will die Endverbraucherin oder

565

Verordnung (EU) 2019/943 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019

über den Elektrizitätsbinnenmarkt (Neufassung), Fassung gemäss ABl. L 158 vom

14.6.2019, S. 54

.

659 / 931

der Endverbraucher, bzw. der Erzeuger im Rahmen der Aggregierung auch Flexibili-

tätsdienstleistungen erbringen, wird aus operativen Gründen auch ein intelligentes

Steuer- und Regelsystem (Art. 17

b

) erforderlich sein.

Absatz 2

schützt die sog. unabhängigen Aggregatoren, so wie dies in Artikel 13 Ab-

sätze 2 und 4 der Strombinnenmarkt-Richtlinie verlangt ist, vor einer diskriminieren-

den Praxis seitens des bestehenden Lieferanten. Insbesondere bedarf der Aggregie-

rungsvertrag keiner Zustimmung des Lieferanten. Die Bestimmung ist sowohl an die

Lieferanten des freien Markts als auch an die Grundversorger adressiert.

Absatz 3

verdeutlicht, was bereits aufgrund der Datenschutzgesetzgebung gilt: Die

Endverbraucher und Erzeuger haben gegenüber ihrem Aggregator Anspruch auf Her-

ausgabe der sie betreffenden Daten. Im Verhältnis zum Netzbetreiber lassen sich sol-

che Ansprüche auf Artikel 17

a

bis

Absätze 4 Buchstabe a, 5 und 6 stützen.

Absatz 3

dient der Umsetzung von Artikel 13 Absatz 3 der Strombinnenmarkt-Richtlinie. Da-

bei kann auch die zentrale Datenplattform (Art. 17

g

) ihre Funktionen entfalten.

Absatz 4

: Im EU-Recht gestalten sich die Vorgaben zum Wechsel der Lieferanten und

zum Wechsel der Aggregatoren analog zueinander; sie sind in derselben Bestimmung

enthalten (vgl. Art. 12 der Strombinnenmarkt-Richtlinie). Dementsprechend gelangt

Artikel 4

e

sinngemäss auch auf den Wechsel des Aggregators zur Anwendung und es

kann an dieser Stelle auf die dortigen verwiesen werden.

Art. 17e Abs. 2

Die Anpassung in Absatz 2 von Artikel 17

e

, der per 1. Januar 2026 in Kraft treten

wird (AS

2024

679), ist im Wesentlichen terminologischer Natur: Aufgrund der

Strommarktöffnung für alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher gibt es keine

«festen Endverbraucher» mehr.

Art. 18 Abs. 3

bis

, 4

bis

, 6

bis

, 7 und 8

Das EU-Recht kennt drei entflechtungsrechtlich motivierte Modelle zur Ausgestal-

tung des Übertragungsnetzbetreibers (sog. «TSO-Modelle»; vgl. Art. 43 ff. der Strom-

binnenmarkt-Richtlinie). Das Hauptmodell ist die «Eigentumsrechtliche Entflech-

tung, OU-Modell» und für die Schweiz weiter relevant ist das Modell des

«Unabhängigen Übertragungsnetzbetreibers, ITO-Modell». Swissgrid muss auf eines

dieser Modelle abgestimmt und dann als solches von der ElCom zertifiziert werden.

Die Schweiz muss in der Umsetzungsgesetzgebung die Grundlagen nun so legen, dass

Swissgrid in eines der Modelle passt. Dabei sind gleichzeitig die heutige StromVG-

Governance von Swissgrid und ihre Geschichte zu beachten. Das «OU-Modell» ist in

der EU ziemlich verbreitet, erfordert aber eine eigentumsrechtliche Trennung, wenn

vertikal integrierte EVUs die Kontrolle haben. Die Schweiz hat beim Erlass des

StromVG Regeln zu Swissgrid eingeführt, wonach sich diese mehrheitlich im Eigen-

tum der Kantone und Gemeinden befinden muss (schweizerische Beherrschung), liess

aber zu, dass diese Beteiligung bloss indirekt ist, so dass es von Anfang an tatsächlich

die kantonalen und kommunalen EVUs waren bzw. sind, die die Swissgrid-Aktien

halten. Eine direkte Beteiligung lehnten die Kantone als zu kapitalintensiv ab. Eine

direkte öffentliche Beteiligung wäre auch heute kapitalintensiv, so dass davon auszu-

gehen ist, dass die einstige ablehnende Haltung fortbesteht. Somit rückt das «ITO-

660 / 931

Modell» in den Vordergrund, dem Swissgrid heute nach verbreiteter Meinung in der

Schweiz, die in den Verhandlungen explizit auch von der Europäischen Kommission

geteilt wurde, mit Abstand am nächsten ist.

Änderungen an der heutigen StromVG-Governance sind jedoch auch beim ITO-

Modell nötig, auch sie sind beträchtlich, aber deutlich weniger einschneidend als z.B.

beim OU-Modell. Kern des ITO-Modells ist, dass der Übertragungsnetzbetreiber kon-

sequent vom

einen

beherrschenden EVU separiert wird, um unabhängig zu sein. Bei

Swissgrid muss dies – analog – bezogen auf

die mehreren

an ihr beteiligten EVUs

geschehen. Teilweise ist die Separierung schon heute ohne weiteres gegeben (Swiss-

grid funktioniert als eigenständiges Unternehmen mit entsprechender Ausstattung),

bei vielen Aspekten muss aber nachgeschärft werden, so z.B. beim Nutzen gemeinsa-

mer Dienste oder in personeller Hinsicht, indem Doppelmandate und gegenseitige Be-

teiligungen gezielt untersagt werden. Trotzdem soll es einem EVU aber erlaubt sein,

jemanden in den Verwaltungsrat von Swissgrid zu entsenden (

Abs. 7

), um dort die

Interessen des EVUs einzubringen. Die Funktion dieser Person ist aber auf diese Ver-

tretung beschränkt; im Übrigen darf sie, damit das Doppelmandatsverbot eingehalten

ist, nicht für das entsendende EVU tätig sein. Zudem muss Swissgrid Karenzfristen

einführen, d.h. Wartezeiten während derer jemand, der bei einem beteiligten EVU

beschäftigt war, nicht bei Swissgrid arbeiten darf und nach dem Weggang von Swiss-

grid nicht bei einem beteiligten EVU. Schliesslich muss ein Organ die Funktion des

nach EU-Recht vorgeschriebenen Aufsichtsorgans wahrnehmen, wofür der Verwal-

tungsrat, auch wenn nicht vollkommen passend, am besten geeignet ist. Dieses hat

bestimmte Aufgaben, so die Wahrung übergeordneter finanzieller Interessen der be-

teiligten EVUs und bestimmte Personalentscheide usw., darf hingegen nicht das ope-

rative Geschäft leiten und die Netzplanung ausführen. Die Vorgaben machen in der

Summe bei Swissgrid wahrscheinlich eine interne Neuverteilung von Aufgaben nötig.

Eventuell kann es hilfreich sein, statutarisch ein weiteres Organ zu schaffen, dem ge-

wisse Aufgaben übertragen werden (Art. 19 Abs. 1 Bst. b).

Das EU-Recht lässt im ITO-Modell zwar genau zu, dass ein EVU dominiert bzw. den

TSO beherrscht. Trotzdem erscheint es aus einer Schweizer Innensicht für Swissgrid

sinnvoll, hier Schranken zu setzen und eine Mehrheitsbeteiligung (präventiv) zu un-

tersagen (Abs. 3

bis

). Heute enthält Artikel 18 zahlreiche Vorgaben zum Statuteninhalt

(z.B. zum Vorkaufsrecht), obschon dies Thema von Artikel 19 ist. Diese Aspekte wer-

den mit der Revision (ohne inhaltliche Änderung) dorthin verschoben.

Art. 19 Abs. 1 und 1

bis

Artikel 19 zählt neu mehrere Statuteninhalte auf, neben den Inhalten, die sich aus dem

Aktienrecht nach Obligationenrecht ergeben (Einleitungssatz), teilweise solche, die

unverändert von Artikel 18 hierher verschoben werden. Teilweise stehen die Inhalte

im Zusammenhang mit dem TSO-Modell (ITO) des EU-Rechts aus dem Stromab-

kommen. Somit steht bei Swissgrid eine gewichtige Statutenänderung an. Der Bun-

desrat wird diese genehmigen müssen und wird bei dieser Gelegenheit darauf achten,

ob die Statuten insgesamt, auch in nicht neuen Punkten, rechtskonform sind. Während

die Genehmigung durch den Bundesrat im StromVG wurzelt, ist die Swissgrid-Zerti-

fizierung, die die ElCom machen muss, EU-rechtlich motiviert. Allenfalls kann eine

inhaltliche und zeitliche Abstimmung der beiden Prozesse sinnvoll sein.

661 / 931

Art. 22 Abs. 2 Bst. b

bis ,

c und d

bis

, Abs. 3, Abs. 4

bis

In

Absatz 2 Buchstabe b

bis

erhält die ElCom die Kompetenz, bei missbräuchlichen Be-

dingungen in der Ersatzversorgung einzuschreiten. In Anbetracht des Ausnahmecha-

rakters der Ersatzversorgung und des Fehlens von Tarifvorgaben hat sie jedoch keine

flächendeckende Prüfung vorzunehmen, sondern nur dann einzuschreiten, wenn es

Anzeichen für tatsächlich missbräuchliche Bedingungen gibt (sei es auf Anzeige hin

oder von Amtes wegen). Als Richtschnur können hierzu bspw. die Grundversorgungs-

tarife und die aktuellen Grosshandelsmarktpreise herangezogen werden.

Absatz 2 Buchstabe c:

Artikel 17 Absatz 5 wird mit der vorliegenden Änderung auf-

gehoben, sodass der Verweis in Artikel 22 Absatz 2 Buchstabe c ins Leere läuft. Neu

muss auf Artikel 19 Absatz 5 erster Satz der Verordnung (EU) 2019/943

566

verwiesen

werden. Diese rein formelle Änderung hat keinerlei Auswirkungen auf die Zuständig-

keiten der ElCom.

Bst. d

bis

: Mit dieser Ergänzung erhält die ElCom die nach dem EU-Recht nötigen Be-

fugnisse im Zusammenhang mit dem TSO-Modell, ausgedrückt mit dem Begriffspaar

«Organisation und Unabhängigkeit», dem Swissgrid entsprechen muss. Zentral ist die

Zertifizierung der Swissgrid als ITO. Die sich aus dem EU-Recht ergebenden Einzel-

heiten zum Verfahren werden nötigenfalls in der StromVV aufgeführt; einzuholen ist

u.a. eine Stellungnahme der Europäischen Kommission. Beim ITO-Modell muss für

zahlreiche Fälle bzw. Geschäfte der Regulator einbezogen werden, mitunter für Ge-

nehmigungen. Das EU-Recht enthält weitere Vorkehren, die der Regulator vorneh-

men können muss. Die StromVV wird dies weiter konkretisieren können. Inhaltlich

ergeben sich die Einzelheiten aber ohnehin aus dem Abkommen, aus den Artikeln 46

ff. der Strombinnenmarkt-Richtlinie.

Absatz 2

bis

: Die Erweiterung der Kompetenzen der ElCom ergibt sich aus der Umset-

zung von Artikel 51 der Richtlinie (EU) 2019/944. Insbesondere dessen

Absätze 7–9

räumen der nationalen Regulierungsbehörde die Möglichkeit ein, die im vorliegenden

Absatz genannten Massnahmen zu ergreifen.

Die Ergänzung in

Absatz 3

hält die ElCom dazu an, auch die Investitionen in die Er-

zeugungs- und Speicherkapazitäten zu betrachten, so wie dies den Regulierungsbe-

hörden in Artikel 59 Absatz 1 Buchstabe v der Strombinnenmarkt-Richtlinie mit

Blick auf die Versorgungssicherheit als Aufgabe zugetragen ist.

Art. 22b

Monitoring

Bereits jetzt gehört die Beobachtung der Entwicklung der Elektrizitätsmärkte im Hin-

blick auf eine sichere und erschwingliche Versorgung in allen Landesteilen zu den

Aufgaben der ElCom (Art. 22 Abs. 3). Wegen des Stromabkommens wird die Be-

obachtungsaufgabe mit dem neuen Artikel 22b auf weitere Bereiche ausgedehnt.

Während es bei Artikel 22 Absatz 3 um die Versorgungssicherheit geht, geht es hier

566

Verordnung (EU) 2019/943 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019

über den Elektrizitätsbinnenmarkt (Neufassung), Fassung gemäss ABl. L 158 vom

14.6.2019, S. 54.

662 / 931

insbesondere um die Wettbewerbsbedingungen. Es geht hauptsächlich um die Be-

obachtungsaufgabengemäss Artikel 59 Absatz 1 der Strombinnenmarkt-Richtlinie,

namentlich gemäss den Buchstaben n, o, p und z.

Nach

Absatz 2

ist Wettbewerbskommission (WEKO) zu informieren (vgl. Art. 59

Abs. 1 Bst. p der Strombinnenmarkt-Richtlinie).

Die Schlüsse aus dem Monitoring können auch zu einer Umjustierung der Regulie-

rung führen (

Abs. 3

): Es gibt verschiedene Möglichkeiten der Ausgestaltung der

Grundversorgung. Von diesen können je unterschiedliche Auswirkungen auf das

Wettbewerbsgeschehen im freien Markt ausgehen. Anzustreben ist eine Ausgestal-

tung, welche den Wettbewerb im freien Markt möglichst wenig tangiert (vgl. Art. 5

und 27 Abs. 2 Strombinnenmarkt-Richtlinie). Die Massnahmen, die der Bundesrat er-

greifen kann, sind verschiedenartig. Sie können bis zum Vorschlag an das Parlament

für eine Gesetzesänderung gehen.

Abs

atz

4: Die Möglichkeit zur Ausdehnung des Monitorings auf weitere Themenfel-

der, die der Aufsichtsfunktion der ElCom unterstehen, könnte etwa dann nützlich sein,

wenn in der Strombinnenmarkt-Richtlinie zusätzliche Beobachtungsgegenstände hin-

zugefügt werden.

Die für das Monitoring benötigten Informationen kann die ElCom von den verschie-

denen Akteuren (Lieferanten und Grundversorger, Verteilnetzbetreiber, Bilanzgrup-

pen, nationale Netzgesellschaft, Strombörsen, zentrale Datenplattform, Ombudsstelle

etc.) gestützt auf die Auskunftspflicht nach Artikel 25 einverlangen. Bezüglich der

Daten darf keine Zweckentfremdung stattfinden und falls es Auswertungen braucht,

ist das Datenschutzrecht zu beachten (Art. 39 Datenschutzgesetz

567

).

4

a.

Kapitel: Weitere Massnahmen im Zusammenhang mit der Marktöffnung

Art. 23a

Vergleichsinstrument

Absatz 1

: Die ElCom ist verantwortlich, dass ein Vergleichsinstrument entwickelt

wird, um Endverbrauchern die Wahl eines Liefer- und Abnahmeverträge zu erleich-

tern. Sie kann dies selbst machen oder Aufträge an Dritte erteilen. Der Kreis der Ver-

braucher, denen unentgeltlich zum Vergleich der verschiedenen Vertragsprodukte ein

zuverlässiges Instrument zur Verfügung stehen soll, ist im Vergleich zu Artikel 14

Absatz 1 der Strombinnenmarkt-Richtlinie noch etwas weitergezogen. Namentlich

gibt es keine Einschränkung auf Haushaltskunden und Kleinstunternehmen.

Absatz 2

: Die Anforderungen an das Vergleichsinstrument sind in Artikel 14 Absatz 1

Buchstabe a–h der Strombinnenmarkt-Richtlinie aufgeführt. Anzustreben ist eine

möglichst vollständige Marktabdeckung. Hervorzuheben ist weiter das Erfordernis

der Unabhängigkeit. Diese trägt zur Gleichbehandlung aller Marktteilnehmer bei und

verlangt insbesondere, dass der Betreiber des Vergleichsinstruments keine direkte

Vermittlung anbietet und keine Vermittlungsprovisionen einnimmt. Eine Verlinkung

auf die Internet-Seite des jeweiligen Anbieters ist nicht als Vermittlung anzusehen.

Sodann muss sich der Vergleich auf klare, transparente und objektive Kriterien stüt-

567

SR

235.1

663 / 931

zen. Damit sind Algorithmen ausgeschlossen, mit welchen die Reihenfolge der Ange-

bote von individuellen Eigenschaften der Endverbraucherin oder des Endverbrauchers

(z.B. Einkommensniveau) oder von Parametern abhängig sind, die für den Vergleich

nicht relevant sind. Weiter muss der Stand der letzten Aktualisierung der Vergleichs-

resultate angegeben sein und es muss eine Meldeverfahren für unzutreffende Angaben

geben.

Gestützt auf

Satz 2

kann der Bundesrat die Lieferanten verpflichten, ihre Produkte

dem Betreiber des Vergleichsinstruments zu melden, falls dies nicht auf freiwilliger

Basis geschieht.

In den Ausführungsvorschriften (zu Art. 12) ist ferner vorzusehen, dass die Endver-

braucher zusammen mit der Stromrechnung oder auf andere Weise über die Möglich-

keit zum Vergleich der verschiedenen Vertragsprodukte informiert werden.

Art. 23b

Ombudsstelle

Diese Bestimmung dient der Umsetzung von Artikel 26 der Strombinnenmarkt-Richt-

linie. Endverbraucherinnen und Endverbraucher mit Anspruch auf Grundversorgung

erhalten die Möglichkeit, Streitigkeiten mit Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft

vor eine zentrale Ombudsstelle zu bringen. Der Begriff der Unternehmen der Elektri-

zitätswirtschaft ist weit zu verstehen, neben Elektrizitätslieferanten und Netzbetrei-

bern sind beispielsweise auch Aggregatoren erfasst. Im Vermittlungsverfahren kön-

nen sachgerechte Einigungen erreicht werden, wenn sich der Gang zum Richter bzw.

zu einer Schlichtungsstelle nach ZPO angesichts des Streitwerts sonst nicht lohnen

würde. Die ElCom versucht bereits heute Streitigkeiten in ihrem Kompetenzbereich

wie der Grundversorgung oder dem Netzzugang zu schlichten. Mit der Marktöffnung

sowie mit der zunehmenden Möglichkeit für Kundinnen und Kunden aktiv zu werden

(z.B. Flexibilität, Aggregierung) gibt es neue Vertragsverhältnisse, was wiederum

dazu führt, dass sich die Anzahl Streitigkeiten erhöhen dürfte (

Abs. 1

).

Die Vermittlung bei der Ombudsstelle ist freiwillig, ausser wenn es sich bei einer der

Parteien um Endverbraucherinnen und Endverbraucher mit Anspruch auf Grundver-

sorgung handelt (

Abs. 2

). Als Endverbraucherinnen und Endverbraucher mit An-

spruch auf Grundversorgung gelten gemäss Artikel 6 Absatz 1 diejenigen mit einem

Jahresverbrauch von weniger als 50 MWh.

Um einen Missbrauch der Vermittlungsmöglichkeit zu verhindern, ist sie für den An-

tragsteller nicht kostenlos. Die Bearbeitungspauschale soll aber niedrig genug sein,

damit die Anrufung der Ombudsstelle auch bei geringen Streitwerten möglich ist. Die

Ombudsstelle soll vor allem durch die Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft finan-

ziert werden (Abs. 3). Die Finanzierung durch Verfahrenskosten ist verursacherge-

recht, denn nur Elektrizitätsunternehmen, die es zum Streit mit Kundinnen oder Kun-

den

kommen

lassen,

finanzieren

die

Schlichtungsstelle.

Mit

der

Verfahrenskostenregelung werden den Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft An-

reize gesetzt, einvernehmliche Lösungen mit ihren Kundinnen und Kunden zu suchen.

Es sollen nur Schlichtungsverfahren durchgeführt werden, bei denen die Kundin oder

der Kunde vorgängig erste Schritte unternommen hat, um eine Einigung mit dem Un-

ternehmen der Elektrizitätswirtschaft zu finden und die nicht offensichtlich miss-

bräuchlich eingeleitet wurden.

664 / 931

Die Ombudsstelle veröffentlicht einen Bericht zu ihrer Aktivität (

Abs. 5

). Diese Infor-

mationen kann die ElCom für das Monitoring verwenden. In ihrem Bericht kann die

Ombudsstelle auf bestimmte Geschäftspraktiken hinweisen, die wiederholt Gegen-

stand von Verfahren vor der Ombudsstelle sind unter Angabe von Namen und Adresse

der Anbieterinnen und Anbieter, die diese Geschäftspraktiken anwenden. Dies dient

der Transparenz, da die Konsumentinnen und Konsumenten einen informierten Ent-

scheid bei der Wahl ihres Anbieters treffen können.

Die Ombudsstelle soll in Umsetzung von Artikel 25 der Strombinnenmarkt-Richtlinie

auch als zentrale Anlaufstelle Endverbraucherinnen und Endverbraucher über ihre

Rechte gestützt auf dieses Gesetz und die Artikel 15–18 EnG informieren.

Der Bundesrat bezeichnet die Ombudsstelle. Möglich ist eine Lösung wie im Fern-

meldebereich (Zusammenarbeit der Branche und des Konsumentenschutzes) oder die

Ombudsstelle kann bei der ElCom angegliedert werden.

Art. 23c

Auswirkungen des Stromabkommens auf die Arbeitsbedingungen

Eine ähnliche Bestimmung war bereits im Rahmen der Botschaft zum Bundesgesetz

über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien vom 18. Juni 2021 vor-

gesehen (Art. 33 Abs. 4 E-StromVG

568

). Bei Bedarf kann der Bundesrat auch früher

und öfters einen Bericht über ihre Beobachtungen vorlegen.

Absatz 1

enthält diesbe-

züglich nur die Mindestanforderungen.

Absatz 2

: Wirkt sich die Marktöffnung für alle Endverbraucherinnen und Endverbrau-

cher negativ auf die Arbeitsbedingungen im Elektrizitätsmarkt aus, so ergreift der

Bundesrat geeignete Gegenmassnahmen (z.B. Umschulungen) oder kann die tripartite

Kommission des Bundes im Sinne von Artikel 360

b

OR über die Arbeitsbedingungen

im Elektrizitätsmarkt informieren.

4b. Kapitel: Pilotprojekte

Art. 23d

Bisheriger Artikel 23a

6. Kapitel: Auskunftspflicht, Umgang mit Daten, Rechtsverhältnisse und Auf-

sichtsabgabe

Art. 25 Abs. 1

In

Absatz 1

wird die Aufzählung der Akteure erweitert, die auskunftspflichtig sind und

Unterlagen zur Verfügung stellen müssen, v.a. gegenüber der ElCom, aber letztlich

generell gegenüber den mit dem Vollzug des StromVG betrauten Stellen. Die Erwei-

terung ist v.a. wegen des Monitorings nach Artikel 22

b

nötig, weil die ElCom für ihre

betreffenden Beobachtungsaufgaben gegebenenfalls Auskünfte und Unterlagen

braucht, die sie nicht auf anderem Weg schon hat. Ergänzt werden die Betreiber von

568

BBl

2021

1667

665 / 931

Strombörsen und die Ombudsstelle. Von der Pflicht ebenfalls erfasst sind die Bilanz-

gruppen; sie fallen aber unter die «Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft».

Art. 26a

Rechtsverhältnisse und Rechtsweg

Abs. 1:

Bisher regelte das StromVG nicht, ob die Vertrags- und Rechtsverhältnisse

gemäss dem Gesetz öffentlich- oder privatrechtlich sind. Die Gerichte haben sukzes-

sive viele dieser Fälle geklärt, meist mit dem Resultat, das Verhältnis sei öffentlich-

rechtlich, z.B. bei der Grundversorgung. Diese Rechtsnatur hat jedoch Nachteile, v.a.

kann sie schwerfällig sein, wenn die betroffenen Akteure wie die Grundversorger oder

Verteilnetzbetreiber Änderungen innert nützlicher Frist abwickeln müssen; da ist die

Verfügung oder erst recht der öffentlich-rechtliche Vertrag umständlich. Das Strom-

abkommen bringt viele Neuerungen, auch neue Verträge und bei der Grundversor-

gung namentlich das Recht zum raschen Wechsel (in den freien Markt). Es ist daher

für die Rechtssicherheit angezeigt, die Rechtsnatur zu klären. Materiell ist die Unter-

stellung der verschiedenen Rechtsverhältnisse, also Grundversorgung, Netznutzung,

Flexibilität, Aggregierung und vieles mehr, unter das Privatrecht die bessere, da pra-

xistauglichere Lösung. Der Schutz der Kundinnen und Kunden wird so nicht ge-

schwächt, da für einen wirksamen Schutz viel wichtiger ist, dass inhaltliche Vorgaben

bestehen, die Schutz bringen, was mit der Umsetzung des Stromabkommens der Fall

ist (vgl. u.a. auch die Ombudsstelle). Auch in anderen Bereich des Schweizer Service

Public sind die Verhältnisse teilweise privatrechtlich geordnet. Im öffentlichen Ver-

kehr unterstehen z.B. vermögensrechtliche Streitigkeiten zwischen der Kundschaft

und den Transportunternehmen der Zivilgerichtsbarkeit. Im Bereich der Post sind ge-

wisse Ansprüche wie der Abschluss eines Vertrags über den Zugang zu einem Post-

fach über den Regulator (PostCom) durchzusetzen sind; Streitigkeiten aus den Ver-

trägen werden aber durch die Zivilgerichte beurteilt. Beim StromVG müssen gewisse

Ansprüche, z.B. die Absenkung eines Tarifs ebenfalls über den Regulator, die ElCom,

durchgesetzt werden. Das sind aber nicht Streitigkeiten aus Vertrag. Für solche ist mit

dem neuen Artikel 26

a

geklärt, dass sie ebenfalls durch die Zivilgerichte beurteilt

werden.

Diese neue Lösung im StromVG gilt auch für öffentlich-rechtlich organsierte Unter-

nehmen wie Anstalten.

Diese Zuweisung zum Privatrecht darf nichts an den zuvor erwähnten Zuständigkeiten

der ElCom als Regulator ändern und tut dies auch nicht;

Absatz 2

behält diese (dekla-

ratorisch) ausdrücklich vor. Es mag mitunter schwierige Abgrenzungsfragen geben

zwischen dem, was die Zivilgerichte und dem, was die ElCom entscheiden müssen.

Da wo diese nach dem StromVG als Regulator zuständig ist, muss man an sie gelan-

gen; ihre Zuständigkeit geht vor. Das davon nicht Abgedeckte kann, wenn es sich

zugleich um eine «Streitigkeit aus Vertrag» handelt, vor ein Zivilgericht gebracht wer-

den. Die erwähnten Abgrenzungsfragen stellen sich schon heute bzw. genau gleich,

egal welches die Handlungsform der Unternehmen ist, also auch wenn die Verhält-

nisse öffentlich-rechtlich beherrscht sind.

Art. 29 Abs. 1 Bst. b und f

bis

666 / 931

Absatz 1 Buchstabe b

: Die bisherige Strafbestimmung wird analog den verschärften

Entflechtungsvorgaben angepasst. Folglich wird nicht nur eine falsche oder fehlende

buchhalterische Trennung unter Strafe gestellt, sondern ebenfalls eine falsche oder

fehlende organisatorische, personelle oder rechtliche Trennung. Um dem Be-

stimmtheitsgebot besser Rechnung zu tragen, wird neu jeweils bei den einzelnen Tat-

beständen auf die konkrete Bestimmung verwiesen. Ebenso wird neu der Tatbestand

der Missachtung des Verbots zur Querfinanzierung explizit erwähnt, der bisher ledig-

lich implizit mitenthalten war.

Zu Buchstabe f

bis

: Das im aktuellen Recht enthaltene Verbot, aus der Reserve abgeru-

fene Energie ins Ausland zu verkaufen, ist mit dem EU-Recht nicht vereinbar. Analog

zu Artikel 8

b

Absatz 6 wird der Verbotsgehalt deshalb auch hier reduziert.

Art. 33d

Übergangsbestimmung zur Änderung vom …

Absatz 1:

Für die Implementierung der verschärften Entflechtungsvorgaben, wird eine

Übergangsfrist von 1 Jahr ab Inkrafttreten vorgesehen.

Absatz 2:

Öffentlich-rechtlich organisierten VNB wird angesichts der zu durchlaufen-

den langwierigen politischen Prozesse eine Übergangsfrist von drei Jahren ab Inkraft-

treten eingeräumt.

2.11.8.3

Bundesgesetz über die Aufsicht und Transparenz in den

Energiegrosshandelsmärkten (BATE)

Das Bundesgesetz über die Aufsicht und Transparenz in den Energiegrosshandels-

märkten (BATE)

569

wurde am 21. März 2025 verabschiedet.

570

Es soll zwischen 2026

und 2027 in Kraft treten.

Mit dem BATE in seiner 2025 verabschiedeten Fassung soll das Vertrauen in die

Energiegrosshandelsmärkte, auf denen mit schweizerischen Energiegrosshandelspro-

dukten (Strom und Gas) gehandelt wird, gefestigt und eine Annäherung an das EU-

Recht erreicht werden. Das BATE in der Fassung von 2025 sieht jedoch weder eine

Integration in den EU-Binnenmarkt noch eine Zusammenarbeit bei der Marktaufsicht

(REMIT-System) vor. Seine Regelungen stehen aber schon vollständig im Einklang

mit der Verordnung (EU) Nr. 1227/2011

571

(REMIT-Verordnung). Die Bestimmun-

gen zu den Pflichten und zum unzulässigen Marktverhalten beispielsweise entspre-

chen denen der REMIT-Verordnung.

Mit dem Stromabkommen muss die Schweiz nun aber künftig gewährleisten, dass

direkt die in der REMIT-Verordnung vorgesehenen Pflichten und Verbote eingehal-

ten und ausgeübt werden. Die REMIT-Verordnung gilt gemäss Stromabkommen in

der Schweiz allerdings nur für den Stromgrosshandel (so aufgenommen in Art. 1

Abs. 6 der REMIT-Verordnung).

569

BBl

2023

2865

570

Geschäft des Bundesrates 23.083 «Aufsicht und Transparenz in den Energiegrosshandels-

märkten (BATE)»

571

Verordnung (EU) Nr. 1227/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Ok-

tober 2011 über die Integrität und Transparenz des Energiegrosshandelsmarkts, Fassung

gemäss ABl. L 2024/1106 vom 17.4.2024.

667 / 931

Für den Gasbereich hat die vorliegende Revision keine materiellen Änderungen zur

Folge, da der Schweizer Gasgrosshandel nicht unter das Stromabkommen fällt. Im

Gasbereich behält die ElCom daher ihre Funktion als Aufsichtsbehörde. Ausserdem

bleiben die Bestimmungen zu den Pflichten, dem unzulässigen Marktverhalten, den

Aufsichtsinstrumenten, den Verwaltungssanktionen, den strafrechtlichen Sanktionen

und der Rechtshilfe inhaltlich unverändert. Diese Bestimmungen werden lediglich re-

daktionell angepasst, dies infolge der Trennung zwischen dem Gas- und dem Strom-

bereich. Das für den Gasbereich geltende System des BATE bleibt somit unverän-

dert.

572

Was den Strombereich betrifft, ist die ElCom nicht mehr nur Aufsichtsbehörde, son-

dern es kommt ihr zusätzlich die Funktion der nationalen Regulierungsbehörde zu.

Die Funktion der Aufsichtsbehörde geht an die ACER über. Die Pflichten sowie die

Regeln betreffend das unzulässige Marktverhalten sind zwar vergleichbar mit jenen,

die das BATE in der Fassung von 2025 vorsieht, sie ergeben sich neu aber direkt aus

der Anwendung der REMIT-Verordnung. Die Richtlinien von der ACER vom 18. De-

zember 2024 präzisieren die einzelnen Pflichten und Verbote gemäss der REMIT-

Verordnung in detaillierter Weise.

573

Die ElCom hat in ihrer neuen Funktion die Auf-

gabe, die Einhaltung und Ausübung der von der REMIT-Verordnung vorgesehenen

Pflichten und Verbote zu gewährleisten. Dazu stellt das BATE der ElCom verschie-

dene Mittel zur Verfügung, etwa Aufsichtsinstrumente, Sanktionen sowie Amts- und

Rechtshilfe. In Bezug auf solche Regelungen gesteht die REMIT-Verordnung der

Schweiz einen gewissen Handlungsspielraum zu.

Ersatz von Ausdrücken

Der Ersatz verschiedener Ausdrücke im ganzen Erlass ergibt sich direkt aus der vom

Stromabkommen ausgehenden Trennung zwischen dem Gas- und dem Strombereich.

Der 1. Abschnitt enthält gemeinsame Bestimmungen für den Gas- und den Strombe-

reich.

Art. 1 Abs. 1 Einleitungssatz, 2 und 3

Die Absätze 1 und 2 Buchstabe a entsprechen weitgehend der bisherigen Regelung.

Sie werden lediglich redaktionell angepasst, dies infolge der Trennung zwischen dem

Gas- und dem Strombereich.

Der neue Gegenstand in Absatz 2 Buchstabe b ergibt sich direkt daraus, dass die

REMIT-Verordnung mit dem BATE ausgeführt wird (vgl. Bemerkungen zu Art. 20

a

).

Absatz 3

umschreibt die Bezeichnung der ElCom als Behörde, die für die Ausübung

der Aufsicht über die Stromgrosshandelsmärkte und die Wahrnehmung der Aufgaben,

die nach der REMIT-Verordnung der nationalen Regulierungsbehörde obliegen, zu-

ständig ist.

572

BBl

2023

2864

573

ACER Guidance on the application of Regulation (EU) No 1227/2011 on wholesale en-

ergy market integrity and transparency, 6.1st Edition.

668 / 931

Art. 2

Persönlicher und sachlicher Geltungsbereich

Abs. 1 und 2

Gemäss Stromabkommen gilt die REMIT-Verordnung nur für den Stromhandel. Da-

her ist eine klare Trennung zwischen den Akteuren aufgrund ihres Tätigkeitsbereichs

nötig (Strom oder Gas). Dazu dienen diese Änderungen.

Absatz 1

entspricht weitgehend der aktuellen Fassung. Neu regelt er die Anwendbar-

keit des BATE für Akteure, die auf einem Gasgrosshandelsmarkt (vgl. Art. 3 Abs. 1

Bst. a E-BATE) tätig sind, der schweizerische Gasgrosshandelsprodukte betrifft (vgl.

Art. 3 Abs. 1 Bst. b E-BATE).

Absatz 2 statuiert die Anwendbarkeit des BATE für Akteure, die auf einem Strom-

grosshandelsmarkt (vgl. Art. 3 Abs. 1 Bst. a

bis

E-BATE) tätig sind, der Stromgross-

handelsprodukte (vgl. Art. 3 Abs. 1 Bst. b

ter

E-BATE) betrifft, und die damit der

REMIT-Verordnung unterstehen.

Diese neue Unterscheidung ermöglicht es, klar festzulegen, welche Bestimmungen

des BATE für welche Kategorien von Akteuren gelten:

Für die Teilnehmer am Schweizer Gasmarkt, die Teilnehmer am europäi-

schen Gasmarkt und die Vermittler am Schweizer Gasmarkt gelten die ge-

nau gleichen Bestimmungen wie nach dem aktuellen BATE.

Die Teilnehmer am Strommarkt und die Vermittler am Strommarkt hinge-

gen unterstehen gemäss dem Stromabkommen der REMIT-Verordnung.

Entsprechend sind für sie nur noch einzelne Bestimmungen des BATE, die

die REMIT-Verordnung ausführen, anwendbar (insbesondere die Bestim-

mungen über Massnahmen und Sanktionen).

Abs. 3

Absatz 3

entspricht weitgehend der bisherigen Regelung in Artikel 2 Absatz 2 BATE.

Jedoch fällt nur noch das unzulässige Marktverhalten auf Gasgrosshandelsmärkten,

das im 3. Abschnitt des BATE geregelt ist, unter diese Bestimmung. Unzulässiges

Marktverhalten auf Stromgrosshandelsmärkten gemäss den Artikeln 2 Absätze 2 und

3, 3 und 5 der REMIT-Verordnung, das zugleich gegen das Finanzmarktinfrastruktur-

gesetz vom 19. Juni 2015

574

(FinfraG) verstösst, wird somit gemäss dem BATE unter-

sucht und sanktioniert. Denn nur das BATE sieht Massnahmen und Sanktionen vor,

die denjenigen entsprechen, die die REMIT-Verordnung von den Mitgliedstaaten ver-

langt.

Art. 3 Abs. 1 Bst. a–b

ter

Die Aufsplittung des Begriffs «Energiegrosshandelsmarkt» in die beiden separaten

Begriffe «Gasgrosshandelsmarkt» (Bst. a) und «Stromgrosshandelsmarkt» (Bst. a

bis

)

574

SR

958.1

669 / 931

ergibt sich aus der vom Stromabkommen ausgehenden Trennung zwischen dem Gas-

und dem Strombereich.

Buchstabe b entspricht weitgehend der aktuellen Fassung. Die Aufsplittung des Be-

griffs «Energiegrosshandelsprodukt» in die beiden separaten Begriffe «schweizeri-

sches Gasgrosshandelsprodukt» (Bst. b) und «Stromgrosshandelsprodukt» (Bst. b

bis

)

ergibt sich aus der vom Stromabkommen ausgehenden Trennung zwischen dem Gas-

und dem Strombereich. Diese Trennung ermöglicht es, die Akteure, die mit den einen

oder den anderen Produkten handeln, eindeutig zu identifizieren und sie so den pas-

senden Bestimmungen zu unterstellen.

Die Buchstaben b

bis

und b

ter

verweisen auf den Begriff «Energiegrosshandelsprodukt»

nach Artikel 2 Absatz 4 der REMIT-Verordnung. Auch hier ermöglicht es die Tren-

nung zwischen europäischen Gasgrosshandelsprodukten (Bst. b

bis

) und Stromgross-

handelsprodukten (Bst. b

ter

), die Akteure, die mit den einen oder den anderen Produk-

ten handeln, eindeutig zu identifizieren und sie so den passenden Bestimmungen zu

unterstellen.

2. Abschnitt:

Pflichten der Teilnehmer am Gasmarkt und der

Vermittler am Gasmarkt sowie Zulassung von

Plattformen für Insiderinformationen und von

Meldemechanismen

Der 2. Abschnitt gilt ausschliesslich für den Gasbereich.

Er entspricht weitgehend der geltenden Regelung. Die Bestimmungen werden ledig-

lich redaktionell angepasst, dies infolge der Trennung zwischen dem Gas- und dem

Strombereich. Die Anpassungen dienen der Präzisierung, dass der 2. Abschnitt aus-

schliesslich auf diejenigen Akteure anwendbar ist, die im Gasbereich tätig sind. Die

Begriffe «schweizerisches Energiegrosshandelsprodukt», «Teilnehmer am Schweizer

Markt», «Teilnehmer am europäischen Markt» und «Vermittler am Schweizer Markt»

werden entsprechend ersetzt durch «schweizerisches Gasgrosshandelsprodukt»,

«Teilnehmer am Schweizer Gasmarkt», «Teilnehmer am europäischen Gasmarkt»

und «Vermittler am Schweizer Gasmarkt». Die damit zusammenhängenden Änderun-

gen ergeben sich direkt aus der Generalanweisung zum Ersatz von Ausdrücken.

Art. 4 Abs. 7

Der Verweis auf Artikel 12 Absatz 9 Buchstabe b wird gestrichen, da dieser Buch-

stabe aufgehoben wird (vgl. Erläuterungen zu Art. 12 Abs. 9 BATE).

Art. 7 Abs. 3 Bst. a

Bei den Marktteilnehmern, die die Veröffentlichungspflicht bereits erfüllt haben, wird

nicht mehr präzisiert, auf welchem Markt sie tätig sind. Entscheidend ist die Veröf-

fentlichung an sich.

Art. 8 Abs. 2

670 / 931

Die nationale Netzgesellschaft nach Artikel 18 StromVG wird nicht mehr erwähnt, da

der 2. Abschnitt nur noch für den Gasbereich gilt.

Art. 12 Abs. 3 Einleitungssatz und Bst. a, 7 sowie 11 Bst. b und d

Absatz 3 Buchstabe a verwendet nun den in Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe b

bis

neu ein-

geführten Begriff «europäisches Gasgrosshandelsprodukt».

Die Absätze 6 und 11 Buchstabe b werden aufgehoben, da der 2. Abschnitt nur noch

für den Gasbereich gilt. Aus dem gleichen Grund wird in Absatz 11 Buchstabe d das

Wort «Strom» gestrichen.

3. Abschnitt:

Unzulässiges Marktverhalten an den

Gasgrosshandelsmärkten

Der 3. Abschnitt gilt ausschliesslich für den Gasbereich.

Er entspricht weitgehend der bisherigen Regelung. Die Bestimmungen werden ledig-

lich redaktionell angepasst, dies infolge der Trennung zwischen dem Gas- und dem

Strombereich. Die Begriffe «schweizerisches Energiegrosshandelsprodukt» und

«Teilnehmer am Schweizer Markt» werden entsprechend ersetzt durch «schweizeri-

sches Gasgrosshandelsprodukt» und «Teilnehmer am Schweizer Gasmarkt». Die da-

mit zusammenhängenden Änderungen ergeben sich direkt aus der Generalanweisung

zum Ersatz von Ausdrücken.

Art. 19 Abs. 3

Die nationale Netzgesellschaft nach Artikel 18 StromVG wird nicht mehr erwähnt, da

der 3. Abschnitt nur noch für den Gasbereich gilt.

3

a

. Abschnitt:

Für die Teilnehmer und die Vermittler am

Strommarkt geltende Pflichten sowie unzulässiges

Marktverhalten an den Stromgrosshandelsmärkten

Der 3a. Abschnitt gilt ausschliesslich für den Strombereich.

Art. 20a

Abs. 1

In

Absatz 1

werden die wichtigsten Pflichten und Verbote benannt, die die Teilneh-

mer am Strommarkt und die Vermittler am Strommarkt gemäss der REMIT-

Verordnung einhalten müssen. Da das BATE bei Verstössen gegen diese Pflichten

oder Verbote der REMIT-Verordnung verschiedene Sanktionen, einschliesslich

Strafbestimmungen, vorsieht (vgl. Art. 25 ff. und 44 ff. BATE), wird mit den Ver-

weisen auf die entsprechenden Bestimmungen der REMIT-Verordnung in Absatz 1

dem Gebot der Bestimmtheit der Rechtsgrundlage

(nulla poena sine lege certa)

ent-

sprochen.

671 / 931

Die Teilnehmer am Strommarkt und die Vermittler am Strommarkt unterstehen ge-

mäss dem Stromabkommen neu der REMIT-Verordnung und müssen daher sämtliche

dort vorgesehenen Pflichten erfüllen. Unzulässiges Marktverhalten im Zusammen-

hang mit Stromgrosshandelsprodukten ist gemäss der REMIT-Verordnung verboten

(für nähere Informationen vgl. die Richtlinien von der ACER

575

). Da das BATE aber

schon in seiner aktuellen Fassung, also vor dem Inkrafttreten des Stromabkommens,

mit der REMIT-Verordnung kompatibel ist, findet für die betroffenen Akteure eigent-

lich nur ein Paradigmenwechsel statt. Die Pflichten selbst ändern sich aus materieller

Sicht nicht, nur einige formale Aspekte werden neu geregelt, unter anderem die Auf-

sichtsbehörde (die ACER tritt an die Stelle der ElCom).

Registrierungspflicht

Artikel 9 Absatz 1 der REMIT-Verordnung präzisiert, dass sich ein Marktteilnehmer

nur bei einer einzigen nationalen Regulierungsbehörde (NRB) registrieren muss. Da

die REMIT-Verordnung für die Schweiz nicht galt, war es bislang nicht möglich, eine

Doppelregistrierung (bei der ElCom und der betreffenden NRB) zu vermeiden. Mit

dem Stromabkommen und der Anwendbarkeit der REMIT-Verordnung gilt nun Fol-

gendes:

-

Neue Marktteilnehmer müssen sich direkt bei der NRB des Mitgliedstaats re-

gistrieren, in dem sie niedergelassen oder ansässig sind (Art. 9 Abs. 1 der

REMIT-Verordnung). Die ElCom hat gemäss Artikel 9 Absatz 3 der REMIT-

Verordnung in allen Fällen einen vollständigen Zugang zum gesamten Ver-

zeichnis von der ACER.

-

Die ElCom (der die Funktion einer NRB zukommt) muss ACER die Informa-

tionen derjenigen Teilnehmer am Strommarkt übermitteln, die zum Zeitpunkt

des Inkrafttretens des Stromabkommens bei ihr registriert sind (Art. 9 Abs. 3

der REMIT-Verordnung).

Veröffentlichungspflicht

Die Veröffentlichungspflicht bleibt mit dem Stromabkommen und der Anwendbarkeit

der REMIT-Verordnung im Wesentlichen gleich ausgestaltet wie bisher nach dem

BATE, da dieses bereits eine einseitige Anerkennung vorsah für Plattformen für Insi-

derinformationen, die bei der ACER registriert und von ihr gemäss den Regelungen

der EU zugelassen sind.

Übermittlungspflicht

Mit dem Stromabkommen und der Anwendbarkeit der REMIT-Verordnung müssen

die Teilnehmer am Strommarkt Informationen neu direkt an die ACER übermitteln

(Art. 8 Abs. 1 der REMIT-Verordnung). Anders als nach der heutigen Regelung ge-

mäss BATE hat die ElCom künftig über ACER Zugang zu den Informationen über

die Teilnehmer am Strommarkt. Gemäss Artikel 10 Absatz 1 der REMIT-Verordnung

muss die ACER die bei ihr eingehenden Informationen mit den NRB austauschen, im

Fall der Schweiz also mit der ElCom.

575

ACER, Guidance on the application of REMIT, 6.1st Edition

672 / 931

Die folgenden beiden Tabellen geben einen Überblick über die verschiedenen Pflich-

ten und die Bestimmungen betreffend unzulässiges Marktverhalten im BATE sowie

ihre Entsprechungen in der REMIT-Verordnung.

Vergleichstabelle zu den Pflichten

Vergleichstabelle zum unzulässigen Marktverhalten

BATE

REMIT

Ausnützung und Wei-

tergabe von Insiderin-

formationen

Art. 19

Art. 3

Marktmanipulation

Art. 20

Art. 2 Abs. 2 und

Art. 5

Abs. 2

Um sicherzustellen, dass die direkt in der REMIT-Verordnung vorgesehenen Pflich-

ten und Verbote eingehalten und ausgeübt werden, muss der Bundesrat die Möglich-

keit haben, Ausführungsbestimmungen zu erlassen und darin gewisse Einzelheiten zu

regeln oder auch Ausnahmen von den Pflichten und Verboten gemäss der REMIT-

Verordnung vorzusehen. Diese Möglichkeit ist jedoch auf Fälle beschränkt, in denen

die Schweiz über einen Handlungsspielraum verfügt, weil ein solcher von der

REMIT-Verordnung vorgesehen ist und die Europäische Kommission keine gegen-

teiligen Bestimmungen erlassen hat. Bei seinen Ausführungsbestimmungen kann sich

BATE

REMIT

Registrierungspflicht

Art. 4 und 5

Art. 9

Pflicht zur Bezeichnung

einer Vertretung

Art. 6

Art. 9

Veröffentlichungs-

pflicht

Art. 7 und 8

Art. 4

Plattformen für Insider-

informationen

Art. 9–11

Art. 4

a

Übermittlungspflicht

Art. 12

Art. 8 und Durchfüh-

rungsverordnung (EU)

Nr. 1348/2014

Meldemechanismen

Art. 13–15

Art. 9

a

Algorithmischer Handel

Art. 16

Art. 5

a

Direkter elektronischer

Zugang

Art. 17

Art. 5

a

Pflichten der Vermittler

Art. 18

Art. 15

673 / 931

der Bundesrat an den Bestimmungen im 2. Abschnitt BATE zum Gasbereich orien-

tieren. Er muss dabei die REMIT-Verordnung sowie die Durchführungsverordnung

(EU) Nr. 1348/2014 einhalten.

4. Abschnitt: Aufgaben der ElCom und Datenbearbeitung

Der 4. Abschnitt enthält gemeinsame Bestimmungen für den Gas- und den Strombe-

reich.

Art. 21 Abs. 1–3

Absatz 1

entspricht weitgehend Artikel 21 Absätze 1 und 2 BATE, die zu einem ein-

zigen Absatz zusammengefasst werden. Die Bestimmung wird lediglich redaktionell

angepasst, dies infolge der Trennung zwischen dem Gas- und dem Strombereich.

Absatz 2

stellt klar, welche neuen Aufgaben sich aufgrund der Anwendbarkeit der

REMIT-Verordnung für die ElCom ergeben. Neu ist im Strombereich nicht mehr die

ElCom die Aufsichtsbehörde; diese Funktion wird auf die ACER übertragen. Hinge-

gen wird die ElCom zur NRB. In dieser Funktion muss sie die Einhaltung und Aus-

übung der Pflichten und Verbote nach der REMIT-Verordnung sicherstellen. Dazu

stellt ihr das BATE verschiedene Mittel zur Verfügung, etwa Aufsichtsinstrumente,

Sanktionen oder die Amts- und die Rechtshilfe.

Absatz 3

entspricht weitgehend der bisherigen Regelung. Er wird lediglich redaktio-

nell angepasst, dies infolge der Trennung zwischen dem Gas- und dem Strombereich

und aufgrund der Anwendbarkeit der REMIT-Verordnung.

Art. 23 Abs. 2 und 3

Die Teilnehmer am Schweizer Gasmarkt müssen weiterhin eine Aufsichtsabgabe an

die ElCom entrichten. Die Aufsichtsabgabe der Teilnehmer am Strommarkt ist ge-

mäss dem Beschluss (EU) 2020/2152

576

hingegen an die ACER zu entrichten.

Art. 24 Abs. 1 Einleitungssatz sowie Abs. 2 Bst. a

bis

und b

Artikel 24 entspricht weitgehend der bisherigen Regelung. Er wird lediglich redakti-

onell angepasst, dies infolge der Trennung zwischen dem Gas- und dem Strombereich

und aufgrund der Anwendbarkeit der REMIT-Verordnung.

Der 5. Abschnitt enthält gemeinsame Bestimmungen für den Gas- und den Strombe-

reich.

Da die bestehenden Aufsichtsinstrumente nach dem BATE mit Artikel 18 der

REMIT-Verordnung kompatibel sind, sind sie weiterhin sowohl für die Teilnehmer

am Gasmarkt als auch für die Teilnehmer am Strommarkt anwendbar. Die ElCom ist

demnach dafür zuständig, eine Untersuchung bei schwerwiegendem unzulässigem

576

Beschluss (EU) 2020/2152 der Kommission vom 17. Dezember 2020 über die an die

Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehör-

den zu entrichtenden Gebühren für die Erhebung, Bearbeitung, Verarbeitung und Analyse

von gemäss der Verordnung (EU) Nr. 1227/2011 des Europäischen Parlaments und des

Rates gemeldeten Informationen, ABl. L 428 vom 18.12.2020, S. 68.

674 / 931

Marktverhalten nach dem BATE oder nach der REMIT-Verordnung oder einem

schweren Verstoss gegen die vom BATE oder von der REMIT-Verordnung vorgese-

henen Pflichten durchzuführen. Artikel 30 Absatz 3 bleibt dabei vorbehalten.

Art. 25─30

Die Artikel 25–30 entsprechen weitgehend der bisherigen Regelung. Sie werden le-

diglich redaktionell angepasst, dies infolge der Trennung zwischen dem Gas- und dem

Strombereich und aufgrund der Anwendbarkeit der REMIT-Verordnung.

Art. 30a

Gemeinsame Bestimmungen

Da die REMIT-Verordnung nur für den Stromhandel gilt, ist allein die ElCom dafür

zuständig, schwerwiegendes unzulässiges Marktverhalten auf den Gasgrosshandels-

märkten nach dem 3. Abschnitt und Verstösse gegen die Pflichten nach dem 2. Ab-

schnitt BATE zu untersuchen.

Im Strombereich werden unzulässiges Marktverhalten auf den Stromgrosshandels-

märkten und Verstösse gegen die Pflichten nach der REMIT-Verordnung in der Regel

von der ElCom untersucht, vorbehaltlich der in Artikel 13 Absätze 5–8 der REMIT-

Verordnung genannten Sonderfälle, die Auswirkungen in der Schweiz und in mindes-

tens einem EU-Mitgliedstaat haben (grenzüberschreitende Auswirkungen).

Gibt es keine grenzüberschreitenden Auswirkungen, so obliegt es der ElCom, das un-

zulässige Verhalten und die Verstösse zu untersuchen. Denn gemäss Artikel 13 Ab-

satz 1 der REMIT-Verordnung sind die NRB dafür zuständig, alle auf ihren nationalen

Energiegrosshandelsmärkten vorgenommenen Handlungen zu untersuchen und die

Verordnung durchzusetzen, und zwar unabhängig davon, wo der Marktteilnehmer,

der diese Handlungen vornimmt, registriert oder zur Registrierung gemäss Artikel 9

Absatz 1 der Verordnung verpflichtet ist. Dabei gilt allerdings Folgendes: Will die

ElCom konkret eine Untersuchung durchführen, so muss sie die ACER mitteilen, dass

sie Widerspruch dagegen erhebt, dass diese in der Schweiz Untersuchungsmassnah-

men nach den Artikeln 13

a

–13

c

der REMIT-Verordnung durchführt. Dafür hat sie

gemäss Artikel 13 Absatz 4 der REMIT-Verordnung drei Monate Zeit.

Handelt es sich hingegen um einen Fall mit grenzüberschreitenden Auswirkungen, so

wird dieser nach Artikel 13 Absatz 8

a

der REMIT-Verordnung untersucht. Das be-

deutet Folgendes:

Die ACER führt die grenzüberschreitenden Untersuchungen gemäss Arti-

kel 13 Absätze 5–8 der REMIT-Verordnung in enger und aktiver Zusam-

menarbeit mit der ElCom.

Die zuständigen schweizerischen Behörden, insbesondere die ElCom, set-

zen die Untersuchungsmassnahmen nach den Artikeln 13

a

, 13

b

Absatz 2

und 13

c

der REMIT-Verordnung in der Schweiz um.

Die ACER kann die ElCom dazu auffordern, konkrete Untersuchungsmass-

nahmen zu ergreifen, und sie kann die zuständigen schweizerischen Behör-

675 / 931

den dazu auffordern, diese Massnahmen auszuführen. Sie kann sich auf Er-

suchen der schweizerischen Behörden an der Umsetzung der Massnahmen

beteiligen.

Die ElCom holt die Informationen ein, die ACER für eine wirksame Durch-

führung ihrer Untersuchung benötigt, und übermittelt sie ihr unverzüglich

nach Abschluss der betreffenden Untersuchungsmassnahme.

Will die ACER mit Personen in der Schweiz kommunizieren, insbesondere

im Rahmen von Informationsersuchen nach Artikel 13

b

Absatz 1 der

REMIT-Verordnung, so werden die entsprechenden Informationen diesen

Personen beziehungsweise ACER über die ElCom übermittelt.

Der Untersuchungsbericht nach Artikel 13 Absatz 11 der REMIT-

Verordnung wird von der ACER erstellt, die im genannten Absatz vorgese-

henen Massnahmen werden von der ElCom ergriffen.

Nach Artikel 13

k

der REMIT-Verordnung sind die von den schweizerischen Behör-

den gemäss den Artikeln 13 Absatz 8

a

und 13

g

der REMIT-Verordnung ergriffenen

Massnahmen vor Schweizer Gerichten anfechtbar.

Der 6. Abschnitt enthält gemeinsame Bestimmungen für den Gas- und den Strombe-

reich.

Da die bestehenden Verwaltungssanktionen nach dem BATE mit Artikel 18 der

REMIT-Verordnung kompatibel sind, sind sie weiterhin sowohl für die Teilnehmer

am Gasmarkt als auch für die Teilnehmer am Strommarkt anwendbar. Für die Teil-

nehmer am Strommarkt und die Vermittler am Strommarkt wird allerdings ein

Höchstbetrag in Franken eingeführt, damit die Regelung vereinbar ist mit Artikel 18

Absätze 4 und 5 der REMIT-Verordnung.

Art. 31 Abs. 1 und 1

bis

Absatz 1

entspricht weitgehend der bisherigen Regelung, gilt aber nur noch für den

Gasbereich. Die Bestimmung sanktioniert schwerwiegendes unzulässiges Marktver-

halten im Gasbereich nach dem 3. Abschnitt BATE.

Der neue

Absatz 1

bis

sieht Sanktionen für schweres unzulässiges Marktverhalten im

Strombereich vor, das gegen die REMIT-Verordnung verstösst. Zudem wurde der Be-

trag von 5 Millionen Franken ergänzt, damit die Bestimmung mit Artikel 18 Ab-

sätze 4 und 5 der REMIT-Verordnung kompatibel ist.

Art. 32 Sachüberschrift sowie Abs. 1

bis

und 3

Sanktionen bei schweren Verstössen

Die

Absätze 1 und 3

entsprechen weitgehend der bisherigen Regelung, erfassen aber

nur noch den Gasbereich. Die Bestimmung sanktioniert Verstösse gegen die Pflichten

nach dem 2. Abschnitt des BATE.

Der neue

Absatz 1

bis

sieht Sanktionen für Verstösse gegen Pflichten nach der REMIT-

Verordnung vor. Zudem wurden die Beträge von 1 Million Franken und von 500 000

676 / 931

Franken ergänzt, damit die Bestimmung mit Artikel 18 Absätze 4 und 5 der REMIT-

Verordnung kompatibel ist.

Art. 33

Gemeinsame Bestimmungen

Die ElCom ist befugt, eine Untersuchung durchzuführen und die nach den Artikeln 31

und 32 vorgesehenen Sanktionen zu ergreifen, wenn sie schwerwiegendes unzulässi-

ges Marktverhalten nach dem BATE oder nach der REMIT-Verordnung oder einen

schweren Verstoss gegen die vom BATE oder von der REMIT-Verordnung vorgese-

henen Pflichten feststellt. Artikel 33 Absatz 3 bleibt dabei vorbehalten. Artikel 33 Ab-

satz 3 ist gleich aufgebaut wie Artikel 30

a

Absatz 3 E-BATE. Aus diesem Grund kann

hier auf die Erläuterungen zu Letzterem verwiesen werden.

Was die

Absätze 1 und

2 betrifft, so entsprechen diese weitgehend der bisherigen Re-

gelung. Sie werden lediglich redaktionell angepasst, dies infolge der Trennung zwi-

schen dem Gas- und dem Strombereich und aufgrund der Anwendbarkeit der REMIT-

Verordnung.

Der 7. Abschnitt enthält gemeinsame Bestimmungen für den Gas- und den Strombe-

reich.

Art. 34 Abs. 1 erster Satz und Abs. 3 Bst. a

Artikel 34

a

entspricht weitgehend Artikel 34 BATE. Der Artikel wird lediglich re-

daktionell angepasst, dies infolge der Trennung zwischen dem Gas- und dem Strom-

bereich und aufgrund der Anwendbarkeit der REMIT-Verordnung.

Der 8. Abschnitt enthält gemeinsame Bestimmungen für den Gas- und den Strombe-

reich.

Art. 40 Abs. 5

Absatz 5

wird lediglich redaktionell angepasst, dies aufgrund des Stromabkommens.

Art. 42 Abs. 1 Einleitungssatz

Absatz 1

entspricht weitgehend der bisherigen Regelung. Er wird lediglich redaktio-

nell angepasst, dies infolge der Trennung zwischen dem Gas- und dem Strombereich

und aufgrund der Anwendbarkeit der REMIT-Verordnung.

Der 9. Abschnitt enthält gemeinsame Bestimmungen für den Gas- und den Strombe-

reich.

Artikel 18 der REMIT-Verordnung lässt der Schweiz in Bezug auf die strafrechtlichen

Sanktionen einen gewissen Handlungsspielraum. Daher gelten die bisherigen Sankti-

onen weiterhin sowohl für die Teilnehmer am Gasmarkt als auch für die Teilnehmer

am Strommarkt.

Gemäss Artikel 21

a

Absatz 2 der REMIT-Verordnung bewertet die Kommission bis

zum 1. Juni 2025 die Wirksamkeit der Einführung strafrechtlicher Sanktionen durch

die Mitgliedstaaten für vorsätzliche und schwerwiegende Fälle von Marktmissbrauch

auf den Energiegrosshandelsmärkten der Union und legt dem Europäischen Parlament

677 / 931

und dem Rat einen Bericht vor. Im Bericht können geeignete Massnahmen vorge-

schlagen werden, darunter auch die Vorlage eines Gesetzgebungsvorschlags.

Art. 44 Abs. 1 Einleitungssatz und Bst. a und c sowie Abs. 3 und 4

Artikel 44 entspricht weitgehend der bisherigen Regelung. Der Artikel wird lediglich

ergänzt, dies infolge der Trennung zwischen dem Gas- und dem Strombereich und

aufgrund der Anwendbarkeit der REMIT-Verordnung.

Art. 45 Abs. 1 Einleitungssatz

Artikel 45 entspricht weitgehend der bisherigen Regelung. Der Artikel wird lediglich

ergänzt, dies infolge der Trennung zwischen dem Gas- und dem Strombereich und

aufgrund der Anwendbarkeit der REMIT-Verordnung.

2.11.9

Auswirkungen des Paketelements

2.11.9.1

Auswirkungen auf den Bund

Mit dem Stromabkommen entsteht ein zusätzlicher Aufwand. Nachfolgend sind die

personellen und finanziellen Auswirkungen auf den Bund dargestellt. Der Bundesrat

wird den ausgewiesenen Ressourcenbedarf zu gegebener Zeit überprüfen und darauf

achten, dass ein allfälliger Mehrbedarf an Personalaufwand innerhalb des Eigenbe-

reichs des Bundes kompensiert wird.

2.11.9.1.1

Finanzielle Auswirkungen

Ab dem Inkrafttreten des Stromabkommens wird die Schweiz jährlich einen finanzi-

ellen Beitrag an die Aktivitäten von ACER leisten müssen. Der finanzielle Beitrag

besteht aus einem Betriebskostenbeitrag und einer Teilnahmegebühr. Der Betriebs-

kostenbeitrag berechnet sich anhand des jährlichen ACER-Budgets (beispielsweise

33 Millionen Franken im Jahr 2024), reduziert um 15 Prozent, weil die Schweiz mit

dem Abkommen nicht an den Aktivitäten im Gasbereich teilnimmt und multipliziert

mit dem Verhältnis des Schweizer BIPs zu jenem der EU (im Jahr 2023 rund 4,75

Prozent). Die Teilnahmegebühr entspricht 4 Prozent des Betriebskostenbeitrags. Da-

mit entspricht der finanzielle Beitrag in Abhängigkeit des Budgets von ACER jährlich

rund 1,4 Millionen Franken. Der Betrag wird über die Aufsichtsabgabe nach Art. 28

StromVG gegenfinanziert.

Für die Umsetzung von Marktöffnung und Grundversorgung, darunter die Registrie-

rungspflicht für die Lieferanten und ein Vergleichsportal für Angebote im Strom-

markt, hat die ElCom einen Bedarf an finanziellen Ressourcen für IT-Systeme von

einmalig 900'000 Franken und sowie jährlich wiederkehrend 200'000 Franken pro

Jahr.

Darüber hinaus wird ein jährlicher Beitrag der Schweiz an die Unionsdatenbank für

flüssige und gasförmige erneuerbare Brennstoffe (UDB) nach Art. 31 der EU-

Richtlinie für Erneuerbare Energien vorgesehen, die ab dem Inkrafttreten des Abkom-

mens auf rund 50'000 Franken pro Jahr geschätzt werden. Mit der Teilnahme an der

UDB werden der Export und Import von solchen Energieträgern durch die Schweizer

Branchenakteure vereinfacht.

678 / 931

2.11.9.1.2

Personelle Auswirkungen

Um die neuen Aufgaben aus dem Abkommen zu erfüllen, entstehen beim BFE, dem

Bundesamt für Umwelt (BAFU), der ElCom und der WEKO ein Zusatzaufwand, wel-

cher personelle Ressourcen im Umfang von 18 Vollzeitäquivalenten erfordert.

Gemäss Annex I Electricity, Ziffer 16 Buchstabe d Stromabkommen geht die Kom-

petenz für die Netzregulierung spätestens 5 Jahre nach Inkrafttreten des Stromabkom-

mens, voraussichtlich am 1.1.2033 vom BFE an die ElCom über. Hierzu werden künf-

tig zwei Vollzeitäquivalente vom BFE an die ElCom transferiert.

Neue Aufgabenbereiche

Amt/Stel

le(n)

Jahr des Be-

darfs

Gegenfi-

nanzierung

Verwaltung und Weiterentwicklung

des Stromabkommens / Planung

und Durchführung von Sitzungen

des Gemischten Ausschusses

BFE / 1

FTE

1 Jahr vor In-

krafttreten

(IKT) (vo-

raussichtlich

1.1.2027)

-

Politische Mitgestaltung (Policy

Shaping) Weiterentwicklung

Strombinnenmarkt / Austausch mit

EU-Behörden und Behörden der

Nachbarstaaten

BFE / 1

FTE

1 Jahr vor In-

krafttreten

(IKT) (vo-

raussichtlich

1.1.2027)

-

Erfassung und Auswertung neuer

statistischer Daten (Berechnung Er-

füllung des Erneuerbaren Ziels)

BFE / 2

FTE

1 Jahr vor

IKT (voraus-

sichtlich

1.1.2027)

-

Umsetzung der übernommenen Ar-

tikel der Erneuerbaren Richtlinie II

(RED II), u. a. Integration erneuer-

bare Energien ins Energiesystem,

Zertifizierung Erneuerbare Ener-

gien, Berichterstattung

BFE / 2

FTE

1 Jahr vor

IKT (voraus-

sichtlich

1.1.2027)

-

Umsetzung Networkcode zu Cyber-

sicherheit (Zuständigkeit wird auf

Verordnungsebene festgelegt)

BFE

oder El-

Com / 1

FTE

Ab IKT des

Abkommens

(voraussicht-

lich 1.1.2028)

Falls bei El-

com ja, über

int. Auf-

sichtsabgabe

nach Art. 28

StromVG

Zusammenarbeit und Einsitz bei

ACER und anderen Institutionen

bzw. Gremien nach Art. 10 Strom-

abkommen.

ElCom /

2 FTE

Ab IKT des

Abkommens

(voraussicht-

lich 1.1.2028)

Ja, über int.

Aufsichtsab-

gabe nach

679 / 931

Art. 28

StromVG

Umsetzung Marktöffnung, Grund-

versorgung, Begleitmassnahmen:

-

Berechnung und Kontrolle

finanzieller Ausgleich bei

unterjährigem Lieferanten-

wechsel

-

Registrierung von Lieferan-

ten im freien Markt

-

Kontrolle Risikomanage-

ment Lieferanten

-

Kontrolle Kundendienst

Lieferanten

-

Zurverfügungsstellung Ver-

gleichsportal für Lieferan-

gebote

-

Monitoring der wirtschaftli-

chen Entwicklung von

Markt und Grundversor-

gung

-

Monitoring über Auswir-

kungen der Marktöffnung

auf das Personal der Strom-

wirtschaft und Berichter-

stattung an Bundesrat

-

Überprüfung der Mindest-

anforderungen an die Ver-

tragsbedingungen im Markt

ElCom /

7 FTE

Ab IKT des

Abkommens

(voraussicht-

lich 1.1.2028)

-

Neue Aufgaben im Zusammenhang

mit Übernahme RED II, u. a. Zerti-

fizierung erneuerbare Energien,

Monitoring Einhaltung Kriterien

Nachhaltigkeit und Treibhausga-

seinsparungen, Überwachung Zerti-

fizierungsstellen

BAFU /

2 FTE

1 Jahr vor

IKT (voraus-

sichtlich

1.1.2027)

-

680 / 931

2.11.9.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf

urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

Entsprechend dem Verhandlungsmandat schenkte die Schweiz den kantonalen Ho-

heiten bei den Verhandlungen eines Abkommens im Bereich Strom besondere Beach-

tung. Die direkten Auswirkungen insbesondere auf die Kantone, aber auch auf städti-

sche Zentren, Agglomerationen und Berggebiete, beschränken sich auf einzelne

Elemente der Vorlage.

Die Stromtarife variieren regional stark, insbesondere für Haushalte und KMU. Die

Marktöffnung für alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher, die Teil der Umset-

zung des Stromabkommens ist, dürfte die heute regional sehr unterschiedlich hohen

Stromtarife tendenziell ausgleichen. Dies, weil alle Kundinnen und Kunden die Mög-

lichkeit haben, Strom bei einem Anbieter ihrer Wahl einzukaufen und dabei auch auf

den Preis achten werden. Dieser Wettbewerbsdruck kann auch finanzielle Rückwir-

kungen für die Stromunternehmen im Eigentum von Kantonen, Städten und Gemein-

den haben. Auf der anderen Seite führen zusätzliche Handelsgewinne insbesondere

bei Betreibern von Speicher- und Pumpspeicherkraftwerken (s.Ziff. 2.11.9.3) tenden-

ziell zu höheren Steuer- und Dividendeneinnahmen bei Kantonen und Gemeinden.

Eine besonderer und einmaliger Umstellungsaufwand ergibt sich mit den weiterge-

henden Entflechtungsvorgaben für grosse VNB. Dies trifft vor allem bei denjenigen

Kantonen und Städten zu, deren Energieversorger als Verwaltungseinheit oder als öf-

fentlich-rechtliche Anstalt ausgestaltet sind. Sie müssen den Netzbetrieb nicht nur als

separate rechtliche Einheit einrichten, sondern die Organisation insgesamt so anpas-

sen, dass der Netzbetrieb organisatorisch komplett von den anderen Geschäftseinhei-

ten getrennt ist. Zusammen mit der VNB-Entflechtung wechseln auch die Rollen bei

der Grundversorgung: der VNB kann nicht Grundversorger bleiben. Die Aufgabe

wird aber einfach unternehmensintern übertragen. Es braucht daher keine neue Netz-

gebietszuteilung. Wenig Änderung ist für die Kantone und Städte auch bei Swissgrid

zu erwarten; die heutigen öffentlich beherrschten Energieversorger können Aktionäre

von Swissgrid bleiben.

Den VNB wird es ausserdem grundsätzlich nicht möglich sein, Eigentum an Spei-

chern oder Ladeinfrastrukturen für Elektromobilität zu halten und solche Anlagen zu

betreiben.

Beim Netzanschluss müssen die Anschlusskosten und die weiteren Anschlussbedin-

gungen durch die ElCom festgelegt werden, mindestens die entsprechende Methodik.

Zurzeit regeln die Kantone und Gemeinden diese Aspekte. Der Aufgabentransfer zur

ElCom wird spätestens fünf Jahre nach Inkrafttreten des Stromabkommens erfolgen.

Das bringt einmalige Umstellungen mit sich. Der Transfer ist von der Bundeskompe-

tenz nach Artikel 91 BV gedeckt.

Bei der Richtlinie 2018/2001 (Erneuerbaren-Richtlinie, RED II) wurden durch die

Verhandlungen zahlreiche Bereiche vom Abkommen ausgeklammert, die die Kantone

stark betroffen hätten, so unter anderem der Gebäudebereich. Ebenso werden die RED

II-Vorgaben zur Raumplanung und zu den Bewilligungsverfahren für Anlagen der

erneuerbaren Energien, unter anderem zu Fristen und Interessenabwägung, nicht über-

nommen – trotz gleicher Stossrichtung in der Schweiz. Vielmehr muss die Schweiz

681 / 931

nur vergleichbare Regeln haben und kann somit bei den eigenen heutigen Regeln blei-

ben.

Das Abkommen enthält ferner keine Vorgaben zur Vergabe von Wasserkraftkonzes-

sionen und auch der Wasserzins ist mit dem Abkommen nicht in Frage gestellt. Auch

hält das Stromabkommen explizit fest, dass die Schweiz selber über die Nutzung ihrer

Energieresourcen (inkl. Wasserkraft) bestimmen kann. Damit sind die Kantone, Ge-

meinde und Berggebiete, die bei ihrer Energieinfrastruktur stark auf Wasserkraft aus-

gerichtet sind, nicht speziell vom neuen Stromabkommen betroffen. Über die Stär-

kung des Stromaustausches und die Integration der Schweiz in den EU-

Strombinnenmarkt steigt zudem der Wert der Schweizer Wasserkraft.

Grundsätzlich haben Kantone und Gemeinden, welche die Installation von Anlagen

zur Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Quellen fördern, bei der Ausgestaltung

ihrer Förderprogramme die RED II-Förderregeln zu beachten. Dies betrifft je nach

Umsetzung etwa kantonale Förderprogramme oder eigene Aktivitäten der Kantone

bei der Nutzung erneuerbarer Energien. Zu berücksichtigen sind ausserdem die Best-

immungen zu staatlichen Beihilfen, falls eine geplante Unterstützung eine Beihilfe

gemäss Artikel 13 Absatz 1 Stromabkommen darstellt. Dabei ist nicht davon auszu-

gehen, dass es für kantonale oder kommunale Instrumente, die analog zu den im Ab-

kommen für kompatibel erklärten Fördermassnahmen des Bundes ausgestaltet sind,

Anpassungen braucht.

2.11.9.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

2.11.9.3.1

Auswirkungen auf das Stromsystem

Das Stromabkommen verbessert die Einbindung der Schweiz in das Stromsystem der

EU und sichert diese völkerrechtlich ab. Es ermöglicht der Schweiz eine gleichbe-

rechtigte Teilnahme am EU-Strombinnenmarkt, fördert den Stromhandel und trägt zur

Versorgungssicherheit und Netzstabilität bei. Mit dem Stromabkommen erhält die

Schweiz Zugang zur europäischen Marktkopplung. Damit wird sie auch in die EU-

Mechanismen zur Berechnung und Zuteilung der grenzüberschreitenden Kapazitäten

des Übertragungsnetzes (Grenzkapazitäten) eingebunden. Ebenso erhält sie Zugang

zu den europäischen Regelenergieplattformen. Dies erhöht die Effizienz des

Stromsystems, insbesondere indem die Handelsflüsse optimiert und ungeplante Last-

flüsse und Bedarf für kostspielige Eingriffe in den Netzbetrieb (sog. Redispatch) re-

duziert werden.

Ausserdem sichert das Abkommen Import- und Exporttransportkapazitäten für die

Schweiz völkerrechtlich ab. Dies schützt Handelsmöglichkeiten, auch in Zeiten von

Energiekrisen. Zudem wird über die Absicherung der Importtransportkapazitäten die

Versorgungssicherheit gestärkt. Aktuell handelt Swissgrid mit den benachbarten

Übertragungsnetzbetreibern privatrechtliche Verträge aus, um grenzübergreifend die

Netzstabilität und die Importfähigkeit sicherzustellen. Diese Verträge müssen jedoch

periodisch neu verhandelt werden. Es besteht das Risiko, dass sie in Zukunft weniger

vorteilhaft ausfallen oder ganz wegfallen. In diesem Fall besteht eine grosse Unsi-

cherheit bezüglich der Verfügbarkeit von Grenzkapazitäten.

682 / 931

Im Auftrag des BFE hat Ecoplan in einer Studie

577

die volkswirtschaftlichen Auswir-

kungen des Stromabkommens untersucht. Ein wesentlicher Nutzen des Stromabkom-

mens ergibt sich aus der völkerrechtlichen Absicherung der Strom-Grenzkapazitäten

für die Schweiz. Die Studie quantifiziert die Auswirkungen dieser Absicherung mo-

dellbasiert. Die weiteren Auswirkungen werden mangels Quantifizierbarkeit oder auf-

grund von deren geringen Auswirkungen qualitativ beschrieben.

Zur Absicherung der Grenzkapazitäten vergleicht die Studie zwei Szenarien: Das Sze-

nario KEINE KOOPERATION und das Szenario MARKTKOPPLUNG. Das Szena-

rio KEINE KOOPERATION ist ein Extremszenario. Es beschreibt eine Entwicklung

ohne Stromabkommen, in der die Grenzkapazitäten stark reduziert werden, was die

Import- und Exportmöglichkeiten der Schweiz erheblich einschränkt. Solche Ein-

schränkungen sind unwahrscheinlich, aber bei einem Nichtzustandekommen des

Stromabkommens nicht vollständig auszuschliessen. Die EU-Mitgliedsstaaten und

insbesondere die Schweizer Nachbarstaaten haben auch ohne Stromabkommen ein

grosses Eigeninteresse an einem effizient funktionierenden Stromhandel mit der

Schweiz. Es gibt jedoch regulatorische, technische, wirtschaftliche und politische

Gründe, die zum Eintreten eines solchen Szenarios führen könnten. Zu den regulato-

rischen Gründen gehören die Umsetzung des EU-Kriteriums, dass 70 Prozent der für

den Austausch von Strom relevanten Netzkapazitäten dem Handel zur Verfügung ste-

hen müssen sowie der Ausschluss aus den gemeinsamen Mechanismen für die Kapa-

zitätsberechnung und den Kooperationen zum Betrieb der Übertragungsnetze. Konk-

ret kann es sein, dass die Nachbarstaaten Grenzkapazitäten zur Schweiz reduzieren,

um das Einhalten der 70-Prozent-Regel gewährleisten zu können. Ausserdem werden

ohne Stromabkommen die Grenzkapazitäten weiterhin explizit (und nicht implizit wie

im Falle einer Marktkopplung) für die Schweiz vergeben. Je nach Berechnungsme-

thode können mehr oder weniger geringe Grenzkapazitäten für die Schweiz resultie-

ren. Technische Gründe können die Einspeisung erneuerbarer Energien und die Ver-

meidung von Netzengpässen sein. Bei den wirtschaftlichen Gründen kommen die

Reduktion von Redispatchkosten in Nachbarstaaten zum Tragen. Zu den politischen

Gründen könnte gehören, dass die EU die Zusammenarbeit mit der Schweiz im Strom-

bereich einschränkt, auch wenn das für sie ebenfalls nicht vorteilhaft ist. Das Szenario

MARKTKOPPLUNG stellt eine Situation mit Stromabkommen dar. Aufgrund der

weiter oben aufgeführten Gründe ist unklar, inwiefern eine für die Schweiz vorteil-

hafte technische Kooperation bei einem Scheitern des Abkommens noch möglich ist,

und welche Grenzkapazitäten aus dieser Kooperation resultieren könnten. Die Studie

quantifiziert diese Unsicherheit: ohne Stromabkommen wird die Schweiz sich in einer

Lage wiederfinden, die sich je nach Erfolg der technischen Kooperation irgendwo

zwischen den Szenarien KEINE KOOPERATION und MARKTKOPPLUNG befin-

den würde. Auf jeden Fall bietet eine technische Kooperation durch privatrechtliche

Verträge eine deutlich geringere Rechtssicherheit als ein Stromabkommen.

Laut Studie kann das Stromabkommen die Handelsgewinne steigern und die Energie-

systemkosten senken. So könnten mit dem Stromabkommen (MARKTKOPPLUNG)

im Zeitraum 2030 bis 2050 potenziell zusätzliche Handelsgewinne im Strombereich

577

Ecoplan im Auftrag des BFE (14.05.2025): Stromabkommen zwischen der Schweiz und

der EU. Volkswirtschaftliche Auswirkungen. Abrufbar unter: www.bfe.admin.ch > Ver-

sorgung > Stromversorgung > Stromabkommen Schweiz – EU.

683 / 931

im Umfang von jährlich rund 0.5 bis 1.2 Milliarden Franken erzielt werden. Dies im

Vergleich zu einem Szenario KEINE KOOPERATION. Ohne völkerrechtliche Absi-

cherung der Grenzkapazitäten muss die Schweiz zudem mit höheren Stromsystem-

kosten rechnen. Stellt man diese in Form von zusätzlicher Stromproduktion im Inland

dar, so könnten bis ins Jahr 2050 zusätzliche heimische Kraftwerke zur Produktion

von Winterstrom mit jährlichen Kosten in der Grössenordnung von bis zu rund einer

Milliarde Franken notwendig werden, um eine dem Szenario MARKTKOPPLUNG

äquivalente Versorgungslage zu erreichen. Dies zusätzlich zum Ausbau der erneuer-

baren Energien und der Wasserkraft gemäss geltenden gesetzlichen Zielen nach dem

Bundesgesetz für eine sichere Versorgung mit erneuerbaren Energien, der in beiden

Szenarien umgesetzt wird. Ob sich diese Umsetzung realisieren wird, ist unsicher.

2.11.9.3.2

Auswirkungen auf Strompreise, Bruttoinlandsprodukt

(BIP) und Wohlfahrt

Dank der Absicherung der Grenzkapazitäten führt das Stromabkommen in der

Schweiz in der Tendenz zu tieferen Strompreisen, sofern mit einem Stromabkommen

vor allem die Import-Grenzkapazitäten höher liegen als ohne Stromabkommen. So

würden im Szenario MARKTKOPPLUNG beispielsweise im Jahr 2050 die Strom-

preise um rund 14 Prozent niedriger liegen als im Extremszenario KEINE

KOOPERATION. Mit den tieferen Strompreisen würde sich auch das BIP erhöhen –

also die Wirtschaftsaktivität.

Tiefere Strompreise erhöhen die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft und

verbessern die Kaufkraft der Haushalte, was für ein höheres BIP verantwortlich ist.

Auch auf die Wohlfahrt zeigen sich leicht positive Auswirkungen, wie Abbildung 1

entnommen werden kann.

Abbildung 2.11.9.3.2 (1): Potenzielle Auswirkungen des Stromabkommens auf

Strompreise, BIP und Wohlfahrt

684 / 931

Lesehilfe: Es ist unsicher, mit welchen Grenzkapazitäten die Schweiz ohne Stromabkommen mit

oder ohne technische Kooperation rechnen könnte. Daher ist auch unsicher, wie hoch der poten-

zielle Nutzen mittels Stromabkommen und den damit abgesicherten Grenzkapazitäten ist. Der

Farbverlauf der Abbildung illustriert diese Unsicherheit.

578

2.11.9.3.3

Auswirkungen auf Endverbraucher

Von potenziell tieferen Strompreisen würden Firmen und Haushalte profitieren. So

könnte das Stromabkommen die Wettbewerbsfähigkeit sichern und stärken. Laut Be-

rechnungen liegt der Bruttoproduktionswert bei hohen Grenzkapazitäten (gemäss dem

Szenario MARKTKOPPLUNG) im Jahr 2050 bei den stromintensiven Sektoren um

rund 2 Prozent höher als bei eingeschränkten Grenzkapazitäten (gemäss dem Szenario

KEINE KOOPERATION). Auch Haushalte profitieren leicht. Potenziell tiefere

Strompreise und höhere Wirtschaftsaktivität führen zu leicht höheren Löhnen und in

der Tendenz zu einer höheren Beschäftigung.

Die bisher insbesondere unter Ziff. 2.11.9.3.1 und 2.11.9.3.2 beschriebenen Effekte

beziehen sich auf quantitative Analysen

579

. Diese beziffern allein die Auswirkungen

der völkerrechtlichen Absicherung der Grenzkapazitäten. Die volkswirtschaftlichen

Auswirkungen der anderen Massnahmen des Stromabkommens können nicht belast-

bar quantifiziert werden. Neben der Absicherung der Grenzkapazitäten können jedoch

auch der Zugang zum EU-Strombinnenmarkt, die Einbindung in die Mechanismen

zur Vergabe der grenzüberschreitenden Kapazitäten (Kapazitätsallokation), der Zu-

gang zu Regelenergieplattformen sowie die Strommarktöffnung für alle Endverbrau-

cherinnen und Endverbraucher die Endverbraucherpreise für Strom senken. Im ge-

koppelten EU-Strombinnenmarkt werden die Grenzkapazitäten heute anhand

einheitlicher Regeln berechnet und implizit an die optimalen Marktangebote zugeteilt.

Dies reduziert Transaktionskosten und Risiken im Stromhandel und erhöht die öko-

nomische Effizienz des Stromsystems. Die Teilnahme an den Regelenergiemärkten

reduziert die Beschaffungskosten für die Swissgrid, ermöglicht den Schweizer

Stromhändlern Handelsopportunitäten und verringert das Risiko von Instabilität im

Stromnetz. Entsprechend fallen Folgekosten für Eingriffe in den operativen Netzbe-

trieb, Netzverstärkungen und Netzausbauten in der Tendenz geringer aus. Auch sinkt

der Bedarf für die Bereitstellung von Regelenergie für die Regelzone Schweiz. Dies

dürfte sich im Vergleich zu einer Situation ohne Stromabkommen für die Konsumen-

ten in einer Reduktion der Höhe des Energieteils und der Übertragungsnetzkosten auf

der Stromrechnung niederschlagen.

Die Strommarktöffnung für alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher mit Mög-

lichkeit zum Verbleib in der Grundversorgung fördert den Wettbewerb und gibt den

Stromlieferanten Effizienzanreize. Es ist weiterhin eine regulierte Grundversorgung

in weitgehender Anlehnung an das Bundesgesetz für eine sichere Stromversorgung

mit erneuerbaren Energien vorgesehen. Sowohl bei den Mindestanteilen als auch beim

Standardstromprodukt entfällt die Vorgabe hinsichtlich der inländischen Herkunft der

578

Abrufbar unter: www.bfe.admin.ch > Versorgung > Stromversorgung > Stromabkommen

Schweiz – EU.

579

Abrufbar unter: www.bfe.admin.ch > Versorgung > Stromversorgung > Stromabkommen

Schweiz – EU.

685 / 931

Energie. Der Schwellenwert für die regulierte Grundversorgung wird auf einen Jah-

resverbrauch pro Verbrauchsstätte von 50 MWh gesenkt. Aufgrund der Möglichkeit

für die Verbraucher, den Anbieter zu wechseln, werden heutige regionale Strompreis-

unterschiede über die Marktangebote reduziert, und es kann aufgrund des stärkeren

Wettbewerbs ein Druck auf die Preise entstehen. Davon können v.a. die KMU und

die Haushalte profitieren, die bislang in der Grundversorgung beim lokalen Energie-

versorger gebunden waren. Allerdings dürfte bei den kleineren Kunden eine begrenzte

Wechselbereitschaft bestehen. Insgesamt dürfte die Strommarktöffnung zwar positive

Effekte auf Preise und Vielfalt des Angebotes haben. Die zu erwartenden wirtschaft-

lichen Vorteile könnten aber eher gering ausfallen. Profitieren könnten am ehesten

wechselwillige Kleinbetriebe sowie Haushalte in derzeit teuren Versorgungsgebieten.

Bei den Grosskunden entfällt oberhalb von 50 MWh ein Grundversorgungsangebot.

Sie können sich über eine strukturierte Beschaffung gegen Marktpreisschwankungen

schützen.

Auch künftig sind geo- oder energiepolitische Verwerfungen mit temporär stark stei-

genden Strompreisen nicht auszuschliessen. Um die Auswirkungen solcher Perioden

auf den Strommarkt und die Endverbraucher zu lindern, werden die Grundversorger

analog zum aktuell geltenden StromVG zu einer strukturierten Beschaffung und einer

Absicherung gegenüber Marktpreisschwankungen verpflichtet. Zudem sichern die

weitgehende Kostenregulierung, die Preisfixierung für ein Jahr und die Vorgaben an

die Nutzung des eigenerzeugten Stroms in der Grundversorgung ein attraktives An-

gebot ab, speziell wenn es eine relevante Eigenerzeugung gibt. Darüber hinaus wird

der Bundesrat ermächtigt, Vorgaben für das Risikomanagement für die Lieferanten

im Markt zu treffen.

2.11.9.3.4

Auswirkungen auf die Strombranche

Das Stromabkommen ermöglicht insbesondere den Betreibern von Speicher- und

Pumpspeicherkraftwerken zusätzliche Handelsgewinne (siehe Ziff. 2.11.9.3.1). Eine

gegenseitige Anerkennung von HKN aufgrund eines Stromabkommens kann zudem

Mehreinnahmen durch HKN-Exporte in die EU ermöglichen und zu positiven Effek-

ten in Form einer höheren Produzentenrente für die Schweizer Produzenten von er-

neuerbarem Strom führen. Allerdings geht das Stromabkommen auch mit dem Weg-

fall des Pflichtanteils an einheimischem Strom in der Grundversorgung einher. Dies

könnte die Preise von Schweizer HKN senken. Die gesamthaften Auswirkungen des

Stromabkommens auf das Preisniveau der Schweizer HKN sind somit unsicher.

Mit Inkrafttreten des Stromabkommens werden die noch bestehenden Einspeisevor-

ränge für Strom aus langfristigen Verträgen (Long Term Contracts, LTCs) zwischen

französischen und schweizerischen Stromproduzenten sowie Händlern abgeschafft.

Diese Verträge profitieren von einer Reservierung von grenzüberschreitenden Über-

tragungskapazitäten und gewähren den Vertragsinhabern einen Vorteil gegenüber an-

deren Marktteilnehmern. Die Abschaffung dieser Einspeisevorränge ermöglicht den

Übertragungsnetzbetreibern, Engpasserlöse zu generieren, die zur Senkung der Netz-

kosten und somit zur Reduktion der Strompreise für Endverbraucher beitragen kön-

nen. Die Vermeidung von Marktverzerrungen kann zudem anderen Marktteilnehmern

Chancen eröffnen. Die Abschaffung der Einspeisevorränge für LTC bedeutet höhere

686 / 931

Kosten für LTC-Halter, da sie ihre bisherige Besserstellung verlieren. Im Stromab-

kommen ist jedoch eine finanzielle Entschädigung der LTC-Halter während einer

Übergangsfrist von sieben Jahren ab Inkrafttreten vorgesehen. Wasserkraftwerke an

der Schweizer Grenze mit bestehenden und geringfügigen Einspeisevorrängen unter

65 MW können diese während einer Übergangsfrist von 15 Jahren ab Inkrafttreten

beibehalten. Im Anschluss entfallen die Vorränge, was teilweise zu Anpassungsbedarf

in bilateralen Staatsverträgen und den Konzessionen der entsprechenden Kraftwerke

führt.

Die europäischen Vorschriften im Zusammenhang mit der Entflechtung von Vertei-

lernetzbetreibern gehen weiter als das Schweizer Recht (siehe auch «Auswirkungen

auf die Kantone sowie Städte» unter Ziff. 2.11.9.2). Die weitergehende Entflechtung

von VNB dürfte im Rahmen eines Stromabkommens mit der EU tendenziell positive

Effekte auf den Wettbewerb und die Effizienz ausüben, aber gleichzeitig zu einmali-

gen Transformationskosten sowie allfällig verminderten Synergien bei den betroffe-

nen Unternehmen führen. Insgesamt dürfte die Entflechtung von VNB zu geringen

volkswirtschaftlichen Auswirkungen führen, auch weil nur eine geringe Zahl der

VNB betroffen ist.

Die Schweiz hat sich unter dem Pariser Klimaübereinkommen

580

völkerrechtlich zu

Netto-Null-Treibhausgasemissionen im Jahr 2050 verpflichtet. Dies bedeutet eine

umfassende Transformation des Energiesystems. So muss die erneuerbare Erzeu-

gungskapazität in der Schweiz massiv zugebaut werden. Der Anteil von Strom am

Endenergieverbrauch wird gemäss Energieperspektiven 2050+ von heute 26 Prozent

längerfristig auf ungefähr 45 Prozent steigen. Insbesondere beim Wärmebedarf von

Haushalten und im Strassenverkehr ist eine weitgehende Elektrifizierung des Ener-

giebedarfs notwendig. Die Wichtigkeit der Strombranche nimmt entsprechend zu, und

im Schweizer Energiesektor ist aufgrund der Dekarbonisierung mit positiven Beschäf-

tigungseffekten zu rechnen

581

. Das Stromabkommen schafft mit der Marktöffnung für

alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher ein breiteres Feld für Produkt- und

Prozessinnovationen, sowie die Entwicklung von neuen Geschäftsmodellen. Die

Marktöffnung bringt entsprechend für die Strombranche mehr Wettbewerb und einen

gesteigerten Effizienzdruck. Die kumulierten Beschäftigungseffekte des Stromab-

kommens für die Strombranche sind schwer zu bestimmen. Sie entfalten sich jedoch

in einem sehr dynamischen Marktumfeld.

Die Regulierungskosten für die Strombranche fallen vor allem aufgrund der Umset-

zung der weiterreichenden Entflechtung an. Zudem gibt es relevante Anpassungskos-

ten bei den Prozessen aufgrund der Marktöffnung für alle Endverbraucherinnen und

Endverbraucher und der Harmonisierung mit den Vorschriften der EU im Bereich

Marktintegrität und Transparenz bzw. den Anpassungen beim BATE. Diese Umset-

zungskosten entstehen vor allem während der Einführung der Strommarktöffnung.

580

SR

0.814.012

581

Bericht des Bundesrates (2023): Arbeitsplatzpotenzial durch Förderung erneuerbarer Ener-

gien und Energieeffizienz. In Erfüllung des Postulates 19.3562 Nadine Masshardt vom 6.

Juni 2019.

687 / 931

Aufgrund des aktuellen Fachkräftemangels in der Strombranche und der Ausgestal-

tung der Marktöffnung mit einer regulierten Grundversorgung ist nicht davon auszu-

gehen, dass grosse negative Auswirkungen auf das Personal der Stromwirtschaft ein-

treten. Falls dies dennoch der Fall sein wird, trifft der Bundesrat geeignete

Gegenmassnahmen.

2.11.9.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Die Marktöffnung für alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher führt grundsätz-

lich zu einem dynamischeren Umfeld, aus der sich neue Herausforderungen aber auch

Chancen sowohl für die Endverbraucherinnen und Endverbraucher wie auch für die

Beschäftigten in der Strombranche ergeben. Diese können vor allem von der Dynamik

neuer Marktideen profitieren. Die Innovationen aus der Strommarktöffnung tragen zu

einer besseren gesellschaftlichen Integration der erneuerbaren Energien bei.

2.11.9.5

Auswirkungen auf die Umwelt

Die Umwelteffekte des Stromabkommens ergeben sich vor allem aufgrund der zu er-

wartenden Steigerung der Effizienz des Stromsystems sowie der völkerrechtlichen

Absicherung der Grenzkapazitäten, die den notwendigen Ausbau der Energieinfra-

struktur während der Transition zu Netto-Null-Emissionen gegenüber einem Szenario

ohne Stromabkommen reduzieren könnte (s. Ziff. 2.11.9.3«Auswirkungen auf die

Volkswirtschaft»). Allgemein stärkt das Stromabkommen zwischen der Schweiz und

der EU die Versorgungssicherheit und unterstützt damit die Elektrifizierung und De-

karbonisierung der Schweiz.

Die Äquivalenz des Schweizer Umweltrechts mit dem

im Stromabkommen aufgeführten EU-Umweltrecht im Strombereich ist aktuell gege-

ben. Es gibt keinen Anpassungsbedarf im Schweizer Umweltrecht auf Gesetzesstufe.

Deswegen ergeben sich daraus keine nennenswerten Auswirkungen auf die Schweiz.

2.11.9.6

Andere Auswirkungen

Die Schweiz ist auf die technische Einbindung ins europäische Stromsystem angewie-

sen. Swissgrid steht dazu als Betreiberin des Übertragungsnetzes in engem Austausch

mit den Betreibergesellschaften der Nachbarstaaten. Dabei stösst die Swissgrid auf-

grund der mangelnden Integration der Schweiz in den EU-Strombinnenmarkt immer

häufiger auf Widerstand seitens der EU. Mit dem Stromabkommen werden die ent-

sprechenden Rahmenbedingungen für eine bessere technische Einbindung geschaf-

fen.

2.11.10

Rechtliche Aspekte des Paketelements

2.11.10.1

Verfassungsmässigkeit des Abkommens

Das Stromabkommen stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 der BV, wonach der Bund

für die auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV ermäch-

tigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge zu unterzeichnen und zu ratifizieren.

Die Bundesversammlung ist nach Artikel 166 Absatz 2 BV für die Genehmigung völ-

kerrechtlicher Verträge zuständig, sofern für deren Abschluss nicht aufgrund von Ge-

setz oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (Art. 24 Abs. 2 ParlG;

688 / 931

Art. 7

a

Abs. 1 RVOG). Beim Stromabkommen handelt es sich nicht um einen völker-

rechtlichen Vertrag, für dessen selbstständigen Abschluss der Bundesrat aufgrund ei-

nes Gesetzes oder eines von der Bundesversammlung genehmigten völkerrechtlichen

Vertrags ermächtigt ist. Insbesondere gestatten die Artikel 24 StromVG, Artikel 54

EnG und Artikel 45 E-BATE dem Bundesrat nur, Verträge von beschränkter Trag-

weite nach Artikel 7

a

Absatz 2 RVOG abzuschliessen, bzw. solche, die nicht dem

Referendum unterliegen. Zudem erfordert die Umsetzung des Stromabkommens den

Erlass von Bundesgesetzen. Das Stromabkommen ist folglich der Bundesversamm-

lung zur Genehmigung zu unterbreiten.

2.11.10.2

Verfassungsmässigkeit der Umsetzungsgesetzgebung und

Begleitmassnahmen

2.11.10.2.1

Zuständigkeit

Die Änderungen im StromVG umfassen insbesondere Vorgaben zur Öffnung des

Elektrizitätsmarktes für alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher, die Ausge-

staltung der Grundversorgung, die Einspeisevorränge bei Grenzkapazitäten im Zu-

sammenhang mit Langfristbezugsverträgen (LTC-Vorränge), die Entflechtung der

Netzbetreiber, die EU-konforme Ausgestaltung der nationalen Netzgesellschaft, die

Angemessenheit der Ressourcen und die Energiereserve. Diese Gesetzesbestimmun-

gen stützen sich in erster Linie auf Artikel 91 Absatz 1 BV, welcher dem Bund eine

umfassende Gesetzgebungskompetenz zum Erlass von Vorschriften über den Trans-

port und die Lieferung elektrischer Energie verleiht. In den beiden Sachbereichen

kann der Bundesgesetzgeber alle Fragen regeln, die einen Bezug dazu haben. Er kann

namentlich die Übertragung monopolisieren, Tarifvorschriften erlassen, Regelungen

betreffend Unternehmungen der Elektrizitätswirtschaft aufstellen, ein Netzzugangs-

recht verankern sowie Massnahmen betreffend Versorgungssicherheit, wie An-

schluss- und Lieferpflichten, vorsehen

582

. Die Vorgaben zur Grundversorgung (Re-

gistrierungspflicht

für

Lieferanten,

Vergleichsinstrumente,

Monitoring,

Ersatzversorgung und Schlichtung) stützen sich zudem auf Artikel 97 Absatz 1 BV,

der dem Bund die Kompetenz einräumt, Massnahmen zum Schutz der Konsumentin-

nen und Konsumenten zu treffen. Für die Änderung der Vorgaben zur Energiereserve

dient ferner Artikel 102 Absatz 1 BV über die wirtschaftliche Landesversorgung als

Grundlage.

Die im EnG vorgesehenen Anpassungen zur Abnahme- und Vergütungspflicht sowie

die Anpassung der Förderungen stützen sich auf die Verfassungsbestimmungen zur

Energiepolitik (Art. 89 Abs. 2 und 3 BV), zum Transport von Energie (Art. 91 Abs. 1

BV) und zum Umweltschutz (Art. 74 Abs. 1 und 2 BV).

583

Die Änderungen des BATE stützen sich in erster Linie auf Artikel 91 Absatz 1 BV.

Des Weiteren dient auch Artikel 95 Absatz 1 BV als Grundlage, womit dem Bund die

582

René Schaffhauser in: Ehrenzeller et al., St. Galler Kommentar zur Schweizerischen Bun-

desverfassung (2023), Rz. 3 zu Art. 91; Riccardo Jagmetti, in: Schweizerisches Bundes-

verwaltungsrecht, Band VII Energierecht, § 6, N 6111, Basel 2005.

583

Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen in der Botschaft vom 4. September 2013 zum

ersten Massnahmenpaket der Energiestrategie 2050, BBl 2013 7561, hier 7740–7742.

689 / 931

Kompetenz übertragen wird, Vorschriften über die privatwirtschaftliche Erwerbstä-

tigkeit zu erlassen sowie Artikel 96 BV, der dem Bund erlaubt, Vorgaben zur Wett-

bewerbspolitik zu treffen. Artikel 101 BV bildet schliesslich die verfassungsrechtliche

Grundlage in Bezug auf die grenzüberschreitenden Auswirkungen der im BATE vor-

gesehenen Regelungen.

2.11.10.2.2

Vereinbarkeit mit Grundrechten

Die Vorlage wahrt die verfassungsmässigen Grundrechte, insbesondere die Eigen-

tumsgarantie (Art. 26 BV) und die Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV). Sie enthält keine

Vorschriften, die sich gegen den Wettbewerb richten, wie dies etwa bei wirtschafts-

oder standespolitischen Massnahmen der Fall ist. Die im StromVG vorgesehenen Än-

derungen stehen vielmehr im Interesse der freien Gestaltung der Geschäftsbeziehun-

gen, so namentlich die Strommarktöffnung für alle Endverbraucherinnen und Endver-

braucher und die Entflechtungsmassnahmen. Die Energiereserve spielt sich

ausserhalb des Marktgeschehens ab. Auf die (reguläre) Stromproduktion zeitigt sie

keinerlei Einfluss. Zu einem Eingriff in die Eigentumsgarantie und die Wirtschafts-

freiheit käme es erst dann, wenn das UVEK den Betreiber eines Reservekraftwerks,

einer Notstromgruppe oder einer WKK-Anlage zur Teilnahme an der Energiereserve

verpflichten würde. Dieser allfällige Grundrechtseingriff wäre im Lichte von Artikel

36 BV zulässig

584

.

Auch die Rechtsgleichheit bleibt vorliegend gewahrt. Die vorgenommenen Differen-

zierungen sind alle sachlich begründet. Dies gilt insbesondere für die Ausgestaltung

der Marktöffnung. Dass die Grundversorgung in Zukunft nur noch den kleineren End-

verbrauchern (Jahresverbrauch von weniger als 50 MWh) offensteht, begründet sich

mit dem erhöhten Schutzbedarf, insbesondere der Haushaltskunden, und entspricht im

Übrigen auch den Vorgaben des EU-Rechts.

2.11.10.3

Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen der

Schweiz

Elektrizität gilt im Welthandelsrecht als gewöhnliche Handelsware. Die Prinzipien

des Abkommens vom 15. April 1994

585

zur Errichtung der Welthandelsorganisation

bzw. des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens vom 30. Oktober 1947

586

(GATT) finden somit auch auf den Stromhandel Anwendung. Aufgaben mit Dienst-

leistungscharakter unterstehen dem Allgemeinen Abkommen über den Handel mit

Dienstleistungen

587

. Der Umgang mit staatlichen Beihilfen wiederum richtet sich nach

dem Übereinkommen über Subventionen und Ausgleichsmassnahmen

588

(SCM) und

die Einführung von technischen Vorschriften und Standards unterliegen den Bestim-

mungen des Übereinkommens über technische Handelshemmnisse

589

(TBT). Im Ver-

hältnis zur EU sowie zu den EFTA-Staaten sind überdies das Abkommen vom 22. Juli

584

Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen in der Botschaft vom 1. März 2024 zur Ände-

rung des Stromversorgungsgesetztes, BBl 2024 710, Kap. 7.1.2.

585

SR

0.632.20

586

SR

0.632.21

587

SR

0.632.20

, Anhang 1B

588

SR

0.632.20

, Anhang 1A.13

589

SR

0.632.20

, Anhang 1A.6

690 / 931

1972

590

zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen

Wirtschaftsgemeinschaft zu beachten.

Aus diesen Abkommen lässt sich für die Schweiz kein Zugang zum Strombinnen-

markt der EU ableiten, da sie namentlich keine Vorgaben über den grenzüberschrei-

tenden Netzzugang oder die Teilnahme an der EU-Marktkopplung enthalten. Solche

Bestimmungen finden sich in spezifischen EU-Rechtsakten, die nun aufgrund des

Stromabkommens im entsprechenden Umfang auch für die Schweiz gelten werden.

Auch mit dem revidierten Übereinkommen zur Errichtung der Europäischen Freihan-

delsassoziation (EFTA-Übereinkommen)

591

ist das Stromabkommen vereinbar. Das

Stromabkommen findet nur im Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU und ih-

ren Mitgliedstaaten, nicht aber im Verhältnis zu den EFTA-Staaten Anwendung.

Um weiterhin möglichst einheitliche Regeln zwischen den EU- und EFTA-

Mitgliedstaaten zu gewährleisten, wird eine Anpassung des EFTA-Übereinkommens

an das Stromabkommen Schweiz-EU zu prüfen sein.

Das Stromabkommen und die Vorentwürfe für die Umsetzungsgesetzgebung tragen

den bestehenden internationalen Verpflichtungen Rechnung. Im Sinne des internatio-

nalen Handelsrechts steht insbesondere die Strommarktöffnung für alle Endverbrau-

cherinnen und Endverbraucher.

Bei der Zuteilung von Kapazitäten im grenzüberschreitenden Übertragungsnetz wur-

den bisher gewissen Lieferungen ein Vorrang eingeräumt (Art. 17 Abs. 2 StromVG).

Dies betrifft zum einen die Lieferungen aus internationalen Bezugs- und Lieferverträ-

gen, die vor dem 31. Oktober 2002 abgeschlossen worden sind und zum anderen Lie-

ferungen aus Grenzwasserkraftwerken, soweit die grenzüberschreitende Übertragung

zur Sicherstellung der jeweiligen Hoheitsanteile nötig ist. In Umsetzung des Strom-

abkommens

592

fallen diese Vorränge nun dahin, mit Ausnahme der Lieferungen aus

Grenzwasserkraftwerken mit einer Kapazitätsreservierung von maximal 65 MW. In-

folge dieser Änderung muss das Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidge-

nossenschaft und der Französischen Republik über den Ausbau der Wasserkräfte bei

Emosson vom 23. August 1963 entsprechend angepasst werden.

2.11.10.4

Erlassform

Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 der BV unterliegen völkerrechtliche

Verträge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige rechtsetzende Bestimmun-

gen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Nach

Artikel 22 Absatz 4 des Parlamentsgesetzes (ParlG; SR 171.10) sind unter rechtset-

zenden Normen jene Bestimmungen zu verstehen, die in unmittelbar verbindlicher

und generell-abstrakter Weise Pflichten auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständig-

keiten festlegen. Als wichtig gelten Bestimmungen, die auf der Grundlage von Artikel

164 Absatz 1 BV in der Form eines Bundesgesetzes erlassen werden müssten.

590

SR

0.632.401

591

SR

0.632.31

592

Annex II Section B und C

691 / 931

Das Stromabkommen enthält wichtige rechtsetzende Bestimmungen und erfordert für

seine Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen. Der Bundesbeschluss über die Ge-

nehmigung des Vertrages ist deshalb dem fakultativen Referendum nach Artikel 141

Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV zu unterstellen (siehe aber die Varianten in

Ziff. 4.1). Zur Frage der Bündelung der Umsetzungsgesetzgebung, siehe Ziff. 4.3.

2.11.10.5

Vorläufige Anwendung

Es ist keine vorläufige Anwendung vorgesehen.

2.11.10.6

Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass

2.11.10.6.1

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Mit der Vorlage werden keine Ausgaben, die über einem der Schwellenwerte liegen

geschaffen noch neue Verpflichtungskredite oder Zahlungsrahmen mit Ausgaben

über einem der Schwellenwerte beschlossen. Die Vorlage ist somit nicht der Ausga-

benbremse (Art. 159 Abs. 3 Bst. b BV) unterstellt.

2.11.10.6.2

Einhaltung der Grundsätze des Subventionsgesetzes

Mit der Vorlage werden keine neuen Subventionsbestimmungen geschaffen. Im Ge-

genteil, es werden Fehlanreize bei bestehenden Unterstützungen eliminiert.

2.11.10.6.3

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

Die dem Bundesrat übertragenen Rechtsetzungsbefugnisse beschränken sich jeweils

auf einen bestimmten Regelungsgegenstand und sind nach Inhalt, Zweck und Aus-

mass hinreichend konkretisiert.

Die Delegationen, die im StromVG vorgesehen sind, betreffen die Stromlieferverträge

(Art. 4

c

Abs. 2), den Lieferantenwechsel (Art. 4

d

Abs. 3), die Grundversorgung

(Art. 6 Abs. 5), die Tarifgestaltung und Rechnungsstellung (Art. 7 Abs. 4), die Min-

destanteile an erneuerbarer Energie (Art. 7

a

Abs. 3), die Ersatzversorgung (Art. 7

c

Abs. 2), den Abruf der Energiereserve (Art. 8

b

quater

Abs. 4), die Mehrjahrespläne

(Art. 9

d

Abs. 3), die Entflechtungsvorgaben (Art. 10 Abs. 4 und 5), die Information

und Rechnungsstellung (Art. 12 Abs. 3), die nationale Netzgesellschaft (Art. 18

Abs. 8), das Monitoring (Art. 22

b

Abs. 4) und das Vergleichsinstrument (Art. 23

a

Abs. 2).

Im BATE betreffen die Delegationen die bestehende Bestimmung zur Übermittlung

von Informationen an die ElCom (Art. 12 Abs. 11) sowie die Umsetzung der Pflichten

und der Verbote nach der Verordnung (EU) Nr. 1227/2011 (Art. 20

a

Abs. 2).

Im EnG werden keine neuen Delegationsbestimmungen vorgesehen.

2.11.10.7

Datenschutz

In Artikel 25 Absatz 1 wird der Kreis der Auskunftspflichtigen um die Betreiber von

Strombörsen und die Ombudsstelle erweitert. Bei den betroffenen Daten handelt es

sich nicht um besonders schützenswerte Daten im Sinne von Artikel 5 Buchstabe c

DSG.

692 / 931

Eine weitere Pflicht zur Lieferung von Daten ergibt sich aus der Registrierungspflicht

für Lieferanten nach Artikel 4

b

StromVG. Von dieser Regelung sind lediglich die

Daten juristischer Personen betroffen (Art. 57

r

RVOG).

Im BATE wird die Rechtsgrundlage für die Datenbearbeitung (Art. 24 Abs. 1) er-

gänzt. Die ElCom kann gestützt darauf neu auch alle Daten bearbeiten, die sie für die

Erfüllung ihrer Aufgaben aus der REMIT-Verordnung benötigt. Dies umfasst auch

die Bearbeitung besonders schützenswerter Personendaten und besonders schützens-

werter Daten juristischer Personen. Im Übrigen kann auf die Botschaft vom 29. No-

vember 2023

593

verwiesen werden.

593

BBl

2023

2864, Kap. 7.5

693 / 931

2.12

Lebensmittelsicherheit

2.12.1

Zusammenfassung

Das Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäi-

schen Gemeinschaft über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen vom

21. Juni 1999

594

(nachfolgend

Landwirtschaftsabkommen

) regelt den Handel mit Ag-

rarerzeugnissen zwischen der Schweiz und der EU. Die EU ist bei den Argrarerzeug-

nissen die wichtigste Handelspartnerin der Schweiz: Im Jahr 2023 gingen 50% der

Exporte in die EU, 74% der Importe stammten aus der EU. Allerdings werden we-

sentliche Bereiche dieses Handels – wie namentlich die nichttierischen Lebensmittel

– vom Landwirtschaftsabkommen bisher nicht erfasst.

Im Bereich der Lebensmittelsicherheit war es daher das Ziel des Bundesrates, das

Landwirtschaftsabkommen um diesen Bereich zu erweitern. Damit soll mittels An-

wendung derselben Rechtsvorschriften ein gemeinsamer Lebensmittelsicherheits-

raum mit der EU geschaffen werden, der alle pflanzengesundheitsrelevanten, veteri-

när- und lebensmittelrechtlichen Aspekte entlang der Lebensmittelkette umfasst. Der

gemeinsame Lebensmittelsicherheitsraum zielt einerseits darauf ab, den Verbraucher-

schutz zu stärken, so zum Beispiel durch die Beteiligung der Schweiz an den Warn-

systemen der EU und an der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA.

Andererseits wird die Binnenmarktbeteiligung im Lebensmittelbereich für Schweizer

Produzentinnen und Produzenten durch einen umfassenden Abbau nichttarifärer Han-

delshemmnisse weiter erleichtert und deckt neu auch nicht-tierische Lebensmittel so-

wie Pflanzenschutzmittel ab. Ausnahmen verhindern eine Senkung der in der Schweiz

geltenden Standards, insbesondere in den Bereichen des Tierschutzes und der neuen

Technologien in der Lebensmittelproduktion (hinsichtlich gentechnisch veränderter

Organismen). Auch eine Harmonisierung der Agrarpolitiken bleibt ausgeschlossen.

In diesen Bereichen bleibt die Schweiz weiterhin eigenständig.

Im Verlauf der Verhandlungen sind die Parteien übereingekommen, das Landwirt-

schaftsabkommen in zwei Teile zu gliedern: Einen sogenannten Agrarteil (s. Ziff. 2.7)

und einen Teil «Lebensmittelsicherheit», der durch ein Protokoll zum Landwirt-

schaftsabkommen zur Errichtung eines gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums

(nachstehend

Protokoll zur Lebensmittelsicherheit

) geregelt wird.

Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt. Er beantragt

im Rahmen des Weiterentwicklungsteils des Pakets Schweiz–EU die Genehmigung

des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit und der dazugehörenden Umsetzungsge-

setzgebung.

2.12.2

Ausgangslage

Zwischen der Schweiz und der EU werden jedes Jahr Agrarprodukte und Lebensmittel

im Wert von über 16 Milliarden Franken gehandelt. Die EU ist auch bei den Agrarer-

zeugnissen die wichtigste Handelspartnerin der Schweiz: Im Jahr 2023 gingen 50 %

der Exporte in die EU, 74 % der Importe stammten aus der EU. Leider kommt es auch

bei Lebensmitteln immer wieder zu Fälschungen oder Betrug und es gelangen nicht

594

SR

0.916.026.81

694 / 931

sichere, gesundheitsgefährdende Produkte auf den Markt. Um die Sicherheit von Ag-

rarerzeugnissen und Lebensmitteln langfristig zu gewährleisten und die Konsumen-

tinnen und Konsumenten vor Täuschungen und Betrug zu schützen, ist es ein Anlie-

gen für die Schweiz, im Bereich der Lebensmittelsicherheit enger mit der EU

zusammenzuarbeiten. Über die gesamte Lebensmittelkette soll ein umfassender ge-

meinsamer Lebensmittelsicherheitsraum geschaffen werden.

Der Begriff der Lebensmittelkette umfasst dabei die rechtlichen Aspekte hinsichtlich

Lebensmittelsicherheit, Tier- und Pflanzengesundheit, Futtermittel, Saatgut und Zu-

lassung von Pflanzenschutzmitteln. Die auf der Basis des Landwirtschaftsabkommens

bereits bestehende enge Zusammenarbeit in den Bereichen Pflanzengesundheit, Fut-

termittel und Saatgut sowie im gemeinsamen Veterinärraum betreffend den Handel

mit Tieren und tierischen Erzeugnissen einschliesslich Lebensmittel tierischer Her-

kunft soll weitergeführt und gestärkt werden. Die Bereiche Pflanzenschutzmittel und

nichttierische Lebensmittel kommen neu dazu. Das erweiterte Abkommen deckt da-

mit den überwiegenden Teil des Handels mit Agrargütern mit der EU ab. Die erleich-

terte Binnenmarktbeteiligung für die Schweizer Lebensmittelproduzentinnen und -

produzenten und die engere Zusammenarbeit bei neuartigen Lebensmitteln stärken

den Standort Schweiz.

2.12.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

2.12.3.1

Zielsetzung

Die Schweiz und die EU hatten bereits 2008 Verhandlungen für eine engere Zusam-

menarbeit unter anderem im Bereich der Lebensmittelsicherheit aufgenommen. Diese

Verhandlungen konnten nie abgeschlossen werden. Im Rahmen der exploratorischen

Gespräche (s. Ziff. 1.3.1) kamen die Schweiz und die EU zum Schluss, die Verhand-

lungen zur Erweiterung des Landwirtschaftsabkommens im Bereich Lebensmittelsi-

cherheit wieder aufzunehmen. Dabei sollten die neuen institutionellen Elemente auch

im Landwirtschaftsabkommen verankert werden.

Die Verhandlungsziele der Schweiz wurden im Verhandlungsmandat vom 8. März

2024 festgelegt: Im Bereich Lebensmittelsicherheit strebte die Schweiz eine Auswei-

tung des Geltungsbereichs des Landwirtschaftsabkommens auf die gesamte Lebens-

mittelkette an. Die Ausweitung zielte darauf ab, den Verbraucherschutz zu stärken

und den Marktzugang durch einen umfassenden Abbau nichttarifärer Handelshemm-

nisse zu verbessern.

Die Ziele sahen weiter vor, dass die bestehenden Ausnahmen des Landwirtschaftsab-

kommens – unter anderem das Verbot von gentechnisch verändertem Saatgut und das

Tiertransitverbot – erhalten bleiben. Neue Ausnahmen zur Absicherung der Schwei-

zer Standards, insbesondere im Bereich des Tierschutzes und der neuen Technologien

in der Lebensmittelproduktion, sollten im Abkommen verankert werden. Gleichzeitig

sollten die neuen institutionellen Elemente für den Bereich Lebensmittelsicherheit in

das Abkommen integriert werden.

Weiter zielte die Schweiz darauf ab, Zugang zu den relevanten Komitees und Arbeits-

gruppen der EU, ihren Warnsystemen (u. a. Täuschungsschutz, Schnellwarnsystem

695 / 931

für Lebens- und Futtermittel RASFF) und zur Europäischen Behörde für Lebensmit-

telsicherheit (EFSA

595

) zu erhalten. Die Schweiz war bereit, sich am Budget der Platt-

formen zu beteiligen, zu denen sie Zugang erhält, einschliesslich der EFSA und des

Warn- und Kooperationsnetzes. Diese finanzielle Beteiligung sollte angemessen sein

und insbesondere die Grösse der Schweizer Wirtschaft widerspiegeln. Schweizer Le-

bensmittelproduzentinnen und -produzenten sollen von einer erleichterten Beteili-

gung am EU-Binnenmarkt profitieren (und EU- Produzentinnen und Produzenten um-

gekehrt am Schweizer Markt) und die Zusammenarbeit bei der Zulassung von

neuartigen Lebensmitteln sollte gestärkt werden. Unternehmen, die ihre Produkte in

der Schweiz und in der EU in Verkehr bringen, profitieren, weil sie sowohl in der

Schweiz als auch in der EU jederzeit den gleichen Regelungen unterstellt sind. Damit

erübrigen sich zum Beispiel Anpassungen der Verpackungen oder an der Rezeptur.

2.12.3.2

Verhandlungsverlauf

Die Verhandlungen mit der EU wurden am 21. März 2024 aufgenommen. Insgesamt

fanden elf formelle Verhandlungsrunden sowie zahlreiche Treffen auf technischer

Ebene statt. Über das grundsätzliche Ziel der Errichtung eines gemeinsamen Lebens-

mittelsicherheitsraums und das aufgrund des erweiterten Geltungsbereichs des Ab-

kommens darin zu integrierende EU-Recht erreichten die Parteien rasch Einigkeit.

Mehr Zeit nahmen Fragen zur Struktur des künftigen Abkommens sowie zur Ausge-

staltung der neuen institutionellen Elemente in Anspruch.

Im Ergebnis einigten sich die Parteien auf ein Protokoll zur Lebensmittelsicherheit

zum bestehenden Landwirtschaftsabkommen. Es beinhaltet die Grundsätze zur Er-

richtung eines gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums, die neuen institutionellen

Bestimmungen sowie, in einem Anhang I, die Auflistung der im gemeinsamen Le-

bensmittelsicherheitsraum anwendbaren EU-Rechtsakte.

Das bestehende Landwirtschaftsabkommen enthält heute mit den Anhängen 4 (Pflan-

zengesundheit), 5 (Futtermittel), 6 (Saatgut) und 11 (Veterinäranhang) Bereiche, die

künftig im Protokoll zur Lebensmittelsicherheit geregelt werden. Bislang kommt bei

diesen Anhängen bei der Rechtsübernahme die sogenannte Äquivalenzmethode (s.

Ziff. 2.1.5.2.2) zur Anwendung. Das heisst, dass die Schweiz zum in diesen Anhängen

aufgeführten EU-Recht äquivalentes Schweizer Recht erlässt, mit welchem der-selbe

Zweck und die gleiche Wirkung erreicht wird. Angesichts der Zielsetzung eines ge-

meinsamen Lebensmittelsicherheitsraums, in dem jederzeit dieselben Regeln gelten

sollen, wurde die dynamische Rechtsübernahme im Protokoll zur Lebensmittelsicher-

heit nach der sogenannten Integrationsmethode (s. Ziff. 2.1.5.2.2) ausgestaltet. Neu

werden die für den gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraum einschlägigen EU-

Rechtsakte mit ihrer Integration in den Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsi-

cherheit direkt anwendbar, sofern sie hinreichend konkret sind. Müssen einzelne ihrer

Bestimmungen für die Anwendung im Einzelfall konkretisiert werden, ist nach wie

vor der Erlass von Detailregelungen im innerstaatlichen Recht nötig. Die Integration

von EU-Rechtsakten in den Anhang I erfordert wie bisher einen Beschluss des Ge-

mischten Ausschusses, dem die Schweiz und die EU zustimmen müssen.

595

Siehe www.efsa.europa.eu.

696 / 931

Zum ausgehandelten Protokoll zur Lebensmittelsicherheit gehören nebst den bereits

bestehenden Bereichen Pflanzengesundheit, Futtermittel, Saatgut und dem Veterinär-

bereich betreffend den Handel mit Tieren und tierischen Erzeugnissen einschliesslich

Lebensmittel tierischer Herkunft neu auch der Handel mit nichttierischen Lebensmit-

teln und die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln. Die Schweiz erhält den gewünsch-

ten Zugang zur EFSA und den relevanten Netzwerken der EU. Ebenso wird die

Schweiz in das Zulassungssystem für Pflanzenschutzmittel der EU involviert. Dabei

konnten bisherige Ausnahmen aus dem bestehenden Landwirtschaftsabkommen ab-

gesichert und neue Ausnahmen von der dynamischen Rechtsübernahme insbesondere

im Bereich Tierschutz und der neuen Technologien in der Lebensmittelproduktion

vereinbart werden, die eine Senkung der Schweizer Standards verhindern. Das Ver-

handlungsergebnis entspricht den Schweizer Verhandlungszielen gemäss dem Man-

dat vom 8. März 2024.

2.12.4

Vorverfahren

Die Arbeiten basierten zu Beginn auf der Annahme, dass im Protokoll zur Lebensmit-

telsicherheit weiterhin die Äquivalenzmethode (s. Ziff. 2.12.3.2) gelten würde. Bei

der Äquivalenzmethode erlässt die Schweiz in ihrer Rechtsordnung Bestimmungen

oder behält solche bei, um das Ergebnis zu erreichen, das durch die in das Abkommen

integrierten EU-Rechtsakte erzielt werden soll, vorbehaltlich der vom Gemischten

Ausschuss beschlossenen Anpassungen. Bei einer Beibehaltung der Äquivalenzme-

thode hätte auch die bestehende Rechtspraxis fortgeführt werden können. Grössere

Gesetzesanpassungen waren nicht angedacht, weshalb im Bereich Lebensmittelsi-

cherheit auf eine Regulierungsfolgeabschätzung (RFA) verzichtet wurde.

In den Verhandlungen verständigten sich die Parteien in der Folge darauf, die dyna-

mische Rechtsübernahme im Protokoll zur Lebensmittelsicherheit nach der Integrati-

onsmethode auszugestalten (s. Ziff. 2.12.3.2). Die EU-Rechtsakte werden mit ihrer

Integration in den Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit durch einen

Beschluss des Gemischten Ausschusses für Lebensmittelsicherheit Teil der schwei-

zerischen Rechtsordnung und können direkt von den rechtsanwendenden Behörden

angewendet werden, sofern die Bestimmungen hinreichend konkret sind. Damit wird

sichergestellt, dass im gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraum grundsätzlich die

gleichen Regeln gelten. Angesichts der künftigen direkten Anwendung der ins Proto-

koll zur Lebensmittelsicherheit aufgenommenen EU-Rechtsakte erweist sich eine Re-

vision der folgenden Gesetze als sinnvoll, um Struktur und Gliederung optimal aufei-

nander abzustimmen, und um zu vermeiden, dass derselbe Inhalt doppelt geregelt

wird:

Tierschutzgesetz vom 16. Dezember 2005

596

(TSchG), Teilrevision

Bundesgesetz über Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände vom 20. Juni

2014

597

(Lebensmittelgesetz, LMG), Totalrevision

596

SR

455

597

SR

817.0

697 / 931

Bundesgesetz über die Landwirtschaft vom 29. April 1998

598

(Land-

wirtschaftsgesetz, LwG), Teilrevision

Tierseuchengesetz vom 1. Juli 1966

599

(TSG), Teilrevision

Bundesgesetz über den Wald vom 4. Oktober 1991

600

(Waldgesetz, WaG),

Teilrevision

Für das LMG liegt eine vertiefte RFA vom 18. Oktober 2023 vor. Vertiefte RFAs zum

TSchG, LwG, TSG und WaG wurden, wie oben begründet, nicht durchgeführt. Fol-

gestudien wurden keine in Auftrag gegeben.

2.12.5

Grundzüge des Protokolls

Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit sieht vor, die Lebensmittelsicherheit in der

EU und der Schweiz über die gesamte Lebensmittelkette zu stärken und den Geltungs-

bereich des Landwirtschaftsabkommens auszuweiten, indem ein gemeinsamer Le-

bensmittelsicherheitsraum geschaffen wird.

Der gemeinsame Lebensmittelsicherheitsraum umfasst einerseits die im Landwirt-

schaftsabkommen bereits bestehenden Bereiche Pflanzengesundheit, Futtermittel und

Saatgut, sowie den Veterinärbereich betreffend den Handel mit Tieren und tierischen

Erzeugnissen einschliesslich Lebensmittel tierischer Herkunft. Andererseits wird da-

rin neu auch der Handel mit nichttierischen Lebensmitteln und die Zulassung von

Pflanzenschutzmitteln geregelt. Die Schweiz wird den gewünschten Zugang zur

EFSA und den relevanten Netzwerken der EU erhalten. Ebenso wird die Schweiz in

das Zulassungssystem für Pflanzenschutzmittel der EU eingebunden werden.

Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit gliedert sich in 5 Teile. Es umfasst zwei An-

hänge sowie zwei Anlagen.

Teil I definiert Ziel und Zweck des Protokolls. Teil II enthält wichtige Bestimmungen

für das Funktionieren des gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums. Für die

Schweiz von besonderer Bedeutung sind in diesem Teil die Ausnahmen von der Ver-

pflichtung zur dynamischen Rechtsübernahme der EU-Gesetzgebung im Geltungsbe-

reich des Protokolls, darunter die Ausnahme betreffend gentechnisch veränderte Or-

ganismen. In Teil III werden die neuen institutionellen Elemente festgelegt, die für

alle Binnenmarktabkommen des Pakets Schweiz-EU weitgehend gleich lauten, insbe-

sondere der Prozess zur Integration des einschlägigen EU-Rechts ins Protokoll, das

Mitspracherecht (

decision shaping

), die einheitliche Auslegung der Abkommen, de-

ren Anwendung und Überwachung sowie die Streitbeilegung. Teil IV regelt weitere

Bestimmungen und Teil V legt die Schlussbestimmungen fest. Sie sehen insbesondere

eine Übergangsfrist von maximal 2 Jahren für die Anwendung der Bestimmungen des

Protokolls zur Lebensmittelsicherheit vor.

598

SR

910.1

599

SR

916.40

600

SR

921.0

698 / 931

In Anhang I des Protokolls sind sämtliche EU-Erlasse aufgeführt, welche für den ge-

meinsamen Lebensmittelsicherheitsraum gelten und künftig auch in der Schweiz An-

wendung finden werden. Anhang II legt die Modalitäten der finanziellen Beteiligung

der Schweiz an den Agenturen (EFSA) und Informationssystemen im Bereich der Le-

bensmittelsicherheit fest. Auch die Modalitäten der finanziellen Beteiligung lauten für

alle Binnenmarktabkommen des Pakets Schweiz-EU weitgehend gleich.

Anlage 1 legt die Regelungen für das Schiedsverfahren fest, Anlage 2 regelt Vorrechte

und Immunitäten in der Zusammenarbeit mit der EFSA. Auch diese Bestimmungen

lauten für alle betroffenen Binnenmarktabkommen des Pakets Schweiz-EU gleich.

2.12.6

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Protokolls

Präambel

Die Präambel beschreibt die Absicht der Parteien, die Lebens- und Futtermittelsicher-

heit in der EU und der Schweiz zu stärken, indem ein gemeinsamer Lebensmittelsi-

cherheitsraum geschaffen wird. Ziel ist es, Tierseuchen und Pflanzenkrankheiten zu

verhindern, sowie antimikrobielle Resistenzen zu bekämpfen. Zudem wird die Bereit-

schaft betont, den Tierschutz weiter zu verbessern und das Wohlergehen der Tiere zu

fördern. Faire Handelspraktiken in der Lebensmittelkette sollen gewährleistet und be-

trügerische Praktiken bekämpft werden. Die Koordinierung der Standpunkte und die

gegenseitige Unterstützung in internationalen Organisationen werden als wichtig er-

achtet. Es wird in Erinnerung gerufen, dass die EU und die Schweiz durch zahlreiche

bilaterale Abkommen miteinander verbunden sind.

Für die weiteren Absätze der Präambel kann auf die entsprechenden Ausführungen

des Kapitels 2.1 verwiesen werden (s. Ziff. 2.1.5.1.1).

Teil I: Allgemeine Bestimmungen

Art. 1

Zweck

Artikel 1 definiert den Zweck des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit. Der Gel-

tungsbereich des Landwirtschaftsabkommens soll mittels Errichtung eines gemeinsa-

men Lebensmittelsicherheitsraums zwischen der Schweiz und der EU auf die gesamte

Lebensmittelkette ausgedehnt werden. Damit soll Unternehmen wie Privatpersonen

gleichermassen im Rahmen der Binnenmarktbeteiligung der Schweiz grössere

Rechtssicherheit, Gleichbehandlung und gleiche Voraussetzungen garantiert werden

(s. Ziff. 2.1.5.1.2).

Art. 2

Geltungsbereich

In Artikel 2 wird der Geltungsbereich des gemeinsamen Lebensmittelsicherheits-

raums festgelegt. Dieser umfasst die gesamte Lebensmittelkette von der Produktion

von Lebensmitteln bis zu deren Abgabe an die Konsumentinnen und Konsumenten.

Abgedeckt werden:

alle Stufen der Produktion, Bearbeitung und Verteilung von Lebensmitteln,

Futtermitteln und tierischen Nebenprodukten

699 / 931

Tiergesundheit und Tierwohl

Pflanzengesundheit und Pflanzenschutzmittel

Pflanzenvermehrungsmaterial

Antimikrobielle Resistenzen

Tierzucht

Kontaminanten und Rückstände

Materialien und Gegenstände, die mit Lebensmitteln in Berührung kommen

Kennzeichnung

Ebenfalls zum Geltungsbereich gehören die amtlichen Kontrollen in diesen Berei-

chen.

Art. 3

Bilaterale Abkommen in den Bereichen betreffend den Binnenmarkt,

an denen die Schweiz teilnimmt

Artikel 3 präzisiert, dass bestehende und künftige bilaterale Abkommen zwischen der

der Schweiz und der EU betreffend den Binnenmarkt, an welchem die Schweiz teil-

nimmt, als «kohärentes Ganzes» betrachtet werden, welches ein Gleichgewicht der

Rechten

und

Pflichten

zwischen

den

Vertragsparteien

gewährleistet

(s.

Ziff. 2.1.6.1.4). Auch das vorliegende Protokoll stellt ein solches bilaterales Abkom-

men dar.

Art. 4

Begriffsbestimmungen

Artikel 4 enthält die Definition des sogenannten «Tertiärrechts». Bei diesem Aus-

druck handelt es sich nicht um einen formalen Begriff des EU-Rechts. «Tertiärrecht»

wird jedoch allgemein zur Benennung sogenannter nichtlegislativer Rechtsakte ver-

wendet, welche gestützt auf vom ordentlichen Gesetzgeber der EU erteilte Kompe-

tenzdelegationen in der Regel von der Europäischen Kommission erlassen werden. Es

handelt sich dabei in erster Linie um als delegierte Rechtsakte (s. Art. 290 AEUV

601

)

oder Durchführungsrechtsakte (s. Art. 291 AEUV) bezeichnete Rechtsakte. Dele-

gierte Rechtsakte werden zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentli-

cher Vorschriften eines Gesetzgebungsakts erlassen (Art. 290 AEUV). Mit Durchfüh-

rungsrechtsakten erlässt die Europäische Kommission einheitliche Bedingungen für

die Durchführung von verbindlichen Gesetzgebungsakten, wenn dies erforderlich ist

(Art. 291 Abs. 2 AEUV). Ebenfalls von der Definition erfasst werden alle weiteren

nichtlegislativen Rechtsakte mit der Rechtswirkung von delegierten Rechtsakten oder

Durchführungsrechtsakten, welche aber im EU-Recht nicht als solche bezeichnet wer-

den. Dies betrifft insbesondere ältere nichtlegislative Rechtsakte, welche vor der Ein-

601

Vertrag über die Europäische Union und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen

Union, ABl. C 202 vom 7. Juni 2016, S. 1.

700 / 931

führung der Bezeichnung «delegierte Rechtsakte» und «Durchführungsrechtsakte» er-

lassen wurden. Die Definition des Tertiärrechts ist relevant mit Blick auf Artikel 15,

welcher den Umgang mit diesen Rechtsakten speziell regelt (s. Ausführungen zu Art.

15).

Teil II: Gemeinsamer Lebensmittelsicherheitsraum

Art. 5

Errichtung und Ziele des gemeinsamen

Lebensmittelsicherheitsraums

In Artikel 5 wird der gemeinsame Lebensmittelsicherheitsraum geschaffen und des-

sen Ziele festgelegt. Oberstes Ziel ist es, die Lebens- und Futtermittelsicherheit über

die gesamte Lebensmittelkette hinweg zu verbessern. Ein hohes Schutzniveau für die

Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen soll unter anderem mit der gleichzei-

tigen Anwendung gleicher Normen, verstärkter Anstrengungen zur Bekämpfung an-

timikrobieller Resistenzen und der Verbesserung des Tierschutzes gewährleistet wer-

den.

Art. 6

Funktionieren des gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums

Artikel 6 umschreibt die Funktionsweise des gemeinsamen Lebensmittelsicherheits-

raums. Im Zentrum steht hier das Prinzip, dass die EU die Schweiz in Bezug auf die

ins Protokoll zur Lebensmittelsicherheit aufgenommenen einschlägigen EU-

Rechtsakte nicht als Drittland behandelt, sofern die Schweiz ihre Verpflichtungen ge-

mäss dem Protokoll erfüllt. Die Behandlung der Schweiz wie ein EU-Mitgliedsstaat

im Rahmen des gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums wird hier im Grundsatz

festgehalten und in weiteren Bestimmungen konkretisiert (s. insb. Ausführungen zum

Anhang I, Abschnitt 1).

Art. 7

Ausnahmen

Artikel 7 regelt in Absatz 1 die Ausnahmen von der Verpflichtung zur dynamischen

Rechtsübernahme (s. Ziff. 2.1.6.2.1). In den in diesem Artikel aufgeführten Bereichen

ist die Schweiz nicht zur Integration von EU-Rechtsakten gemäss Artikel 13 oder zur

vorübergehenden Anwendung gemäss Artikel 15 verpflichtet. Das heisst, dass die

Schweiz in diesen Bereichen ihre eigenen, sich vom einschlägigen EU-Recht unter-

scheidenden gesetzlichen Vorschriften anwenden kann.

Die erste Ausnahme (Bst. a) betrifft die absichtliche Freisetzung gentechnisch verän-

derter Organismen (GVO) in die Umwelt und das Inverkehrbringen von Produkten,

die gentechnisch veränderte Organismen enthalten oder aus solchen bestehen, sowie

von aus gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel und Futter-

mittel. In diesen Bereichen kann die Schweiz weiterhin ihre eigenen gesetzlichen Vor-

schriften anwenden. Dabei gelten zwei Bedingungen: Erstens muss die Schweiz das

Inverkehrbringen von in der EU gemäss Verordnung Nr. 1829/2003 über genetisch

veränderte Lebensmittel und Futtermittel zugelassenen Lebens- und Futtermitteln,

welche gentechnisch veränderte Organismen enthalten, ohne spezifische Kennzeich-

nung erlauben, sofern diese den vorgesehenen Schwellenwert nicht überschreiten.

701 / 931

Dieser Schwellenwert von 0,9 Prozent ist in Artikel 12 Absatz 2 der Verordnung Nr.

1829/2003

602

festgelegt und gilt nur, sofern die Spuren zufällig sind oder sich tech-

nisch nicht vermeiden lassen (s. Anhang I, Abschnitt 2, Bst. O). Zweitens lässt die

Schweiz das Inverkehrbringen und die Verwendung von in der EU zugelassenen Fut-

termitteln zu, die nicht aus vermehrungsfähigen gentechnisch veränderten Organis-

men bestehen. Dies ist allerdings bereits heute der Fall und stellt somit kein neues

Zugeständnis von Seiten der Schweiz dar. Mit diesen beiden Bedingungen sollen Han-

delshemmnisse vermieden werden, während die Ausnahme das Schweizer Kerninte-

resse einer eigenständigen Regelung von GVO schützt.

Weitere Ausnahmen betreffen den Tierschutz und bestimmte obligatorische Kenn-

zeichnungspflichten (Bst. b). So kann die Schweiz weiterhin ihre eigenen gesetzlichen

Vorschriften zum Schutz von landwirtschaftlichen Nutztieren sowie betreffend den

nationalen Tiertransport erlassen. Das geltende Tiertransitverbot auf der Strasse bleibt

bestehen (s.

Fussnote zu Art. 15a Abs. 3 TSchG

). Auch die in der Schweiz obligatori-

sche Kennzeichnung von tierischen Produkten, welche durch schmerzhafte Verfahren

ohne Betäubung oder Zwangsernährung hergestellt wurden, bleibt erhalten. Von der

Kennzeichnungspflicht ausgenommen sind allein Produkte, in deren Herkunftsland

solche Praktiken ebenfalls verboten sind oder deren Produktion als frei von solchen

Praktiken zertifiziert ist. Zudem fallen die Kennzeichnungspflichten betreffend die

Aufzucht von Hauskaninchen und Legehennen für die Eierproduktion sowie das ge-

plante Importverbot von tierquälerisch erzeugten Pelzen und Pelzprodukten unter die

Ausnahmen von der Verpflichtung zur dynamischen Rechtsübernahme.

Eine bereits bestehende Ausnahme betrifft den Import von Fleisch von Rindern, die

möglicherweise mit hormonellen Wachstumsförderern behandelt wurden (Bst. c). In

diesem Bereich kann die Schweiz unter den im Protokoll aufgeführten Bedingungen

weiterhin ihre eigenen gesetzlichen Vorschriften anwenden.

Abschliessend wird in Artikel 7 Absatz 2 festgehalten, dass auf Anfrage einer Partei

relevante rechtliche Entwicklungen in den als Ausnahmen aufgeführten Bereichen im

Gemischten Ausschuss für Lebensmittelsicherheit besprochen werden sollen. Die

Ausnahmen haben zum Ziel, im Fall eines Deltas zwischen dem einschlägigen Recht

in der EU und in der Schweiz im Geltungsbereich des Abkommens diesen Bereich

von der Verpflichtung zur dynamischen Rechtsübernahme auszunehmen. Gleicht sich

das einschlägige Recht jedoch an und verringert sich infolgedessen dieses Delta oder

fällt es gar ganz weg, kann über eine Anpassung beziehungsweise Streichung einer

Ausnahme im Gemischten Ausschuss diskutiert werden. Eine Anpassung des Proto-

kolls erfordert dabei immer die Zustimmung beider Parteien.

Art. 8

Unterstützung in internationalen Organisationen

In Artikel 8 wird das Bestreben der Parteien festgehalten, im Rahmen ihrer multilate-

ralen Zusammenarbeit eine Koordinierung ihrer Standpunkte anzustreben und sich

602

Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.

September 2003 über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel, ABl. L 268 vom

18.10.2003, S. 1.

702 / 931

gegenseitig bei ihrer Arbeit in internationalen Organisationen (z. B.

World Organisa-

tion for Animal Health

WOAH,

Codex Alimentarius

) in den vom gemeinsamen Le-

bensmittelsicherheitsraum erfassten Bereichen zu unterstützen. Dies erfolgt im Rah-

men der bestehenden Arbeitsgruppen und im Gemischten Ausschuss für

Lebensmittelsicherheit. Über die konkrete Ausgestaltung dieser Zusammenarbeit ent-

scheiden die Parteien eigenständig und fallweise.

Art. 9

Finanzieller Beitrag

Artikel 9 regelt in Absatz 1 die finanzielle Beteiligung der Schweiz an Aktivitäten der

Agenturen und an Informationssystemen der EU, zu welchen sie durch das Protokoll

zur Lebensmittelsicherheit Zugang erhält. Darunter fallen gemäss Anhang II die

EFSA, das Mitteilungssystem der Europäischen Union zur Überwachung der Pflan-

zengesundheit (EUROPHYT), das Schnellwarnsystem für Lebens- und Futtermittel

(TE), die Onlineplattform für Gesundheits- und Pflanzenschutzzertifikate (TRACES)

sowie das Tierseuchen-Informationssystem ADIS. Der Gemischte Ausschuss für Le-

bensmittelsicherheit erhält zudem die Kompetenz, einen Beschluss zur Änderung des

Anhangs 2 betreffend die Modalitäten für die Umsetzung von Artikel 9 zu erlassen.

Sollte die Schweiz eine Zahlungsfrist nicht einhalten, kann die EU gemäss Absatz 2

die Teilnahme an der EFSA sowie den Zugang zu den Informationssystemen ausset-

zen. Absatz 2 legt auch das in einem solchen Fall anwendbare Verfahren fest.

Die finanzielle Beteiligung entspricht dem in Ziff. 2.1.5.5.1 dargelegten Ansatz und

setzt sich aus einem Betriebsbeitrag und einer Teilnahmegebühr zusammen. Der Be-

triebsbeitrag basiert auf einem Beitragsschlüssel, der als Verhältnis des Bruttoinlands-

produkts (BIP) der Schweiz zu Marktpreisen zum BIP der EU zu Marktpreisen defi-

niert ist. Hinzu kommt eine jährliche Teilnahmegebühr von 4 % des gemäss den

Absätzen 5 und 6 dieses Artikels berechneten Betriebsbeitrags. Eine Übersicht zu der

jährlichen Kostenbeteiligung findet sich in Ziffer 2.12.9.

Weiter enthält Artikel 9 Regelungen zum Informationsfluss betreffend die Berech-

nung des Finanzbeitrags, zur massgeblichen Währung (Euro) sowie Übergangsbe-

stimmungen im Falle eines Inkrafttretens des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit

während einem laufenden Kalenderjahr. Der Gemischte Ausschuss für Lebensmittel-

sicherheit überprüft alle drei Jahre die Teilnahme der Schweiz gemäss Artikel 1 von

Anhang II dieses Protokolls und passt sie gegebenenfalls an.

Teil III: Institutionelle Bestimmungen

Kapitel 1: Allgemeine Bestimmungen

Art. 10

Ziele

Artikel 10 regelt die Ziele der institutionellen Bestimmungen, die in Ziffer 2.1.6.1.2

erläutert werden.

703 / 931

Art. 11

Gemischter Ausschuss für Lebensmittelsicherheit

Artikel 11 schafft den Gemischten Ausschuss für Lebensmittelsicherheit und legt des-

sen Zuständigkeiten und Kompetenzen fest. Der Artikel zum Gemischten Ausschuss

wurde für alle Abkommen des Pakets Schweiz–EU weitgehend vereinheitlicht (s.

Ziff. 2.1.6.7).

Kapitel 2: Angleichung des Protokolls an die Rechtsakte der Union

Art. 12

Mitwirkung bei der Erarbeitung von Rechtsakten der Union

(Mitspracherecht)

Artikel 12 regelt die Mitwirkung der Schweiz bei der Erarbeitung neuer EU-

Rechtsakte durch die Europäische Kommission (sog. "

decision shaping"

). Die Be-

stimmung wird in Ziffer 2.1.6.2.1 erläutert.

Art. 13

Integration von Rechtsakten der Union

Artikel 13 regelt die Integration von EU-Rechtsakten in das Protokoll zur Lebensmit-

telsicherheit. Dieser Artikel wird in Ziffer 2.1.6.2.2 erläutert.

Art. 14

Erfüllung verfassungsrechtlicher Verpflichtungen durch die Schweiz

Artikel 14 regelt die Fälle, in denen die Schweiz bei der Integration von EU-

Rechtsakten in das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit verfassungsrechtliche Ver-

pflichtungen erfüllen muss. Das ist dann der Fall, wenn die Integration des neuen EU-

Rechtsakts in das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit vom Parlament oder gegebe-

nenfalls vom Volk in der Schweiz genehmigt werden muss. Dieser Artikel wird in

Ziffer 2.1.6.2.2 erläutert.

Art. 15

Vorübergehende Anwendung von auf der Grundlage der in Anhang I

genannten Rechtsakte erlassenen Rechtsakten

Artikel 15 regelt die vorübergehende Anwendung von Tertiärrechtsakten, das heisst

von Rechtsakten, die auf der Grundlage eines der in Anhang I aufgeführten Rechts-

akte erlassen wurden (s. Art. 4). Damit wird der Notwendigkeit Rechnung getragen,

dass im gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraum jederzeit die gleichen Vorschrif-

ten angewendet werden. Bei der Bekämpfung von Tierseuchen oder beim Rückruf

schädlicher Lebensmittel ist ein sofortiges Handeln erforderlich. Solche Massnahmen,

die eine sofortige Umsetzung erfordern, werden im EU-Recht regelmässig in Tertiär-

rechtsakten erlassen. Der in Artikel 13 vorgesehene «ordentliche» Prozess zur In-

tegration von EU-Rechtsakten in den Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicher-

heit ist für die gleichzeitige Anwendung von Tertiärrechtsakten in der Schweiz und in

der EU in der Regel nicht schnell genug und wird regelmässig eine gleichzeitige An-

wendung nicht sicherstellen können. Deshalb legt Artikel 15 Absatz 1 fest, dass die

Schweiz Tertiärrechtsakte im Geltungsbereich des Protokolls zur Lebensmittelsicher-

704 / 931

heit bis zum ordentlichen Beschluss des Gemischten Ausschusses für Lebensmittelsi-

cherheit zur Integration dieser Rechtsakte in Anhang I des Protokolls zur Lebensmit-

telsicherheit gemäss Artikel 13 Absatz 8 vorübergehend anwendet. Damit ist eine

gleichzeitige Anwendung der Tertiärrechtsakte im gesamten Lebensmittelsicherheits-

raum sichergestellt. Die vorübergehende Anwendung endet mit dem Inkrafttreten des

Beschlusses des Gemischten Ausschusses für Lebensmittelsicherheit zur Integration

des Tertiärrechtsakts in Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit nach Ar-

tikel 13 Absatz 8 oder ausnahmsweise mit der vorläufigen Anwendung nach Arti-

kel 14 Absatz 3.

Absatz 2 regelt den Fall, wenn die Schweiz ausnahmsweise einmal einen Tertiär-

rechtsakt nicht vorübergehend anwenden kann. Damit wird das in Artikel 13 etablierte

Prinzip, dass die Schweiz eigenständig über die Integration jedes EU-Rechtsaktes in

Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit entscheidet, auch bei der vorüber-

gehenden Anwendung von Tertiärrechtsakten abgesichert. Beim Tertiärrecht dürften

Fälle, in denen die Schweiz einen Tertiärrechtsakt nicht vorübergehend anwenden

kann, äusserst selten sein. In einem solchen Fall muss die Schweiz den Gemischten

Ausschuss unverzüglich informieren und ausdrücklich die Gründe erläutern, warum

die vorübergehende Anwendung des betreffenden Rechtsakts nicht möglich ist.

Absatz 3 legt fest, dass die EU bei ausbleibender vorübergehender Anwendung eines

Tertiärrechtsakts Massnahmen ergreifen kann, um die dadurch allenfalls gestörte In-

tegrität des Lebensmittelsicherheitsraums wiederherzustellen. In einem solchen Fall

muss auch die EU den Gemischten Ausschuss unverzüglich über die Massnahmen

informieren und ausdrücklich die Gründe dafür angeben.

Art. 16

Veröffentlichung der auf der Grundlage der in Anhang I genannten

Rechtsakte erlassenen Rechtsakten

Artikel 16 regelt die Publikation von Tertiärrechtsakten, das heisst von Rechtsakten,

die auf der Grundlage eines der in Anhang I aufgeführten Rechtsakte erlassen (s. Art.

4) und in das Protokoll aufgenommen oder vorübergehend angewendet werden. Eine

Liste dieser Tertiärrechtsakte soll umgehend und in leicht zugänglicher Weise veröf-

fentlicht werden. Die Vertragsparteien haben diesbezüglich einen grossen Gestal-

tungsspielraum. Es ist vorgesehen, diese Liste auf der Internetseite des Bundesamtes

für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) zu publizieren und nachzufüh-

ren. Damit werden die Prinzipien der Transparenz und der Rechtssicherheit auch mit

Blick auf die vorübergehend angewendeten Tertiärrechtsakte, die noch nicht in den

Anhang I des Protokolls aufgenommen sind, sichergestellt.

Kapitel 3: Auslegung und Anwendung des Protokolls

Art. 17

Grundsatz der einheitlichen Auslegung

Die in Artikel 17 geregelte einheitliche Auslegung wird in Ziffer 2.1.6.3.1 erläutert.

705 / 931

Art. 18

Grundsatz der wirksamen und harmonischen Anwendung

Das in Artikel 18 geregelte Prinzip der effektiven und harmonischen Anwendung wird

in Ziffer 2.1.6.3.2 erläutert. Betreffend Absatz 4 wird eine nötige Anpassung, um dem

besonderen Charakter des gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums Rechnung zu

tragen, unten bei den Ausführungen zum Anhang I, Abschnitt 1 erläutert.

Art. 19

Ausschliesslichkeitsgrundsatz

Artikel 19 regelt das Ausschliesslichkeitsprinzip, das in Ziffer 2.1.6.4.1 erläutert wird.

Art. 20

Verfahren bei Auslegungs- oder Anwendungsschwierigkeiten

Artikel 20 regelt die Grundsätze des Streitbeilegungsverfahren und wird in Zif-

fer 2.1.6.4.2 erläutert.

Art. 21

Ausgleichsmassnahmen

Artikel 21 regelt die Ausgleichsmassnahmen und wird in Ziffer 2.1.6.4.3 erläutert. Da

das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit nicht nur den Geltungsbereich des Landwirt-

schaftsabkommens erweitert (vgl. Art. 1), sondern auch ein bilaterales Abkommen in

einem Bereich betreffend den Binnenmarkt darstellt, an dem die Schweiz teilnimmt

(vgl. Art. 3), können die auf der Grundlage von Art. 21 getroffenen Ausgleichsmass-

nahmen nicht nur im Rahmen des Protokolls selbst und im Rahmen des Landwirt-

schaftsabkommens, sondern auch im Rahmen jedes anderen Abkommens in den Be-

reichen betreffend den Binnenmarkt, an denen die Schweiz teilnimmt, getroffen

werden (Art. 21 Abs. 1).

Art. 22

Zusammenarbeit zwischen Gerichten

Artikel 22 regelt die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten und wird in Zif-

fer 2.1.6.4.4 erläutert.

Teil IV: Weitere Bestimmungen

Die Artikel 23, 24, 25 und 26 regeln Bezugnahmen auf Gebiete und Staatsangehörige

sowie Bestimmungen über das Inkrafttreten, die Umsetzung und Adressaten der EU-

Rechtsakte und werden in Ziffer 2.1.6.5.2 erläutert.

Teil V: Schlussbestimmungen

Art. 27

Berufsgeheimnis

Unter dem Titel «Berufsgeheimnis» wird in Artikel 27 festgehalten, dass Vertreterin-

nen und Vertreter, Sachverständige und sonstige Beauftragte der Vertragsparteien

706 / 931

verpflichtet sind, auch nach Beendigung ihrer Tätigkeit unter die Geheimhaltungs-

pflicht fallende Informationen nicht weiterzugeben.

Art. 28

Verschlusssachen und nicht als Verschlusssache eingestufte sensible

Informationen

Artikel 28 regelt den Umgang der Vertragsparteien mit Verschlusssachen und ver-

traulichen Informationen oder Materialien und verweist betreffend Verschlusssachen

auf die geltenden Regeln gemäss dem Abkommen zwischen der Schweiz und der EU

über Sicherheitsverfahren für den Austausch von Verschlusssachen

603

. Der Gemischte

Ausschuss für Lebensmittelsicherheit wird beauftragt, Handlungsanweisungen für

den geschützten Austausch von vertraulichen Informationen unter den Vertragspar-

teien festzulegen.

Art. 29

Umsetzung

Artikel 29 betreffend die Umsetzung enthält das grundsätzliche Bekenntnis beider

Vertragsparteien, alle geeigneten Massnahmen zur Erfüllung der Verpflichtungen aus

diesem Protokoll zu ergreifen und von allen Handlungen abzusehen, welche die Ver-

wirklichung ihrer Ziele gefährden könnten. Dies betrifft gemäss Absatz 2 insbeson-

dere die Verpflichtung der Parteien, alle erforderlichen Massnahmen zu ergreifen, um

das beabsichtigte Ergebnis der in diesem Protokoll aufgeführten EU-Rechtsakte zu

gewährleisten.

Art. 30

Anhänge und Anlagen

Artikel 30 legt fest, dass die beiden Anhänge sowie die beiden Anlagen einen integ-

rierenden Bestandteil des Protokolls bilden.

Art. 31

Räumlicher Geltungsbereich

Artikel 31 hält fest, dass dieses Protokoll für die in Artikel 16 des Landwirtschaftsab-

kommens aufgeführten Gebiete gilt.

Art. 32

Übergangsregelungen

Artikel 32 bestimmt die Übergangsregelungen. Ab Inkrafttreten des Protokolls gilt

eine Übergangsfrist von längstens 24 Monaten. Während dieser Übergangsfrist gelan-

gen die Bestimmungen des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit noch nicht zur An-

wendung. Ausgenommen von dieser Regelung sind allein die Bestimmungen zum Ge-

mischten Ausschuss für Lebensmittelsicherheit (Artikel 11) sowie zu den

Pflanzenschutzmitteln (Anhang I, Abschnitt 2, Überschrift C, Ziffer 14 und 15). Der

Gemischte Ausschuss für Lebensmittelsicherheit wird ab Inkrafttreten des Protokolls

etabliert, um seine Aufgaben wahrnehmen zu können. Ebenso wird die Schweiz ab

Inkrafttreten des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit in das europäische System für

603

SR

0.514.126.81

707 / 931

das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln integriert und wird ab diesem Zeit-

punkt die im Anhang I Ziffer 14 und 15 aufgeführten EU-Erlasse anwenden. Die An-

wendung der Regelung für Pflanzenschutzmittel bereits ab Inkrafttreten rechtfertigt

sich damit, dass dieser Bereich bisher nicht vom Landwirtschaftsabkommen erfasst

war und daher keiner Übergangsfrist bedarf. Während der Übergangsfrist werden die

bestehenden Anhänge 4, 5, 6 und 11 des Landwirtschaftsabkommens wie bisher an-

gewendet, und unterstehen in diesem Zeitraum noch nicht den Bestimmungen des

Protokolls zur Lebensmittelsicherheit. Dies gilt so lange, bis entweder die 24 Monate

abgelaufen sind oder die Schweiz dem Gemischten Ausschuss für Lebensmittelsicher-

heit mittels Notifikation mitteilt, dass sie die Übergangsfrist früher beenden möchte.

In diesem Fall legt der Gemischte Ausschuss für Lebensmittelsicherheit das Endda-

tum der Übergangsfrist fest und informiert den Gemischten Ausschuss für Landwirt-

schaft entsprechend. Am Tag 1 nach Beendigung der Übergangsfrist sind sämtliche

Bestimmungen des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit sowie die in Anhang I auf-

geführten EU-Erlasse (Stand 31. Dezember 2024) anwendbar. Zudem wird der Ge-

mischte Ausschuss für Lebensmittelsicherheit auf diesen Zeitpunkt einen Beschluss

zur Integration der in der Zwischenzeit in der EU neu zur Anwendung gelangenden

Sekundär- und Tertiärrechtsakte im Geltungsbereich des Protokolls zur Lebensmittel-

sicherheit fassen.

Artikel 33

Inkrafttreten

Artikel 33 enthält Bestimmungen zur Ratifikation und zum Inkrafttreten (s.

Ziff. 2.1.6.6).

Als Instrument des Weiterentwicklungsteils des Pakets Schweiz–EU

kann das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit nur in Kraft treten, sofern die Instru-

mente des Stabilisierungsteils in Kraft gesetzt werden.

Artikel 34

Änderungen und Kündigung

Artikel 34 enthält Vorgaben zur Änderung und Kündigung des Protokolls (s. Ziff.

2.1.5.6).

Anhang I: Rechtsakte im gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraum

Abschnitt 1: Allgemeine Bestimmungen

In den allgemeinen Bestimmungen in Abschnitt 1 werden drei Grundsätze festgehal-

ten, welche im Rahmen des gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums die Behand-

lung der Schweiz wie ein EU-Mitgliedsstaat konkretisieren. Der erste Grundsatz hält

fest, dass die in den im Anhang I gelisteten Rechtsakten für die Mitgliedstaaten der

EU vorgesehenen Rechte und Pflichten auch für die Schweiz gelten. Diese Bestim-

mung gilt grundsätzlich auch in den anderen Binnenmarktabkommen des Pakets

Schweiz-EU (s. Ziff. 2.1.5.7). Sie stellt sicher, dass die Schweiz die gleichen Rechte

wie die EU-Mitgliedstaaten hat und nicht als «Drittstaat» schlechter gestellt werden

kann. Der zweite Grundsatz ergänzt den ersten dahingehend, dass auch jede sonstige

Bezugnahme auf die Mitgliedstaaten unabhängig von Rechten und Pflichten auch als

Bezugnahme auf die Schweiz verstanden wird. Auch diese Bestimmung ist wichtig,

708 / 931

damit im gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraum für die Schweiz dieselben Re-

geln gelten wie für die Mitgliedsstaaten. Der dritte Grundsatz sieht schliesslich vor,

dass Bezugnahmen auf natürliche oder juristische Personen mit Wohnsitz oder Nie-

derlassung in den Mitgliedstaaten der EU auch als Bezugnahmen auf natürliche oder

juristische Personen mit Wohnsitz oder Niederlassung in der Schweiz gelten. Diese

Bestimmung, die auch im Stromabkommen vorgesehen ist, hält fest, dass im Gel-

tungsbereich des Protokolls für Lebensmittelsicherheit für natürliche und juristische

Personen mit Wohnsitz oder Niederlassung in der Schweiz grundsätzlich dieselben

Regeln zur Anwendung kommen sollen wie für natürliche und juristische Personen

mit Wohnsitz oder Niederlassung in den Mitgliedsstaaten der EU. Alle drei Grunds-

ätze gelten, sofern in technischen Anpassungen nicht etwas anderes vorgesehen ist

und sofern die einschlägigen Rechtsbestimmungen nicht in den Anwendungsbereich

einer Ausnahme nach Artikel 7 fallen. Auch müssen diese Grundsätze in voller Be-

rücksichtigung der institutionellen Bestimmungen angewendet werden.

Weiter wird in Abschnitt 1 eine Abweichung zu dem in Artikel 18 Absatz 4 letzter

Satz festgelegten Grundsatz vereinbart. Dieser Grundsatz sieht vor, dass bestimmte

Überwachungsbefugnisse der EU-Institutionen gegenüber der Schweiz, wie etwa Un-

tersuchungs- und Entscheidungsbefugnisse, ausdrücklich vorgesehen werden müssen.

Um dem besonderen Charakter des gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums

Rechnung zu tragen und dessen Funktionieren sicherzustellen, wird in Anhang I ein-

leitend festgehalten, dass die Europäische Kommission grundsätzlich gegenüber der

Schweiz über die ihr in diesen Rechtsakten übertragenen Zuständigkeiten verfügt, so-

fern in den technischen Anpassungen nichts anderes vorgesehen ist. Beispiel für eine

solche Untersuchungsbefugnis sind die Kontrollen und Audits der Europäischen

Kommission in den Mitgliedstaaten nach Artikel 116 der Verordnung

(EU) 2017/625

604

über amtliche Kontrollen und andere amtliche Tätigkeiten zur Ge-

währleistung der Anwendung des Lebens- und Futtermittelrechts und der Vorschrif-

ten über Tiergesundheit und Tierschutz, Pflanzengesundheit und Pflanzenschutzmittel

(EU-Kontrollverordnung). Es wird in Abschnitt 1 ausdrücklich festgehalten, dass

wenn immer die Europäische Kommission solche Befugnisse ausübt, dies in Koope-

ration mit den zuständigen Schweizer Behörden in Einklang mit der Praxis in Bezug

auf die anwendbaren Rechtsakte zu erfolgen hat. Solche Kontrollen werden von der

Kommission schon heute gestützt auf das Landwirtschaftsabkommen regelmässig

604

Verordnung (EU) 2017/625 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März

2017 über amtliche Kontrollen und andere amtliche Tätigkeiten zur Gewährleistung der

Anwendung des Lebens- und Futtermittelrechts und der Vorschriften über Tiergesundheit

und Tierschutz, Pflanzengesundheit und Pflanzenschutzmittel, zur Änderung der Verord-

nungen (EG) Nr. 999/2001, (EG) Nr. 396/2005, (EG) Nr. 1069/2009, (EG) Nr. 1107/2009,

(EU) Nr. 1151/2012, (EU) Nr. 652/2014, (EU) 2016/429 und (EU) 2016/2031 des Europä-

ischen Parlaments und des Rates, der Verordnungen (EG) Nr. 1/2005 und (EG) Nr.

1099/2009 des Rates sowie der Richtlinien 98/58/EG, 1999/74/EG, 2007/43/EG,

2008/119/EG und 2008/120/EG des Rates und zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr.

854/2004 und (EG) Nr. 882/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates, der Richtli-

nien 89/608/EWG, 89/662/EWG, 90/425/EWG, 91/496/EEG, 96/23/EG, 96/93/EG und

97/78/EG des Rates und des Beschlusses 92/438/EWG des Rates (Verordnung über amtli-

che Kontrollen), ABl. L 95 vom 7.4.2017, S. 1, zuletzt geändert durch die Verordnung

(EU) 2024/3115 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. November 2024,

ABl. L 3115 vom 16.12.2024, S. 1.

709 / 931

durchgeführt (vgl. Art. 16, Anhang 11 Landwirtschaftsabkommen). Damit sollen eine

einheitliche Anwendung des in Anhang I integrierten EU-Rechts im gemeinsamen

Lebensmittelsicherheitsraum und das Funktionieren der nationalen Kontrollsysteme

sichergestellt werden.

Abschnitt 2: Liste der Rechtsakte

Abschnitt 2 von Anhang I enthält die im gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraum

Schweiz–EU anwendbaren EU-Rechtsakte in folgenden Bereichen:

Amtliche Kontrollen und Einfuhr

Pflanzenvermehrungsmaterial

Pflanzenschutzmittel

Pflanzengesundheit

Futtermittel

Tierzucht

Lebensmittel (allgemein; Hygiene; Zutaten, Spuren und Vermarktungsnor-

men; Pestizid- und Tierarzneimittelrückstände, Kontaminanten; Kontakt-

materialien; Kennzeichnung, Aufmachung und Werbung sowie nährwert-

und gesundheitsbezogene Angaben)

Gentechnisch veränderte Organismen (nur Schwellenwert)

Tierwohl

Tierische Nebenprodukte

Sanitäre und phytosanitäre Vorschriften

Antibiotikaresistenz

Die wichtigsten Zielsetzungen dieser EU-Rechtsakte sind die Sicherung eines hohen

Schutzniveaus für die Gesundheit von Mensch und Tier, die Gewährleistung der Le-

bensmittelsicherheit entlang der gesamten Produktionskette sowie einheitliche Rege-

lungen für die Beteiligung der Schweiz am Binnenmarkt, um den freien Warenverkehr

zu ermöglichen. Zudem soll ein einheitlicher Rahmen für amtliche Kontrollen ge-

schaffen werden, um die wirksame Überwachung und Durchsetzung der Vorschriften

in der Lebensmittelsicherheit, der Tiergesundheit, beim Pflanzenschutz und beim

Tierwohl sicherzustellen.

In Abschnitt 2 von Anhang I aufgelistet werden nur die anwendbaren EU-

Sekundärrechtsakte. Zudem legt Abschnitt 2 einleitend fest, wie das auf Basis der auf-

710 / 931

geführten EU-Sekundärrechtsakte erlassene Tertiärrecht abgebildet wird. So wird prä-

zisiert, dass die aufgeführten Sekundärrechtsakte auch sämtliche bis zum Inkrafttreten

des Protokolls auf ihrer Grundlage erlassenen Tertiärrechtsakte gemäss der Definition

in Artikel 4 des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit umfassen. Neue, nach Inkraft-

treten des Protokolls erlassene Tertiärrechtsakte werden durch einen Beschluss des

Gemischten Ausschusses für Lebensmittelsicherheit gemäss Artikel 13 Absatz 4 in

dieses Protokoll aufgenommen. Allerdings werden Tertiärrechtsakte nicht mit ihrem

ganzen Titel im Anhang I genannt. Vielmehr wird bei jedem in Anhang I aufgeführten

Sekundärrechtsakt präzisiert, bis zu welchem Datum sämtliche Tertiärrechtsakte, die

auf der Grundlage dieses Sekundärrechtsaktes erlassen wurden, in das Protokoll inte-

griert wurden. Diese Praxis existiert heute schon im Rahmen des MRA

605

. Der Ge-

mischte Ausschusses für Lebensmittelsicherheit passt diese Daten bei den Sekundär-

rechtsakten regelmässig an. Bis zum Entscheid des Gemischten Ausschusses für

Lebensmittelsicherheit zur Integration in den Anhang I des Protokolls zur Lebensmit-

telsicherheit werden die Rechtsakte gemäss Artikel 15 vorübergehend angewendet.

Das BLV publiziert alle Rechtsakte, die auf der Grundlage eines der in Anhang I auf-

geführten Sekundärrechtsakte erlassen und in das Protokoll aufgenommen wurden

oder vorübergehend angewendet werden, auf seiner Internetseite.

Im Verhältnis Schweiz–EU geltende Abweichungen und Präzisierungen werden in

sogenannten technischen Anpassungen zu den im Anhang I aufgeführten Rechtsakten

festgehalten. Zudem wird betreffend Datenschutz allgemein festgehalten, dass Ver-

weise

auf

Verpflichtungen der

Mitgliedstaaten

gemäss

der

Verordnung

(EU) 2016/679

606

oder der Richtlinie 2002/58/EG

607

im Hinblick auf die Schweiz als

Verweis auf die einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften zu verstehen sind.

Anhang II: Modalitäten für die Umsetzung von Artikel 9 des Protokolls zur Errichtung

eines gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums

In Anhang II sind die Agenturen und Informationssysteme aufgeführt, an welchen

sich die Schweiz finanziell beteiligt, sowie die Zahlungsmodalitäten definiert.

605

Siehe Anhang 1, Kapitel 16, Abschnitt I, Ziffer 1 sowie Anhang 1, Kapitel 18, Abschnitt I,

Ziffer 1 MRA, SR

0.946.526.81

.

606

Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April

2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten,

zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG, Abl. L 119 vom

4.5.2016.

607

Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über

die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektro-

nischen Kommunikation, Abl. L 201 vom 31.7.2002 zuletzt geändert durch Richtlinie

2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 zur

Änderung der Richtlinie 2002/22/EG über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elekt-

ronischen Kommunikationsnetzen und -diensten, der Richtlinie 2002/58/EG über die Ver-

arbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen

Kommunikation und der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 über die Zusammenarbeit im

Verbraucherschutz, Abl. L 337 vom 18.12.2009.

711 / 931

Anlage 1: Schiedsgericht

Das Schiedsgerichtsprotokoll entspricht den Schiedsregeln, welche für alle Binnen-

marktabkommen des Pakets Schweiz–EU gelten. Siehe dazu die Erläuterungen in Zif-

fer 2.1.6.4.

Anlage 2: Vorrechte und Immunitäten der Europäischen Behörde für Lebensmittelsi-

cherheit

Die Vorrechte und Immunitäten der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit

(EFSA) wurden ins Protokoll zur Lebensmittelsicherheit aufgenommen, damit für

Schweizer Bürgerinnen und Bürger, welche bei der EFSA arbeiten, die gleichen Best-

immungen wie für EU-Bürgerinnen und -Bürger gelten. Die Reglungen bezüglich

EFSA orientieren sich an anlogen Bestimmungen in anderen Binnenmarktabkommen

des Pakets Schweiz–EU. Siehe die Erläuterungen in Ziffer 2.1.5.7.

2.12.7

Grundzüge der Umsetzungserlasse

EU-Rechtsakte im Geltungsbereich des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit werden

mit ihrer Integration durch einen Beschluss des Gemischten Ausschusses in den An-

hang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit Teil der schweizerischen Rechtsord-

nung. Ihre Bestimmungen können, sofern sie hinreichend konkret sind, direkt von den

rechtsanwendenden Behörden angewendet werden. Eine Umsetzung ins nationale

Recht, wie dies bisher mit der Äquivalenzmethode (s. Ziff. 2.12.3.2) praktiziert

wurde, ist grundsätzlich nicht mehr nötig. Innerstaatlich zu regeln sind lediglich die

nicht in den Geltungsbereich des Protokolls für Lebensmittelsicherheit fallenden Re-

gelungsgegenstände sowie Bereiche, in denen das EU-Recht Umsetzungsspielraum

lässt bzw. einer Konkretisierung bedarf. Entsprechend sind sämtliche betroffene Er-

lasse auf Gesetzes- und Verordnungsstufe zu revidieren. Insbesondere sind sämtliche

Bestimmungen aufzuheben, die künftig direkt anwendbarem EU-Recht entsprechen.

Mit der direkten Anwendung der jeweiligen Bestimmungen des EU-Rechts werden

diese Artikel obsolet. Parallele Regelungen desselben Gegenstandes in zwei anwend-

baren Erlassen sind aus Gründen der Rechtssicherheit zu vermeiden. Aufgrund der im

Lebensmittelrecht bereits weit fortgeschrittenen Harmonisierung des Schweizer

Rechts mit dem EU-Recht werden in diesen Bereichen viele Artikel wegfallen. Dies

erfordert eine grundlegende Anpassung von Struktur und Gliederung dieses Erlasses,

die in einer Totalrevision des Lebensmittelgesetzes umgesetzt wird. Darin müssen zu-

dem auch künftig jene Bereiche geregelt werden, die nicht in den Geltungsbereich des

Protokolls für Lebensmittelsicherheit fallen. Da der Anpassungsbedarf im Tierseu-

chengesetz, Tierschutzgesetz, Landwirtschaftsgesetz und Waldgesetz weniger um-

fangreich ist, beschränken sich die legislatorischen Arbeiten in diesen Bereichen auf

eine Teilrevision.

2.12.8

Umsetzung in der Tierschutzgesetzgebung

2.12.8.1

Tierschutzgesetz und Verordnungsrecht

Die Änderungen aufgrund des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit betreffen im

Tierschutzgesetz die Bestimmungen zu den internationalen Tiertransporten und zum

712 / 931

Töten von Tieren sowie die zugehörigen Bestimmungen auf Verordnungsebene, na-

mentlich die Tierschutzverordnung vom 23. April 2008

608

(TSchV), die Verordnung

des EDI vom 5. September 2008

609

über Ausbildungen in der Tierhaltung und im

Umgang mit Tieren (Tierschutz-Ausbildungsverordnung, TSchAV) sowie die Ver-

ordnung des BLV vom 8. November 2021

610

über den Tierschutz beim Schlachten

(VTSchS). Zudem werden die Bestimmungen zur Ausbildung im Bereich des Voll-

zugs des TSchG, des TSG und des LMG harmonisiert.

Für internationale Tiertransporte (Art. 15

a

TSchG) und das Schlachten beziehungs-

weise neu Töten von Tieren (Art. 21 TSchG) sind künftig die Verordnung (EG) Nr.

1/2005 über den Schutz von Tieren beim Transport und damit zusammenhängenden

Vorgängen

611

beziehungsweise die Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 über den Schutz

von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung

612

direkt anwendbar. Dem wird mit der Anpas-

sung der Artikel 15, 15

a

und 21 TSchG Rechnung getragen, indem auf diese Verord-

nungen verwiesen wird. Zudem findet die Verordnung (EU) 2017/625 Anwendung,

die auch Tierschutz-Kontrollen für die Bereiche Transport und Tötung regelt.

Die Verordnung (EG) Nr. 1/2005 regelt den Schutz von Tieren beim Transport inner-

halb der EU und die spezifischen Kontrollen bei der Ankunft oder beim Verlassen des

Zollgebiets.

613

Sie statuiert eine Zulassungspflicht für Transportunternehmen und ent-

hält Vorgaben zur Zulassung.

614

Entsprechend werden die diesbezüglichen Bestim-

mungen in Art. 15

a

TSchG so wie in der TSchV obsolet. Ebenfalls enthält die Ver-

ordnung detaillierte Vorgaben zur Transportfähigkeit von Tieren

615

, zum Umgang mit

diesen

616

und zu den Transportmitteln

617

. Für rein nationale Tiertransporte findet die

Verordnung (EG) Nr. 1/2005 auch künftig keine Anwendung (vgl. Art. 15 VE-

TSchG).

Im Bereich der Tiertransporte hat die Schweiz in Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe b Zif-

fer ii des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit die bereits bestehende Ausnahme be-

treffend Tiertransitverbot auf der Strasse auch für die Zukunft abgesichert. Das be-

deutet, dass die Schweiz im Bereich der nationalen Tiertransporte weiterhin ihre

eigenen, sich vom einschlägigen EU-Recht unterscheidenden gesetzlichen Vorschrif-

608

SR

455.1

609

SR

455.109.1

610

SR

455.110.2

611

Verordnung (EG) Nr. 1/2005 vom 22. Dezember 2004 über den Schutz von Tieren beim

Transport und damit zusammenhängenden Vorgängen sowie zur Änderung der Richtlinien

64/432/EWG und 93/119/EG und der Verordnung (EG) Nr. 1255/97, Abl. L 3 vom

5.1.2005, S. 1, geändert durch die Verordnung (EU) 2017/625 des Europäischen Parla-

ments und des Rates vom 15. März 2017, Abl. L 95 vom 7.4.2017, S. 1.

612

Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 vom 24. September 2009 über den Schutz von Tieren

zum Zeitpunkt der Tötung, Abl. L 303 vom 18.11.2009, S. 1, geändert durch die Verord-

nung (EU) 2017/625 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2017, Abl.

L 95 vom 7.4.2017, S. 1.

613

Siehe Artikel 1 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1/2005.

614

Siehe Artikel 6 Absatz 1 und Artikel 10 der Verordnung (EG) Nr. 1/2005.

615

Anhang I Kapitel I der Verordnung (EG) Nr. 1/2005.

616

Anhang I Kapitel III der Verordnung (EG) Nr. 1/2005.

617

Anhang I Kapitel II der Verordnung (EG) Nr. 1/2005.

713 / 931

ten anwenden kann (Art. 15 VE-TSchG). Im Bereich der internationalen Tiertrans-

porte wendet die Schweiz weiterhin Art. 15a Absatz 3 TSchG an, welcher in Artikel

15a Absatz 2 VE-TSchG übernommen wird.

Tiertransporte, die nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 1/2005

fallen, kann der Bundesrat künftig weiterhin selbst regeln (Art. 15

a

Absatz 3 VE-

TSchG). Namentlich betreffend Transporte von Tieren, die nicht in Verbindung mit

einer wirtschaftlichen Tätigkeit durchgeführt werden

618

, haben die entsprechenden

Bestimmungen in der TSchV weiterhin Gültigkeit. Im Bereich der Ausbildung des

Transportpersonals werden gewisse Anpassungen in der TSchAV nötig, da das EU-

Recht auch Vorgaben zur Schulung des Personals von Transportunternehmen macht.

Die Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 regelt den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der

Tötung. Der Anwendungsbereich umfasst das Töten von Tieren, die zur Herstellung

von Lebensmitteln, Wolle, Häuten, Pelzen oder anderen Erzeugnissen gezüchtet oder

gehalten werden, sowie die Tötung von Tieren zum Zwecke der Bestandsräumung

und damit zusammenhängenden Tätigkeiten. Demgegenüber hat der heutige Artikel

21 TSchG lediglich die Schlachtung von Tieren zum Gegenstand, womit die Tötung

zur Lebensmittelgewinnung gemeint ist (s. die entsprechende Definition in der

TSchV

619

). Folglich wird durch die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009

und deren Aufnahme in Artikel 21 Absatz 1 VE-TSchG der Geltungsbereich von Ar-

tikel 21 TSchG im Vergleich zu heute ausgeweitet.

Die Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 sieht weiter eine Betäubungspflicht für die Tö-

tung von Tieren vor

620

und regelt auch die für die jeweilige Tierart zulässigen Betäu-

bungsverfahren

621

. Aufgrund dieser Vorschriften werden einige Bestimmungen in der

TSchV und insbesondere der VTSchS obsolet und können folglich gestrichen werden,

andere müssen angepasst werden. Die Kompetenz zur Regelung von Tötungen, die

nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 fallen, ver-

bleibt bei der Schweiz beziehungsweise konkret beim Bundesrat

622

. Zudem erlaubt

die Verordnung die Beibehaltung und in gewissen Bereichen den Erlass neuer stren-

gerer nationaler Vorschriften, wenn durch diese ein umfassenderer Schutz der Tiere

zum Zeitpunkt der Tötung sichergestellt wird.

623

2.12.8.2

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

Die Verabschiedung einer Botschaft zu einem Lebensmittelsicherheitsabkommen mit

der EU in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode ist in der vom Bundesrat verab-

schiedeten Botschaft vom 24. Januar 2024 zur Legislaturplanung 2023–2027

624

ange-

kündigt. Der Abschluss des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit bildet somit Be-

standteil der Strategie des Bundesrates für die Jahre 2023–2027 und hat unter anderem

die Änderung des TSchG zur Folge. Der Bundesrat wird seine finanzpolitischen Ent-

scheidungen im Rahmen der Erstellung des jährlichen Voranschlags treffen.

618

Siehe Artikel 1 Absatz 5 der Verordnung (EG) Nr. 1/2005.

619

Art. 2 Abs. 3 Bst. n.

620

Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009.

621

Siehe Anhang I der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009.

622

Art. 21 Abs. 2 E-TSchG.

623

Siehe Artikel 26.

624

BBl

2024

525

714 / 931

2.12.8.3

Umsetzungsfragen

Für den Vollzug des TSchG sind bis auf wenige Ausnahmen die Kantone zuständig

(s. Art. 32 Abs. 2 und 5). Die direkte Anwendung des ins Protokoll zur Lebensmittel-

sicherheit integrierten EU-Rechts wird unter anderem zu einer Umstellung bei der

Verfügungspraxis der kantonalen Vollzugsorgane führen, da in den Bereichen des in-

ternationalen Transports und dem Töten von Tieren gemäss Verordnung (EG)

Nr. 1099/2009 künftig direkt gestützt auf EU-Recht verfügt wird. Ebenso sind ge-

wisse Anpassungen der Vollzugspraxis der kantonalen Vollzugsorgane zu erwarten.

Diese müssen gegebenenfalls zusätzliche Kontrollen vornehmen oder die bestehenden

Kontrollen anpassen sowie Aktionspläne erstellen (s. Ziff. 2.12.9.7). Damit die Voll-

zugsorgane ausreichend Zeit haben, ihre Praxis anzupassen, wurde in Artikel 31 des

Protokolls zur Lebensmittelsicherheit eine Übergangsfrist von maximal zwei Jahren

nach Inkrafttreten vereinbart (s. Ziff. 2.12.7).

2.12.8.4

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des

Umsetzungserlasses

Ingress

Zu den bereits im geltenden TSchG aufgeführten Artikeln wird neu ebenfalls das Pro-

tokoll zur Lebensmittelsicherheit erwähnt, da das Gesetz u.a. der Umsetzung dieses

Abkommens dient.

Art. 15

Während Artikel 15 heute allgemeine Grundsätze für Tiertransporte regelt, soll er

künftig nur auf nationale Tiertransporte anwendbar sein, da sich internationale Tier-

transporte künftig nach der Verordnung (EG) Nr. 1/2005, welche Bestandteil des An-

hangs I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit ist und in der Schweiz grundsätzlich

direkt angewendet wird, richten. Entsprechend wird die Sachüberschrift geändert und

es werden in den beiden Absätzen explizit die nationalen Tiertransporte erwähnt.

Art. 15a

Aufgrund des bestehenden Anhang 11 des Landwirtschaftsabkommens entspricht das

Schweizer Recht zu internationalen Tiertransporten grösstenteils bereits den Anfor-

derungen der Verordnung (EG) Nr. 1/2005. Für internationale Tiertransporte wird,

gestützt auf das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit, die Verordnung (EG)

Nr. 1/2005, welche Bestandteil des Anhangs I des Protokolls zur Lebensmittelsicher-

heit ist, künftig grundsätzlich direkt angewendet.

Diese gilt für den Transport lebender Wirbeltiere, einschliesslich der spezifischen

Kontrollen, denen Tiersendungen bei der Ankunft im Zollgebiet der EU, und nun auch

715 / 931

der Schweiz, oder bei dessen Verlassen unterzogen werden.

625

Die Kontrollen und

Massnahmen richten sich nach der Verordnung (EU) 2017/625.

626

Wie bisher dürfen Rinder, Schafe, Ziegen, Schweine, Schlachtpferde und Schlachtge-

flügel nur im Bahn- oder Luftverkehr durch die Schweiz durchgeführt werden (Abs.

2). Diese Ausnahme aus dem bestehenden Anhang 11 des Landwirtschaftsabkom-

mens wird mit dem Protokoll zur Lebensmittelsicherheit für die Schweiz weiterge-

führt.

627

Gemäss Absatz 3 der Bestimmung regelt der Bundesrat internationale Tiertransporte,

die nicht unter die Verordnung (EG) Nr. 1/2005 fallen, wie namentlich Tiertransporte,

die nicht in Verbindung mit einer wirtschaftlichen Tätigkeit durchgeführt werden

628

.

Er kann internationale Normen für anwendbar erklären.

Art. 21

Artikel 21 regelt neu nicht nur das Schlachten (gemäss Art. 2 Abs. 3 Bst. n TSchV

das Töten von Tieren zum Zwecke der Lebensmittelgewinnung), sondern, entspre-

chend der Definition in der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009, das Töten von Tieren,

die zur Herstellung von Lebensmitteln oder anderen Erzeugnissen gezüchtet oder ge-

halten werden sowie zum Zwecke der Bestandsräumung und damit zusammenhän-

genden Tätigkeiten. Folglich ist neu auch im Gliederungstitel vor Artikel 21 vom Tö-

ten von Tieren und nicht mehr vom Schlachten die Rede. Auch hier findet für die

amtlichen Kontrollen die Verordnung (EU) 2017/625 Anwendung.

629

Absatz 2 gibt dem Bundesrat die Kompetenz, die Vorschriften zur Umsetzung von

Artikel 20 der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 zu erlassen. Artikel 20 der Verord-

nung verlangt von den Mitgliedstaaten genügend unabhängige Wissenschaftler zur

Verfügung zu stellen, um die zuständigen Behörden auf Verlangen zu unterstützen.

Auch die Schweiz kann diese Bestimmung im Schweizer Recht präzisieren. Soweit

es die Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 erlaubt, kann der Bundesrat auch abweichende

Vorschriften für das Töten von Tieren vorsehen. Dies ist im Rahmen von Artikel 26

Absatz 2 und 3 der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 möglich. Weiter erhält der Bun-

desrat mit Absatz 3 der Bestimmung explizit die Kompetenz, das Töten von Tieren,

die nicht unter die genannte Verordnung fallen, sowie von Tieren, die zu anderen

Zwecken als zur Herstellung von Lebensmitteln oder anderen Erzeugnissen gezüchtet

oder gehalten werden, zu regeln.

625

Artikel 1 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1/2005.

626

Siehe Protokoll zur Lebensmittelsicherheit, Anhang I, Abschnitt 2; s. zu den Kontrollen

Artikel 21 der Verordnung (EU) 2017/625.

627

Artikel 7 Absatz 1 Bst. b Ziff. ii des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit.

628

Siehe Artikel 1 Absatz 5 der Verordnung (EG) 1/2005.

629

Siehe Protokoll zur Lebensmittelsicherheit, Anhang I, sowie Artikel 18 Absatz 1 EU-

Kontrollverordnung.

716 / 931

Art. 28

Da in Artikel 21 neu nicht mehr von schlachten, sondern von töten die Rede ist, muss

die entsprechende Strafbestimmung, Artikel 28 Absatz 1 Buchstabe f TSchG, ange-

passt werden.

Art. 32 Abs. 4

Aufgrund der neuen Bestimmungen zu den Anforderungen sowie der Aus- und Wei-

terbildung der Mitarbeitenden der Fachstellen kann Artikel 32 Absatz 4 aufgehoben

werden.

Art. 33a-33d und 35a

Heute regelt die Verordnung vom 16. November 2011

630

über die Aus-, Weiter- und

Fortbildung der Personen im öffentlichen Veterinärwesen die Anforderungen an die

Personen, die im Vollzug tätig sind. Es ist vorgesehen, gesamtheitliche Regelungen

für die Vollzugsorgane der Veterinär- und der Lebensmittelgesetzgebung zu erlassen.

Auch wird die erforderliche Rechtsgrundlage für die damit zusammenhängende Da-

tenbearbeitung geschaffen, wobei der Bundesrat die nötigen Einzelheiten regelt. Es

werden daher die entsprechenden Bestimmungen im TSG, im TSchG und im LMG

vereinheitlicht. Der aktuelle Artikel 32 Absatz 4 sowie Artikel 35

a

TSchG erübrigen

sich und können aufgehoben werden.

2.12.8.5

Auswirkungen dieses Umsetzungserlasses

2.12.8.5.1

Auswirkungen auf den Bund

Aufgrund des bestehenden Anhangs 11 des Landwirtschaftsabkommens werden die

Anforderungen der Verordnung (EG) Nr. 1/2005 betreffend den Schutz von Tieren

bei internationalen Transporten und damit zusammenhängenden Vorgängen mit den

aktuellen Vorschriften im TSchG und in der TSchV zu internationalen Tiertransporten

bereits erfüllt. Für den Bund sind hier keine Auswirkungen zu erwarten.

Durch die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 betreffend den Schutz

von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung kann sich für den Bund ein gewisser Mehrauf-

wand ergeben. Dies betrifft einerseits die Anforderung der Sicherstellung genügend

unabhängiger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, um die zuständigen Behör-

den

631

auf Verlangen zu unterstützen,

632

und andererseits eine allfällige Prüfung oder

Ausarbeitung von Leitfäden.

Der aufgrund der Änderung des TSchG anfallende Mehraufwand wird voraussichtlich

mit den bestehenden Ressourcen kompensiert werden können.

630

SR

916.402

631

Für den Vollzug sind grundsätzlich die Kantone zuständig, s. Art. 32 Abs. 2 TSchG.

632

Artikel 20 der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009.

717 / 931

2.12.8.5.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf

urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

Die Kantone sind grundsätzlich im Bereich des TSchG für den Vollzug zuständig.

633

Aufgrund des bestehenden Landwirtschaftsabkommens werden die Anforderungen

der Verordnung (EG) Nr. 1/2005 mit den aktuellen Vorschriften im TSchG und in der

TSchV zu internationalen Tiertransporten zu einem grossen Teil bereits erfüllt. Schon

heute erteilen die Kantone Bewilligungen für gewerbsmässige, internationale Tier-

transporte. Die TSchV legt die Anforderungen fest.

634

Künftig werden diese durch die

Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 1/2005 abgelöst und sind bei der Bewilli-

gungserteilung zu berücksichtigen. Bewilligungen beziehungsweise ganz grundsätz-

lich Verfügungen in dem Bereich werden direkt gestützt auf das in das Protokoll zur

Lebensmittelsicherheit integrierte EU-Recht erlassen werden. Die Notwendigkeit von

Anpassungen kann sich für die Kantone bei den Kontrollen ergeben. Die Verordnung

(EU) 2017/625 findet Anwendung; sie regelt Durchführung und Zweck der amtlichen

Kontrollen (vgl. z.B. Art. 21 dieser Verordnung). Da die amtlichen Kontrollen grund-

sätzlich bereits heute entsprechend durchgeführt werden, ergeben sich keine nennens-

werten Änderungen.

Was die Umsetzung der EU-Vorschriften zum Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der

Tötung anbelangt, so werden auch diese heute in gleicher oder ähnlicher Weise ge-

stützt auf das TSchG, die TSchV, die TSchAV und die VTSchS umgesetzt.

635

Gleich-

wohl ergeben sich gewisse Neuerungen und zusätzliche Aufgaben für die Kantone.

So ist vor dem Beginn einer Bestandsräumung durch die zuständige Behörde ein Ak-

tionsplan zu erstellen, mit dem sichergestellt wird, dass die Bestimmungen der Ver-

ordnung (EG) Nr. 1099/2009 eingehalten werden.

636

Über die durchgeführten Be-

standsräumungen ist zudem jährlich ein Bericht zu erstellen.

637

Die Änderung des TSchG führt bei den Kantonen zu keinen nennenswerten personel-

len Auswirkungen.

2.12.8.5.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Gestützt auf das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit wird künftig im Bereich der in-

ternationalen Tiertransporte die Verordnung (EG) Nr. 1/2005 grundsätzlich direkt an-

wendbar sein. Die Verordnung gilt grundsätzlich für den Transport von Tieren, der in

Verbindung mit einer wirtschaftlichen Tätigkeit durchgeführt wird. Entsprechend

kann die künftige, grundsätzlich direkte Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 1/2005

aufgrund heute noch bestehender Abweichungen in der Auslegung des Begriffs der

«wirtschaftlichen Tätigkeit» der EU versus die Auslegung des Begriffs «gewerbsmäs-

sig» im geltenden Artikel 15

a

Absatz 1 TSchG dazu führen, dass mehr Transporte

einer Bewilligungspflicht unterstehen werden und dass die zuständigen Personen über

633

Art. 32 Abs. 2 TSchG.

634

Siehe u.a. Art. 170 TSchV.

635

Gemäss bestehendem Landwirtschaftsabkommen entsprechen die Bestimmungen des

Schweizer Rechts in diesem Bereich grundsätzlich bereits heute den Bestimmungen des

einschlägigen EU-Rechts.

636

Artikel 18 der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009.

637

Artikel 18 Absatz 4 der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009.

718 / 931

die entsprechenden Ausbildungen beziehungsweise Befähigungsnachweise verfügen

müssen. Die Pflichten der Personen/Unternehmen, die Tiertransporte durchführen, er-

geben sich sodann ebenfalls direkt aus dem in das Protokoll zur Lebensmittelsicher-

heit integrierten EU-Recht. Dasselbe gilt für die Tierhaltenden am Versand-, Umlade-

oder Bestimmungsort.

638

Da die Bestimmungen zu den internationalen Tiertranspor-

ten im TSchG, in der TSchV und in der TSchAV gestützt auf Anhang 11 des Land-

wirtschaftsabkommens jedoch grossmehrheitlich bereits heute den Vorgaben des EU-

Rechts entsprechen, ist für Transportunternehmen durch die Änderung des TSchG

nicht mit grösseren Auswirkungen zu rechnen.

Auch betreffend den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung entsprechen die

Bestimmungen im TSchG sowie in der TSchV, der TSchAV und der VTSchS bereits

weitgehend der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009. Im Zusammenhang mit der Tötung

von Tieren können sich jedoch für gewisse Unternehmen neue Aufgaben ergeben. Der

bereits heute von Schlachtbetrieben verlangte Erlass von (Standard-)Arbeitsanwei-

sungen

639

wird künftig auch von anderen Betrieben, die von der Verordnung (EG) Nr.

1099/2009 erfasst sind, verlangt werden. In der Schweiz existieren jedoch aktuell

keine oder lediglich einige wenige solcher Betriebe. Für die Ausarbeitung von Leitfä-

den für bewährte Verfahrensweisen, um die Durchführung der Verordnung zu erleich-

tern, nimmt das EU-Recht die Unternehmerorganisationen in die Pflicht.

640

Sofern

nicht bereits ein entsprechender Leitfaden vorliegt, ergibt sich für die Unternehmen

beziehungsweise deren Organisationen ein zusätzlicher Aufwand. Dieser wird

dadurch relativiert, dass die zuständige Behörde eigene Leitfäden ausarbeiten und ver-

öffentlichen kann, wenn die Unternehmerorganisationen keine Leitfäden vorlegen.

641

Zudem werden die Herstellerinnen und Verkäufer von Geräten zur Ruhigstellung und

Betäubung verpflichtet, Gebrauchsanweisungen für die Geräte mitzugeben bezie-

hungsweise über das Internet öffentlich zugänglich zu machen, wobei auch deren In-

halt vorgeschrieben wird.

642

2.12.8.5.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Die Umsetzung im Bereich der Tierschutzgesetzgebung hat keine Auswirkungen auf

die Gesellschaft.

2.12.8.5.5

Auswirkungen auf die Umwelt

Die Umsetzung im Bereich der Tierschutzgesetzgebung hat keine Auswirkungen auf

die Umwelt.

2.12.8.5.6

Andere Auswirkungen

Es sind keine anderen Auswirkungen zu erwarten.

638

Siehe Artikel 8 der Verordnung (EG) Nr. 1/2005.

639

Art. 179

e

Abs. 1 TSchV.

640

Artikel 13 Absatz 2 der Verordnung (EG) 1099/2009.

641

Artikel 13 Absatz 4 der Verordnung (EG) 1099/2009.

642

Artikel 8 der Verordnung (EG) 1099/2009.

719 / 931

2.12.8.6

Rechtliche Aspekte des Umsetzungserlasses

2.12.8.6.1

Verfassungsmässigkeit

Nach Artikel 80 Absatz 1 BV erlässt der Bund Vorschriften über den Schutz der Tiere.

Der Bund hat in diesem Bereich eine umfassende Gesetzgebungskompetenz.

2.12.8.6.2

Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen

der Schweiz

Aufgrund des bestehenden Landwirtschaftsabkommens mit der EU ist das Schweizer

Recht bereits heute grundsätzlich mit der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 harmoni-

siert. Die Schweiz ist verpflichtet, die Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 1/2005

auf den Handel zwischen der Schweiz und der Europäischen Union und auf die Ein-

fuhr aus Drittländern anzuwenden. Entsprechend ergeben sich aufgrund der vorge-

schlagenen Änderungen keine Widersprüche zu Abkommen mit Vertragspartnern

ausserhalb der EU. Es wird zudem auf die Erläuterungen in Ziffer 2.12.13.3 verwie-

sen.

2.12.8.6.3

Erlassform

Vorliegend wird ein bestehendes Bundesgesetz teilrevidiert. Die Erlassform ist beizu-

behalten. Zur Frage der Bündelung der Umsetzungsgesetzgebung, siehe Ziff. 4.3.

2.12.8.6.4

Vorläufige Anwendung

Es ist keine vorläufige Anwendung des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit vorge-

sehen. Dies gilt ebenfalls mit Bezug auf den VE-TSchG.

2.12.8.6.5

Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV sieht zum Zweck der Ausgabenbegrenzung vor,

dass Subventionsbestimmungen sowie Verpflichtungskredite und Zahlungsrahmen,

die neue einmalige Ausgaben von mehr als 20 Millionen Franken oder wiederkeh-

rende Ausgaben von mehr als 2 Millionen Franken nach sich ziehen, in jedem der

beiden Räte der Zustimmung der Mehrheit aller Mitglieder bedürfen. Mit der Umset-

zung im Bereich der Tierschutzgesetzgebung werden weder neue Subventionsbestim-

mungen (die Ausgaben über einem der Schwellenwerte nach sich ziehen) geschaffen,

noch neue Verpflichtungskredite / Zahlungsrahmen (mit Ausgaben über einem der

Schwellenwerte) beschlossen.

Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der fiskalischen Äquivalenz

Die Umsetzung im Bereich der Tierschutzgesetzgebung tangiert die Aufgabenteilung

oder die Aufgabenerfüllung durch Bund und Kantone nicht.

720 / 931

Einhaltung der Grundsätze des Subventionsgesetzes

Mit der Umsetzung im Bereich der Tierschutzgesetzgebung werden keine neuen Sub-

ventionsbestimmungen geschaffen.

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

Die geänderten Bestimmungen legen die Grundsätze fest, die gemäss Artikel 164 Ab-

satz 1 BV einer Grundlage in einem formellen Gesetz bedürfen. Nach Artikel 164

Absatz 2 BV können Rechtsetzungsbefugnisse durch Bundesgesetz übertragen wer-

den, soweit dies nicht durch die Bundesverfassung ausgeschlossen wird. Für interna-

tionale Tiertransporte, die nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr.

1/2005 fallen, wird die Rechtsetzungskompetenz an den Bundesrat delegiert.

Die Kompetenz zur Sicherstellung der wissenschaftlichen Unterstützung gemäss Ar-

tikel 20 der Verordnung (EG) Nr. 1099/2009 wird durch Artikel 21 Absatz 2 E-

TSchG an den Bundesrat delegiert. Damit kann der Bundesrat regeln, wie diese Si-

cherstellung der wissenschaftlichen Unterstützung umzusetzen ist.

Im Bereich der Anforderungen an die Mitarbeitenden der Fachstellen, deren Bildung

und der diesbezüglichen Prüfungskommission wird der Bundesrat dazu ermächtigt,

die entsprechenden Ausführungsbestimmungen zu erlassen.

2.12.8.6.6

Datenschutz

Die Umsetzung im Bereich der Tierschutzgesetzgebung tangiert den Datenschutz

nicht.

2.12.9

Umsetzung in der Lebensmittelgesetzgebung

2.12.9.1

Lebensmittelgesetz

Der Bundesrat hat die Angleichung der schweizerischen technischen Vorschriften an

das EU-Recht in den Bereichen Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände bereits 2011

in seiner Botschaft zum geltenden Lebensmittelgesetz (LMG)

643

zu einem der Haupt-

ziele der damaligen Totalrevision des LMG erklärt.

644

Er hat dies damit begründet, dass

die damaligen Verhandlungen über ein Abkommen im Lebensmittelbereich zwischen

der Schweiz und der EU gezeigt hätten, dass die mittelfristig angestrebte Teilnahme

der Schweiz an den Systemen der Lebensmittel- und der übrigen Produktesicherheit

der EU nur dann möglich ist, wenn die Schweiz das für diese Bereiche relevante EU-

Recht übernimmt. Das Parlament ist dieser Zielsetzung gefolgt und hat in Artikel

44 Absatz 1 LMG festgelegt, dass der Bundesrat beim Erlass von Ausführungsbestim-

mungen international harmonisierte Vorschriften, Richtlinien, Empfehlungen und

Normen zu berücksichtigen hat und diese für anwendbar erklären kann.

643

SR

817.02

644

Siehe Ziffer 1.3.1 der Botschaft vom 25. Mai 2011 zum Bundesgesetz über Lebensmittel

und Gebrauchsgegenstände (BBl

2011

5571).

721 / 931

Die Verhandlungen zum Protokoll zur Lebensmittelsicherheit zur Errichtung eines

gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums mit der EU haben die Sichtweise des

Bundesrates bestätigt. Ein gemeinsamer Lebensmittelsicherheitsraum EU/Schweiz

(nachfolgend Lebensmittelsicherheitsraum) ist nur dann möglich, wenn in diesem

Raum für alle beteiligten Staaten grundsätzlich zu jedem Zeitpunkt dasselbe Recht

gilt. Dies gilt auch für die Schweiz.

Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit sieht deshalb vor, dass neues EU-Recht im

Geltungsbereich des Protokolls mittels GA-Beschluss innert solcher Fristen in dessen

Anhang I aufgenommen wird, die eine gleichzeitige Anwendung in der EU und in der

Schweiz sicherstellen. Das in Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit auf-

gelistete EU-Recht kann in der Schweiz grundsätzlich direkt angewendet werden, so-

fern die Bestimmungen hinreichend konkret sind. Ist dies der Fall, braucht es keine

zusätzlichen Bestimmungen im Schweizer Recht. Bei neuem Tertiärrecht (s. dazu

Ziff. 2.12.6, Ausführungen zu Art. 4 des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit) im

Geltungsbereich des Protokolls, welches regelmässig in kurzen Fristen angewendet

werden muss, vereinbarten die Vertragsparteien dessen vorübergehende Anwendung

durch die Schweiz bis zum formellen GA-Beschluss betreffend ihre Aufnahme in den

Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit. Damit wird die gleichzeitige An-

wendung auch im Bereich des Tertiärrechts sichergestellt (s. Ziff. 2.12.6, Ausführun-

gen zu Art. 15 des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit). Im Gegenzug erhält die

Schweiz Gelegenheit, bei der Ausarbeitung von Rechtsakten im Geltungsbereich des

Protokolls zur Lebensmittelsicherheit mitzuwirken (s. Art. 12 des Protokolls zur Le-

bensmittelsicherheit).

In Artikel 7 des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit werden diejenigen Bereiche

aufgelistet, die in den Geltungsbereich des Protokolls fallen, bei denen die Schweiz

jedoch weiterhin vom EU-Recht abweichen und ihre eigenen gesetzlichen Vorschrif-

ten anwenden kann (s. Ziff. 2.12.6, Ausführungen zu Art. 7 des Protokolls zur Le-

bensmittelsicherheit).

Weil die Gebrauchsgegenstände mit Ausnahme der Gegenstände, die mit Lebensmit-

teln in Kontakt gelangen (sog. Bedarfsgegenstände), nicht Teil des Protokolls zur Le-

bensmittelsicherheit sind, ändert in diesem Bereich gegenüber heute materiell nichts.

Für das Inverkehrbringen kosmetischer Mittel, von Spielzeug sowie von Gegenstän-

den, die mit dem Körper in Kontakt gelangen (Schmuck, Tattoo, Permanent-Make-up

etc.), gelten deshalb auch unter dem neuen Recht dieselben Anforderungen wie im

geltenden Recht.

2.12.9.2

Verordnungsrecht

2.12.9.2.1

Allgemeines

Im Rahmen der Umsetzung des bestehenden Landwirtschaftsabkommens (insbeson-

dere in den Bereichen Lebensmittel tierischer Herkunft, Wein und Spirituosen), des

mit der EG abgeschlossenen Abkommens über die gegenseitige Anerkennung von

722 / 931

Konformitätsbewertungen

645

(Spielzeug) sowie in Umsetzung der vom Parlament und

vom Bundesrat vorgegebenen Stossrichtung (s. Ziff. 2.12.9.1) hat die Schweiz ihr Le-

bensmittelrecht in den letzten Jahren fortlaufend an dasjenige der EU angepasst und

dafür gesorgt, dass es nicht zu Handelshemmnissen kommt. Das Verordnungsrecht

zum LMG ist heute deshalb schon weitestgehend auf das EU-Recht abgestimmt.

2.12.9.2.2

Zu den einzelnen Bereichen

Im Folgenden werden die wichtigsten Änderungen dargestellt, die sich durch den Ab-

schluss des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit und die Totalrevision des LMG auf

Verordnungsebene ergeben werden.

Primärproduktion

Aufgrund der Anhänge 5 und 11 des bestehenden Landwirtschaftsabkommens ent-

spricht das Schweizer Recht bezüglich der Hygiene von Futtermitteln und Lebensmit-

teln in der Primärproduktion dem EU-Recht. Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit

bringt somit keine Änderungen in diesem Bereich mit sich. Die direkte Anwendung

des in das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierten EU-Rechts wird jedoch

bei einigen Bestimmungen, die im Schweizer Recht kürzer formuliert sind, einen hö-

heren Grad an Genauigkeit mit sich bringen.

Mit der Verordnung über die Primärproduktion (VPrP) vom 23. November 2005

646

und den daraus abgeleiteten Verordnungen werden die Bestimmungen bezüglich der

Primärproduktion aus der Verordnung (EG)

Nr. 852/2004

647

über die Lebensmittel-

hygiene, der Verordnung (EG) Nr. 853/2004

648

zu Hygienevorschriften für Lebens-

mittel tierischen Ursprungs und der Verordnung (EG) Nr. 183/2005

649

über die Fut-

termittelhygiene übernommen. Mit dem Protokoll zur Lebensmittelsicherheit wird der

Geltungsbereich auf Ebene der Primärproduktion auf den Pflanzenbau zur direkten

menschlichen Ernährung ausgeweitet. Die VPrP wird einer Totalrevision unterzogen,

wobei die vom EU-Recht übernommenen Bestimmungen gestrichen werden (Ver-

pflichtungen der Betriebe, Notfallpläne, Leitlinien für eine gute Verfah-renspraxis

usw.). Gewisse Bestimmungen bleiben jedoch bestehen, insbesondere die Anwen-

dungskriterien der Meldepflicht für Betriebe sowie die Aufgaben der Bundes-ämter

645

Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der

Europäischen Gemeinschaft über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewer-

tungen, SR

0.946.526.81

(MRA).

646

SR

916.020

647

Verordnung (EG) Nr. 852/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April

2004 über Lebensmittelhygiene, ABl. L 139 vom 30.4.2004, S. 1, geändert durch Verord-

nung (EG) 219/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2009,

ABl. L 87, 31.3.2009, S. 109.

648

Verordnung (EG) Nr. 853/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April

2004 mit spezifischen Hygienevorschriften für Lebensmittel tierischen Ursprungs, ABl. L

139 vom 30.4.2004, S. 55, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2021/1756 des Euro-

päischen Parlaments und des Rates vom 6. Oktober 2021, ABl. L 357, 8.10.2021, S. 27.

649

Verordnung (EG) Nr. 183/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Ja-

nuar 2005 mit Vorschriften für die Futtermittelhygiene, ABl. L 35 vom 8.2.2005, S. 1, zu-

letzt geändert durch Verordnung (EU) 2019/1243 des Europäischen Parlaments und des

Rates vom 20. Juni 2019, ABl. L 198 vom 25.7.2019, S. 241.

723 / 931

und der Kantone. Die Verordnung des WBF über die Hygiene bei der Primär-produk-

tion (VHyPrP) kann gestrichen werden, da sie ausschliesslich aus dem EU-Recht

übernommene Bestimmungen enthält.

Die Milchprüfungsverordnung vom 20. Oktober 2010

650

(MiPV) und die darauf abge-

stützte Verordnung des EDI vom 23. November 2005

651

über die Hygiene bei der

Milchproduktion (VHyMP) orientieren sich heute schon an der für die Primärproduk-

tion von Rohmilch relevanten Verordnung (EG) Nr. 853/2004 sowie der die Kontrolle

von Milch und Milchproduktionsbetrieben regelnden Durchführungsverordnung

(EU) 2019/627

652

. Mit der direkten Anwendung dieser EU-Verordnungen werden

zahlreiche Bestimmungen im schweizerischen Recht obsolet und können entspre-

chend aufgehoben werden. Die konkrete Ausgestaltung des Milchprüfungssystems

überlässt das EU-Recht jedoch den einzelnen Mitgliedstaaten. Die entsprechenden

Regelungen bleiben im Schweizer Recht bestehen.

Die Verordnung vom 16. Dezember 2016653 über das Schlachten und die Fleisch-

kontrolle (VSFK) sowie die Verordnung des EDI vom 23. November 2005654 über

die Hygiene beim Schlachten (VHyS) entsprechen bereits heute dem EU-Recht. Ei-

nige Unterschiede bestehen, die den schweizerischen Eigenheiten Rechnung tragen

(z. B. Begriffsdefinitionen, Betriebsgrössen, Ausweidezeit bei Hof- und Weidetötung,

Fleischuntersuchung etc.). Soweit das EU-Recht den Mitgliedstaaten zur Regelung

solcher Einzelheiten Spielraum lässt, können diese beibehalten werden.

Lebensmittel

Hygiene: Mit den grundlegenden Verordnungen des EU-Hygienerechts (Verordnung

[EG] Nr. 852/2004 und Verordnung [EG] Nr. 853/2004) ist das schweizerische Recht

bereits harmonisiert. Diese Harmonisierung war Voraussetzung dafür, dass im Rah-

men von Anhang 11 des Landwirtschaftsabkommens ein gemeinsamer Veterinärraum

Schweiz/EU geschaffen und die Grenzkontrollen für Tiere und Produkte tierischer

Herkunft zwischen der Schweiz und der EU 2009 aufgehoben werden konnten. Das

Schweizer Hygienerecht wurde seither stets an dasjenige der EU angeglichen. Die

direkte Anwendung der erwähnten Verordnungen und des gestützt darauf erlassenen

Tertiärrechts führt deshalb nicht zu inhaltlichen Änderungen im Schweizer Recht auf

Verordnungsebene.

Kennzeichnung von Lebensmitteln: Die geltende Regelung über unbeabsichtigte Ver-

mischungen oder Kontaminationen bei Allergenen

655

wird beibehalten. In Anhang I

650

SR

916.351.0

651

SR

916.351.021.1

652

Durchführungsverordnung (EU) 2019/627 der Kommission vom 15. März 2019 zur Festle-

gung einheitlicher praktischer Modalitäten für die Durchführung der amtlichen Kontrollen

in Bezug auf für den menschlichen Verzehr bestimmte Erzeugnisse tierischen Ursprungs

gemäss der Verordnung (EU) 2017/625 des Europäischen Parlaments und des Rates und

zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2074/2005 der Kommission in Bezug auf amtliche

Kontrollen, ABl. L 131 vom 17.5.2019, S. 51.

653

SR

817.190

654

SR

817.190.1

655

Artikel 11 Absatz 5 der Verordnung des EDI betreffend die Information über Lebensmit-

tel, SR

817.022.16

.

724 / 931

des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit ist diesbezügliche eine Anpassung für die

Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011

656

durch die Schweiz vorgesehen.

Eine entsprechende Anpassung ist ebenfalls für die Angabe des Produktionslandes

vorgesehen. Dieses muss in der Schweiz auch künftig immer angegeben werden. Wie

oben erwähnt (s. Ziff. 2.12.9.1), wurde in Artikel 7 des Protokolls zur Lebensmittel-

sicherheit eine Ausnahme vorgesehen zur Absicherung der schweizerischen Pflichten

zur Kennzeichnung tierquälerischer Haltungsformen im Zusammenhang mit der Her-

stellung tierischer Lebensmittel (s. dazu auch die landwirtschaftliche Deklarations-

verordnung vom 26. November 2003

657

). So kann die Schweiz an diesen Kennzeich-

nungspflichten festhalten.

Tierische Lebensmittel: Die Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016

658

über Le-

bensmittel tierischer Herkunft ist bereits heute mit dem EU-Recht harmonisiert. So-

weit das EU-Recht den Mitgliedstaaten bei der Regulierung Spielraum überlässt, kann

dieser auch von der Schweiz genutzt werden. So wird sich beispielsweise an den im

EU-Recht nicht harmonisierten schweizerischen Regelungen über Anforderungen an

Gelée Royale und Pollen nichts ändern.

Pflanzliche Lebensmittel: Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit enthält

keine EU-Erlasse, die produktspezifische Anforderungen an pflanzliche Lebensmittel

festlegen. An den diesbezüglichen Bestimmungen der Verordnung des EDI vom

16. Dezember 2016

659

über Lebensmittel pflanzlicher Herkunft, Pilze und Speisesalz

ändert sich somit nichts. Anhang 1 der Verordnung des EDI (Verbotsliste) bleibt eben-

falls bestehen.

Getränke: Von den in der Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016

660

über Ge-

tränke aufgeführten Getränken fällt nur das natürliche Mineralwasser unter das im

Protokoll

zur

Lebensmittelsicherheit

integrierte

EU-Recht

(s.

Richtli-

nie 2009/54/EG

661

über die Gewinnung von und den Handel mit natürlichen Mineral-

wässern sowie gestützt darauf erlassenes Tertiärrecht). Natürliche Mineralwässer

müssen künftig gemäss Artikel 1 der Richtlinie 2009/54/EG anerkannt sein und in die

im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlichte Liste der als natürlich anerkann-

ten Mineralwässer aufgenommen werden. Diese Möglichkeit steht den schweizeri-

schen Mineralwasserproduzentinnen heute schon offen. An den Anforderungen an die

656

Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Ok-

tober 2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel und zur Ände-

rung der Verordnungen (EG) Nr. 1924/2006 und (EG) Nr. 1925/2006 des Europäischen

Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 87/250/EWG der Kommis-

sion, der Richtlinie 90/496/EWG des Rates, der Richtlinie 1999/10/EG der Kommission,

der Richtlinie 2000/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, der Richtlinien

2002/67/EG und 2008/5/EG der Kommission und der Verordnung (EG) Nr. 608/2004 der

Kommission, ABl. L 304 vom 22.11.2011, S. 18, geändert durch Verordnung (EU)

2015/2283 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015, ABl. L

327, 11.12.2015, S. 1.

657

SR

916.51

658

SR

817.022.108

659

SR

817.022.17

660

SR

817.022.12

661

Richtlinie 2009/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009

über die Gewinnung von und den Handel mit natürlichen Mineralwässern, ABl. L 164

vom 26.6.2009, S. 45.

725 / 931

übrigen Getränke, die heute in der Verordnung des EDI über Getränke geregelt sind,

wird sich nichts ändern.

Trinkwasser: Die im EU-Recht für das Trinkwasser zentrale Richtlinie (EU)

2020/2184

662

wird in Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit nicht aufge-

führt. Weil bei der Herstellung von Lebensmitteln, die in den EU-Raum exportiert

werden, bereits heute EU-konformes Trinkwasser verwendet werden muss, harmoni-

siert die Schweiz ihre Vorschriften mit dem einschlägigen EU-Recht im Rahmen des

autonomen Nachvollzugs. Dieser Grundsatz wurde schon bisher befolgt, weshalb es

in diesem Bereich zu keinen Änderungen kommen wird.

Nahrungsergänzungsmittel, Anreicherung von Lebensmitteln, besonderer Ernäh-

rungsbedarf: Die Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016

663

über Nahrungser-

gänzungsmittel (VNem), die Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016

664

über den

Zusatz von Vitaminen, Mineralstoffen und sonstigen Stoffen in Lebensmitteln

(VZVM) und die Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016

665

über Lebensmittel

für Personen mit besonderem Ernährungsbedarf (VLBE) wurden schon bisher regel-

mässig mit dem einschlägigen EU-Recht harmonisiert

666

. Weil die zulässigen Höchst-

mengen für Vitamine und Mineralstoffe im EU-Recht bisher nicht geregelt sind, kann

das Bestandteil der VNem und der VZVM bildende schweizerische Höchstmengen-

modell beibehalten werden. In der VLBE werden heute – anders als im EU-Recht –

auch noch Lebensmittel für Sportlerinnen und Sportler geregelt. Diese Regelung kann

beibehalten werden, denn die in der Verordnung (EU) Nr. 609/2013

667

aufgelisteten

Lebensmittelkategorien sind nicht abschliessend.

662

Richtlinie (EU) 2020/2184 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember

2020 über die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch, ABl. L 435 vom

23.12.2020, S. 1.

663

SR

817.022.14

664

SR

817.022.32

665

SR

817.022.104

666

VNem: Richtlinie 2002/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. Juni

2002 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Nahrungsergän-

zungsmittel, ABl. L 183 vom 12.7.2002, S. 51; VZVM: Verordnung (EG) Nr. 1925/2006

des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Zusatz von

Vitaminen und Mineralstoffen sowie bestimmten anderen Stoffen zu Lebensmitteln, ABl.

L 404 vom 30.12.2006, S. 26; VLBE: Verordnung (EU) Nr. 609/2013 des Europäischen

Parlaments und des Rates vom 12. Juni 2013 über Lebensmittel für Säuglinge und Klein-

kinder, Lebensmittel für besondere medizinische Zwecke und Tagesrationen für gewichts-

kontrollierende Ernährung und zur Aufhebung der Richtlinie 92/52/EWG des Rates, der

Richtlinien 96/8/EG, 1999/21/EG, 2006/125/EG und 2006/141/EG der Kommission, der

Richtlinie 2009/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnun-

gen (EG) Nr. 41/2009 und (EG) Nr. 953/2009 des Rates und der Kommission, ABl. L 181

vom 29.6.2013, S. 35.

667

Verordnung (EU) Nr. 609/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juni

2013 über Lebensmittel für Säuglinge und Kleinkinder, Lebensmittel für besondere medi-

zinische Zwecke und Tagesrationen für gewichtskontrollierende Ernährung und zur Auf-

hebung der Richtlinie 92/52/EWG des Rates, der Richtlinien 96/8/EG, 1999/21/EG,

2006/125/EG und 2006/141/EG der Kommission, der Richtlinie 2009/39/EG des Europäi-

schen Parlaments und des Rates sowie der Verordnungen (EG) Nr. 41/2009 und (EG) Nr.

953/2009 des Rates und der Kommission, ABl. L 181 vom 29.6.2013, S. 35.

726 / 931

Neuartige Lebensmittel: Das Schweizer Recht erkennt heute schon die von der Euro-

päischen Kommission erteilten Bewilligungen für neuartige Lebensmittel an.

668

Der

überwiegende Teil, der in der Schweiz heute verkehrsfähigen neuartigen Lebensmittel

verfügt bereits über eine Bewilligung der Europäischen Kommission. Die neuartigen

Lebensmittel werden künftig nicht mehr vom BLV bewilligt, sondern von der Euro-

päischen Kommission im Verfahren nach Artikel 10 ff. der Verordnung

(EU) 2015/2283

669

. Die Bewilligungen der Europäischen Kommission basieren – wie

bisher schon zahlreiche Schweizer Bewilligungen – auf einer Risikobewertung durch

die EFSA. Diese Bewilligungen werden von der Schweiz gestützt auf das Protokoll

zur Lebensmittelsicherheit anerkannt.

Gentechnisch veränderte Organismen: Das schweizerische Recht über das Inverkehr-

bringen und Kennzeichnen gentechnisch veränderter Organismen bleibt weiterhin an-

wendbar. Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit sieht in Artikel 7 für das Inver-

kehrbringen gentechnisch veränderter Lebensmittel explizit eine Ausnahme vor, das

heisst die Schweiz kann diesen Bereich weiterhin eigenständig regulieren. Vorgese-

hen ist einzig, dass in der EU zugelassene Lebensmittel, die zufällige oder technisch

nicht zu vermeidende Spuren von Material enthalten, das genetisch veränderte Orga-

nismen enthält, aus solchen besteht oder aus solchen hergestellt ist, auch in der

Schweiz verkehrsfähig sein sollen. Der Schwellenwert für derartige Spuren ist in Ar-

tikel 12 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1829/2003

670

bei 0.9% festgelegt. Für die

Kennzeichnung gilt, dass GVO sowohl in der Schweiz wie auch in der EU grundsätz-

lich entsprechend gekennzeichnet werden müssen, ausser es handelt sich um unver-

meidbare oder zufällige Spuren unter dem Schwellenwert von 0,9%, bezogen auf die

Zutat (Art. 12 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 sowie Art. 8 Abs. 7 der

Verordnung des EDI vom 27. Mai 2020

671

über gentechnisch veränderte Lebensmit-

tel).

Zusatzstoffe: Die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 1333/2008

672

führt dazu, dass

in der Schweiz künftig dieselben Zusatzstoffe in denselben Mengen und mit denselben

Anwendungsmodalitäten erlaubt sein werden wie in der EU. Sowohl die aufwendige

Harmonisierung des Schweizer Rechts mit dem entsprechenden EU-Recht wie auch

damit verbundenen zeitlichen Verzögerungen für das Verwenden dieser Stoffe wer-

den künftig entfallen.

668

Artikel 6 Absatz 1 der Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016 über neuartige Le-

bensmittel, SR

817.022.2.

669

Verordnung (EU) 2015/2283 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Novem-

ber 2015 über neuartige Lebensmittel, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011

des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr.

258/97 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Verordnung (EG) Nr.

1852/2001 der Kommission, ABl. L 327 vom 11.12.2015, S. 1, geändert durch Verord-

nung (EU) 2019/1381 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019,

ABl. L 231 vom 6.9.2019, S. 1.

670

Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.

September 2003 über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel, ABl. L 268 vom

18.10.2003, S. 1, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2019/1381 des Europäischen

Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019, ABl. L 231 vom 6.9.2019, S. 1.

671

SR

817.022.51

672

Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. De-

zember 2008 über Lebensmittelzusatzstoffe, ABl. L 354 vom 31.12.2008, S. 16.

727 / 931

Aromen: Die in Lebensmitteln zugelassenen Aromastoffe und ihre Verwendungsbe-

dingungen sind in einer Liste in Anhang I Teil A der Verordnung (EG)

Nr. 1334/2008

673

über Aromastoffe aufgeführt. Nur die in dieser Liste geführten Aro-

mastoffe sind unter besonderen Bedingungen zugelassen. Die Verbote nach Anhang 6

der Aromenverordnung vom 16. Dezember 2016

674

werden wegfallen.

Rückstände und Kontaminanten: Die Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016

675

über die Höchstgehalte für Pestizidrückstände in oder auf Erzeugnissen pflanzlicher

und tierischer Herkunft (VPRH), die Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016

676

über die Höchstgehalte für Kontaminanten sowie die Verordnung des EDI vom

16. Dezember 2016

677

über die Höchstgehalte für Rückstände von pharmakologisch

wirksamen Stoffen und von Futtermittelzusatzstoffen in Lebensmitteln tierischer Her-

kunft (VRLtH)

wurden schon bisher mit dem einschlägigen EU-Recht harmonisiert.

Bezüglich der im geltenden Schweizer Recht festgelegten Höchstgehalte für Pestizid-

rückstände für in der Schweiz bewilligte Pflanzenschutzanwendungen bietet die Ver-

ordnung (EG) Nr. 396/2005

678

die Möglichkeit, in der EU einen Antrag zu stellen, da-

mit diese Höchstgehalte ins EU-Recht übernommen werden. Diese Möglichkeit steht

künftig auch der Schweiz offen. Wegen der direkten Anwendung des einschlägigen

EU-Rechts werden die schweizerischen Verordnungen weitestgehend aufgehoben

werden können und die regelmässigen Anpassungen an das EU-Recht künftig entfal-

len.

Gebrauchsgegenstände

Materialien und Gegenstände, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln in Berüh-

rung zu kommen (Bedarfsgegenstände): Die Verordnung (EG) Nr. 178/2002

679

erfasst

673

Verordnung (EG) Nr. 1334/2008 des europäischen Parlaments und des Rates vom 16. De-

zember 2008 über Aromen und bestimmte Lebensmittelzutaten mit Aromaeigenschaften

zur Verwendung in und auf Lebensmitteln sowie zur Änderung der Verordnung (EWG)

Nr. 1601/91 des Rates, der Verordnungen (EG) Nr. 2232/96 und (EG) Nr. 110/2008 und

der Richtlinie 2000/13/EG, ABl. L 354 vom 31.12.2008, S. 34, zuletzt geändert durch Ver-

ordnung (EU) 251/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar

2014, ABl. L 84 vom 20.03.2014, S. 14.

674

SR

817.022.41

675

SR

817.021.23

676

SR

817.022.15

677

SR

817.022.13

678

Verordnung (EG) Nr. 396/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Feb-

ruar 2005 über Höchstgehalte an Pestizidrückständen in oder auf Lebens- und Futtermit-

teln pflanzlichen und tierischen Ursprungs und zur Änderung der Richtlinie 91/414/EWG

des Rates, ABl. L 70 vom 16.3.2005, S. 1, zuletzt geändert durch Verordnung (EU)

2017/625 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2017, ABl. L 95 vom

7.4.2017, S. 1.

679

Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Ja-

nuar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmit-

telrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur

Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit, ABl. L 31 vom 1.2.2002, S. 1, zu-

letzt geändert durch Verordnung (EU) 2019/1381 des Europäischen Parlaments und des

Rates vom 20. Juni 2019, ABl. L 231, 6.9.2019,, S. 1.

728 / 931

nicht nur Lebensmittel, sondern auch Bedarfsgegenstände. Basis-Verordnung in die-

sem Bereich ist die Verordnung (EG) Nr. 1935/2004

680

. Gestützt auf diese Verordnung

hat die Europäische Kommission verschiedene abgeleitete Verordnungen erlassen. So

über die gute Herstellungspraxis für Materialien und Gegenstände, die dazu bestimmt

sind, mit Lebensmitteln in Berührung zu kommen

681

, aktive und intelligente Materia-

lien

682

oder Materialien und Gegenstände aus recyceltem Kunststoff

683

. Das Schweizer

Recht wurde bereits mit diesen Verordnungen harmonisiert. Neu werden diese EU-

Verordnungen direkt anwendbar sein.

Bei den übrigen Gebrauchsgegenständen gibt es keine materiellen Änderungen. Sie

fallen nicht in den Geltungsbereich des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit und

werden wie bisher im Schweizer Recht eigenständig geregelt.

Vollzug

Die Verordnung (EU) 2017/625

684

ist die zentrale Verordnung der EU für die Durch-

führung der amtlichen Kontrollen entlang der gesamten Lebensmittelkette. Sie regelt

die amtlichen Kontrollen der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten und zukünftig

auch der Schweiz, die Finanzierung der Kontrollen, die Amtshilfe zwischen den Mit-

gliedstaaten, die Kontrollen der Tiere und Waren, die aus Drittländern in die EU im-

portiert werden sowie die Einrichtung eines computergestützten Informationssystems

zur Verwaltung von Informationen und Daten über die amtlichen Kontrollen. Sie ent-

hält ebenfalls Vorschriften zur Kontrolle des Online-Handels sowie zur Bekämpfung

680

Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Ok-

tober 2004 über Materialien und Gegenstände, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln

in Berührung zu kommen und zur Aufhebung der Richtlinien 80/590/EWG und

89/109/EWG, ABl. L 338 vom 13.11.2004, S. 4, zuletzt geändert durch Verordnung (EU)

2019/1381 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019, ABl. L 231

vom 6.9.2019, S. 1.

681

Verordnung (EG) Nr. 2023/2006, der Kommission vom 22. Dezember 2006 über gute

Herstellungspraxis für Materialien und Gegenstände, die dazu bestimmt sind, mit Lebens-

mitteln in Berührung zu kommen, ABl. L 384, 29.12.2006, S. 75.

682

Verordnung (EG) Nr. 450/2009 der Kommission vom 29. Mai 2009 über aktive und intel-

ligente Materialien und Gegenstände, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln in Berüh-

rung zu kommen, ABl. L 135 vom 30.5.2009, S. 3.

683

Verordnung (EU) 2022/1616 der Kommission vom 15. September 2022 über Materialien

und Gegenstände aus recyceltem Kunststoff, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln in

Berührung zu kommen, und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 282/2008, ABl. L

243 vom 20.9.2022, S. 3.

684

Verordnung (EU) 2017/625 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März

2017 über amtliche Kontrollen und andere amtliche Tätigkeiten zur Gewährleistung der

Anwendung des Lebens- und Futtermittelrechts und der Vorschriften über Tiergesundheit

und Tierschutz, Pflanzengesundheit und Pflanzenschutzmittel, zur Änderung der Verord-

nungen (EG) Nr. 999/2001, (EG) Nr. 396/2005, (EG) Nr. 1069/2009, (EG) Nr. 1107/2009,

(EU) Nr. 1151/2012, (EU) Nr. 652/2014, (EU) 2016/429 und (EU) 2016/2031 des Europä-

ischen Parlaments und des Rates, der Verordnungen (EG) Nr. 1/2005 und (EG) Nr.

1099/2009 des Rates sowie der Richtlinien 98/58/EG, 1999/74/EG, 2007/43/EG,

2008/119/EG und 2008/120/EG des Rates und zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr.

854/2004 und (EG) Nr. 882/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates, der Richtli-

nien 89/608/EWG, 89/662/EWG, 90/425/EWG, 91/496/EEG, 96/23/EG, 96/93/EG und

97/78/EG des Rates und des Beschlusses 92/438/EWG des Rates, ABl. L 95 vom

7.4.2017, S. 1, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2024/3115 des Europäischen Par-

lament und des Rates vom 27. November 2024, ABl. L 3115 vom 16.12.2024, S. 1.

729 / 931

betrügerischer Machenschaften entlang der Lebensmittelkette (sog.

Food Fraud

). Die

Organisation des Vollzugs überlässt die Verordnung den Mitgliedstaaten. Die

Schweiz wird diese somit auch künftig selbst bestimmen können.

Verordnung vom 27. Mai 2020

685

über den Vollzug der Lebensmittelgesetzgebung

(LMVV): Die LMVV wurde in den vergangenen Jahren stets an die Entwicklungen

des EU-Rechts angepasst. Künftig wird das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit es

der Schweiz ermöglichen, am Informationsaustausch mit den Mitgliedstaaten teilzu-

haben und vollwertiges Mitglied beim

Rapid Alert System for Food and Feed

(iRASFF) zu werden. Damit erreicht die Schweiz ein Ziel, das sie bereits mit dem

geltenden LMG angestrebt hat: Die vollwertige Teilnahme am Lebensmittelsicher-

heitssystem der EU (s. Ziff. 2.12.10.1).

Mehrjähriger nationaler Kontrollplan für die Lebensmittelkette und die Gebrauchsge-

genstände: Den neuen Elementen, welche durch die direkte Anwendung der Verord-

nung (EU) 2017/625 Eingang ins Schweizer Recht finden werden (Kontrolle des On-

linehandels,

Bekämpfung

von

Lebensmittelkriminalität,

Informationsmanagementsystem der EU für amtliche Kontrollen IMSOC, usw.), wird

in der Verordnung vom 27. Mai 2020 über den mehrjährigen nationalen Kontrollplan

für die Lebensmittelkette und die Gebrauchsgegenstände künftig Rechnung getragen

werden müssen. Sie wird entsprechend anzupassen sein.

2.12.9.3

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

Die Verabschiedung einer Botschaft zu einem Lebensmittelsicherheitsabkommen mit

der EU ist in der Botschaft vom 24. Januar 2024

686

zur Legislaturplanung 2023–2027

vorgesehen. Die Änderung des LMG ist auch Bestandteil von Ziel 21 dieser Botschaft.

Der Bundesrat wird seine finanzpolitischen Entscheidungen im Rahmen der Erstel-

lung des jährlichen Voranschlags treffen.

2.12.9.4

Umsetzungsfragen

In Hinblick auf die direkte Anwendung der in Anhang I des Protokolls zur Lebens-

mittelsicherheit aufgeführten EU-Rechtsakte sowie des gestützt darauf erlassenen

Tertiärrechts sind im geltenden Lebensmittelgesetz gewisse Anpassungen erforder-

lich. Zum einen muss das Schweizer Recht angepasst oder aufgehoben werden, wenn

es vom im Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierten EU-Recht abweicht. Zum

anderen sollen Doppelspurigkeiten beseitigt werden, um die Anwendungsfreundlich-

keit und die Rechtssicherheit zu stärken. Des Weiteren erfordert das ins Protokoll zur

Lebensmittelsicherheit integrierte EU-Recht teilweise detaillierte Regelungen im

Schweizer Recht. Diese Anpassungen sowie die Neuregelung des Vollzugs bei den

Gebrauchsgegenständen erfordern eine Neukonzeption des gesamten bisherigen

LMG und damit dessen Totalrevision.

Bei der Erarbeitung des vorliegenden VE-LMG wurde darauf geachtet, dass dieser

aus sich heraus verständlich bleibt. Würden Bestimmungen wie «Zweck», «Geltungs-

bereich», «Definitionen» und so weiter. wegfallen und nur noch das geregelt, was

685

SR

817.042

686

BBl

2024

525

730 / 931

nicht schon im EU-Recht geregelt wird, würde es schwierig, sich im Gesetz zurecht

zu finden. Bei den für das Verständnis des VE-LMG zentralen Bestimmungen wird

jeweils auf diejenige Bestimmung des EU-Rechts verwiesen, welche diese Thematik

konkret regelt.

Im Hinblick auf die direkte Anwendung der im Anhang I des Protokolls zur Lebens-

mittelsicherheit aufgeführten EU-Rechtsakte werden im VE-LMG verschiedene Be-

griffe verwendet, die im LMG bisher anders gelautet haben (z.B. neu «Verbrauche-

rinnen und Verbraucher» statt wie bisher «Konsumentinnen und Konsumenten» in

Deutsch). Zudem wurden im Rahmen der vorliegenden Totalrevision bestimmte Be-

griffe in den drei Amtssprachen vereinheitlicht (z.B. für den Begriff «Unternehmen»

wird in Französisch konsequent «entreprise» und in Italienisch «azienda» verwendet,

für den Begriff «Betrieb» in Französisch «établissement» und in Italienisch «stabili-

mento». Bei der Kommentierung der einzelnen Artikel unter Ziffer 2.12.9.5 wird

punktuell auf diese Thematik eingetreten.

Für den Aufbau des VE-LMG wurden verschiedene ausländische Gesetze analysiert.

Das österreichische Lebensmittelsicherheits- und Verbraucherschutzgesetz hat dem

Anliegen, aus sich heraus verständlich zu sein, am besten entsprochen. Die Konzep-

tion des vorliegenden VE-LMG orientiert sich deshalb weitgehend an diesem Gesetz.

Die vorliegende Revision hat – ausser bei der Überführung bestimmter Gebrauchsge-

genstände unter den Geltungsbereich des Produktesicherheitsgesetzes

687

– keine Aus-

wirkungen auf die Zuständigkeiten im Vollzug. Das bisherige bewährte System kann

auch unter dem Protokoll zur Lebensmittelsicherheit weitergeführt werden.

Um Doppelspurigkeiten zu vermeiden, wird auch im Verordnungsrecht das dem EU-

Recht entsprechende Schweizer Recht aufgehoben werden, weil das einschlägige EU-

Recht kraft des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit künftig direkt angewendet wird.

Nicht im Protokoll zur Lebensmittelsicherheit aufgelistetes EU-Recht, mit welchem

die Schweiz in den letzten Jahren im Rahmen des bilateralen Landwirtschaftsabkom-

mens mit der EU bzw. des MRA oder autonom in ihr Verordnungsrecht übernommen

hat, muss dagegen im Verordnungsrecht bleiben. Dieses ist durch Bestimmungen zu

ergänzen, die sowohl die EU-Mitgliedstaaten wie auch die Schweiz erlassen können,

weil ihnen das EU-Recht in einem konkreten Bereich eine Regelungskompetenz ein-

räumt (Bsp.: Art. 10 Abs. 2 Bst. b VE-LMG betreffend die Anwendung der Hygiene-

vorschriften der EU auf Einzelhandelsbetriebe).

Mit der vorliegenden Revision werden zudem die folgenden parlamentarischen Vor-

stösse umgesetzt:

21.3691 Motion Munz Stopp dem Lebensmittelbetrug

21.3903 Motion Egger Mike Lebensmittelbetrug stärker bekämpfen zum

Schutz der heimischen Lebensmittelproduktion und der Konsumenten

21.3936 Motion Michaud Gigon Verstärkte Anstrengungen zur Bekämp-

fung von Lebensmittelbetrug

687

SR

930.11

731 / 931

In Ergänzung zu den Anpassungen aufgrund des Protokolls zur Lebensmittelsicher-

heit soll daher ein angemessener rechtlicher Rahmen für ein zielgerichtetes Vorgehen

gegen Lebensmittelbetrug geschaffen werden. Damit werden die Grundlagen geschaf-

fen, um im Sinne der Verordnung (EU) 2017/625 auf betrügerische oder irreführende

Praktiken beruhende Verstösse gegen die Lebensmittelgesetzgebung zu bekämpfen

(s. die Art. 9 Abs. 2, 65 Abs. 4, 97 Abs. 2, 102 Abs. 4 sowie 139 Abs. 2 dieser Ver-

ordnung). Vorgesehen ist:

Die Vollzugsorgane der Lebensmittelgesetzgebung sollen Fachpersonen

beiziehen können, die den Warenfluss und auch den Geldfluss in einem Be-

trieb überprüfen können (Art. 62 Abs. 2),

Die Rechtsgrundlagen für den Daten- und Informationsaustausch sollen er-

weitert werden, was den involvierten Stellen (BLV, BLW, Bundesamt für

Polizei [fedpol], Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit [BAZG], kanto-

naler Lebensmittelvollzug) eine wirkungsvolle Zusammenarbeit ermöglicht

(Art. 73 ff.).

Besteht der begründete Verdacht, dass eine natürliche oder eine juristische

Person systematisch und in erheblichem Ausmass gegen dieses Gesetz

verstösst, sollen die mit dem Vollzug der Lebensmittelgesetzgebung beauf-

tragten Behörden beim betroffenen Lebensmittel- oder Gebrauchsgegen-

ständebetrieb eine Betriebsanalyse durchführen können (Art. 74).

Der Strafrahmen von Artikel 81 Absatz 2 (gewerbsmässiges Handeln) soll

erweitert werden und es soll dem für die Aufsicht des Bundes über den kan-

tonalen Vollzug zuständigen BLV die Möglichkeit eingeräumt werden, in

Strafverfahren Parteirechte wahrzunehmen (Art. 83 Abs. 2).

Die Verjährungsfrist für die Strafverfolgung der in Artikel 81 aufgelisteten

Übertretungsstraftatbestände soll auf fünf Jahre erhöht werden (Art. 84).

2.12.9.5

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des

Umsetzungserlasses

1. Kapitel: Allgemeine Bestimmungen

1. Abschnitt: Zweck, Geltungsbereich und Verhältnis zum Protokoll zur Lebensmittel-

sicherheit

Art. 1

Zweck

Diese Bestimmung entspricht dem geltenden Artikel 1 LMG, mit einer Ausnahme: In

der deutschen Sprachversion wird «Konsumentinnen und Konsumenten» durch «Ver-

braucherinnen und Verbraucher» ersetzt, da in der Verordnung (EG) Nr. 178/2002

diese Terminologie verwendet wird. Der Begriff «Endverbraucher» bezeichnet im

EU-Recht «den letzten Verbraucher eines Lebensmittels, der das Lebensmittel nicht

im Rahmen der Tätigkeit eines Lebensmittelunternehmens verwendet». Ein «Ver-

braucher» kann demzufolge auch eine Person sein, welche das Lebensmittel an einen

732 / 931

«Endverbraucher» weitergibt. Für einen «Verbraucher» gelten somit andere Verant-

wortlichkeiten als für einen «Endverbraucher». Eine einheitliche Terminologie im

Einklang mit dem EU-Recht ist erforderlich, um diesbezüglich Klarheit zu schaffen.

Wie im bisherigen Recht wird in Artikel 1 abschliessend aufgeführt, welches die Ziele

des Lebensmittelgesetzes sind.

Art. 2

Geltungsbereich

Der Geltungsbereich des VE-LMG entspricht demjenigen des geltenden LMG, wird

punktuell aber ausgeweitet.

In Absatz 1 Buchstabe a wird in der deutschen Sprachversion neu auch die «Handha-

bung» als Tätigkeit aufgeführt, die unter den «Umgang mit Lebensmitteln und Ge-

brauchsgegenständen» fällt. Dieser Begriff wird auch in Artikel 1 Absatz 3 (Anwen-

dungsbereich) der Verordnung (EG) Nr. 178/2002

688

erwähnt. Durch die Aufnahme

dieses Begriffs in den VE-LMG soll sichergestellt werden, dass die Geltungsbereiche

des VE-LMG und der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 nicht voneinander abweichen.

In Französisch wird hierfür der Begriff «manipulation» verwendet, in Italienisch «ma-

nipolazione».

Die Herausforderungen durch den globalen Markt nehmen zu. Immer mehr Produkte

werden über den Online-Handel vertrieben, so auch Lebensmittel und Gebrauchsge-

genstände. Damit verbunden sind oft komplexe Lieferketten, die auch Wirtschaftsak-

teure einschliessen, deren Tätigkeit bislang nicht klar einer der in Absatz 1 aufgelis-

teten Tätigkeiten zugeordnet werden konnte. Das LMG war auf diese deshalb nicht

anwendbar. Unabhängig vom Protokoll zur Lebensmittelsicherheit soll Buchstabe a

in Anlehnung an Artikel 3 Ziffer 11 der Verordnung (EU) 2019/1020

689

(Marktüber-

wachungsverordnung), welche in der EU die Marktüberwachung bestimmter Ge-

brauchsgegenstände regelt, die in der Schweiz unter den Geltungsbereich des LMG

fallen (z. B. Spielzeug und kosmetische Mittel), deshalb um die Fulfilment-Dienst-

leistungen erweitert werden (s. Art. 6 VE-LMG). Damit soll geklärt werden, dass auch

Dienstleistungen wie Verpackung, Adressierung oder Versand von Lebensmitteln und

Gebrauchsgegenständen künftig vom Geltungsbereich des LMG erfasst werden.

Wichtige Akteure im Online-Handel sind die Betreiberinnen von Hosting-Diensten

(Bst. b). Sie bieten Speicherplatz an und speichern auf ihren Servern Informationen

ihrer Nutzerinnen und Nutzer. Als Nutzerinnen und Nutzer sind sowohl natürliche wie

auch juristische Personen zu verstehen, die einen Hosting-Dienst in Anspruch neh-

men, um Informationen zu erlangen oder zugänglich zu machen. Zu den Hosting-

Diensten gehören auch die Online-Plattformen. Die Nutzerinnen und Nutzer können

die Dienste für das Anbieten von Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen verwen-

den. Die Betreiberinnen der Online-Plattformen müssen von den Nutzerinnen und

Nutzern unter anderem wichtige Informationen einholen (zur Identität und zur Kon-

688

Artikel 3 Ziffer 18 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002.

689

Verordnung (EU) 2019/1020 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni

2019 über Marktüberwachung und die Konformität von Produkten sowie zur Änderung

der Richtlinie 2004/42/EG und der Verordnungen (EG) Nr. 765/2008 und (EU) Nr.

305/2011, ABl. L 169 vom 25.6.2019, S. 1.

733 / 931

taktadresse von Anbieterinnen, zu Abnehmerinnen und Abnehmern sowie zu den ge-

tätigten Transaktionen). Auf Verlangen müssen die Betreiberinnen der Plattformen

diese Daten der zuständigen Vollzugsbehörde bekannt geben (Art. 37 Abs. 2 VE-

LMG). Ihre Tätigkeit unterstand nach bisherigem Recht nicht dem Geltungsbereich

des LMG. Auch hier soll unabhängig vom Protokoll zur Lebensmittelsicherheit eine

eigenständige Regelung im LMG erfolgen. Diese lehnt sich an die Verordnung

(EU) 2022/2065

690

über den Binnenmarkt für digitale Dienste (DSA) an, welche so-

wohl die Pflichten der Marktakteure im Bereich des Online-Handels wie auch die

Kompetenzen der Kontrollbehörden detailliert regelt.

Buchstabe c entspricht dem geltenden Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b LMG. Unter

Werbung wird die direkte (herkömmliche Werbung wie Anzeigen und Werbespots)

sowie die indirekte (Werbung wird nicht direkt oder bewusst als solche wahrgenom-

men wie Product-Placement, Content-Marketing und Sponsoring von Events) erfasst.

Buchstabe d entspricht dem geltenden Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe c LMG.

Handelsbetriebe mit Sitz in der Schweiz, die Lebensmittel oder Gebrauchsgegen-

stände von der Schweiz aus ausschliesslich im Ausland angeboten haben, ohne dass

die Produkte je in die Schweiz gelangten, wurden vom Geltungsbereich des LMG

bisher nicht erfasst. Der Geltungsbereich des VE-LMG nun explizit um diese Be-

triebskategorie erweitert (Bst. e). Solche Betriebe sollen, wenn sie im Ausland Pro-

dukte vertreiben, die gegen das im betreffenden Land geltende Recht verstossen, in

Amtshilfeverfahren gegenüber den Schweizer Behörden auskunftspflichtig sein (s.

Art. 38 VE-LMG). Dabei handelt es sich um eine eigenständige schweizerische Re-

gelung, die nicht mit dem Protokoll zur Lebensmittelsicherheit zusammenhängt und

sich im Rahmen des autonomen Nachvollzugs an der Stossrichtung der Verordnung

(EU) 2017/625 orientiert.

Die Absätze 2 und 3 wurden unverändert übernommen.

Absatz 4 listet diejenigen Bereiche auf, die vom Geltungsbereich des VE-LMG expli-

zit nicht erfasst werden.

Absatz 4 Buchstabe a wurde an den Wortlaut von Artikel 1 Absatz 3 der Verordnung

(EG) Nr. 178/2002 angepasst. Der bisherige Buchstabe c wurde in Buchstabe a inte-

griert. Dieser soll aber – anders als im EU-Recht – nach wie vor auch für Gebrauchs-

gegenstände gelten.

Die Buchstaben b und d wurden inhaltlich unverändert übernommen. Der bisherige

Buchstabe d wird neu zu Buchstabe c.

Das Abkommen vom 21. Juni 1999

691

zwischen der Schweiz und der EG über die

gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen (MRA) ist ein Instrument

zur Beseitigung technischer Handelshemmnisse bei der Vermarktung zahlreicher Pro-

dukte zwischen der Schweiz und der EU. Die Vermeidung kostspieliger doppelter

Konformitätsbewertungen erleichtert für die Unternehmen den Zugang zum Binnen-

690

Verordnung (EU) 2022/2065 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Oktober

2022 über einen Binnenmarkt für digitale Dienste und zur Änderung der Richtli-

nie 2000/31/EG (Gesetz über digitale Dienste); ABl. L 277 vom 27.10.2022 S. 1.

691

SR

0.946.526.81

734 / 931

markt der EU (s. Ziff. 2.4.1). Unter das MRA fällt auch Spielzeug (Anhang 1 Kapi-

tel 3 MRA). Um die aus diesem Abkommen resultierenden Vorteile aufrechterhalten

zu können, muss die schweizerische Gesetzgebung mit derjenigen der EU gleichwer-

tig sein. Im Bereich Spielzeug müssen die Sicherheitsanforderungen der Richtli-

nie 2009/48/EG

692

entsprechen. Fünf Kategorien von Spielzeug sind vom Geltungs-

bereich dieser Richtlinie ausgenommen: Spielplatzgeräte zur öffentlichen Nutzung,

Spielautomaten zur öffentlichen Nutzung, mit Verbrennungsmotoren ausgerüstete

Spielfahrzeuge, Spielzeugdampfmaschinen, Schleudern und Steinschleudern. In der

Schweiz fallen diese fünf Kategorien heute zwar nicht in den Geltungsbereich der

Spielzeugverordnung des EDI vom 15. August 2012

693

, sie gelten gemäss der Defini-

tion in Artikel 65 der Lebensmittel- und Gebrauchsgegenständeverordnung vom

16. Dezember 2016

694

(LGV) aber trotzdem als «Spielzeug» und müssen damit die

allgemeinen Sicherheitsanforderungen an Spielzeug (Art. 66 LGV) einhalten. Um das

schweizerische Recht mit demjenigen der EU zu harmonisieren, sollen diese fünf

Spielzeugkategorien künftig explizit vom Geltungsbereich des LMG ausgenommen

werden (Bst. d). Sie sollen neu unter den Geltungsbereich des Bundesgesetzes vom

12. Juni 2009

695

über die Produktesicherheit (PrSG) fallen.

Absatz 5 wurde unverändert übernommen.

Art. 3

Verhältnis zum Protokoll zur Lebensmittelsicherheit

Diese Bestimmung stellt klar, dass in der Schweiz auch künftig das Schweizer Le-

bensmittelgesetz gilt. Einzig in den Bereichen, die durch die in Anhang I zum Proto-

koll zur Lebensmittelsicherheit aufgeführten EU-Rechtsakte abgedeckt werden, ge-

langt das entsprechende EU-Recht zur Anwendung. Bei den drei unter den

Buchstaben a–c aufgeführten EU-Rechtsakten handelt es sich um für die Sicherheit

und den Täuschungsschutz bei Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen grundle-

gende Erlasse. Die Aufzählung ist nicht abschliessend. Massgeblich ist das Protokoll

zur Lebensmittelsicherheit.

2. Abschnitt: Begriffe

Art. 4

Lebensmittel

Diese Bestimmung ersetzt den geltenden Artikel 4 LMG. Auf Lebensmittel sind neu

die Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 anwendbar, weshalb auf die

Definition in Artikel 2 dieser Verordnung verwiesen wird. Materiell führt der Verweis

auf das EU-Recht gegenüber heute zu keiner Änderung. Der Wortlaut im bisherigen

Artikel 4 LMG ist mit demjenigen von Artikel 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002

identisch.

692

Richtlinie 2009/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009

über die Sicherheit von Spielzeug, ABl. L 170 vom 30.6.2009, S. 1.

693

SR

817.023.11

694

SR

817.02

695

SR

930.11

735 / 931

Art. 5

Gebrauchsgegenstände

Die Definition der Gebrauchsgegenstände orientiert sich am geltenden Recht. Die

Umschreibung der einzelnen Kategorien wird jedoch einerseits an die künftige direkte

Anwendung der EU-Gesetzgebung im Geltungsbereich des Protokolls für Lebensmit-

telsicherheit angepasst (Bedarfsgegenstände) und anderseits an aktuelle Gegebenhei-

ten und Bedürfnisse. Zudem sollen verschiedene Produkte, die bisher den Gebrauchs-

gegenständen zugeordnet wurden, nicht mehr lebensmittelrechtlich geregelt und

künftig dem Geltungsbereich des Bundesgesetzes über die Produktesicherheit (PrSG)

unterstellt werden (s. unten).

Buchstabe a ersetzt den geltenden Artikel 5 Buchstabe a Ziffern 1–3. Neu wird der

Begriff «Lebensmittelkontakt-Materialien und -Gegenstände» eingeführt. Diese Ter-

minologie entspricht Artikel 1 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004. Als Ab-

kürzung dieses Begriffs wird im Folgenden – wie schon im bisherigen Recht – der

Begriff «Bedarfsgegenstände» verwendet.

Die kosmetischen Mittel werden neu als separate Kategorie aufgeführt. Bei den im

bisherigen Buchstabe b aufgeführten «anderen Gegenständen, Stoffen und Zuberei-

tungen, die nach ihrer Bestimmung äusserlich mit dem Körper, mit den Zähnen oder

den Schleimhäuten in Berührung kommen», war bisher unklar, was genau darunter-

fällt. Dies umso mehr, als der geltende Buchstabe d ebenfalls Gegenstände erfasst, die

nach ihrer Bestimmung mit dem Körper in Berührung kommen. Diese Doppelspurig-

keit wird nun beseitigt.

«Spielzeug und andere Gegenstände, die für den Gebrauch durch Kinder bestimmt

sind» wurde bisher unter Buchstabe e aufgeführt und wird nun in Buchstabe c ver-

schoben. Inhaltlich ändert sich nichts.

Die Gegenstände, die mit Schleimhäuten in Kontakt kommen werden neu als eigene

Kategorie aufgeführt (Bst. d). Im geltenden Recht werden sie zusammen mit den kos-

metischen Mitteln noch unter Buchstabe b erwähnt. Darunter fallen beispielsweise

Zahnbürsten, Zahnstocher, Tampons, Binden, Menstruationstassen, Sextoys und ähn-

lich Gegenstände.

Die Kategorie mit den Kleidungsstücken, den textilen Materialien, dem Schmuck und

ähnlichen Gegenständen, die mit dem Körper in Kontakt kommen, wird neu unter

Buchstabe e aufgeführt. Der Begriff «Kleidungsstücke» wird gestrichen, weil er im

Begriff «textile Materialien» enthalten ist.

Der geltende Buchstabe c (Utensilien und Farben für Tätowierungen und Permanent-

Make-up) wird noch um die Apparate und Instrumente für Piercings ergänzt (Bst. f).

Im Übrigen ändert sich nichts.

In Buchstabe g (Dusch- und Badewasser) wird das Wort «namentlich» im deutschen

Text gestrichen. Das Wort «wie» vor «namentlich» reicht aus, um klarzustellen, dass

es sich um eine beispielhafte Aufzählung handelt. Im geltenden Recht findet sich diese

Bestimmung unter Buchstabe i.

Das Lebensmittelrecht will die Verbraucherinnen und Verbraucher vor gefährlichen

Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen schützen (s. Art. 1 LMG). Bei den Ge-

736 / 931

brauchsgegenständen – mit Ausnahme von Spielzeug – beschränkt sich der Gesund-

heitsschutz nach dem Verordnungsrecht zum LMG hauptsächlich auf sogenannte

«chemische Risiken» (Migration von Substanzen in den menschlichen Körper bei

Hautkontakt, Migration von Substanzen z. B. aus Verpackungsmaterialien in Lebens-

mittel, usw.). Das erste LMG von 1909 erfasste noch zahlreiche weitere Risiken und

hatte zum Ziel, die Sicherheit der Verbraucherinnen und Verbraucher ganzheitlich zu

gewährleisten. Noch heute werden im LMG deshalb Gegenstände des täglichen Be-

darfs geregelt wie Kerzen, Streichhölzer, Feuerzeuge und Scherzartikel (bisheriger

Art. 5 Bst. f LMG), Aerosolpackungen, die Lebensmittel oder andere Gebrauchsge-

genstände enthalten (bisheriger Art. 5 Bst. g LMG) sowie Gegenstände und Materia-

lien, die zur Ausstattung und Auskleidung von Wohnräumen (bisheriger Art. 5 Bst. g

LMG). Da die Risiken, die mit diesen Gegenständen verbunden sind, nicht typischer-

weise lebensmittelrechtlicher Art sind, drängt es sich auf, sie nicht mehr lebensmittel-

rechtlich zu regeln und aus dem LMG zu streichen. Sie sollen künftig über das PrSG

kontrolliert werden, soweit nicht andere Sektorgesetzgebungen Anwendung finden.

Art. 6

Fulfilment-Dienstleistende

Entsprechend dem Bestreben, unabhängig vom Protokoll zur Lebensmittelsicherheit

bestimmte Grundprinzipien der Marktüberwachung in Anlehnung an die Marktüber-

wachungsverordnung der EU in das schweizerische Recht zu überführen, wird daraus

auch die Definition der «Fulfilment-Dienstleistenden» übernommen (Art. 3 Ziff. 11

der Verordnung [EU] 2019/1020). Als solche gelten gemäss Absatz 1 natürliche oder

juristische Personen, die im Rahmen einer Geschäftstätigkeit mindestens zwei der vier

folgenden Dienstleistungen anbieten: Lagerhaltung, Verpackung, Adressierung oder

Versand von Lebensmitteln oder Gebrauchsgegenständen, an denen sie kein Eigen-

tumsrecht haben. Ausgenommen sind Anbieterinnen von Postdiensten nach Artikel 2

Buchstabe a des Postgesetzes vom 17. Dezember 2010

696

. Wie im EU-Recht sollen

solche Postdienste von der Definition der Fulfilment-Dienstleistenden nicht erfasst

werden. Diese Ausnahme gilt nicht nur für die staatlichen Postdienste, sondern auch

für die privaten Marktakteure wie private Kurierdienste (Abs. 2).

Die Tätigkeiten dieser Fulfilment-Dienstleistenden sind in weiten Teilen ähnlich wie

diejenigen von Betrieben, die Lebensmittel oder Gebrauchsgegenstände importieren.

Das LMG wurde in der Praxis jedoch bisher so ausgelegt, dass dessen Geltungsbe-

reich beispielsweise Betriebe, die aus dem Ausland palettenweise Lebensmittel oder

Gebrauchsgegenstände zugestellt erhielten und sie – ohne sie auszupacken – mit der

Adresse der Schweizer Empfängerin oder des Schweizer Empfängers versahen und

danach über private Kurierdienste oder die Post an die Empfängerinnen und Empfän-

ger weiterleiteten, nicht erfasste. Das soll sich nun ändern. Für solche Dienstleistende

sollen grundsätzlich sämtliche Pflichten gelten, welche auch von konventionellen Le-

bensmittel- und Gebrauchsgegenständebetrieben zu beachten sind. Es ist nicht einseh-

bar, weshalb ein Schweizer Importbetrieb strengeren Regeln unterworfen sein soll als

solche Fulfilment-Dienstleistende. Denn weil die Marktüberwachungsverordnung

ihnen nun im EU-Raum Pflichten auferlegt, besteht die Gefahr, dass sie sich diesen

696

SR

783.0

737 / 931

durch die Verlegung des Sitzes aus der EU in die Schweiz auf einfache Weise entzie-

hen können. Diese Lücke muss früher oder später deshalb ohnehin geschlossen wer-

den.

Während Anbieterinnen von Postdiensten nach dem ersten Satz von Absatz 2 nicht

als Fulfilment-Dienstleistende gelten, gibt der zweite Satz von Absatz 2 dem Bundes-

rat die Kompetenz, weitere Dienste von diesem Begriff auszunehmen, wenn sie ana-

loge Tätigkeiten ausführen wie die Postdienste.

Art. 7

Hosting-Dienst

Auch die Definition des «Hosting-Dienstes» wird unabhängig vom Protokoll zur Le-

bensmittelsicherheit eingeführt. Sie entspricht derjenigen nach Artikel 3 Buchstabe g

iii) des DSA. Darunter fallen Dienstleistungen, die darin bestehen, dass Nutzerinnen

und Nutzern Speicherplatz zur Verfügung gestellt wird, damit diese auf Servern In-

formationen speichern können.

Die Nutzung solcher Dienste, auch in Verbindung mit Bereichen, die unter das LMG

fallen, ist exponentiell angestiegen. Sie spielen bei der Vermittlung und Verbreitung

auch rechtswidriger Informationen und Tätigkeiten eine immer wichtigere Rolle und

sollen deshalb vom Geltungsbereich des LMG erfasst werden.

Art. 8

Online-Plattformen

Die Vermarktung von Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen über das Internet,

insbesondere Online-Plattformen, nimmt stetig zu. Die amtliche Überwachung des

Online-Handels von Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen wird in der EU in den

Grundzügen in der Verordnung (EU) 2017/625 geregelt. Einzelheiten zur Überwa-

chung des Online-Handels für alle Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände finden

sich im EU-Recht in der Marktüberwachungsverordnung und im DSA. Diese Verord-

nungen sind nicht Bestandteil des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit, dienen aber

dazu, die in der Verordnung (EU) 2017/625 festgelegten Grundprinzipien umzuset-

zen. Sie regeln sowohl die Pflichten der Marktakteure im Bereich des Online-Handels

wie auch die Kompetenzen der Kontrollbehörden.

Online-Plattformen werden in Anlehnung an Artikel 3 Buchstabe i sowie die Erwä-

gungsgründe 13 und 14 des DSA als eine Unterkategorie von Hosting-Diensten ange-

sehen. Online-Plattformen speichern die Informationen nicht nur, sondern verbreiten

diese auch (Abs. 1). Sie ermöglichen den Verbraucherinnen und Verbrauchern den

Abschluss von Fernabsatzverträgen mit Anbieterinnen und Anbietern beziehungs-

weise Nutzerinnen und Nutzern des Dienstes. Als öffentlich verbreitet gilt, wenn sie

allgemein zugänglich gemacht und von den Empfängerinnen und Empfängern des

Dienstes direkt angefordert werden können.

Um übermässig weit gefasste Verpflichtungen zu vermeiden, sollen Hosting-Dienste

wie im EU-Recht jedoch nicht als Online-Plattformen betrachtet werden, sofern

(Art. 3 Bst. i des DSA):

738 / 931

es sich bei dieser Tätigkeit nur um eine unbedeutende und untrennbar mit

einem anderen Dienst verbundene reine Nebenfunktion oder um eine unbe-

deutende Funktion des Hauptdienstes handelt, wobei die Nebenfunktion

oder Funktion aus objektiven und technischen Gründen nicht ohne diesen

anderen Hauptdienst genutzt werden kann; und

die Integration der Nebenfunktion oder der Funktion in den anderen Dienst

nicht dazu dient, die Anwendung der Lebensmittelgesetzgebung für Online-

Plattformen zu umgehen (Abs. 2).

Online-Plattformen, bei denen es sich um eine unbedeutende und untrennbar mit ei-

nem anderen Dienst verbundene reine Nebenfunktion oder um eine unbedeutende

Funktion des Hauptdienstes handelt, sollen vom Geltungsbereich des LMG nicht er-

fasst werden.

Erwägungsgrund 13 des DSA nennt als Beispiel für eine Nebenfunktion eines Haupt-

dienstes den Kommentarbereich einer Online-Zeitung, die in erster Linie die Veröf-

fentlichung von Nachrichten unter der redaktionellen Verantwortung der Verlegerin

oder des Verlegers bezweckt. Die Speicherung von Kommentaren in einem sozialen

Netzwerk wäre dagegen als Online-Plattformdienst zu betrachten, wenn klar ist, dass

es sich um ein nicht unwesentliches Merkmal des angebotenen Dienstes handelt, auch

wenn es sich um eine Nebenleistung zur Veröffentlichung der Beiträge der Nutzerin-

nen und Nutzer handelt.

Cloud-Computing- oder Web-Hosting-Dienste, bei denen die öffentliche Verbreitung

bestimmter Informationen eine unbedeutende Nebenfunktion oder eine unbedeutende

Funktion dieser Dienste darstellt, sollen auch im Schweizer Recht nicht als Online-

Plattform gelten.

Der Begriff «öffentliche Verbreitung» soll wie im EU-Recht die Bereitstellung von

Informationen für eine potenziell unbegrenzte Zahl von Personen umfassen, ohne dass

weiteres Tätigwerden durch die Nutzerinnen und Nutzer, welche die Informationen

bereitstellen, erforderlich wäre. Dabei soll es keine Rolle spielen, ob diese Personen

tatsächlich auf die betreffenden Informationen zugreifen.

Interpersonelle Kommunikationsdienste im Sinne der Richtlinie (EU) 2018/1972

697

,

wie E-Mail oder Instant Messaging-Dienste, sollen nicht als Online-Plattformen gel-

ten, da sie für die interpersonelle Kommunikation zwischen einer endlichen Zahl von

Personen verwendet werden, die von der Absenderin oder dem Absender der Kom-

munikation bestimmt wird. Als Online-Plattformen sollen sie jedoch dann gelten,

wenn sie die Bereitstellung von Informationen für eine potenziell unbegrenzte Zahl

von Nutzerinnen und Nutzern ermöglichen, die nicht von der Absenderin oder dem

Absender der Kommunikation bestimmt wird, beispielsweise über öffentliche Grup-

pen oder offene Kanäle. Informationen sollen nur dann als «öffentlich verbreitet» gel-

ten, wenn diese Verbreitung direkt im Auftrag der Nutzerin oder des Nutzers, die oder

der die Informationen bereitgestellt hat, erfolgt (s. dazu auch Erwägungsgrund 14 des

DSA).

697

Richtlinie (EU) 2018/1972 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember

2018 über den europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation, ABl. L 321 vom

17.12.2018, S. 36.

739 / 931

2. Kapitel: Lebensmittel

1. Abschnitt: Anforderungen an Lebensmittel

Art. 9

Lebensmittelsicherheit

Absatz 1 verweist bezüglich der Anforderungen an die Lebensmittelsicherheit auf Ar-

tikel 14 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 einschliesslich der auf der Grundlage die-

ser Verordnung erlassenen Rechtsakte, die diese Bestimmung ausführen und Bestand-

teil von Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit sind. Dazu gehören

insbesondere die gestützt auf diese Verordnung von der Europäischen Kommission

erlassenen Durchführungsrechtsakte und delegierte Rechtsakte.

Nach Absatz 2 Buchstabe a kann der Bundesrat zusätzliche Anforderungen an die Le-

bensmittelsicherheit festlegen. Von dieser Kompetenz kann er namentlich dann Ge-

brauch machen, wenn das einschlägige EU-Recht den Mitgliedstaaten Rechtsetzungs-

spielraum einräumt oder aber wenn es um Sicherheitsanforderungen an Lebensmittel

geht, die nicht in den Geltungsbereich des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit fal-

len. Das in Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit gelistete und in der

Schweiz direkt anwendbare EU-Recht bildet jedoch die Schranke für solche Regelun-

gen.

Buchstabe b entspricht dem bisherigen Artikel 7 Absatz 5 Buchstabe d LMG und Ab-

satz 2 Buchstabe c entspricht Artikel 7 Absatz 6 LMG.

Art. 10

Hygiene

Absatz 1 verweist auf die für das EU-Hygienerecht grundlegenden Verordnungen

(EG) Nr. 852/2004 und (EG) Nr. 853/2004 einschliesslich der auf der Grundlage die-

ser Verordnungen erlassenen Rechtsakte, die deren Bestimmungen ausführen und Be-

standteil von Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit sind. Bereits der gel-

tende Artikel 10 zur Hygiene orientiert sich an diesen Verordnungen.

Dementsprechend wird es materiell nur wenige Anpassungen geben.

Die Übertragung der Kompetenzen an den Bundesrat nach Absatz 2 Buchstaben a–c

ist dort von Bedeutung, wo ein gewisser Spielraum und Flexibilität bei der Umsetzung

von EU-Recht besteht.

Nach Buchstabe a soll der Bundesrat Einzelheiten zur Umsetzung der Verordnungen

(EG) Nr. 852/2004 und (EG) Nr. 853/2004 regeln können, einschliesslich der auf der

Grundlage dieser Verordnungen erlassenen Rechtsakte, die diese Bestimmungen aus-

führen und Bestandteil von Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit sind.

Beispielsweise sind in Artikel 13 Absätze 3 und 4 der Verordnungen (EG)

Nr. 852/2004 Bereiche aufgelistet, in welchen einzelstaatliche Vorschriften zulässig

sind. Darunter fallen zum Beispiel Regelungen, mit welchen die Anwendung traditi-

oneller Methoden bei der Produktion, der Verarbeitung oder dem Vertrieb von Le-

bensmitteln ermöglicht werden, Regelungen, welche den Bedürfnissen von Lebens-

mittelunternehmen in Regionen in schwieriger geografischer Lage Rechnung tragen

740 / 931

oder Regelungen, die den Bau, die Konzeption und die Ausrüstung der Betriebe be-

treffen.

Einzelhandelsunternehmen

sind

vom

Anwendungsbereich

der

Verordnung

(EG) 853/2004 ausgenommen. Der Bund hat jedoch gemäss Artikel 1 Absatz 5 Buch-

stabe a der Verordnung (EG) 853/2004 die Kompetenz, die Einzelhandelsunterneh-

men den Hygienevorschriften zu unterstellen. Dem wird in Buchstabe b Rechnung

getragen.

Buchstabe c entspricht dem geltenden Artikel 10 Absatz 4 LMG.

Art. 11

Melde-, Registrierungs- und Zulassungspflicht

Der Grundsatz, wonach Lebensmittelbetriebe der zuständigen Behörde zwecks Re-

gistrierung gemeldet oder aber von dieser zugelassen werden müssen, findet sich in

Artikel 6 der Verordnung (EG) Nr. 852/2004. Absatz 1 stellt klar, dass die Meldung

an die zuständige kantonale Vollzugsbehörde zu erfolgen hat. Diese hat die gemelde-

ten Betriebe zu registrieren (Abs. 2). Auch die Zulassung von Schlachtbetrieben sowie

Betrieben, die mit Lebensmitteln tierischer Herkunft umgehen, erfolgt durch die Kan-

tone (Abs. 3).

Artikel 6 der Verordnung (EG) Nr. 852/2004 verweist in mehreren Absätzen auf die

Regelungskompetenzen der EU-Mitgliedstaaten, von denen auch die Schweiz Ge-

brauch machen kann. Damit der Bundesrat die Einzelheiten des Melde- und des Zu-

lassungsverfahrens regeln kann, werden ihm in Absatz 4 entsprechende Rechtset-

zungskompetenzen eingeräumt.

Art. 12

Kennzeichnungs- und Auskunftspflicht

Artikel 12 VE-LMG entspricht inhaltlich dem geltenden Artikel 12 LMG. Neu wird

in Absatz 1 auf Artikel 8 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 verwiesen.

Diese Bestimmung beinhaltet die Grundsätze, nach welchen die Kennzeichnung der

Lebensmittel zu erfolgen hat. Sie soll dem Schutz der Verbraucherinteressen dienen

und den Verbraucherinnen und Verbrauchern ermöglichen, in Bezug auf die Lebens-

mittel, die sie verzehren, einen informierten Entscheid zu treffen. Zudem sollen Prak-

tiken des Betrugs oder der Täuschung, der Verfälschung von Lebensmitteln und alle

sonstigen Praktiken, welche die Verbraucherinnen und Verbraucher irreführen kön-

nen, verhindert werden.

Bezüglich der Angabe des Produktionslandes sieht Anhang I des Protokolls bei der

Verordnung (EU) 1169/2011 (Ziff. 50) eine technische Anpassung vor. Wer vorver-

packte Lebensmittel in Verkehr bringt, muss – anders als im EU-Recht – in jedem Fall

über das Produktionsland des Lebensmittels informieren (Abs. 2). In der EU gilt diese

Pflicht nur dann, wenn ohne diese Angabe eine Irreführung der Verbraucherinnen und

Verbraucher über das tatsächliche Ursprungsland oder den tatsächlichen Herkunftsort

des Lebensmittels möglich wäre. Bei Fleisch gilt gemäss Artikel 26 Absatz 2 Buch-

stabe b der Verordnung (EU) 1169/2011 allerdings auch in der EU, dass das Ur-

sprungsland oder der Herkunftsort immer angegeben werden muss.

741 / 931

Die Terminologie «offen in den Verkehr gebrachte Lebensmittel» des geltenden Ar-

tikels 12 Absatz 5 LMG wird entsprechend der Begrifflichkeit des EU-Rechts ange-

passt und lautet neu «nicht vorverpackt» (Abs. 3). An der Pflicht zur Angabe des Pro-

duktionslandes auch im Offenverkauf ändert sich jedoch nichts.

Die Absätze 4 und 5 enthalten Rechtsetzungskompetenzen des Bundesrates.

Absatz 4 Buchstabe a entspricht dem geltenden Artikel 12 Absatz 2 LMG.

Artikel 39 der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 sieht einzelstaatliche Vorschriften

über zusätzliche verpflichtende Angaben vor. Gestützt auf diesen Artikel kann der

Bundesrat zusätzliche Angaben für bestimmte Arten oder Klassen von Lebensmitteln

vorschreiben, wenn Gründe wie der Schutz der öffentlichen Gesundheit, Verbraucher-

schutz, Betrugsvorbeugung oder Schutz von gewerblichen und kommerziellen Eigen-

tumsrechten, Herkunftsbezeichnungen, eingetragenen Ursprungsbezeichnungen so-

wie vor unlauterem Wettbewerb dies rechtfertigen (Bst. b).

Buchstabe c entspricht dem geltenden Artikel 13 Absatz 2 LMG.

Buchstabe d entspricht dem geltenden Artikel 13 Absatz 3 LMG. Diese Delegations-

kompetenz an den Bundesrat erlaubt ihm auch, im Bereich der Allergene die im Pro-

tokoll zur Lebensmittelsicherheit vorgesehenen technischen Anpassungen vorzuneh-

men.

Absatz 5 Buchstabe a bezieht sich auf diejenigen Bereiche der in Anhang I des Proto-

kolls aufgeführten Erlasse, in denen die EU den Mitgliedstaaten Rechtsetzungskom-

petenzen überlässt. Von diesem Spielraum kann auch die Schweiz Gebrauch machen.

Buchstabe b erlaubt dem Bundesrat, die Kennzeichnung von Lebensmitteln zu regeln,

soweit das im Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit aufgelistete EU-

Recht diesbezüglich keine Regelungen enthält. Dies ist beispielsweise bei Lebensmit-

teln der Fall, die in den Vermarktungsnormen der EU geregelt sind (Honig, Frucht-

säfte, Konfitüren, Trockenmilch, usw.) oder auch bei Trinkwasser. Bezüglich Trink-

wasser ist aber darauf hinzuweisen, dass das in Anhang I des Protokolls enthaltende

EU-Hygienerecht verlangt, dass Wasser, das mit Lebensmitteln in Kontakt gelangt,

Trinkwasserqualität nach EU-Recht

698

aufweisen muss. Indirekt ist damit das Trink-

wasserrecht der EU für die Lebensmittelproduzentinnen und -produzenten in der

Schweiz schon heute verbindlich, sofern sie ihre Produkte in die EU exportieren.

Buchstabe c verweist auf die in Artikel 7 des Protokolls aufgeführten Ausnahmen so-

wie die bei den einzelnen Erlassen in Anhang I des Protokolls aufgeführten «techni-

schen Anpassungen». In diesen Bereichen soll der Bundesrat stufengerecht Einzelhei-

ten festlegen dürfen.

Buchstabe d entspricht dem geltenden Artikel 13 Absatz 4 Buchstabe b LMG.

Buchstabe e entspricht inhaltlich dem bisherigen Artikel 12 Absatz 5 LMG. Er erlaubt

dem Bundesrat unter anderem Absatz 3 umzusetzen.

698

Richtlinie (EU) 2020/2184 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember

2020 über die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch, ABl. L 435 vom

23.12.2020, S. 1.

742 / 931

Art. 13

Täuschungsschutz

Zur Konkretisierung des Täuschungsschutzes wird neu auf die Artikel 8 und 16 der

Verordnung (EG) Nr. 178/2002 einschliesslich der auf der Grundlage dieser Verord-

nung erlassenen Rechtsakte, die diese Bestimmungen ausführen und Bestandteil von

Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit sind, verwiesen. In der Praxis

wird sich durch diese Änderung gegenüber dem geltenden Recht nur wenig ändern.

Das Bundesgericht hat in Täuschungsfällen schon bisher die Kriterien des EU-Rechts

miteinbezogen (s. z. B. BGE 2C_761/2017, E. 4.2.5 ff.). Massgeblich ist in diesem

Zusammenhang die mutmassliche Erwartung einer normal informierten, angemessen

aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucherin beziehungsweise eines

Durchschnittsverbrauchers. Diese kann von Land zu Land unterschiedlich sein und ist

einzelfallweise zu ermitteln (Abs. 1). Der zweite Satz von Absatz 1 entspricht dem

zweiten Satz des bisherigen Artikels 18 Absatz 2 LMG.

Absatz 2 entspricht dem bisherigen Artikel 19 Absatz 2 LMG.

Absatz 3 räumt dem Bundesrat dieselben Rechtsetzungskompetenzen ein wie Arti-

kel 18 Absatz 4 des bisherigen Rechts. Mit «Werbung» nach Buchstabe b ist die di-

rekte (Werbespot, Inserat, etc.) und indirekte Werbung (Sponsoring, Product-Place-

ment, etc.) gemeint.

2. Abschnitt: Bestimmungen zu alkoholischen Getränken

Art. 14

Abgabe- und Werbebeschränkungen für alkoholische Getränke

Diese Bestimmung entspricht dem geltenden Artikel 14 und wurde unverändert über-

nommen.

Art. 15

Alkoholtestkäufe

Diese Bestimmung entspricht dem geltenden Artikel 14

a

und wurde inhaltlich unver-

ändert übernommen.

3. Kapitel: Gebrauchsgegenstände

Im EU-Recht werden die einzelnen Produktekategorien in separaten Erlassen produk-

tespezifisch geregelt. Eine Überkategorie «Gebrauchsgegenstände» wie im schweize-

rischen Recht gibt es nicht. Der bisherige Artikel 15 LMG hat kategorienübergreifend

gefordert, dass nur sichere Gebrauchsgegenstände in den Verkehr gebracht werden

dürfen. Dies hat in der Praxis zu Problemen geführt, weil nicht klar war, ob zum Bei-

spiel auf ein Fondue-Caquelon, das unter Hitzeeinwirkung geborsten ist, nun das Le-

bensmittelrecht oder das Produktesicherheitsrecht Anwendung findet. Das Verord-

nungsrecht zum bisherigen LMG hat bei mehreren Produktekategorien nur konkrete

Gefahren wie die Migration von Stoffen in Lebensmittel, den Hautkontakt oder die

Brennbarkeit von Textilien geregelt, nicht aber ebenfalls sicherheitsrelevante Themen

743 / 931

wie die Stabilität eines Produktes oder dessen Wirksamkeit für angepriesenen Eigen-

schaften. Bei anderen Produktekategorien wie Spielzeug oder den kosmetischen Mit-

teln wurden demgegenüber sämtliche Gefahren abgedeckt.

Im VE-LMG wird auf das durch Artikel 15 LMG bisher geforderte kategorienüber-

greifende Erfordernis der Sicherheit verzichtet. Die nach wie vor als Gebrauchsge-

genstände geltenden Produktekategorien werden einzeln aufgelistet und es wird ein-

zeln festgelegt, welche Gefahren durch das Lebensmittelrecht abgedeckt werden.

Weiter wird für jede Kategorie festgelegt, ob die betreffende Produktekategorie le-

bensmittelrechtlich einem Täuschungsverbot unterliegt. Durch dieses neue System

wird die Abgrenzung zwischen dem Lebensmittelrecht, andern Spezialgesetzgebun-

gen und dem als «Auffangbecken» dienenden Produktesicherheitsrecht stark verein-

facht.

1. Abschnitt: Anforderungen an Bedarfsgegenstände

Art. 16

Die für die Regelung der Bedarfsgegenstände im EU-Recht zentrale Verordnung (EG)

Nr. 1935/2004 ist im Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit gelistet und

fällt damit in dessen Geltungsbereich. Das geltende Schweizer Recht über Bedarfsge-

genstände ist heute schon weitestgehend mit der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 har-

monisiert. Die direkte Anwendung des EU-Rechts führt deshalb zu keinen nennens-

werten Änderungen.

Anders als die anderen Gebrauchsgegenstände nach Schweizer Recht fallen die Be-

darfsgegenstände in der EU in den Anwendungsbereich der ansonsten Lebensmitteln

vorbehaltenen Verordnung (EG) Nr. 178/2002 sowie der Verordnung (EU) 2017/625.

Die Neukonzeption des 3. Kapitels über Gebrauchsgegenstände ermöglicht, klarzu-

stellen, dass die Bedarfsgegenstände trotz dieser Zuordnungen im EU-Recht nach

schweizerischem Lebensmittelrecht nach wie vor als Gebrauchsgegenstände betrach-

tet werden. Dies ist deshalb wichtig, weil auf Bedarfsgegenstände, die in der EU spe-

zialrechtlich geregelt werden, nach schweizerischem Lebensmittelrecht für horizon-

tale Aspekte wie die Gebühren oder die Strafbestimmungen dieselben Bestimmungen

Anwendung finden, wie sie auch für die übrigen Gebrauchsgegenstände gelten. Eine

Sonderbehandlung der Bedarfsgegenstände auch bezüglich solcher horizontalen As-

pekte erübrigt sich damit.

Absatz 2 verweist für den Täuschungsschutz auf Artikel 3 Absatz 2 der Verordnung

(EG) Nr. 1935/2004 und nicht auf die für Lebensmittel geltenden und einen breiteren

Anwendungsbereich abdeckenden Täuschungsverbote nach den Artikeln 8 und 16 der

Verordnung (EG) Nr. 178/2002. Im Vordergrund stehen Aspekte wie die Sicherheit,

die Zusammensetzung, die Eignung oder die Eigenschaften von Bedarfsgegenstän-

den. Der zweite Satz von Absatz 2 entspricht dem zweiten Satz des bisherigen Arti-

kels 18 Absatz 2 LMG.

Der Verweis nach Absatz 3 ist notwendig, um dem Bundesrat die Kompetenz zu ge-

ben, den Rechtsetzungsspielraum, den die Artikel 6 und 16 der Verordnung (EG)

744 / 931

Nr. 1935/2004 den EU-Mitgliedstaaten einräumen, bei Bedarf zu nutzen. Darunter

fallen beispielsweise auch spezifisch schweizerische Vorschriften zu Konformitätser-

klärungen für Druckfarben.

2. Abschnitt: Anforderungen an andere Gebrauchsgegenstände

Art. 17

Kosmetische Mittel

Unabhängig vom Protokoll zur Lebensmittelsicherheit ist das schweizerische Kosme-

tikrecht im Rahmen des autonomen Nachvollzugs bereits heute weitestgehend mit der

Verordnung (EG) Nr. 1223/2009

699

harmonisiert. Inhaltlich führt der VE-LMG zu kei-

nen Änderungen. Der zweite Satz von Absatz 2 entspricht dem zweiten Satz des bis-

herigen Artikels 18 Absatz 2 LMG.

Art. 18

Spielzeuge und andere Gegenstände, die für den Gebrauch durch

Kinder bestimmt sind

Spielzeuge fallen auch künftig unter das MRA

700

. Das Schweizer Recht über Spiel-

zeuge wurde vom Gemischten Ausschuss des MRA regelmässig als mit demjenigen

der EU äquivalent beurteilt. Diese Harmonisierung wird auch weiterhin sichergestellt.

Daran ändert der VE-LMG nichts.

Art. 19

Gegenstände, die mit Schleimhäuten in Kontakt kommen

Bei den Gegenständen, die mit Schleimhäuten in Kontakt kommen, wird die Gefahr

der Migration von Stoffen in den menschlichen Körper erfasst (Abs. 1). Andere Ge-

fahren fallen entweder unter andere Sektorgesetzgebungen und, wenn solche nicht

vorhanden sind, das PrSG.

Absatz 2 entspricht Artikel 61 Absatz 2 LGV.

Absatz 3 ermöglicht dem Bundesrat, die unter diese Bestimmung fallenden Schleim-

häute zu bestimmen und Anforderungen an die Sicherheit von Gegenständen, die mit

diesen in Kontakt kommen, festzulegen, so beispielsweise Höchstwerte für die Mig-

ration spezifischer Substanzen.

Art. 20

Textile Materialien, Schmuck und ähnliche Gegenstände, die mit

dem Körper in Kontakt kommen

Der lebensmittelrechtliche Schutz der Gesundheit deckt bei dieser Produktekategorie

unabhängig vom Protokoll zur Lebensmittelsicherheit die Gefahr der Migration von

699

Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. No-

vember 2009 über kosmetische Mittel, ABl. L 342 vom 22.12.2009, S. 59.

700

Siehe die Ausführungen zu Artikel 2 Absatz 4 Buchstabe d oben.

745 / 931

Stoffen in den menschlichen Körper ab, einschliesslich des durch den Hautkontakt

entstehenden Allergierisikos (Abs. 1).

Der lebensmittelrechtliche Schutz des VE-LMG wird unabhängig vom Protokoll zur

Lebensmittelsicherheit – wie im geltenden Recht – auf die Gefahr der Brennbarkeit

von textilen Materialien wie Kleidungsstücke ausgedehnt (Abs. 2).

Der Bundesrat soll die Kompetenz haben, die technischen Einzelheiten in diesen Be-

reichen zu regeln (Abs. 3). Grundsätzlich ist vorgesehen, die heutigen Regelungen auf

Verordnungsstufe beizubehalten.

Art. 21

Farben, Apparate und Instrumente für Tätowierungen und

Permanent-Make-up sowie Apparate und Instrumente für Piercings

Bei den Apparaten und Instrumenten sowie bei Farben für Tätowierungen und Per-

manent-Make-up sowie bei den Apparaten und Instrumenten

für Piercings steht le-

bensmittelrechtlich die Regulierung der Gefahr, die von diesen Gegenständen durch

den Körperkontakt ausgehen kann, im Zentrum. Diese Regelung steht nicht im Zu-

sammenhang mit dem Protokoll zur Lebensmittelsicherheit.

Bei den Farben für Tätowierungen und Permanent-Make-up geht es um Risiken der

stofflichen Zusammensetzung der erwähnten Produkte sowie um Hygienerisiken

(Abs. 1).

Die Gewährleistung des Gesundheitsschutzes erfordert, dass die in diese Produkteka-

tegorie fallenden Apparate und Instrumente oder Teile davon, die in die obersten

Hautschichten eindringen, steril sind (Abs. 2).

Absatz 3 erlaubt dem Bundesrat, für die unter diese Bestimmung fallenden Produkte

Anforderungen an die Sicherheit festzulegen. Grundsätzlich ist vorgesehen, die heu-

tigen Regelungen auf Verordnungsstufe beizubehalten.

Art. 22

Wasser, das dazu bestimmt ist, mit dem menschlichen Körper in

Berührung zu kommen

Absatz 1 ist die gesetzliche Grundlage für die Anforderungen an Dusch- und Bade-

wasser, wie sie im 3. Abschnitt der Verordnung des EDI über Trinkwasser sowie Was-

ser in öffentlich zugänglichen Bädern und Duschanlagen (TBDV)

701

in Einzelheiten

festgelegt sind (Abs. 1). Der Artikel führt zu keinen materiellen Änderungen und steht

in keinem Zusammenhang mit dem Protokoll zur Lebensmittelsicherheit.

Absatz 2 dient als Rechtsgrundlage, damit der Bundesrat beziehungsweise das EDI

diese Vorschriften erlassen kann.

3. Abschnitt: Gemeinsame Bestimmungen

701

SR

817.022.11

746 / 931

Art. 23

Gewährleistung der Sicherheit von Gebrauchsgegenständen

Diese Bestimmung entspricht Artikel 15 Absatz 5 LMG und erlaubt dem Bundesrat,

im Rahmen der Artikel 16–22 VE-LMG die zur Gewährleistung der Sicherheit von

Gebrauchsgegenständen erforderlichen Vorschriften zu erlassen.

Art. 24

Meldepflicht für Betriebe

Diese Bestimmung entspricht Artikel 17 LMG.

4. Kapitel: Gemeinsame Bestimmungen für Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände

Art. 25

Einschränkung der Herstellungs- und Behandlungsverfahren

Diese Bestimmung entspricht Artikel 20 LMG. Artikel 20 Absatz 3 LMG wird in den

neuen Artikel 17 VE-LMG über kosmetische Mittel verschoben (Abs. 4 Bst. b). Ma-

teriell ergeben sich keine Änderungen.

Art. 26

Im Internet angebotene Produkte

Werden im Internet Lebensmittel oder Gebrauchsgegenstände über eine Webseite mit

der länderspezifischen Domain «.ch» oder der generischen «.swiss»-Domain der ers-

ten Ebene angeboten, weckt dies bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern die Er-

wartung, dass die angebotenen Produkte dem Schweizer Recht entsprechen und von

der Schweizer Lebensmittelkontrolle kontrolliert werden. Webseiten mit diesen Do-

mains können jedoch auch von im Ausland ansässigen Personen betrieben werden.

Versenden diese ihre Produkte direkt aus dem Ausland an die Schweizer Kundschaft,

stellt sich die Frage, ob es sich bei der betreffenden Bestellung nun um «die Einfuhr

von Lebensmitteln oder Gebrauchsgegenständen für die private häusliche Verwen-

dung» handelt, die vom Geltungsbereich des VE-LMG nicht erfasst wird (Art. 2

Abs. 4 Bst. b LMG) oder aber um einen Erwerb, der rechtlich wie ein Erwerb in einem

Schweizer Geschäft zu behandeln ist. Das geltende Recht beantwortet diese Frage

nicht. Um diesbezüglich Klarheit und Rechtssicherheit zu schaffen, klärt Artikel 26

VE-LMG diese Frage nun. Werden diese Domains verwendet, soll Schweizer Recht

unabhängig davon gelten, ob das Angebot von der Schweiz oder vom Ausland aus

erfolgt (Abs. 1). Diese Regelung steht in keinem Zusammenhang mit dem Protokoll

zur Lebensmittelsicherheit.

Die Kontrolle, ob Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände, die von im Ausland an-

sässigen Personen über Websites mit den erwähnten Domains betrieben werden, den

Anforderungen des schweizerischen Lebensmittelrechts entsprechen, erfolgt – ge-

stützt auf die Kompetenz des Bundes, die Konformität der Lebensmittel und Ge-

brauchsgegenstände an der Grenze zu kontrollieren (Art. 51 Abs. 1 VE-LMG) – durch

die zuständige Vollzugsbehörde des Bundes. Ergeben sich diesbezüglich Probleme,

kann die zuständige Vollzugsbehörde des Bundes Switch auffordern, von der anbie-

747 / 931

tenden Person in der Schweiz eine Korrespondenzadresse zu verlangen und die Iden-

tität bekannt zu geben. Kommt die anbietende Person dem nicht nach, widerruft

Switch die Zuteilung des Domain-Namens (Art. 16 Abs. 3 der Verordnung vom

5. November 2014

702

über Internet-Domains, VID). Wird eine solche Kontaktadresse

angegeben, übernimmt die für den betreffenden Kanton zuständige Vollzugsbehörde

den Fall.

Mit der Formulierung «mit einer ähnlichen auf die Schweiz bezugnehmenden Do-

main» wird ein Spielraum für zukünftige Entwicklungen in diesem Bereich gelassen.

Damit kann gewährleistet werden, dass auch andere Domains, welche einen Schweiz-

Bezug haben, vom Artikel abgedeckt werden.

Der Bundesrat soll die Kompetenz haben, auf Verordnungsstufe die betroffenen Do-

mains zu regeln. Nur so besteht die Möglichkeit, auf Veränderungen im stets dem

Wandel unterstellten Bereich der Technik flexibel reagieren zu können (Abs. 2).

Art. 27

Ausfuhr

Die Ausfuhr von Lebensmitteln richtet sich nach Artikel 12 der Verordnung (EG)

Nr. 178/2002 einschliesslich der auf der Grundlage dieser Verordnung erlassenen

Rechtsakte, die diese Bestimmung ausführen und Bestandteil von Anhang I des Pro-

tokolls zur Lebensmittelsicherheit sind (Abs. 1). Die EU-Bestimmung regelt aus-

schliesslich Lebensmittel und Futtermittel, nicht aber Bedarfsgegenstände. Materiell

ändert sich gegenüber dem geltenden Recht nichts, weil sich schon die bisherige Re-

gelung am EU-Recht orientiert hat.

An den Anforderungen an zur Ausfuhr bestimmter Gebrauchsgegenstände ändert sich

nichts. Die Absätze 2 und 3 entsprechen dem bisherigen Artikel 3 Absätze 4 und 5.

Gesundheitsschädliche Gebrauchsgegenstände dürfen nach wie vor nicht ausgeführt

werden.

5. Kapitel: Aufgaben der Behörden

Art. 28

Risikoanalyse

Die Risikoanalyse wird im geltenden Recht in Artikel 21 LMG geregelt. Der Text von

Artikel 21 LMG entspricht demjenigen von Artikel 6 der Verordnung (EG)

Nr. 178/2002. Durch die direkte Anwendung des einschlägigen EU-Rechts ergeben

sich gegenüber heute keine Änderungen (Abs. 1).

Schon im geltenden Recht haben die Vorschriften zur Risikoanalyse auch für Ge-

brauchsgegenstände gegolten. Es gibt keinen Grund, davon abzuweichen. Absatz 2

stellt deshalb klar, dass dies auch in Zukunft so bleiben soll.

702

SR

784.104.2

748 / 931

Art. 29

Vorsorgeprinzip

Der bisherige Artikel 22 LMG zum Vorsorgeprinzip entspricht inhaltlich Artikel 7

der Verordnung (EG) Nr. 178/2002. Die direkte Anwendung dieser EU-Bestimmung

führt gegenüber heute zu keinen Änderungen (Abs. 1 und 3).

Wie im bisherigen Recht soll das Vorsorgeprinzip inhaltlich identisch wie bei den

Lebensmitteln auch bei den Gebrauchsgegenständen gelten (Abs. 2).

Art. 30

Schutzmassnahmen

Absatz 1 betrifft das Inverkehrbringen eines Lebensmittels nach geltendem Recht,

wenn neue Erkenntnisse darauf schliessen lassen, dass es trotzdem nicht sicher ist. Er

entspricht dem bisherigen Artikel 23 LMG. Bezüglich der anzuordnenden Massnah-

men verweist Absatz 1 neu auf Artikel 14 Absatz 8 der Verordnung (EG)

Nr. 178/2002. Inhaltlich führt dies jedoch zu keinen Änderungen gegenüber heute.

Obwohl die Bedarfsgegenstände vom Anwendungsbereich der Verordnung (EG)

Nr. 178/2002 erfasst werden, enthält Artikel 18 der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004,

die spezifisch Bedarfsgegenstände regelt, eine eigene Regelung für Schutzmassnah-

men. Weil auch die Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 Bestandteil von Anhang I des

Protokolls zur Lebensmittelsicherheit ist, wird diese Bestimmung künftig in der

Schweiz direkt Anwendung finden. Materiell ergibt sich auch in diesem Bereich je-

doch keine Änderung gegenüber heute (Abs. 2).

Für die übrigen Gebrauchsgegenstände sollen dieselben Grundsätze gelten, wie sie in

Absatz 1 für Lebensmittel festgelegt sind (Abs. 3). Auch dies entspricht dem gelten-

den Recht.

Art. 31

Information der Öffentlichkeit

Sowohl das schweizerische Recht wie auch das EU-Recht messen der Information der

Öffentlichkeit grosse Bedeutung zu. Der bisherige Artikel 24 LMG verlangt, dass die

zuständigen Vollzugsbehörden die Öffentlichkeit sowohl über ihre Kontrolltätigkei-

ten und deren Wirksamkeit informieren wie auch über Lebensmittel und Gebrauchs-

gegenstände, bei denen ein hinreichender Verdacht besteht, dass sie ein Risiko für die

Gesundheit mit sich bringen können. Das einschlägige EU-Recht, das Bestandteil des

Anhangs I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit ist, sieht ebenfalls vor, dass die

zuständigen Vollzugsbehörden über diese beiden Punkte informieren.

703

Dieses EU-

Recht wird künftig in der Schweiz direkt angewendet werden. Die entsprechenden

Formulierungen im LMG werden deshalb nicht in den VE-LMG übernommen. Mate-

riell bleibt die heutige Informationspraxis unverändert (Abs. 1).

Die Information der Öffentlichkeit hat bei den Gebrauchsgegenständen nach densel-

ben Prinzipien zu erfolgen wie bei den Lebensmitteln (Abs. 2).

Die Absätze 3–5 entsprechen dem geltenden Recht (Art. 24 Abs. 2–4 LMG) und wer-

den beibehalten.

703

Artikel 10 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 und 11 der Verordnung (EU) 2017/625.

749 / 931

6. Kapitel: Kontrolle

1. Abschnitt: Probenahmen, Analysen, Tests und Diagnosen

Art. 32

Probenahmen, Analysen, Tests und Diagnosen sind zentrale Elemente der amtlichen

Kontrolle. Die Verordnung (EU) 2017/625, welche Bestandteil von Anhang I des Pro-

tokolls zur Lebensmittelsicherheit ist und künftig in der Schweiz direkt angewendet

werden wird, regelt diese Bereiche ausschliesslich für Lebensmittel und Bedarfsge-

genstände (Abs. 1).

Für die übrigen Gebrauchsgegenstände im VE-LMG eigene Regelungen zu entwi-

ckeln, macht wenig Sinn. Es drängt sich vielmehr auf, an dieser Stelle auf die Best-

immungen des EU-Rechts für Lebensmittel und Bedarfsgegenstände zu verweisen

und diese für die übrigen Gebrauchsgegenstände als sinngemäss anwendbar zu erklä-

ren (Abs. 2). Auch im bisherigen Recht gelten diesbezüglich sowohl für Lebensmittel

wie auch für Gebrauchsgegenstände dieselben Grundsätze.

Absatz 3 entspricht dem bisherigen Artikel 25 Absatz 2 LMG.

2. Abschnitt: Pflichten der Unternehmerinnen und Unternehmer

Art. 33

Selbstkontrollpflicht

Die Verpflichtung zur Selbstkontrolle ist für das Gewährleisten der Beachtung der

lebensmittelrechtlichen Vorgaben von zentraler Bedeutung. Die amtliche Kontrolle

allein vermag dies nicht sicherzustellen. Die Verpflichtung zur Selbstkontrolle besteht

deshalb bereits im geltenden Recht.

Bezüglich der Anforderungen an die Selbstkontrolle verweist Absatz 1 neu auf Arti-

kel 17 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002.

Absatz 1 schliesst auch die Betriebe, die Fulfilment-Dienstleistungen anbieten, mit

ein. Im Lebensmittelrecht der EU (s. Art. 3 Ziff. 2 der Verordnung (EG)

Nr. 178/2002) sind die Begriffe der Lebensmittelunternehmerinnen und -unternehmer

sehr weit gefasst. Wer Lebensmittel herstellt, behandelt, handhabt, lagert, transpor-

tiert, in Verkehr bringt, ein-, durch- oder ausführt oder Fulfilment-Dienstleistungen

erbringt, gilt – unabhängig von seinem Organisationsgrad – lebensmittelrechtlich als

Lebensmittelunternehmerin oder -unternehmer. Sie oder er muss den Pflichten nach

den Artikeln 33–36 VE-LMG nachkommen.

Die Verpflichtung zur Selbstkontrolle ändert nichts an dem im Verwaltungsrecht gel-

tenden Untersuchungsgrundsatz. Danach haben die Verwaltungsbehörden und das

Gericht von Amtes wegen für die richtige und vollständige Abklärung des rechtser-

heblichen Sachverhalts zu sorgen (s. Art. 12 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember

750 / 931

1968

704

über das Verwaltungsverfahren [VwVG]). Insbesondere führt sie nicht zu ei-

ner Beweislastumkehr.

Zur Pflicht, den Sachverhalt zu ermitteln, gehört die Beweisführungslast, also die Ob-

liegenheit, den erforderlichen Beweis zu führen. Diese Last fällt grundsätzlich der

Behörde zu. Die Parteien unterliegen allerdings einer Mitwirkungspflicht (Art. 13 und

52 Abs. 1 VwVG).

Untersuchungsgrundsatz und Mitwirkungspflicht ändern hingegen nichts an den Re-

geln zur Beweislast. Danach trägt grundsätzlich diejenige Partei die Folgen der Be-

weislosigkeit eines Sachumstandes, die daraus Rechte ableitet (Art. 8 des Schweize-

rischen Zivilgesetzbuches vom 10.12.1907

705

). Will eine Vollzugsbehörde ein

Produkt beanstanden, das ihrer Auffassung nach zu Unrecht nicht deklariert wurde,

liegt die Beweislast hierfür letztlich bei ihr.

Im Rahmen der Selbstkontrolle ist auch auf potenzielle Risiken und die Wahrschein-

lichkeit von Verstössen gegen die Lebensmittelgesetzgebung aufgrund betrügerischer

oder irreführender Praktiken zu achten. Im EU-Recht ist dies in Artikel 9 Absatz 2 der

Verordnung (EU) 2017/625 geregelt, der verlangt, dass die zuständigen Behörden re-

gelmässig amtliche Kontrollen durchführen, um durch betrügerische oder irrefüh-

rende Praktiken vorsätzlich begangene Verstösse gegen die Vorschriften aufzude-

cken. Viele Lebensmittelbetriebe sind heute nach privatrechtlichen Standards

zertifiziert und der Verpflichtung, im Rahmen ihrer Selbstkontrolle auf die Wahr-

scheinlichkeit von Verstössen gegen die Lebensmittelgesetzgebung aufgrund betrü-

gerischer oder irreführender Praktiken zu achten, schon bisher nachgekommen. Die

Bewertung des Risikos der Anfälligkeit für Lebensmittelbetrug kann mittels der von

der

Global Food Safety Initiative

(GFSI) entwickelten

Vulnerability Analysis/Critical

Control Points

(VACCP) erfolgen. Die GFSI schlägt dazu die Durchführung einer

Schwachstellenbewertung vor, bei welcher Informationen an den entsprechenden

Stellen der Lieferkette gesammelt und ausgewertet werden. Damit sollen die wich-

tigsten Schwachstellen für Lebensmittelbetrug ermittelt und priorisiert werden, damit

anschliessend geeignete Kontrollmassnahmen zur Verringerung der Risiken ergriffen

werden können. Betriebe, die ihre Verantwortung im Rahmen der Selbstkontrolle

schon bisher nicht ausreichend wahrgenommen haben, müssen spätestens ab Inkraft-

treten der neuen Regelung nachbessern.

Der Geltungsbereich des VE-LMG erstreckt sich neu explizit auch auf Hosting-

Dienste sowie Schweizer Unternehmen, die im Ausland ausländische Lebensmittel in

den Verkehr bringen. Nicht alle diese Unternehmen müssen jedoch dieselben Pflich-

ten erfüllen wie Lebensmittelunternehmerinnen und -unternehmer, die ihre Produkte

in der Schweiz in den Verkehr bringen. Weder von Betreiberinnen von Online-Platt-

formen, die Verbraucherinnen und Verbrauchern den Abschluss von Fernabsatzver-

trägen ermöglichen, noch von reinen Hosting-Diensten kann beispielsweise erwartet

werden, dass sie für die Sicherheit der über ihren Dienst angebotenen Lebensmittel

einstehen und im Hinblick darauf ein eigenes Hygienekonzept erstellen. Ebenso we-

nig kann von Schweizer Unternehmen, die im Ausland eine Website eröffnen und

704

SR

172.021

705

SR

210

751 / 931

ausländische Lebensmittel ausschliesslich im Ausland in den Verkehr bringen, hin-

sichtlich der Selbstkontrollpflicht dasselbe gefordert werden wie von Unternehmen,

die Lebensmittel in der Schweiz in den Verkehr bringen. Denn nach Schweizer Recht

müssen Lebensmittel nicht den Schweizer Vorschriften entsprechen, wenn sie weder

von der Schweiz aus geliefert werden noch je in die Schweiz gelangen. Neu soll im

6. Kapitel «Kontrolle» deshalb zwischen den Pflichten der Lebensmittelunternehme-

rinnen und -unternehmer (2. Abschnitt, Art. 33–36 VE-LMG), denjenigen der Betrei-

berinnen von Hosting-Diensten einschliesslich Betreiberinnen von Online-Plattfor-

men (3. Abschnitt, Art. 37 VE-LMG) sowie denjenigen von Unternehmen, die

Lebensmittel im Ausland in Verkehr bringen (4. Abschnitt, Art. 38 VE-LMG), unter-

schieden werden.

Bei Bedarfsgegenständen richtet sich die Selbstkontrollpflicht nach Absatz 2, bei den

übrigen Gebrauchsgegenständen gelten sinngemäss dieselben Pflichten wie bei den

Lebensmitteln (Abs. 3).

Die Absätze 4–6 entsprechen Artikel 26 Absätze 2–4 LMG.

Art. 34

Unterstützungs-, Informations- und Auskunftspflicht

Schon nach bisherigem Recht muss, wer Lebensmittel oder Gebrauchsgegenstände

herstellt, behandelt, lagert, transportiert, in Verkehr bringt, ein-, durch- oder ausführt,

der zuständigen Vollzugsbehörde bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben unentgeltlich

behilflich sein, auf Verlangen Proben der angebotenen Produkte zur Verfügung stellen

und die erforderlichen Auskünfte erteilen (Art. 29 LMG). Bezüglich der Unterstüt-

zungs-, Informations- und Auskunftspflicht im Zusammenhang mit Lebensmitteln

und Bedarfsgegenständen soll neu Artikel 15 der (EU) Verordnung 2017/625, welche

Bestandteil von Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit ist, direkt ange-

wendet werden. Inhaltlich führt dies zu keinen Änderungen gegenüber heute (Abs. 1).

Für die übrigen Gebrauchsgegenstände soll Absatz 1 sinngemäss gelten (Abs. 2).

Absatz 3 hält spezifische Pflichten für Unternehmerinnen und Unternehmer fest, die

Lebensmittel oder Gebrauchsgegenstände mit Einsatz von Fernkommunikationstech-

niken in den Verkehr bringen. Solche Unternehmen gelten ebenfalls als Lebensmittel-

oder Gebrauchsgegenständebetriebe und unterliegen der Melde- beziehungsweise Be-

willigungspflicht nach Artikel 11 VE-LMG. Um der zuständigen Vollzugsbehörde

die Durchsetzung des Lebensmittelrechts zu ermöglichen, müssen sie wahre und voll-

ständige Angaben über ihre Identität (Name und Vorname bei natürlichen Personen,

Firma gemäss Eintrag im Handelsregister bei juristischen Personen) und ihre Kon-

taktadresse einschliesslich derjenigen der elektronischen Post machen. Dies entspricht

der Impressumspflicht nach Artikel 3 Buchstabe s des Bundesgesetzes vom 19. De-

zember 1986

706

gegen unlauteren Wettbewerb sowie Artikel 30 des nicht in das Pro-

tokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierten DSA.

706

SR

241

752 / 931

Art. 35

Sicherstellung des Gesundheitsschutzes

Im geltenden Recht sind die Sicherstellung des Gesundheitsschutzes sowie die Pflicht

zur Information der zutändigen kantonalen Vollzugsbehörde in den Artikeln 27 LMG

und 84 LGV geregelt. In diesen Bestimmungen wird Artikel 19 der Verordnung (EG)

Nr. 178/2002 umgesetzt. Neu soll das einschlägige EU-Recht, das Bestandteil von

Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit ist, in der Schweiz direkt ange-

wendet werden (Abs. 1).

Artikel 19 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 soll sinngemäss auch auf Gebrauchs-

gegenstände Anwendung finden (Abs. 2). Inhaltlich führt dies gegenüber dem gelten-

den Recht zu keinen Änderungen.

Absatz 3 entspricht Artikel 27 Absatz 4 des geltenden Rechts.

Art. 36

Rückverfolgbarkeit

Die Rückverfolgbarkeit spielt für die Gewährleistung der Sicherheit von Lebensmit-

teln und Gebrauchsgegenständen eine zentrale Rolle. Sie ist in allen Produktions-,

Verarbeitungs- und Vertriebsstufen sicherzustellen. Der geltende Artikel 28 LMG

entspricht Artikel 18 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002. Der direkte Verweis auf das

EU-Recht führt inhaltlich zu keinen Änderungen.

Bei den Bedarfsgegenständen gelangt bezüglich der Rückverfolgbarkeit Artikel 17

der Verordnung (EG) Nr. 1935/2004 zur Anwendung. Diese Bestimmung übernimmt

die Grundprinzipien der Rückverfolgbarkeit für Lebensmittel. Materiell kommt es

auch in diesem Bereich zu keinen inhaltlichen Änderungen gegenüber dem heute gel-

tenden Recht.

Wie das bereits heute geltende Recht unterstellt auch das neue Recht Kosmetika und

Spielzeug sinngemäss den Bestimmungen über die Rückverfolgbarkeit von Lebens-

mitteln (Abs. 2). Inhaltlich ändert sich nichts.

Absatz 3 entspricht Artikel 28 Absatz 3 des geltenden Rechts.

3. Abschnitt: Pflichten der Betreiberinnen von Hosting-Diensten sowie von Online-

Plattformen

Die in diesem Abschnitt aufgeführten Pflichten gelten ausschliesslich für Betreiberin-

nen von Hosting-Diensten und Online-Plattformen (s. die Erläuterungen zu Art. 33

VE-LMG).

Art. 37

Die Kontrolle des Online-Handels durch die zuständige Vollzugsbehörde setzt voraus,

dass diese über die hierfür erforderlichen Informationen verfügen. Absatz 1 legt als

Grundsatz fest, dass die Betreiberinnen von Hosting-Diensten, einschliesslich die On-

line-Plattform, der zuständigen Vollzugsbehörde auf Verlangen die für den Vollzug

der Lebensmittelgesetzgebung erforderlichen Informationen in Zusammenhang mit

Online-Angeboten zu Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen bekannt geben

753 / 931

müssen. Dazu gehören auch Angaben zur Identität und zur Kontaktadresse ein-

schliesslich der elektronischen Post von Anbieterinnen. Diese Bestimmung orientiert

sich an Artikel 30 des nicht in das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierten

DSA.

Um eine gute und direkte Zusammenarbeit zwischen den Behörden und den Betrei-

berinnen der Online-Plattform zu unterstützen, sollen diese auf Verlangen der zustän-

digen Vollzugsbehörde zusätzlich eine verantwortliche Person bekannt geben müssen

(Abs. 2 Bst. a). Diese soll die Ansprechperson der zuständigen Vollzugsbehörde sein.

Wurden Lebensmittel oder Gebrauchsgegenstände über ihre Plattform abgegeben,

müssen die Betreiberinnen von Online-Plattformen der zuständigen Vollzugsbehörde

ebenfalls zusätzlich zu den Pflichten nach Absatz 1 auf Verlangen die für den Vollzug

der Lebensmittelgesetzgebung erforderlichen Informationen zu den getätigten Trans-

aktionen und den Abnehmerinnen und Abnehmer bekannt geben (Abs. 2 Bst. b).

Absatz 3 gibt dem Bundesrat die Kompetenz, zu regeln, in welcher Form die Daten

bekannt zu geben sind (auf elektronischem Weg, in Papierform, usw.).

4. Abschnitt: Pflichten von Unternehmen, die Lebensmittel oder Gebrauchsgegen-

stände im Ausland in Verkehr bringen

Dieser Abschnitt enthält die Pflichten für Unternehmen, die Lebensmittel oder Ge-

brauchsgegenstände von der Schweiz aus im Ausland in Verkehr bringen, ohne dass

sie je in die Schweiz gelangen. Diese weichen von denjenigen der Betriebskategorien

im 2. und im 3. Abschnitt des 6. Kapitels ab (s. Art. 33 ff. VE-LMG).

Art. 38

Der internationale Handel mit Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen nimmt ste-

tig zu. Die Gewährleistung von deren Sicherheit und des Täuschungsschutzes setzt

voraus, dass sich die zuständigen Vollzugsbehörden gegenseitig koordinieren und un-

terstützen. Bringen Schweizer Unternehmen im Ausland nicht sichere oder täuschend

gekennzeichnete oder beworbene Lebensmittel oder Gebrauchsgegenstände in den

Verkehr und gelangen diese nie in die Schweiz, ist es den Schweizer Vollzugsbehör-

den nach geltendem Recht nicht möglich, beim Schweizer Unternehmen die zur Wie-

derherstellung des gesetzlichen Zustandes im betreffenden Land erforderlichen Aus-

künfte einzuholen. Die Kompetenzen der Schweizer Vollzugsbehörden beschränken

sich in erster Linie auf das Inverkehrbringen von Lebensmitteln und Gebrauchsgegen-

ständen in der Schweiz. Die Ausfuhr von Lebensmitteln richtet sich nach Artikel 27

Absatz 1, diejenige von Gebrauchsgegenständen nach Artikel 27 Absätze 2 und 3 VE-

LMG. Auch die Einhaltung dieser Bestimmungen wird durch die Schweizer Vollzugs-

behörden kontrolliert.

Neu soll ein Schweizer Unternehmen, das im Ausland Lebensmittel oder Gebrauchs-

gegenstände in Verkehr bringt, indem es die Produkte aus dem Ausland direkt an die

Verbraucherinnen und Verbraucher im Ausland versendet, gegenüber der zuständigen

Vollzugsbehörde auskunftspflichtig sein. Sowohl im Fall, dass sich die ausländische

Behörde an den Kanton wendet, wie auch im Fall, dass sie ans BLV gelangt, soll sich

754 / 931

die Auskunft auf die durch das Schweizer Lebensmittelrecht verfolgten Schutzziele

nach Artikel 1 LMG beschränken.

Die Selbstkontrollpflichten nach Artikel 33 ff. VE-LMG gelten für solche Unterneh-

men nicht.

5. Abschnitt: Amtliche Kontrolle

Art. 39

Kontrolle von Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen

Artikel 39 VE-LMG verweist für die Durchführung der amtlichen Kontrolle bei Le-

bensmitteln und Bedarfsgegenständen auf die Verordnung (EU) 2017/625. Diese ist

in Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit aufgeführt und wird in der

Schweiz künftig direkt angewendet werden. Die Verordnung gibt vor, wie die Voll-

zugsbehörden bei der Kontrolle von Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen vorzu-

gehen haben und über welche Rechte sie hierzu verfügen.

Zur amtlichen Kontrolle von Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen gehört auch das

Bekämpfen betrügerischer oder irreführender Praktiken in der Lebensmittelkette (s.

die Art. 9 Abs. 2, 65 Abs. 4, 97 Abs. 2, 102 Abs. 4 sowie 139 Abs. 2 der Verordnung

(EU) 2017/625). Das Aufdecken betrügerischer oder irreführender Praktiken gehört

zwar nicht zu den Zielen der Lebensmittelgesetzgebung, sind diese in bestimmten Be-

reichen aber verbreitet, kann sich dies auf die Umsetzung der Ziele nach Artikel 1

auswirken (Lebensmittelsicherheit, Täuschungsschutz). So ist beispielsweise denk-

bar, dass bei Thunfisch zum Ändern der Farbe zwecks Vortäuschung eines frischen

Fisches nicht zugelassene Zusatzstoffe zugesetzt werden, die bei den Verbraucherin-

nen und Verbrauchern zu einer allergischen Reaktion führen können. Zu erwähnen ist

in diesem Zusammenhang ebenfalls der spanische Olivenölskandal, bei dem anfangs

der 1980er Jahre gepanschtes Rapsöl für den Industriegebrauch als Olivenöl verkauft

wurde, was zu zahlreichen Todesfällen geführt hat.

Art. 40

Kontrolle von Gebrauchsgegenständen

Absatz 1 orientiert sich am bisherigen Artikel 30 Absatz 1 LMG.

Absatz 2 entspricht dem bisherigen Artikel 30 Absatz 2 LMG, regelt als neue Auf-

gabe unter Buchstabe b bei den übrigen Gebrauchsgegenständen jedoch, dass die zu-

ständige Vollzugsbehörde bei ihren Kontrollen wie bei den Lebensmitteln und Be-

darfsgegenständen potenzielle Risiken und die Wahrscheinlichkeit von Verstössen

gegen die Lebensmittelgesetzgebung aufgrund betrügerischer oder irreführender

Praktiken einbeziehen müssen (s. dazu die Erläuterungen zu den Art. 33 und 39).

Die Absätze 3 und 4 entsprechen dem bisherigen Artikel 30 Absätze 3 und 4 LMG.

Art. 41

Zuständigkeiten des Bundesrates bei Kontrollen von Lebensmitteln

und Gebrauchsgegenständen

Die Buchstaben a und b entsprechen den bisherigen Buchstaben a und b von Artikel

30 Absatz 5 LMG.

755 / 931

Buchstabe c setzt die Empfehlung der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK) um,

Ziele für die Produktkontrollen festzulegen. Namentlich soll der Bundesrat die von

den Vollzugsbehörden zu kontrollierenden Produkte oder Produktekategorien festle-

gen und Vorgaben zur Anzahl Kontrollen und zum Zeitraum machen können, inner-

halb dessen die Kontrollen stattzufinden haben. Dass der Bundesrat über diese Kom-

petenz verfügt, ist auch deshalb wichtig, weil Artikel 58 VE-LMG bestimmt, dass die

Bundesbehörden mit ausländischen und internationalen Fachstellen und Institutionen

zusammenarbeiten und die Aufgaben wahrnehmen, die sich aus den völkerrechtlichen

Verträgen ergeben. Mit der neuen Kompetenz soll sichergestellt werden, dass sich die

Schweiz an koordinierten Kontrollprogrammen (z. B. nationales Fremdstoffuntersu-

chungsprogramm NFUP) aufgrund internationaler Abkommen beteiligen kann.

Der erfolgreiche Kampf gegen Lebensmittelkriminalität setzt voraus, dass gegen Fälle

mit Verdacht auf systematische Verstösse gegen die Lebensmittelgesetzgebung auf-

grund betrügerischer oder irreführender Praktiken koordiniert und effizient vorgegan-

gen werden kann. Dies bedingt, dass der Bundesrat die kantonalen Vollzugsbehörden

verpflichten kann, dem BLV solche Fälle zu melden (Bst. d). Gestützt auf den neuen

Artikel 55 Absatz 3 Buchstabe c VE-LMG hat das BLV als zuständige Bundesbe-

hörde dann die Möglichkeit, die kantonalen Vollzugsbehörden anzuweisen, konkrete

Vollzugsmassnahmen zu treffen.

Art. 42

Information von Betreiberinnen von Online-Plattformen

Um rechtswidrige Angebote von Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen auf On-

line-Plattformen nach Artikel 8 VE-LMG sperren zu lassen, sollen die zuständigen

Vollzugsbehörden den Betreiberinnen solcher Plattform die erforderlichen Informati-

onen zukommen lassen können, damit diese beispielsweise im Falle einer akuten Ge-

sundheitsgefährdung das entsprechende Angebot entfernen und damit verhindern,

dass das betroffene Produkt zu den Verbraucherinnen und Verbrauchern gelangt. Vor

der Übermittlung der Informationen an die Betreiberinnen der Plattform ist der Per-

son, die das Produkt in Verkehr bringt, nach Möglichkeit das rechtliche Gehör zu ge-

währen.

Art. 43

Schlachttier- und Fleischuntersuchung

Die Schlachttier- und die Fleischuntersuchung wird in den Artikeln 17 und 18 der

Verordnung (EU) 2017/625

einschliesslich der auf der Grundlage dieser Verordnung

erlassenen Rechtsakte, die diese Bestimmungen ausführen und Bestandteil von An-

hang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit sind, ausführlich geregelt (Abs. 1).

Die entsprechenden Bestimmungen des Schweizer Rechts können deshalb aufgeho-

ben werden. Weil das Schweizer Recht in diesem Bereich auf Grund von Anhang 11

des Landwirtschaftsabkommens heute bereits demjenigen der EU entspricht, ergeben

sich durch die künftige direkte Anwendung des EU-Rechts keine inhaltlichen Ände-

rungen.

Beibehalten werden muss dagegen der bisherige Artikel 31 Absatz 3 Buchstabe b

LMG, weil dieser Bereich durch die Verordnung (EU) 2017/625 nicht abgedeckt wird

(Abs. 2).

756 / 931

Art. 44

Kontrollergebnis

Die Aufzeichnung des Kontrollergebnisses der amtlichen Kontrolle von Lebensmit-

teln und Bedarfsgegenständen sowie die Kommunikation des Kontrollergebnisses sol-

len sich künftig nach Artikel 13 der Verordnung (EU) 2017/625 richten (Abs. 1).

Nach Absatz 1 dieser EU-Bestimmung müssen die Aufzeichnungen schriftlich sein,

können aber in Papierform oder auf elektronischem Weg erfolgen.

Nach Absatz 2 gelten die Anforderungen an die Aufzeichnung der Kontrolle sowie

die Mitteilung des Kontrollergebnisses sinngemäss auch für die übrigen Gebrauchs-

gegenstände.

Die Ausnahmeregelung von Absatz 3 bezieht sich auf Absatz 1. Sie entspricht dem

geltenden Recht (s. den zweiten Satz des bisherigen Art. 32 Abs. 1 LMG).

Absatz 4 entspricht dem bisherigen Artikel 32 Absatz 2 LMG.

Art. 45

Beanstandung

Diese Bestimmung entspricht Artikel 33 LMG.

6. Abschnitt: Massnahmen

Art. 46

Beanstandete Produkte

Wie bereits im geltenden Recht wird auch künftig bei den Massnahmen unterschie-

den, ob sie Produkte betreffen oder ob es sich nicht um produktebezogene Massnah-

men wie die Beanstandung von Herstellungsverfahren, Räumen, Produktionsanlagen

usw. handelt. Die produktebezogenen Beanstandungen werden in Artikel 46 geregelt,

die nicht auf Produkte bezogenen in Artikel 47. Massnahmen im Zusammenhang mit

dem Anbieten von Produkten über das Internet unter Missachtung der lebensmittel-

rechtlichen Vorgaben fallen unter Artikel 48.

Die Verordnung (EU) 2017/625 deckt Lebensmittel und Bedarfsgegenstände ab. Ab-

satz 1 verweist für die Durchsetzung der lebensmittelrechtlichen Anforderungen auf

die Artikel 66, 137 und 138 der Verordnung (EU) 2017/625. Von zentraler Bedeutung

ist Artikel 138 Absatz 1 der

Verordnung (EU) 2017/625. Danach ergreifen die zustän-

digen Vollzugsbehörden die erforderlichen Massnahmen, um Ursprung und Umfang

des Verstosses sowie die Verantwortung der betreffenden Unternehmerinnen oder

Unternehmer zu ermitteln sowie geeignete Massnahmen, um zu gewährleisten, dass

diese den Verstoss beenden und dass sie oder er erneute Verstösse dieser Art verhin-

dern.

Beim Anordnen von Massnahmen von zentraler Bedeutung ist das Beachten des Ver-

hältnismässigkeitsgrundsatzes. Artikel 138 Absatz 1 der Verordnung (EU) 2017/625

nennt darüber hinaus auch noch die Art des Verstosses und das bisherige Verhalten

der betreffenden Unternehmerin oder des betreffenden Unternehmers in Bezug auf die

Einhaltung der Vorschriften als relevante Kriterien.

Absatz 1 gilt sinngemäss auch für alle übrigen Gebrauchsgegenstände (Abs. 2).

757 / 931

Die Aufzählung der Massnahmen in Artikel 138 Absatz 2 der Verordnung (EU)

2017/625 zur Durchsetzung der lebensmittelrechtlichen Anforderungen ist nicht ab-

schliessend. Der Katalog der möglichen Massnahmen nach Artikel 34 des geltenden

LMG wird deshalb beibehalten (Abs. 3–6). Dies ermöglicht, abzuschätzen, welche

konkreten Massnahmen mit den oben dargelegten Grundprinzipien vereinbar sind.

Art. 47

Nicht auf Produkte bezogene Beanstandungen

Diese Bestimmung wurde unverändert aus Artikel 35 LMG übernommen. Beim An-

ordnen von Massnahmen gelten dieselben Grundprinzipien, wie sie in Artikel 46 oben

erläutert werden. Auch die in Absatz 1 von Artikel 47 VE-LMG aufgeführte Aufzäh-

lung möglicher Massnahmen ist nicht abschliessend.

Art. 48

Im Internet angebotene Produkte

Artikel 48 VE-LMG regelt neu die Massnahmen, welche die zuständige Vollzugsbe-

hörde ergreifen kann, wenn Lebensmittel oder Gebrauchsgegenstände unter Missach-

tung der lebensmittelrechtlichen Anforderungen im Internet angeboten werden. Nach

Absatz 1 Buchstabe a soll die zuständige Vollzugsbehörde in Anlehnung an die Arti-

kel 23 der Marktüberwachungsverordnung sowie 14 und 16 des DSA anordnen kön-

nen, dass eine Unternehmerin oder ein Unternehmer, eine Betreiberin eines Hosting-

Diensts oder einer Online-Plattform den Zugang zu einem solchen Online-Angebot

sperrt oder den beanstandeten Inhalt entfernt (sog.

notice and take down

-Prinzip ) und

dass die Betreiberin einer Online-Plattform verhindert, dass ein solches Angebot nach

einer Sperrung mit Hilfe ihres Dienstes erneut zugänglich gemacht wird (Bst. b).

Zwecks Gewährleistung des rechtlichen Gehörs muss die zuständige Vollzugsbehörde

versuchen, die Anbieterin oder den Anbieter des Produktes vorgängig zu kontaktieren.

Erst wenn dies nicht den gewünschten Erfolg hat oder die Anbieterin oder der Anbie-

ter des Produktes nicht in der Schweiz niedergelassen ist, kann sie die Sperrung des

Angebots veranlassen. Verstösse gegen diese Anordnungen können nach Artikel 292

des Strafgesetzbuches (StGB)

707

– Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen – sank-

tioniert werden.

Die Vollzugsbehörden sollen weiter die Kompetenz erhalten, den Zugang zu einem

gegen das Lebensmittelrecht verstossenden Online-Angebot zu unterbinden, indem

der dafür verwendete Domain-Name blockiert oder widerrufen wird (Bst. c). Anord-

nungen zur Blockierung oder den Widerruf des Domain-Namens haben sich gegen

die Halterin oder den Halter des Domain-Namens zu richten. Bevor Switch die Blo-

ckierung oder den Widerruf vornehmen kann, ist der Halterin oder dem Halter des

Domain-Namens durch die zuständige Vollzugsbehörde das rechtliche Gehör zu ge-

währen. Dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz entsprechend kann die Vollzugsbe-

hörde die Blockierung oder den Widerruf des Domain-Namens erst anordnen, wenn

die Halterin oder der Halter des Domain-Namens beziehungsweise die Betreiberin

oder der Betreiber eines Webshops der Aufforderung der Vollzugsbehörde zur Wie-

derherstellung des gesetzlichen Zustandes nicht nachgekommen ist.

707

SR

311.0

758 / 931

Die Massnahmen nach Absatz 1 können auch angeordnet werden, wenn die zustän-

dige Vollzugsbehörde des Destinationslandes der Produkte darum ersucht, weil diese

nicht dessen lebensmittelrechtlichen Anforderungen entsprechen (Abs. 2). Dies setzt

jedoch voraus, dass die betreffenden Lebensmittel oder Gebrauchsgegenstände aus

der Schweiz ausgeführt werden (s. Art. 27 VE-LMG). Auf Lebensmittel oder Ge-

brauchsgegenstände, die nie in die Schweiz gelangen, findet diese Bestimmung keine

Anwendung. Für solche Produkte gilt jedoch Artikel 38, wenn ein Schweizer Unter-

nehmen sie im Ausland in den Verkehr bringt.

Art. 49

Vorsorgliche Massnahmen

Vorsorgliche Massnahmen sind ein wichtiges Instrument, um den Schutz der Ver-

braucherinnen und Verbraucher jederzeit zu gewährleisten. Artikel 48 dient einerseits

der Umsetzung von Artikel 138 der Verordnung (EU) 2017/625 und anderseits, be-

treffend das Anordnen von Massnahmen bei begründetem Verdacht, der Konkretisie-

rung von Artikel 137 Absatz 2 dieser Verordnung. Er deckt sowohl Lebensmittel wie

auch Gebrauchsgegenstände ab. Inhaltlich ergeben sich gegenüber dem geltenden

Recht keine Änderungen (s. Art. 36 LMG).

Art. 50

Strafanzeige

Diese Bestimmung entspricht dem geltenden Recht (Art. 37 LMG).

7. Kapitel: Vollzug

1. Abschnitt: Bund

Art. 51

Ein-, Durch- und Ausfuhr

Diese Bestimmung ist identisch mit dem bisherigen Artikel 38 LMG. An der Zustän-

digkeitsordnung und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen ändert sich

nichts.

Art. 52

Einfuhrbeschränkungen

Die Kompetenz der zuständigen Vollzugsbehörde des Bundes zum Erlass von Ein-

fuhrbeschränkungen bleibt bestehen. Werden die betreffenden Produkte vom Gel-

tungsbereich der in Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit aufgeführten

Erlasse erfasst, ist jedoch dafür zu sorgen, dass solche Einfuhrbeschränkungen mit

diesen Erlassen vereinbar sind.

Art. 53

Forschung

Diese Bestimmung ist identisch mit Artikel 40 LMG. In diesem Bereich kommt es

gegenüber heute zu keinen Änderungen.

759 / 931

Art. 54

Vollzug in der Armee

Das LMG bezweckt unter anderem, die Gesundheit der Verbraucherinnen und Ver-

braucher vor Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen zu schützen, die nicht sicher

sind sowie den hygienischen Umgang mit Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen

sicherzustellen (Art. 1 Bst. a und b VE-LMG).

Angesichts der Tatsache, dass die Armee Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände in

beträchtlichen Mengen selbst herstellt, lagert oder verarbeitet und an die Armeeange-

hörigen abgibt, muss sich der Anwendungsbereich des LMG auch auf die Armee er-

strecken. Die Kontrolle der Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände der Armee soll

derjenigen im zivilen Bereich entsprechen

708

. Diese Regelung erfolgt unabhängig

vom Protokoll zur Lebensmittelsicherheit.

Nach Artikel 118 Absatz 2 Buchstabe a der Bundesverfassung (BV)

709

hat der Bund

eine umfassende Gesetzgebungskompetenz im Bereich der Lebensmittel und Ge-

brauchsgegenstände. Die Gesetzgebungskompetenz schliesst auch die Befugnis mit

ein, über die Ordnung des Vollzugs zu entscheiden, sofern sich die BV darüber aus-

schweigt. Der Vollzug der Bundesgesetzgebung obliegt nach der allgemeinen Voll-

zugsregelung von Artikel 46 BV zwar grundsätzlich den Kantonen. Dies verbietet

dem Bund jedoch nicht, für den Armeebereich Ausnahmen vorzusehen. So hat der

Bund gemäss Artikel 60 Absatz 1 BV im Bereich des Militärwesens eine umfassende

und ausschliessliche Gesetzgebungskompetenz, die es dem Gesetzgeber auch erlaubt,

für den Bereich der Armee die von der Verfassung vorgesehene allgemeine Vollzugs-

regelung von Artikel 46 BV anzupassen. Dabei ist der Grundsatz gemäss Artikel 43

a

Absatz 1 BV zu berücksichtigen, wonach der Bund nur diejenigen Aufgaben überneh-

men soll, welche die Kraft der Kantone übersteigen oder einer einheitlichen Regelung

durch den Bund bedürfen.

Bereits heute stellt Artikel 41 LMG eine gesetzliche Durchbrechung der ordentlichen,

das heisst der von der Verfassung vorgesehenen kantonalen Vollzugshoheit nach Ar-

tikel 46 BV dar, soweit der Vollzug des LMG dem Bund zugewiesen wird.

Absatz 1 regelt den Grundsatz, wonach für den Vollzug in der Armee die zuständige

kantonale Vollzugsbehörde herangezogen wird. Der Veterinärdienst der Armee ist für

die Selbstkontrolle in der Armee besorgt. Der Vollzug durch die kantonale Vollzugs-

behörde erfolgt insbesondere auch in Einrichtungen, die sich zwar in Anlagen der Ar-

mee befinden, jedoch von Zivilpersonen betrieben werden.

Absatz 2 definiert sodann die Bereiche, in denen die Armee selbst für den Vollzug

sorgt und dazu die Kontrollen durchführt. Mit dieser neuen Regelung wird das gel-

tende Recht, das immer wieder zu Auslegungsproblemen geführt hat, präzisiert.

Zu den Ausnahmen gemäss Absatz 2 gehört zunächst die Kontrolle der Wasserver-

sorgungsanlagen der Armee. Diese erfolgt in jedem Fall durch die Armee selbst. Die

Armee verfügt über die Fachkenntnisse, um die Kontrolle der Wasserversorgungsan-

lagen regelmässig und risikobasiert fachgerecht durchzuführen. Dadurch ist gewähr-

708

BBl

1989

I 946

709

SR

101

760 / 931

leistet, dass das Wasser und die Wasserversorgungsanlagen den lebensmittelrechtli-

chen Anforderungen entsprechen. Wasserversorgungsanlagen der Armee können sich

in militärischen Anlagen mit beschränktem Zutritt im Sinne der Verordnung vom

2. Mai 1990

710

über den Schutz militärischer Anlagen befinden oder zu solchen füh-

ren. Zu diesen Anlagen haben nur Personen Zutritt, welche die entsprechende Sicher-

heitsprüfung bestanden haben. Da eine solche Sicherheitsprüfung aufwendig ist und

um den Zugang zu diesen Anlagen zu beschränken, ist es gerechtfertigt, dass die Ar-

mee in diesen wie auch in allen anderen Wasserversorgungsanlagen der Armee selber

für die Kontrolle zuständig ist.

Die zweite Ausnahme betrifft alle militärischen Anlagen mit beschränktem Zutritt.

Bereits in der bestehenden Regelung in der Verordnung vom 8. Dezember 1997

711

über die Lebensmittelkontrolle in der Armee (VLKA) war die Armee in diesen Anla-

gen mit beschränktem Zutritt selbst für die Kontrolle zuständig (s. Art. 6 VLKA). Die

meisten Armeeküchen werden in oberirdischen Kasernen und Truppenunterkünften

oder in Anlagen ohne beschränkten Zutritt betrieben, weshalb diese Ausnahme nicht

häufig zur Anwendung kommen dürfte.

Die bisherige Ausnahme hinsichtlich Küchen in nicht ortsfesten Anlagen ist nicht

mehr erforderlich. Bei der Verpflegung im Feld werden heute üblicherweise in orts-

festen Küchen zubereitete Speisen ins Feld ausgeliefert und im Feld erfolgt nur die

Ausgabe der Speisen. Seltener werden die Speisen im Feld zubereitet (z. B. in einem

Mobilen Verpflegungssystem MVS). In beiden Fällen ist die Situation vergleichbar

mit Cateringunternehmen im zivilen Bereich. Auch dort werden Mahlzeiten häufig

vorgekocht und anschliessend ausgeliefert. Kocht ein Cateringunternehmen nicht an

seinem Geschäftsstandort, sondern vor Ort (bspw. an einer Hochzeitsfeier), kann die

Kontrolle auch an jenem temporären Standort erfolgen, sofern der Standort bekannt

ist. Es bedarf daher keiner Ausnahme für diese Konstellation, da sie keine armeespe-

zifische Besonderheit ist, sondern auch im zivilen Leben vorkommt.

Absatz 3 gibt dem Bundesrat die Kompetenz, die Anforderungen an die angemessene

Ausbildung der Kontrollorgane, die Mindestanforderungen an die Kontrollstelle der

Armee sowie das Verfahren zu regeln. Für die Organe, die in der Armee die Lebens-

mittelkontrolle durchführen, sollen künftig dieselben Anforderungen an die Ausbil-

dung gelten wie für die Vollzugsorgane im zivilen Bereich. Es sollen die rechtlichen

Voraussetzungen geschaffen werden, damit Angestellte und Angehörige der Armee,

die amtliche Vollzugsaufgaben wahrnehmen, eine den jeweiligen Aufgaben angemes-

sene Ausbildung absolvieren und ein Fähigkeitszeugnis erlangen können. Die LMVV

soll entsprechend angepasst werden. Ausserdem soll der Bundesrat die Mindestanfor-

derungen an die Kontrollstelle innerhalb der Armee regeln. Die VLKA soll entspre-

chend angepasst werden.

710

SR

510.518.1

711

SR

817.45

761 / 931

Art. 55

Aufsicht und Koordination

Die Absätze 1 und 2 dieser Bestimmung entsprechen dem geltenden Recht (Art. 42

Abs. 1 und 2 LMG).

Bei Absatz 3 ist neu, dass der für die Aufsicht über den kantonalen Vollzug zuständi-

gen Bundesbehörde die in den Buchstaben a–c aufgeführten Instrumente nicht mehr

nur zum Zwecke der Koordination des Vollzugs zur Verfügung stehen, sondern auch

unabhängig davon. Dies ist deshalb wichtig, weil die internationalen Verflechtungen

der Schweiz diesbezüglich mehr Flexibilität erfordern. So beschränken sich beispiels-

weise betrügerische oder irreführende Praktiken heute vielfach nicht nur auf einen

Kanton, sondern erstrecken sich über die ganze Schweiz oder haben gar einen inter-

nationalen Hintergrund. Damit der Bund seinen Auftrag zur Lenkung des Vollzugs

wahrnehmen kann, soll er in solchen Fällen die Kantone anweisen können, bestimmte

Massnahmen zu treffen. Dies ermöglicht ihm unter anderem, Vorermittlungen beim

Verdacht auf betrügerische oder irreführende Praktiken zu koordinieren und gezielt

konkrete Massnahmen anzuordnen. Flexibilität braucht es ebenfalls, wenn der Bund

an internationalen Programmen teilnehmen will und dies voraussetzt, dass gewisse

Produkte gezielt beprobt und untersucht werden.

Die Absätze 4 und 5 entsprechen dem geltenden Recht (Art. 42 Abs. 4 und 5 LMG).

Art. 56

Nationale Referenzlaboratorien

Diese Bestimmung lehnt sich an den bestehenden Artikel 43 LMG an, berücksichtigt

aber neu die direkte Anwendung der Artikel 92 ff. der Verordnung (EU) 2017/625

für

Lebensmittel und Bedarfsgegenstände. Der Bund erhält den Auftrag, nationale Refe-

renzlaboratorien zu betreiben. Ziel dieser Laboratorien soll die Unterstützung der

Vollzugsbehörden zur Verhütung, Aufdeckung und Verfolgung von Verstössen gegen

die Lebensmittelgesetzgebung sein (Abs. 1). Zudem wird dadurch Artikel 100 Ab-

satz 1 der Verordnung (EU) 2017/625 umgesetzt, der verlangt, dass die EU-

Mitgliedstaaten – und mit Inkrafttreten des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit auch

die Schweiz – für jedes gemäss Artikel 93 Absatz 1 dieser Verordnung benannte Re-

ferenzlaboratorium der EU ein oder mehrere nationale Referenzlaboratorien benen-

nen.

Absatz 2 entspricht dem bisherigen Artikel 43 Absatz 2 LMG. Auf den Verweis auf

das öffentliche Beschaffungsrecht wird verzichtet, weil dessen Anwendung einer

Selbstverständlichkeit gleichkommt, die nicht explizit erwähnt werden muss.

Weil sich diese Bestimmung sowohl auf Lebensmittel wie auch auf alle Gebrauchs-

gegenstände bezieht, muss der Bundesrat die Kompetenz haben, die Zuständigkeits-

bereiche dieser Laboratorien zu regeln, die Anforderungen an diese sowie deren Auf-

gaben festzulegen. Bei Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen wird diese

Regelungskompetenz durch die Vorgaben der Artikel 100 und 101 der Verordnung

(EU) 2017/625 eingeschränkt (Abs. 3).

Bei den übrigen Gebrauchsgegenständen werden die grundlegenden Anforderungen

in Absatz 4 unter den Buchstaben a–c aufgelistet. Sie entsprechen denjenigen des bis-

herigen Rechts (s. Art. 43 Abs. 4 LMG).

762 / 931

Art. 57

Ausführungsbestimmungen des Bundesrates

Die Absätze 1 und 2 dieser Bestimmung entsprechen dem bisherigen Recht (s. Art. 44

Abs. 1 und 2 LMG).

Sowohl der Bundesrat wie auch das Parlament haben im Rahmen der im Jahre 2017

in Kraft getretenen Totalrevision des Lebensmittelrechts gefordert, dass das Schwei-

zer Recht an dasjenige der EU angeglichen werden soll. Damit sollte das Ziel verfolgt

werden, in der Schweiz dasselbe Schutzniveau zu etablieren wie unsere Nachbarstaa-

ten. Zudem sollten Handelshemmnisse im Warenverkehr mit der EU verhindert be-

ziehungsweise abgebaut werden. Weil ein grosser Teil der EU-Rechtsakte bereits 20

Tage nach ihrer Verabschiedung in Kraft tritt, ist deren zeitgleiche Anwendung in der

Schweiz im geltenden Recht kaum oder nicht realisierbar, wenn die entsprechenden

Rechtsetzungsvorlagen den ordentlichen Rechtsetzungsprozess durchlaufen müssen.

Wie im Heilmittelrecht (Art. 82 Abs. 3 des Heilmittelgesetzes

712

) soll der Bundesrat

deshalb künftig in den nicht vom Protokoll zur Lebensmittelsicherheit abgedeckten

Bereichen, welche die Schweiz eigenständig regeln kann (z. B. bei Lebensmitteln wie

Trinkwasser, Kaffee oder Schokolade oder bei den kosmetischen Mitteln), die Kom-

petenz erhalten, im Rahmen des autonomen Nachvollzugs das relevante Recht der EU

auch für die Schweiz als anwendbar zu erklären (sog. dynamischer Verweis auf das

EU-Recht). In den vom Protokoll zur Lebensmittelsicherheit abgedeckten Bereichen

gilt die Kompetenz des Bundesrates nicht. Hier besteht kein Bedarf, im Schweizer

Recht zusätzlich dynamische Verweise auf EU-Rechtsakte vorzusehen.

Art. 58

Internationale Zusammenarbeit

Diese Bestimmung entspricht Artikel 45 LMG. Sie wird inhaltlich unverändert über-

nommen.

Art. 59

Grenzüberschreitende Prüfungen

Auch diese Bestimmung wird aus dem bisherigen Recht übernommen (Art. 46 LMG).

Es ergeben sich keine Änderungen.

2. Abschnitt: Kantone

Art. 60

Vollzug und Kontrolle

Der Wortlaut dieser Bestimmung ist identisch mit Artikel 47 des geltenden Rechts. Es

kommt zu keinen Änderungen.

Art. 61

Laboratorien

Der Wortlaut dieser Bestimmung ist identisch mit Artikel 48 des geltenden Rechts. Es

kommt zu keinen Änderungen.

712

SR

812.21

763 / 931

Art. 62

Vollzugsorgane

Diese Bestimmung orientiert sich am geltenden Recht (Art. 49 LMG). Neu ist, dass

in Absatz 1 Buchstabe c Ziffer 4 künftig auch amtliche Fachexpertinnen und -exper-

ten als Vollzugsorgane der Lebensmittelgesetzgebung aufgeführt werden. Ihre Auf-

gaben und Zuständigkeiten werden heute in der Verordnung vom 16. November

2011

713

über die Aus-, Weiter- und Fortbildung der Personen im öffentlichen Veteri-

närwesen geregelt. Im LMG wurden sie bisher nicht explizit aufgeführt, obwohl sie

ebenfalls zur Kontrolle der Lebensmittelkette beitragen. Dies wird nun nachgeholt.

Die bisher in Buchstabe c Ziffer 4 erwähnten amtlichen Fachassistentinnen und Fach-

assistenten werden neu unter Buchstabe c Ziffer 5 aufgeführt.

Neu ist dagegen Absatz 2: Die Technologisierung der Herstellung von Lebensmitteln

und Gebrauchsgegenständen nimmt stetig zu. Sie zu überschauen erfordert ein immer

grösseres Fachwissen. Nicht alle kantonalen Vollzugsbehörden verfügen darüber.

Auch zum Aufdecken betrügerischer oder irreführender Praktiken braucht es Fach-

wissen. So kann es beispielsweise erforderlich sein, dass die Vollzugsorgane der Le-

bensmittelgesetzgebung Fachpersonen beiziehen können, die den Warenfluss und

auch den Geldfluss in einem Betrieb überprüfen können. Das LMG sieht diese Kom-

petenz bisher nicht vor.

Es macht deshalb Sinn, dass sich die Kantone bei ihren Kontrollen gegenseitig unter-

stützen. Es soll möglich werden, dass die Expertinnen und Experten des einen Kan-

tons auch von einem anderen Kanton, der nicht über Personen mit dem betreffenden

Fachwissen verfügt, beigezogen werden können. Diese Expertinnen und Experten sol-

len über dieselben Kompetenzen verfügen, wie die übrigen Lebensmittelvollzugsor-

gane, das heisst insbesondere über die Kompetenzen nach Artikel 40 Absätze 3 und

4.

Beigezogen werden können sollen sämtliche Fachpersonen, die über das entspre-

chende Fachwissen verfügen. Im Vordergrund stehen Fachpersonen von Bund, Kan-

tonen und nationalen Referenzlaboratorien nach Artikel 56, aber auch solche aus der

Privatwirtschaft.

Absatz 2 beinhaltet nicht die Kompetenz der Vollzugsbehörden, Expertinnen oder Ex-

perten zu berufen. Das Mitwirken dieser Personen erfolgt freiwillig und nach Abspra-

che.

Absatz 3 entspricht dem bisherigen Artikel 49 Absatz 2 LMG und bleibt unverändert.

Art. 63

Ausführungsbestimmungen der Kantone

Diese Bestimmung entspricht Artikel 50 des geltenden Rechts und bleibt unverändert.

Art. 64

Koordination, Leitung und Zusammenarbeit mit den

Bundesbehörden

Artikel 64 entspricht inhaltlich Artikel 51 LMG.

713

SR

916.402

764 / 931

3. Abschnitt: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Vollzugsorgane

Art. 65

Anforderungen an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der

Vollzugsorgane

Der erste und der zweite Absatz dieser Bestimmung entsprechen den Absätzen 1 und

2 von Artikel 52 LMG. Sie werden unverändert in den VE-LMG übernommen.

Absatz 3 entspricht inhaltlich Artikel 53 Absatz 5 LMG. Dieser Absatz bezieht sich

nicht nur auf die Ausbildung, sondern auch auf die für die Zulassung zur Ausbildung

erforderlichen Ausbildungs- und Prüfungsnachweise.

Der Entscheid darüber, ob die Voraussetzungen für die Zulassung zur formalen Bil-

dung im Einzelfall erfüllt sind, soll wie bisher im Lebensmittelbereich vom BLV ge-

troffen werden. Zu berücksichtigen sind sämtliche Ausbildungen und beruflichen

Qualifikationen, die für den Einstieg in die formale Bildung notwendig sind. Dazu

gehören im betreffenden Bereich erworbene Diplome, offizielle Bescheinigungen so-

wie die Berufserfahrung.

Art. 66

Formale Bildung und Weiterbildung

Absatz 1 dieser Bestimmung orientiert sich an Artikel 53 LMG. Neu wird der Begriff

«formale Bildung» eingeführt. Dadurch erfolgt eine Angleichung der Terminologie

an diejenige, die im Bundesgesetz vom 20. Juni 2014

714

über die Weiterbildung (We-

BiG) verwendet wird. Nach Artikel 3 Buchstabe a WeBiG ist unter «formaler Bil-

dung» eine staatlich geregelte Bildung zu verstehen, die zum Erwerb eines Diploms

führt, das die Voraussetzung für die Ausübung einer staatlich geregelten beruflichen

Tätigkeit bildet. Die formale Bildung der Vollzugsorgane soll auf den «vom Hof auf

den Tisch»-Ansatz des EU-Lebensmittelrechts

715

ausgerichtet werden. Dieser sieht

vor, dass die verschiedenen Verwaltungseinheiten, die an der Kontrolle der Lebens-

mittelkette beteiligt sind, ein gemeinsames Konzept umsetzen und beinhaltet auch

eine Angleichung der Anforderungen an das Kontrollpersonal.

Das LMG, das TSG und das TSchG regeln die Anforderungen an die Mitarbeiterinnen

und Mitarbeitern der Vollzugsorgane sowie die Aus- und Weiterbildung heute einzeln

und spezifisch. Die im Laufe der Zeit entstandenen Inkohärenzen werden mit dieser

Revision eliminiert und die Inhalte aktualisiert. Die Revision kann so als Grundlage

für eine künftige gemeinsame «Bildungsverordnung» der Vollzugsorgane im Lebens-

mittel- und im Veterinärbereich dienen.

Absatz 2 gibt dem Bundesrat die Kompetenz, die Einzelheiten der formalen Bildung

zu regeln. Dazu gehört auch die Regelung der Voraussetzungen für die Zulassung zur

formalen Bildung.

Die Vollzugsorgane sollen ihr Wissen in ihrem Zuständigkeitsbereich auf dem aktu-

ellsten Stand halten und vertiefen. Zudem erfordern die raschen Entwicklungen in der

Lebensmitteltechnologie und die Komplexität der zu beurteilenden Prozesse, dass die

714

SR

419.1

715

https://food.ec.europa.eu > horizontal-topics > farm-fork-strategy

765 / 931

Kenntnisse der für den Vollzug der Lebensmittelgesetzgebung zuständigen Personen

periodisch erweitert werden. Der Bund und die Kantone sollen deshalb die Möglich-

keit haben, für das Vollzugspersonal im Rahmen der formalen Bildung Weiterbildun-

gen anzubieten (Abs. 3). Diese «Weiterbildungen» sind nicht gleichzusetzen mit den

«Weiterbildungen» nach Artikel 3 Buchstabe a WeBiG.

Absatz 4 füllt eine Lücke in der bisherigen Gesetzgebung. Er räumt dem Bundesrat

die Kompetenz ein, das Ausbildungsniveau der Vollzugsorgane von Bund und Kan-

tonen durch das Vorschreiben von Weiterbildungen nach Absatz 3 auf dem neuesten

Stand zu halten. Auch Weiterbildungen, die von externen Stellen angeboten werden,

können in Frage kommen.

Art. 67

Durchführung von Prüfungen

Diese Bestimmung erlaubt es dem Bundesrat, die Durchführung von Prüfungen der

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Vollzugsorgane zu regeln. Er entspricht Arti-

kel 53 Absatz 3 LMG (Abs. 1).

Der Bundesrat kann zudem Prüfungskommissionen ernennen. Dabei handelt es sich

um beratende ausserparlamentarische Kommissionen nach Artikel 57

a

ff. des Regie-

rungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 1997

716

. Sie haben keine

Entscheidkompetenz. Ihre Aufgaben bestehen darin, Prüfungen abzunehmen und die

zuständige Bundesstelle in Ausbildungsfragen zu beraten (Abs. 2).

4. Abschnitt: Gemeinsame Bestimmungen für den Vollzug durch Bund und Kantone

Art. 68

Öffentliche Warnung

Diese Bestimmung wird unverändert aus dem geltenden Recht übernommen. Sie setzt

Artikel 10 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 um.

Unverändert bleibt auch das Vorgehen bei Erlass einer öffentlichen Warnung. Sind

nicht sichere Lebensmittel oder Gebrauchsgegenstände an eine unbestimmte Anzahl

von Verbraucherinnen und Verbraucher abgegeben worden, wird die zuständige Voll-

zugsbehörde auch unter dem neuen Recht verpflichtet, zu handeln (Abs. 1; bisheriger

Art. 54 Abs. 1 LMG). Die Aufgabe, gesundheitsgefährdende Produkte zurückzuneh-

men oder zurückzurufen, obliegt jedoch in erster Linie den in den Betrieben verant-

wortlichen Personen (Art. 35). Die zuständige Vollzugsbehörde ist aber gehalten, den

Fall zu begleiten und gegebenenfalls die geeigneten und notwendigen Massnahmen

zu ergreifen. Sie hat dabei eine Interessenabwägung zwischen der Gesundheitsgefähr-

dung und der mit der Warnung verbundenen Anprangerung eines Unternehmens vor-

zunehmen. Bei möglichen schwerwiegenden, auch längerfristigen Gesundheitsschä-

den ist immer öffentlich zu warnen. Das ökonomische Interesse des Unternehmens

hat dabei zurückzutreten.

716

SR

172.010

766 / 931

Absatz 2 entspricht dem bisherigen Artikel 54 Absatz 2 LMG und legt fest, dass das

Informieren und Abgeben von Verhaltensmassregeln Sache der zuständigen Voll-

zugsbehörde des Bundes ist, wenn die Bevölkerung mehrerer Kantone gefährdet ist.

Um widersprüchliche Informationen zu verhindern, ist es wichtig, dass der Bund im-

mer dann, wenn die Gefährdung über den lokalen Rahmen hinausgeht, auch die Ko-

ordination der Information übernimmt.

In Fällen von geringer Tragweite kann die Information über die Homepage der zu-

ständigen Vollzugsbehörde ausreichen (Abs. 3).

Nach Absatz 4 muss die zuständige Vollzugsbehörde, bevor sie sich an die Öffent-

lichkeit wendet, die Person, welche die das Produkt hergestellt, eingeführt oder in

Verkehr gebracht hat sowie die Konsumentenorganisationen anhören (entspricht dem

bisherigen Art. 54 Abs. 4 LMG). Solche Anhörungen sind deshalb wichtig, weil der

Gang der Behörden an die Öffentlichkeit für das betroffene Unternehmen mit einem

Imageverlust oder gar einem Absatzzusammenbruch verbunden sein kann. Ist Gefahr

im Verzug und ein unmittelbares Handeln angezeigt, kann in Ausnahmefällen auf eine

Anhörung verzichtet oder, wenn das betroffene Unternehmen erreichbar ist, die An-

hörung auf eine sehr kurze Antwortfrist von beispielsweise einer Stunde beschränkt

werden.

Sehr wichtig ist beim Entscheid, ob eine öffentliche Warnung gemacht wird, der Ver-

hältnismässigkeitsgrundsatz. Der Gang an die Medien ist auf schwerwiegendere Ge-

sundheitsgefährdungen zu beschränken. Sind die möglichen Folgen weniger gravie-

rend, können mildere Massnahmen ergriffen werden, die beispielsweise keinen

Rückschluss auf das verantwortliche Unternehmen erlauben. Lassen es die Rahmen-

bedingungen zu, kann die zuständige Vollzugsbehörde die Inverkehrbringerin oder

den Inverkehrbringer mit der Information der Öffentlichkeit beauftragen (Abs. 5).

Art. 69

Mitarbeit Dritter

Bei Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen richtet sich die Übertragung von Aufga-

ben aus dem Bereich der amtlichen Kontrollen auf Dritte nach den Artikeln 28–33 der

Verordnung (EU) 2017/625 (Abs. 1) einschliesslich der auf der Grundlage dieser Ver-

ordnung erlassenen Rechtsakte, die diese Bestimmungen ausführen und Bestandteil

von Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit sind. Diese Bestimmungen

sind inhaltlich weitgehend deckungsgleich mit dem bisherigen Artikel 55 LMG. Das

EU-Recht enthält jedoch detailliertere Vorgaben als das bisherige schweizerische

Recht.

Bei den übrigen Gebrauchsgegenständen kommt es gegenüber dem geltenden Recht

zu keinen Änderungen. Die Absätze 2–7 entsprechen inhaltlich dem geltenden Recht.

Art. 70

Schweigepflicht

Der Grundsatz, wonach Personen, die mit dem Vollzug dieses Gesetzes beauftragt

sind, der Schweigepflicht unterstehen, ist in Absatz 1 festgelegt. Vom Wortlaut her

ist diese Bestimmung identisch mit Artikel 56 LMG. Anders als im geltenden Recht

767 / 931

wird der Vorbehalt zugunsten von Bestimmungen des VE-LMG, die eine Informati-

onspflicht oder eine Rechtsgrundlage für den Datenaustausch enthalten, jedoch weg-

gelassen. Denn es ist klar, dass alle diesbezüglichen Bestimmungen Artikel 70 als

lex

specialis

vorgehen. Ausserhalb des VE-LMG gilt dies insbesondere auch für das Bun-

desgesetz vom 17. Dezember 2004

717

über das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltung

(BGÖ).

Für Lebensmittel und Bedarfsgegenstände verweist Absatz 2 zudem auf Artikel 8 der

Verordnung (EU) 2017/625. Auch diese Bestimmung geht Artikel 70 vor.

8. Kapitel: Finanzierung

Art. 71

Kostenteilung

Die Kostenteilung zwischen Bund und Kantonen bleibt gegenüber dem geltenden

Recht unverändert. Der bisherige Artikel 57 LMG wird unverändert übernommen.

Art. 72

Gebühren

Diese Bestimmung orientiert sich am bisherigen Artikel 58 LMG. Der Grundsatz der

gebührenfreien Lebensmittelkontrolle bleibt bestehen, soweit dieses Gesetz nichts an-

deres bestimmt (Abs. 1).

Die Aufzählung der Kontrollen, welche gebührenpflichtig sind, bleibt gegenüber dem

geltenden Recht (s. Art. 58 Abs. 2 LMG) weitgehend unverändert (Abs. 2). Neu ist

einzig Absatz 2 Buchstabe e. Künftig wird auch Artikel 79 der Verordnung

(EU) 2017/625 direkt angewendet. Konkret bedeutet dies, dass für bestimmte amtli-

che Kontrollen Pflichtgebühren und -abgaben erhoben werden müssen. Diese Gebüh-

ren betreffen Einfuhren von Lebensmitteln tierischer Herkunft aus Drittstaaten in die

EU beziehungsweise künftig in die Schweiz. Sie sollen unter anderem Wettbewerbs-

verzerrungen und Ungleichbehandlungen in den einzelnen Mitgliedstaaten und in der

Schweiz verhindern

718

.

Für die Unternehmerinnen und Unternehmer in der Schweiz wird die künftige direkte

Anwendung von Artikel 79 der Verordnung (EU) 2017/625 gegenüber heute zu kei-

nem Zusatzaufwand führen. Im Rahmen des Landwirtschaftsabkommens hat die

Schweiz ihr Recht bereits mit den entsprechenden Bestimmungen des EU-Rechts har-

monisiert (s. Art. 15 der Gebührenverordnung BLV vom 30. Oktober 1985

719

).

Die Absätze 3–6 entsprechen den Absätzen 3–6 von Artikel 58 LMG.

9. Kapitel: Datenbearbeitung

717

SR

152.3

718

Siehe die Erwägungsgründe 65–67 der Verordnung (EU) 2017/625.

719

SR

916.472

768 / 931

Art. 73

Daten natürlicher und juristischer Personen sowie Geschäfts- und

Fabrikationsgeheimnisse

Nach bisherigem Recht sind die zuständigen Behörden von Bund und Kantonen be-

rechtigt, Personendaten, einschliesslich Daten über administrative und strafrechtliche

Verfolgungen und Sanktionen, zu bearbeiten, soweit dies für den Vollzug ihrer Auf-

gaben nach diesem Gesetz erforderlich ist. Neu wird präzisiert, dass die zuständigen

Behörden diejenigen sind, welche die Lebensmittelgesetzgebung vollziehen, das

heisst die zuständige Vollzugsbehörde, die kantonale Vollzugsbehörde nach Arti-

kel 62 Absatz 3 sowie die mit öffentlichen Aufgaben beauftragten Dritten nach Arti-

kel 69. Als «Vollzug» gelten alle Handlungen zur Umsetzung des LMG, das heisst

nebst dem Durchsetzen des Gesetzes durch das Verfügen von Massnahmen beispiels-

weise auch das Vorbereiten der Rechtsetzung sowie die Rechtsetzung selbst oder das

Erteilen von Bewilligungen.

Ebenfalls neu ist, dass in Absatz 1 zwischen Daten natürlicher und juristischer Perso-

nen unterschieden und das Bearbeiten von Geschäfts- und Fabrikationsgeheimnissen

explizit aufgeführt wird. Alle erwähnten Daten und Informationen dürfen nur von den

mit dem Vollzug der Lebensmittelgesetzgebung beauftragten Behörden und Dritten

nach Artikel 69 bearbeitet werden (s. oben) und nur zur Wahrnehmung ihrer Aufga-

ben nach diesem Gesetz (Bst. a) oder zur Erfüllung von Aufgaben, die ihnen im Rah-

men dieses Gesetzes gestützt auf völkerrechtliche Verträge übertragen worden sind

(Bst. b). Während Buchstabe a schon im bisherigen Recht gegolten hat, ist Buch-

stabe b neu, beziehungsweise eine Konkretisierung und Erweiterung von Artikel 45

Absatz 1 LMG, wonach die Bundesbehörden mit ausländischen und internationalen

Fachstellen und Institutionen zusammenarbeiten und die Aufgaben wahrnehmen, die

sich aus den völkerrechtlichen Verträgen ergeben.

Absatz 2 entspricht Artikel 59 Absatz 2 LMG und wird unverändert übernommen.

Art. 74

Betriebsanalysen bei begründetem Verdacht

Mit den ihnen zur Verfügung stehenden rechtlichen Instrumenten ist es für die Voll-

zugsbehörden heute oft schwierig, bei einem Verdacht, dass ein Lebensmittel- oder

Gebrauchsgegenständebetrieb betrügerische oder irreführende Praktiken anwendet,

die Staatsanwaltschaft zur Aufnahme eigener Untersuchungen zu veranlassen. Um in

solchen Fällen die Beweislage zu verbessern, gibt Absatz 1 den Vollzugsbehörden die

Kompetenz, eine Betriebsanalyse durchzuführen. Diese soll ihnen ermöglichen, ge-

gebenenfalls gezielte Kontrollen durchzuführen und bei Bestätigung des Verdachts

den Fall im Hinblick auf die Eröffnung einer Untersuchung der Staatsanwaltschaft zu

übergeben. Bei Bedarf sollen hierfür auch Expertinnen oder Experten nach Artikel 62

Absatz 2 beigezogen werden können. Den Vollzugsbehörden und -organen nach Ar-

tikel 62 Absatz 3 sowie Dritten nach Artikel 69 steht das Recht, bei begründetem Ver-

dacht eine Betriebsanalyse durchzuführen, nicht zu.

Voraussetzung zur Vornahme einer Betriebsanalyse ist einerseits, dass ein begründe-

ter Verdacht vorliegt und andererseits, dass ein Betrieb systematisch und in erhebli-

chem Ausmass gegen die Lebensmittelgesetzgebung verstösst. Weiter soll sie nur er-

folgen

dürfen,

wenn

sie

zum

Ziel

hat,

Widerhandlungen

gegen

die

769 / 931

Lebensmittelgesetzgebung vorzubeugen (Bst. a), Erkenntnisse über die Wahrschein-

lichkeit der Begehung einer Widerhandlung gegen dieses Gesetz und über deren Aus-

mass zu gewinnen (Bst. b) oder koordinierte Kontrollen und Kampagnen vorzuberei-

ten (Bst. c). Die Durchführung von Betriebsanalysen zu anderen Zwecken ist nicht

zulässig.

Absatz 2 gibt den Vollzugsbehörden die Kompetenz, zur Durchführung einer Be-

triebsanalyse auch Daten zu den Finanz- und den Warenflüssen von Lebensmittel-

und Gebrauchsgegenständebetrieben zu bearbeiten (Bst. a), Personendaten über ver-

waltungs- und strafrechtliche Verfolgungen oder Sanktionen (Bst. b), Daten juristi-

scher Personen über verwaltungs- und strafrechtliche Verfolgungen oder Sanktionen

(Bst. c) sowie Daten zu Geschäfts- und Fabrikationsgeheimnissen (Bst. d).

Daten, die auf einer Betriebsanalyse beruhen, dürfen die Vollzugsbehörden auch für

weitere Betriebsanalysen verwenden (Abs. 3). Dies ist deshalb wichtig, weil betrüge-

rische oder irreführende Praktiken mehrere Betriebe betreffen können, die mit den

betroffenen Lebensmitteln oder Gebrauchsgegenständen Handel treiben oder diese

herstellen. Nur so kann sichergestellt werden, dass wirksam und koordiniert gegen

solche Machenschaften vorgegangen werden kann.

Viele Daten, die im Zusammenhang mit Betriebsanalysen gewonnen werden, fallen

nicht in die Kategorie der besonders schützenswerten Personendaten beziehungsweise

der besonders schützenswerten Daten von juristischen Personen (z. B. Informationen

zu den Produktionsabläufen oder die betriebsinterne Organisation). Absatz 4 gibt dem

Bundesrat deshalb die Kompetenz, die Bearbeitung auch solcher Daten zu regeln.

Art. 75

Amtshilfe

Das Durchsetzen der lebensmittelrechtlichen Vorgaben sowie das Verhindern von Le-

bensmittelbetrug setzt voraus, dass den Lebensmittelvollzugsbehörden die hierfür er-

forderlichen Instrumente zur Verfügung stehen. In Zeiten zunehmender Internationa-

lisierung des Warenverkehrs sowie angesichts der wachsenden Komplexität der

Lieferketten kommt dem Informationsaustausch zwischen den am Vollzug der Le-

bensmittelgesetzgebung beteiligten Stellen eine grosse Bedeutung zu.

Mit drei überwiesenen Motionen hat auch das Parlament den Willen bekundet, einen

angemessenen rechtlichen Rahmen für ein zielgerichtetes Vorgehen gegen Lebens-

mittelbetrug schaffen zu wollen (s. Ziff. 2.12.9.4 oben). Der gegenüber dem bisheri-

gen Artikel 60 LMG erweiterte Artikel 75 zielt darauf ab, diesen Anliegen Rechnung

zu tragen. Der Verhältnismässigkeitsgrundsatz wird dabei berücksichtigt.

Gegenüber dem bisherigen Artikel 60 LMG neu ist die Sachüberschrift, die nicht

mehr wie bisher auf den Austausch von Vollzugsdaten fokussiert, sondern in breiterer

Weise auf die Amtshilfe.

Die Pflicht, Amtshilfe zu leisten beziehungsweise die gewünschten Informationen

und Daten zu übermitteln, betrifft die mit dem Vollzug der Lebensmittelgesetzgebung

beauftragten Behörden, die Vollzugsbehörden und -organe nach Artikel 62 Absatz 3

sowie die mit öffentlichen Aufgaben beauftragten Dritten nach Artikel 69 (Abs. 1).

Darunter sind diejenigen Stellen zu verstehen, die auch bereits in Artikel 60 Absatz 1

LMG adressiert werden.

770 / 931

Absatz 2 listet diejenigen Daten auf, welche die Stellen nach Absatz 1 einander auf

Anfrage bekannt zu geben haben. Deren Herausgabe darf von der einfordernden Stelle

jedoch nur dann verlangt werden, wenn die Daten für die Wahrnehmung ihrer Aufga-

ben nach diesem Gesetz erforderlich sind oder wenn die Erfüllung von Aufgaben, die

ihnen im Rahmen dieses Gesetzes gestützt auf völkerrechtliche Verträge übertragen

worden sind, dies verlangt. Zur «Wahrnehmung ihrer Aufgaben nach diesem Gesetz»

gehören auch Informationen und Daten, die der zuständigen Vollzugsbehörde in ei-

nem konkreten Fall ermöglichen, betrügerische oder irreführende Praktiken aufzude-

cken.

Sind die Voraussetzungen nach Absatz 2 gegeben, haben sich die Stellen nach Ab-

satz 1 Daten zu Geschäfts- und Fabrikationsgeheimnissen zwar bekannt zu geben,

nach aussen hat die empfangende Behörde diese aber zu wahren (Abs. 3).

Die multidisziplinäre Zusammenarbeit ist Voraussetzung für einen effizienten Voll-

zug der Lebensmittelgesetzgebung. Namentlich das Bekämpfen betrügerischer oder

irreführender Praktiken bedingt, dass ein reibungsloser und schneller Austausch von

Daten und Informationen zwischen den Bundesbehörden, den Kantonen und Dritten

gewährleistet ist. Dieser darf sich nicht nur auf die zuständigen Behörden beschrän-

ken, sondern muss breit und auf die Situation angepasst vorgenommen werden kön-

nen. Wird das BLV zum Beispiel informiert, dass in der Schweiz aus dem Ausland

importierter billiger Wein umgefüllt und neu etikettiert wurde und dessen Vertrieb

über den Internet-Handel erfolgt, so muss es die Möglichkeit haben, solche Informa-

tionen mit den zuständigen kantonalen Lebensmittelkontrollbehörden, der Schweizer

Weinhandelskontrolle, dem Bundesamt für Landwirtschaft sowie dem fedpol zu tei-

len, um gegebenenfalls weitere Hintergrundinformationen zu erhalten. Sind diese

Möglichkeiten nicht gegeben, ermittelt jede Behörde – wenn sie vom Sachverhalt

überhaupt Kenntnis hat – in ihrem Zuständigkeitsbereich selbständig, ohne über den

Gesamtüberblick zu verfügen. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls wichtig, dass

der Informationsaustausch zwischen den zuständigen Verwaltungsbehörden und den

Strafbehörden funktioniert.

Absatz 4 legt deshalb fest, dass die darin aufgelisteten Behörden und Dritten berech-

tigt sind, den Stellen nach Absatz 1 auf Anfrage diejenigen Informationen bekanntzu-

geben, welche diese zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben nach der Lebensmittelgesetz-

gebung benötigen. Der Informationsfluss und die Unterstützung sollen ohne

vorgängige Einräumung des rechtlichen Gehörs an die betroffene Person zulässig sein

und unbesehen davon, ob die zu vermittelnde Information ein hängiges oder ein ab-

geschlossenes Verfahren betrifft.

Die in Absatz 4 aufgeführten Stellen sollen sich nicht nur mit den Stellen nach Ab-

satz 1 austauschen können, sondern auch untereinander (Abs. 5). Absatz 5 enthält je-

doch keine Verpflichtung zur Amtshilfe, wie sie in Absatz 1 für die mit dem Vollzug

der Lebensmittelgesetzgebung beauftragten Stellen festgelegt ist.

Absatz 6 entspricht dem bisherigen Artikel 60 Absatz 2 LMG.

771 / 931

Art. 76

Datenaustausch mit dem Ausland und mit internationalen

Organisationen

Diese Bestimmung entspricht dem bisherigen Artikel 61 LMG. Wegen der künftigen

direkten Anwendung der Verordnung (EU) 2017/625 gestützt auf Anhang I des Pro-

tokolls zur Lebensmittelsicherheit richtet sich der Datenaustausch mit der Europäi-

schen Kommission und den EU-Mitgliedstaaten für Lebensmittel und Bedarfsgegen-

stände neu nach dieser Verordnung (s. deren Art. 102 ff). Der Schweiz kommen dabei

dieselben Rechte und Pflichten zu wie den EU-Mitgliedstaaten. Bei den übrigen Ge-

brauchsgegenständen sowie im Verhältnis zu Drittstaaten und internationalen Orga-

nisationen richtet sich der Datenaustausch nach Artikel 76. Gegenüber heute ändert

sich diesbezüglich nichts.

Art. 77

Informationssystem des BLV

Der bisherige Artikel 62 LMG wurde auf drei Artikel aufgeteilt. Neu wird in Arti-

kel 77 das Informationssystem des BLV eingeführt und beschrieben, in Artikel 78

werden die Datenbearbeitung und die Zugriffsrechte geregelt und in Artikel 79 die

Nutzung des Informationssystems durch die Kantone.

Artikel 77 entspricht inhaltlich dem bisherigen Artikel 62 Absätze 1–3 und 6 LMG.

Das BLV betreibt auch weiterhin ein Informationssystem zur Gewährleistung der Si-

cherheit und der Hygiene von Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen sowie des

Täuschungsschutzes im Rahmen seiner Aufgaben nach diesem Gesetz, zur Unterstüt-

zung der Vollzugsaufgaben von Bund und Kantonen sowie zur nationalen und inter-

nationalen Berichterstattung.

Durch das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit wird die Schweiz neu in das Informa-

tionsmanagementsystem der EU für amtliche Kontrollen (IMSOC), das aus den Kom-

ponenten iRASFF, ADIS, EUROPHYT und TRACES besteht und für die Durchfüh-

rung der gemäss der Verordnung (EU) 2017/625 vorgesehenen amtlichen Kontrollen

erforderlich ist, eingebunden sein. Gemäss Artikel 131 dieser Verordnung bezweckt

das System die integrierte Handhabung der Verfahren und Werkzeuge, mit denen die

Daten, Informationen und Unterlagen betreffend die amtlichen Kontrollen und andere

amtliche Tätigkeiten verwaltet, bearbeitet und automatisch ausgetauscht werden. Es

ist für das Funktionieren des gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums

EU/Schweiz von zentraler Bedeutung.

Art. 78

Datenbearbeitung im Informationssystem des BLV und

Zugriffsrechte

Absatz 1 entspricht dem bisherigen Artikel 62 Absatz 4 LMG. Neu werden jedoch die

Datenbearbeitungsrechte der die kantonalen Vollzugsbehörden nach Artikel 62 Ab-

satz 3 separat aufgeführt.

Absatz 2 entspricht dem bisherigen Artikel 62 Absatz 5 LMG. Diejenigen Behörden,

die nach Absatz 1 Buchstaben a–c das Recht zur Bearbeitung von Daten haben, haben

ebenfalls das Recht, die Daten, die sie bearbeiten dürfen, abzurufen. Sie werden in

Absatz 2 Buchstabe a deshalb nicht mehr explizit genannt, haben im Rahmen ihrer

772 / 931

Bearbeitungsrechte jedoch auch das Recht, die entsprechenden Daten abzurufen. Die

Buchstaben b–d entsprechen Artikel 62 Absatz 5 Buchstaben d–g.

Art. 79

Nutzung des Informationssystems des BLV durch die Kantone

Diese Bestimmung entspricht inhaltlich Artikel 62 Absatz 7 LMG.

10. Kapitel: Strafbestimmungen und Rechtsschutz

1. Abschnitt: Strafbestimmungen

Art. 80

Vergehen und Verbrechen

Die Absätze 1 und 4 dieser Bestimmung entsprechen Artikel 63 LMG.

In Absatz 2 wurde die Bereicherungsabsicht nicht aus dem bisherigen Artikel 63 Ab-

satz 2 übernommen, weil lediglich die Gewerbsmässigkeit als qualifizierte Form der

Bereicherung die Einstufung als Verbrechen rechtfertigt. Zudem ist davon auszuge-

hen, dass in vielen Fällen eine Bereicherungsabsicht das Motiv zur Begehung einer

Widerhandlung nach Absatz 1 darstellt.

In Absatz 3 wurden die 180 Tagessätze des bisherigen Artikel 63 Absatz 2 gestrichen,

da die Obergrenze generell 180 Tagessätze beträgt (Art. 34 Abs 1 StGB).

Betreffend Lebensmittel und Bedarfsgegenstände verlangt Artikel 139 der Verord-

nung (EU) 2017/625, dass die Mitgliedstaaten und künftig auch die Schweiz die Sank-

tionen bei Verstössen gegen diese Verordnung regeln und alle erforderlichen Mass-

nahmen ergreifen, um deren Umsetzung sicherzustellen. Diese Sanktionen müssen

wirksam, verhältnismässig und abschreckend sein. Mit der Übernahme des bisherigen

Artikels 63 LMG in den VE-LMG kommt die Schweiz dieser Verpflichtung nach.

Art. 81

Übertretungen

Der bisherige Artikel 64 LMG wird weitgehend unverändert in den VE-LMG über-

nommen.

Zu einer Ergänzung des bisherigen Wortlauts kommt es in Absatz 1 Buchstabe g: Für

Betreiberinnen von Hosting-Diensten und Online-Plattformen sowie Betriebe, die Le-

bensmittel und Gebrauchsgegenstände mit Einsatz von Fernkommunikationstechni-

ken anbieten, gelten künftig neue Informations- und Auskunftspflichten gegenüber

der zuständigen Vollzugsbehörde (s. Art. 37 Abs. 1 und 2 VE-LMG). Wird gegen

diese Pflichten verstossen, soll dies auch strafrechtliche Folgen haben. Dies gilt eben-

falls für Personen, die Lebensmittel oder Gebrauchsgegenstände im Ausland in Ver-

kehr bringen und ihrer Auskunftspflicht nach Artikel 38 nicht nachkommen. Die Ver-

letzung der Unterstützungs-, Informations- und Auskunftspflicht nach Artikel 34

(Art. 29 LMG) fällt auch weiterhin unter Buchstabe g.

773 / 931

Buchstabe h sieht vor, dass

Unternehmerinnen oder Unternehmer, die Lebensmittel

oder Gebrauchsgegenstände mit Einsatz von Fernkommunikationstechnik anbieten,

und unwahre oder unvollständige Angaben über ihre Identität und ihre Kontaktadresse

einschliesslich derjenigen der elektronischen Post machen, ebenfalls nach Artikel 81

bestraft werden.

Mit betrügerischen oder irreführenden Praktiken können hohe, unrechtmässige Ge-

winne erzielt werden. Die Eidgenössische Kommission für Konsumentenfragen

(EKK) hat sich in ihrer Empfehlung vom 29. April 2021 betreffend

Food Fraud

720

mit den Problemen, die im Zusammenhang mit betrügerischen Machenschaften ent-

lang der Lebensmittelkette entstehen können, vertieft auseinandergesetzt. Sie ist dabei

zur Erkenntnis gelangt, dass die geltenden Strafbestimmungen nur wenig abschre-

ckende Wirkung haben. Hauptgrund ist, dass die Strafgerichte oft nur sehr geringe

Bussen verhängen. Bei Verstössen gegen Artikel 81 wird bei gewerbsmässig handeln-

den Tätern die Bussenobergrenze deshalb von 80 000 auf 200 000 Franken angehoben

(Abs. 2). Die Bereicherungsabsicht des bisherigen Artikels 64 Absatz 2 LMG wurde

gestrichen (vgl. Art. 80 Abs. 2).

Abschreckendere Strafen werden auch in den vom Parlament überwiesenen Motionen

21.3691 Munz Stopp dem Lebensmittelbetrug und 21.3936 Michaud Gigon Ver-

stärkte Anstrengungen zur Bekämpfung von Lebensmittelbetrug gefordert. Durch die

Erhöhung des Strafrahmens von Absatz 2 wird diesem Anliegen entsprochen.

Art. 82

Widerhandlungen in Geschäftsbetrieben, Urkundefälschung

Diese Bestimmung entspricht Artikel 65 LMG. Sie wird unverändert übernommen.

Art. 83

Strafverfolgung

Absatz 1 bleibt gegenüber dem geltenden Recht (Art. 66 Abs. 1 LMG) unverändert.

Nicht übernommen aus dem geltenden Recht wird Absatz 2 von Artikel 66, da die

Strafbehörden ohnehin verpflichtet sind, Verfahren einzuleiten, wenn ihnen Ver-

dachtsgründe bekannt werden (Art. 7 Abs. 1 der Strafprozessordnung [StPO]

721

).

Zur Umsetzung der drei vom Parlament überwiesenen Motionen zur Bekämpfung von

Lebensmittelbetrug (s. Ziff. 2.12.9.4) wird im Sinne von Artikel 104 Absatz 2 StPO

vorgeschlagen, die Parteirechte des BLV, das für die Aufsicht des Bundes über den

kantonalen Vollzug zuständig ist, auszubauen. Nach dieser Bestimmung kann der

Bund Behörden, welche öffentliche Interessen zu wahren haben, volle oder be-

schränkte Parteirechte einräumen. Neu soll das BLV die Möglichkeit haben, Rechts-

mittel gegen Nichtanhandnahme- und Einstellungsverfügungen sowie gegen Strafbe-

fehle und im Strafpunkt gegen Urteile zu ergreifen (Abs. 2 Bst. a–c).

720

www. konsum.admin.ch > Eidg. Kommission für Konsumentenfragen (EKK) > Empfeh-

lungen > Legislaturperiode 2020-2023 > Empfehlung der Eidgenössischen Kommission

für Konsumentenfragen (EKK) vom 27. Oktober 2022 betreffend Vertrieb von Lebensmit-

teln im Onlinehandel: Zeitgemässe Instrumente für den Schutz von Konsumentinnen und

Konsumenten.

721

SR

312.0

774 / 931

Der Absatz 3 bleibt gegenüber dem geltenden Recht unverändert (bisheriger Art. 66

Abs. 3 LMG).

Der Artikel 66 Absatz 4 LMG wird nicht übernommen, da im Rahmen der Totalrevi-

sion des Zollgesetzes vorgesehen ist, dass diese Bestimmung aufgehoben wird.

Art. 84

Verjährung bei Übertretungen

Neu wird die Verjährung bei Übertretungen separat in Artikel 84 geregelt. Ebenfalls

neu ist, dass die Verjährungsfrist für Übertretungen von drei auf fünf Jahre erhöht

wird. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass die dreijährige Verjährungsfrist nach

Artikel 109 StGB insbesondere dann nicht ausreicht, wenn komplexe Sachverhalte

abzuklären sind, die zwischen Täuschungsverbot nach Artikel 18 beziehungsweise 64

LMG und Betrug nach Artikel 146 StGB angesiedelt sind. Wird beispielsweise ein

Verfahren wegen Betrugs eingestellt, weil nicht alle Tatbestandselemente erfüllt sind

und müsste danach eines wegen Verstosses gegen das Täuschungsverbot beziehungs-

weise die Erfüllung des Straftatbestands nach Artikel 64 LMG in die Wege geleitet

werden, ist dies wegen der kurzen Verjährungsfrist von drei Jahren oft gar nicht mehr

möglich und die Täterin oder der Täter geht straffrei aus.

Art. 85

Mitteilung von Strafentscheiden

Artikel 85 wird neu eingeführt, da die Parteirechte des BLV neu ausgebaut werden

sollen und das BLV unverzüglich Kenntnis der kantonalen Urteile, Strafbefehle,

Nichtanhandnahme- und Einstellungsverfügungen haben muss (vgl. Art. 83 Abs. 2).

Artikel 3 Ziffer 19 der Verordnung vom 10. November 2004

722

über die Mitteilung

kantonaler Strafentscheide kann somit aufgehoben werden.

2. Abschnitt: Rechtsschutz

Art. 86

Einspracheverfahren

Absatz 1 entspricht Artikel 67 LMG. Weil es wenig Sinn macht, die Einsprachefrist

in einem separaten Artikel zu regeln (bisher Art. 70 Abs. 1 LMG), wird sie neu in die

Bestimmung über das Einspracheverfahren aufgenommen (Abs. 2). Inhaltlich ändert

sich nichts.

Art. 87

Zweites Sachverständigengutachten

Das EU-Recht sieht in Artikel 35 der Verordnung (EU) 2017/625 die Möglichkeit der

Einholung eines zweiten Sachverständigengutachtens vor. Nach dem Erwägungs-

grund 48 dieser Verordnung soll dieses Recht den Unternehmerinnen und Unterneh-

722

SR

312.3

775 / 931

mern ermöglichen, auf ihre Kosten eine Überprüfung der Unterlagen über die ur-

sprüngliche Probenahme oder Analyse, den ursprünglichen Test oder die ursprüngli-

che Diagnose durch eine andere sachverständige Person sowie eine zweite Analyse,

einen zweiten Test oder eine zweite Diagnose der ursprünglich ausgewählten Teile

der Probenahme verlangen zu können. Dieses Recht soll einzig dann nicht bestehen,

wenn sich eine solche zweite Analyse beziehungsweise ein solcher zweiter Test oder

eine solche zweite Diagnose als technisch nicht möglich oder unerheblich erweist.

Wegen der künftigen direkten Anwendung der Verordnung (EU) 2017/625 gilt Arti-

kel 35 bei Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen auch für die Schweiz (Abs. 1).

Wird für Lebensmittel und Bedarfsgegenstände das Recht auf ein zweites Sachver-

ständigengutachten eingeführt, ist es sachdienlich, dies auch für die übrigen Ge-

brauchsgegenstände vorzusehen. Absatz 2 erklärt Absatz 1 deshalb sinngemäss auch

auf die übrigen Gebrauchsgegenstände für anwendbar.

Artikel 35 Absatz 3 der Verordnung (EU) 2017/625 gibt den Mitgliedstaaten und mit

Inkrafttreten des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit auch der Schweiz die Mög-

lichkeit, bei Streitigkeiten mit der zuständigen Vollzugsbehörde aufgrund des zweiten

Sachverständigengutachtens auf eigene Kosten eine Überprüfung der Unterlagen über

die ursprünglichen Analysen, Tests oder Diagnosen und gegebenenfalls weitere Ana-

lysen, Tests oder Diagnosen durch ein anderes amtliches Laboratorium zu beantragen.

Absatz 3 übernimmt dieses Recht in den VE-LMG.

Die Möglichkeit, ein zweites Sachverständigengutachten zu verlangen, soll auch Be-

trieben offenstehen, die ihre Produkte mit Einsatz von Fernkommunikationstechniken

vertreiben. Bei dieser Vertriebsform setzt dies voraus, dass die zuständige Vollzugs-

behörde die Probemenge so bemisst, dass sie nicht nur für die vorgesehene Untersu-

chung, sondern auch für allfällige Nachprüfungen ausreicht (Art. 35 Abs. 2 Bst. a der

Verordnung (EU) 2017/625).

Das Recht auf ein zweites Sachverständigengutachten erstreckt sich auf Probenah-

men, Analysen, Tests und Diagnosen, die im Rahmen amtlicher Kontrollen durchge-

führt werden. Es gilt nicht in Bezug auf andere amtliche Tätigkeiten.

Zudem wirkt sich dieses Recht nicht auf die Verpflichtung der zuständigen Vollzugs-

behörde aus, falls erforderlich, Sofortmassnahmen zu treffen, um die Gesundheit der

Verbraucherinnen und Verbraucher zu schützen oder sie vor Täuschung zu bewahren

(Abs. 4).

Die dem Bundesrat in Absatz 5 Buchstabe a eingeräumte Kompetenz, die Einzelhei-

ten der Durchführung eines zweiten Sachverständigengutachtens zu regeln, ermög-

licht ihm unter anderem, zu präzisieren, in welchen Fällen eine zweite Analyse, ein

zweiter Test oder eine zweite Diagnose der ursprünglich ausgewählten Teile der Pro-

benahme relevant, angemessen und technisch möglich ist (s. Art. 35 Abs. 2 erster Satz

der Verordnung (EU) 2017/625). Zusätzlich soll geregelt werden, in welchen Fällen

der Anspruch besteht, ein solches Gegengutachten durch ein anderes amtliches Labo-

ratorium durchführen zu lassen (Art. 35 Abs. 3 der Verordnung (EU) 2017/625).

Auch die Handhabung bei der Lagerung zusätzlicher Probenmengen, die zum Zweck

einer zusätzlichen Analyse erhoben werden, muss geregelt werden. Insbesondere soll

776 / 931

der Bundesrat die Kompetenz haben, zu regeln, wer diese Warenproben lagert und

wer die Lagerungskosten trägt (Bst. b).

Schliesslich soll der Bundesrat auch die Kompetenz haben, zu regeln, wie lange vom

Recht auf ein Gegengutachten nach dem Erlass einer Verfügung noch Gebrauch ge-

macht werden kann (Bst. c).

Art. 88

Bundesrechtspflege

Diese Bestimmung entspricht Artikel 68 LMG und wird unverändert übernommen.

Art. 89

Kantonales Verfahren

Auch diese Bestimmung wird unverändert aus dem bisherigen Recht übernommen (s.

Art. 69 LMG).

Art. 90

Beschwerdefrist

Wie unter Artikel 86 ausgeführt wird die bisher in Artikel 70 Absatz 1 geregelte Frist

für das Erheben von Einsprachen gegen Verfügungen über Massnahmen sowie Be-

scheinigungen über die Konformität nach diesem Gesetz wegen des engeren Sachzu-

sammenhangs in die Bestimmung über das Einspracheverfahren verschoben. An der

Frist von 30 Tagen für Beschwerden gegen Einspracheentscheide ändert sich nichts.

Art. 91

Aufschiebende Wirkung und vorsorgliche Massnahmen

Bezüglich des Entzugs der aufschiebenden Wirkung sowie des Treffens vorsorglicher

Massnahmen durch die verfügende Vollzugsbehörde oder die Beschwerdeinstanz än-

dert sich ebenfalls nichts. Der bisherige Artikel 71 LMG wird inhaltlich unverändert

übernommen.

11. Kapitel: Schlussbestimmungen

Art. 92

Aufhebungen und Änderungen anderer Erlasse

Da es sich beim vorliegenden VE-LMG um eine Totalrevision des bisherigen LMG

handelt, kann dieses Gesetz mit Inkrafttreten des totalrevidierten Gesetzes aufgehoben

werden.

Art. 93

Referendum und Inkrafttreten

Diese Bestimmung entspricht der üblichen Schlussformel. Für die Anwendung sind

zahlreiche Ausführungsbestimmungen auf Verordnungsstufe notwendig. Der Bun-

desrat wird das Gesetz erst in Kraft setzen können, wenn diese vorliegen.

777 / 931

2.12.9.6

Auswirkungen dieses Umsetzungserlasses

2.12.9.6.1

Auswirkungen auf den Bund

Aufgrund der mit dem Protokoll zur Lebensmittelsicherheit erfolgten Veränderungen

ist es sinnvoll, eine Totalrevision des Lebensmittelrechts vorzunehmen. Während des

Revisionsprozesses resultiert ein personeller Mehraufwand. Anschliessend ergeben

sich aufgrund der direkten Anwendung von neuem EU-Recht im Geltungsbereich des

Protokolls zur Lebensmittelsicherheit gegenüber heute Einsparungen bei der Recht-

setzung.

Weiter ergeben sich Einsparungen dadurch, dass Prozesse wie Zulassungsverfahren

für neuartige Lebensmittel

723

oder gesundheitsbezogene Angaben

724

künftig von der

EFSA und der Europäischen Kommission wahrgenommen werden.

Diesen Einsparungen stehen neue Aufgaben und entsprechend Aufwände gegenüber.

Es kann erst im Rahmen der Umsetzung auf Verordnungsstufe präzise abgeschätzt

werden, welchen Aufwand die neuen Aufgaben ergeben im Vergleich zu den Aufga-

ben, die durch das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit wegfallen.

2023 wurde eine Regulierungsfolgenabschätzung (RFA) durchgeführt, die einzelne

Punkte des vorliegenden VE-LMG betrifft, namentlich die Kontrolle des Online-Han-

dels, die Bekämpfung von Lebensmittelkriminalität sowie die sogenannten «dynami-

schen» Verweise auf EU-Recht im Schweizer Recht (s. Art.

5

7

Abs.

3 VE-LMG).

Daraus ging hervor, dass die Regelung des Online-Handels beim BLV einen geringen

Mehraufwand generiert aufgrund der Weiterleitung von Informationen zu nicht kon-

formen ausländischen Online-Shops. Die Neuregelung zum Lebensmittelbetrug wird

beim BLV einen personellen Mehraufwand ergeben für die Koordination der Kantone

und allfälliger Massnahmen. Der effektive Aufwand ist von der Anzahl der gemelde-

ten Betrugsfälle abhängig

.

Bei den dynamischen Verweisen kommt die RFA zum

Schluss, dass relevante Einsparungen beim administrativen Aufwand des BLV erzielt

werden können.

2.12.9.6.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf

urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

Materiell führt die vorliegende Änderung der Lebensmittelgesetzgebung zu keinen

grossen Anpassungen, da das schweizerische Lebensmittelrecht schon bisher auf das-

jenige der EU abgestimmt wurde. Auch die Organisation des Vollzugs erfährt keine

Veränderung.

723

Verordnung (EU) 2015/2283 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Novem-

ber 2015 über neuartige Lebensmittel, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011

des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr.

258/97 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Verordnung (EG) Nr.

1852/2001 der Kommission, ABl. L 327 vom 11.12.2015, S. 1, geändert durch Verord-

nung (EU) 2019/1381 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019,

ABl. L 231 vom 6.9.2019, S. 1.

724

Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. De-

zember 2006 über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel, ABl. L

404 vom 30.12.2006, S. 9, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 1169/2011 des Euro-

päischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011, ABl. L 304, 22.11.2011, S. 18.

778 / 931

Die kantonalen Vollzugsbehörden werden angeordnete Massnahmen in den vom Pro-

tokoll zur Lebensmittelsicherheit abgedeckten Bereichen neu direkt auf das im Proto-

koll zur Lebensmittelsicherheit integrierte EU-Recht abstützen. Für diese Umstellung

sind Schulungen erforderlich, die in einer ersten Phase vom BLV durchzuführen sind.

In einer späteren Phase wird der kantonale Vollzug diese Schulungen selbst durchfüh-

ren können.

Die künftige direkte Anwendung des im Protokoll zur Lebensmittelsicherheit inte-

grierten EU-Rechts führt bei den kantonalen Vollzugsstellen zu keinen nennenswer-

ten Veränderungen. Die Vollzugsaufgaben ändern sich weder in der Frequenz noch

der Vorgehensweise.

Die auszubauende Kontrolle des Online-Handels und die verbesserte Bekämpfung

von Lebensmittelbetrug wird einen gewissen Mehraufwand erfordern. Dies sind je-

doch Bereiche, die unabhängig vom Abschluss des Protokolls zur Lebensmittelsicher-

heit an die Hand genommen wurden. Es ist damit zu rechnen, dass der Aufwand beim

Online-Handel zunehmen, aber die Anzahl der traditionellen Verkaufsstellen abneh-

men wird, die entsprechenden Kontrollen damit wegfallen und somit ein Teil des

Mehraufwandes kompensiert wird.

2.12.9.6.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Die künftige direkte Anwendung von EU-Recht im Geltungsbereich des Protokolls

zur Lebensmittelsicherheit verbessert die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für

Schweizer Unternehmen. Anpassungen der EU-Erlasse sind ohne Verzögerung auch

in der Schweiz anwendbar, was technischen Handelshemmnissen vorbeugt. Eine

transparente Information des BLV über bevorstehende Anpassungen und das Einbrin-

gen von Anliegen der Schweiz im Rahmen des

Decision Shaping

, sind Grundvoraus-

setzungen, damit den Unternehmen kein relevanter Mehraufwand entsteht. Unterneh-

men, die ihre Produkte in der Schweiz und in der EU in Verkehr bringen, profitieren,

weil sie sowohl in der Schweiz als auch in der EU jederzeit denselben Regelungen

unterstellt sind. Anpassungen der Verpackung oder Rezeptur erübrigen sich. Bishe-

rige Erfahrungen einer Rechtsharmonisierung gestützt auf dynamische Verweise im

Schweizer Recht im Bereich der Kosmetika bestätigen diese Einschätzung.

Die geplante Regulierung zum Online-Handel führt zur Klärung der rechtlichen Lage

und der Pflichten der Online-Händlerinnen und -Händler, hat aber keinen relevanten

Mehraufwand zur Folge. Grössere Online-Handelsbetriebe haben Kontrollmechanis-

men im Rahmen ihrer Selbstkontrolle bereits installiert und die Entfernung von nicht

konformen Produkten ist auch etabliert. Somit erwartet diese Akteure keine grösseren

Prozessanpassungen und auch kein relevanter Mehraufwand aus der Neuregelung. In-

formationen darüber, inwieweit kleinere Online-Plattformen und Fulfilment-Dienste

bereits über Kontrollmechanismen verfügen, liegen nicht vor. Auch bei diesen ist da-

von auszugehen, dass sie keine grösseren Schwierigkeiten haben werden.

Die Neuregelung zum Lebensmittelbetrug sollte keinen Mehraufwand für die Unter-

nehmen zur Folge haben, sofern sie ihren bereits geltenden gesetzlichen Verpflich-

tungen nachkommen und den möglichen Lebensmittelbetrug im Rahmen ihrer Selbst-

kontrolle berücksichtigen. Viele Lebensmittelbetriebe sind nach privatrechtlichen

Standards zertifiziert, bei denen Lebensmittelbetrug integriert ist. Betriebe, die ihre

779 / 931

Verantwortung im Rahmen der Selbstkontrolle nicht ausreichend wahrnehmen, müs-

sen zusätzliche Massnahmen ergreifen, was mit Mehraufwand verbunden sein kann.

Dieser Mehraufwand ist aber nicht der Neuregelung anzurechnen, sondern würde bei

einer korrekten Umsetzung der Selbstkontrolle bereits heute anfallen.

Es kann davon ausgegangen werden, dass die vorgeschlagenen Änderungen des LMG

das Wirtschaftswachstum und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen positiv be-

einflussen.

2.12.9.6.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Durch das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit wird in dessen Geltungsbereich si-

chergestellt, dass der Gesundheitsschutz in der Schweiz stets auf demselben Niveau

sein wird wie in den Nachbarstaaten. Zudem erfolgt aufgrund der Teilnahme an den

entsprechenden Informationssystemen der EU eine raschere Information bezüglich

nicht sicherer und gesundheitsgefährdender Produkte, welche vom Markt genommen

werden müssen.

Aktuell ist der Gesundheitsschutz in der Schweiz nicht immer auf demselben Niveau

wie in der EU, da die in den EU-Erlassen verankerten neuen Höchstwerte oder andere

für den Gesundheitsschutz relevante Vorschriften häufig erst Monate nach deren An-

wendung in der EU ins schweizerische Recht übernommen werden.

Die Anpassung der rechtlichen Rahmenbedingungen im Online-Handel an diejenigen

im physischen Verkauf ist positiv. Dadurch wird sichergestellt, dass die Verbrauche-

rinnen und Verbraucher unabhängig vom Verkaufskanal gleich gut geschützt sind.

Der verbesserte Informationsaustausch zwischen den Behörden ermöglicht gezieltere

Kontrollen und hilft mit, Verstösse gegen die Lebensmittelgesetzgebung besser zu

bekämpfen.

2.12.9.6.5

Auswirkungen auf die Umwelt

Der Umsetzungserlass im Bereich der Lebensmittelgesetzgebung hat keine Auswir-

kungen auf die Umwelt.

2.12.9.6.6

Andere Auswirkungen

Es sind keine anderen Auswirkungen zu erwarten.

2.12.9.7

Rechtliche Aspekte des Umsetzungserlasses

2.12.9.7.1

Verfassungsmässigkeit

Bundeskompetenz im Bereich der Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände

Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit zieht eine Totalrevision der Lebensmittel-

gesetzgebung nach sich (s. Ziff. 2.12.9.4). Nach Artikel 118 Absatz 2 BV erlässt der

Bund Vorschriften über «den Umgang mit Lebensmitteln sowie mit Heilmitteln, Be-

täubungsmitteln, Organismen, Chemikalien und Gegenständen, welche die Gesund-

heit gefährden können.» Der Bund hat in diesem Bereich eine umfassende Gesetzge-

bungskompetenz.

780 / 931

Soweit der VE-LMG den Zweck verfolgt, Verbraucherinnen und Verbraucher im Zu-

sammenhang mit Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen vor Täuschung zu

schützen (s. Art. 1 Bst. c VE-LMG), findet sich die diesbezügliche Verfassungsgrund-

lage in Artikel 97 Absatz 1 BV.

Auch Artikel 105 (Alkohol) gehört zu den kompetenzbegründenden Verfassungsbe-

stimmungen des VE-LMG. Diesbezüglich ist vorliegend (z. B. bei der Kontrolle des

Online-Handels) insbesondere von Bedeutung, dass der Bund den schädlichen Wir-

kungen des Alkoholkonsums Rechnung zu tragen hat.

Vereinbarkeit mit Grundrechten

Der VE-LMG greift in Grundrechte ein, so namentlich die Wirtschaftsfreiheit (Art. 27

BV) und die Eigentumsgarantie (Art. 26 BV). Gemäss Artikel 36 BV bedürfen Ein-

schränkungen von Grundrechten einer gesetzlichen Grundlage. Schwerwiegende Ein-

schränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein. Ausgenommen sind Fälle

ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr. Einschränkungen von

Grundrechten müssen durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von

Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein. Sie müssen zudem verhältnismässig sein und

dürfen den Kerngehalt der betroffenen Grundrechte nicht antasten.

Die im VE-LMG enthaltenen Regelungen zum Schutz der Gesundheit, dem Schutz

vor Täuschung sowie zur Information der Verbraucherinnen und Verbraucher greifen

nur soweit in die Grundrechte ein, als dies zum Erreichen der in Artikel 1 festgelegten

Ziele erforderlich ist. Zudem tragen sie dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz Rech-

nung

.

Der Anspruch auf ein zweites Sachverständigengutachten beim Vollzug (Art. 80)

ergibt sich aus Artikel 29 Absatz 1 BV, wonach jede Person in Verfahren vor Ge-

richts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung hat.

2.12.9.7.2

Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen

der Schweiz

In den Bereichen Lebensmittel und Bedarfsgegenstände sollen die im Anhang I des

Protokolls zur Lebensmittelsicherheit aufgeführten EU-Erlasse künftig direkt Anwen-

dung finden. Schon bisher hat die Schweiz ihr Recht im Rahmen des Landwirtschafts-

abkommens mit dem einschlägigen EU-Recht laufend harmonisiert. Dabei wurde die

Kompatibilität mit dem WTO-Recht bereits geprüft.

Soweit der VE-LMG Bestimmungen enthält, die aus dem geltenden Lebensmittel-

recht übernommen worden sind, kann ebenfalls davon ausgegangen werden, dass sie

WTO-rechtlich nicht zu Problemen führen werden. Weder bei deren Erlass 2014 noch

in den Jahren seither ist es bisher zu einem Streit betreffend ihre WTO-Kompatibilität

gekommen. Inwieweit das darauf abgestützte Verordnungsrecht WTO-kompatibel ist,

wird bei der Verabschiedung der betreffenden Verordnungen zu prüfen sein. Im Rah-

men des Abkommens werden keine Bereiche aus dem Lebensmittelrecht der EU ins

Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integriert, die nicht auch schon im Rahmen des

autonomen Nachvollzugs im Schweizer Lebensmittelrecht geregelt wurden.

781 / 931

Die übrigen Abkommen mit Vertragspartnern ausserhalb der EU und der Europäi-

schen Freihandelsassoziation beinhalten ebenfalls Marktzugangsverpflichtungen. Der

VE-LMG steht zu diesen Abkommen nicht im Widerspruch. Die Errichtung eines ge-

meinsamen Lebensmittelsicherheitsraums mit der EU bedingt, dass in der Schweiz in

den vom Protokoll zur Lebensmittelsicherheit abgedeckten Bereichen grundsätzlich

jederzeit dasselbe Recht gilt wie in der EU. Die Schweiz hat ihr Lebensmittelrecht

gestützt auf das Landwirtschaftsabkommen sowie im Rahmen des autonomen Nach-

vollzugs von EU-Recht schon bisher weitestgehend an dasjenige der EU angepasst.

Bisher haben sich daraus keine Probleme mit den Handelspartnern der Schweiz erge-

ben. Es kann davon ausgegangen werden, dass auch das vorliegende Protokoll zur

Lebensmittelsicherheit nichts daran ändert. Dies insbesondere auch deshalb, weil die-

ses im Bereich der Lebensmittelgesetzgebung ausschliesslich Anforderungen an die

Sicherheit von Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen festlegt. Tarifäre und andere

Aspekte, die gegebenenfalls zu Konflikten mit anderen Handelspartnern der Schweiz

führen könnten, sind nicht Bestandteil des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit.

2.12.9.7.3

Erlassform

Vorliegend wird ein Bundesgesetz totalrevidiert. Die Erlassform ist beizubehalten.

Zur Frage der Bündelung der Umsetzungsgesetzgebung, siehe Ziff. 4.3.

2.12.9.7.4

Vorläufige Anwendung

Es ist keine vorläufige Anwendung des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit vorge-

sehen. Dies gilt ebenfalls mit Bezug auf den VE-LMG.

2.12.9.7.5

Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV sieht zum Zweck der Ausgabenbegrenzung vor,

dass Subventionsbestimmungen sowie Verpflichtungskredite und Zahlungsrahmen,

die neue einmalige Ausgaben von mehr als 20 Millionen Franken oder wiederkeh-

rende Ausgaben von mehr als 2 Millionen Franken nach sich ziehen, in jedem der

beiden Räte der Zustimmung der Mehrheit aller Mitglieder bedürfen. Mit der Umset-

zung im Bereich der Lebensmittelgesetzgebung werden weder neue Subventionsbe-

stimmungen (die Ausgaben über einem der Schwellenwerte nach sich ziehen) ge-

schaffen, noch neue Verpflichtungskredite / Zahlungsrahmen (mit Ausgaben über

einem der Schwellenwerte) beschlossen.

Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der fiskalischen Äquivalenz

Die Umsetzung im Bereich der Lebensmittelgesetzgebung tangiert die Aufgabentei-

lung oder die Aufgabenerfüllung durch Bund und Kantone nicht.

Einhaltung der Grundsätze des Subventionsgesetzes

782 / 931

Mit der Umsetzung im Bereich der Lebensmittelgesetzgebung werden keine neuen

Subventionsbestimmungen geschaffen. Artikel 31 Absatz 4 wurde aus dem geltenden

Recht übernommen (Art. 24 Abs. 3 LMG).

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

Die Bestimmungen des VE-LMG legen die Grundsätze sowie alle Bereiche fest, die

gemäss Artikel 164 Absatz 1 BV einer Grundlage in einem formellen Gesetz bedür-

fen. Das im Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit gelistete EU-Recht

enthält teilweise sehr detaillierte Vorschriften, die den Rahmen dessen übersteigen,

was nach Artikel 164 Absatz 1 BV auf der Ebene eines formellen Gesetzes geregelt

werden muss. Nach Artikel 164 Absatz 2 BV können Rechtsetzungsbefugnisse durch

Bundesgesetz übertragen werden, soweit dies nicht durch die Bundesverfassung aus-

geschlossen wird.

Im Hinblick auf das Erreichen der Ziele nach Artikel 1 VE-LMG wird dem Bundesrat

in mehreren Delegationsbestimmungen die Kompetenz übertragen, die Einzelheiten

zu den auf Gesetzesstufe verankerten Grundsatzbestimmungen auf Verordnungsstufe

zu regeln. Der Spielraum bei der Wahrnehmung dieser Kompetenz wird künftig klei-

ner, da ins Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integriertes EU-Recht in der Schweiz

direkt angewendet wird.

Der Bereich der Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände ist stetem Wandel unterzo-

gen. Um das Recht stets auf dem neusten Stand von Technik und Wissenschaft halten

zu können, besteht ein ausgesprochenes Bedürfnis nach Flexibilität der Regelungen.

Hinzu kommt, dass sich die wirtschaftlichen und technologischen Entwicklungen

kaum voraussagen lassen. Der Umsetzung der Ziele nach Artikel 1 Buchstaben a und

b (Sicherheit der Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände, hygienischer Umgang mit

Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen) dienen folgende Artikel: 2 Absatz 5,

9 Absatz 2, 10 Absatz 2 Buchstabe c, 14 Absatz 2, 17 Absatz 3 Buchstaben a und b,

17 Absatz 4 Buchstabe a, 18 Absatz 2 Buchstaben a und b, 19 Absatz 3, 20 Absatz 3,

21 Absatz 3, 22 Absatz 2, 23 Absatz 1, 24, 25 Absätze 1 und 2, 26 Absatz 2, 32 Ab-

satz 3, 33 Absätze 5 und 6, 36 Absatz 3, 43 Absatz 2 sowie 44 Absätze 3 und 4.

Artikel 1 Buchstaben c und d nennen als Ziele des Lebensmittelgesetzes den Schutz

vor Täuschungen im Zusammenhang mit Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen

sowie die Bereitstellung der für den Erwerb von Lebensmitteln oder Gebrauchsgegen-

ständen notwendigen Informationen zuhanden der Verbraucherinnen und Verbrau-

cher. Auch in diesen Bereichen ist es wichtig, dass die Behörden Einzelheiten regeln

können, um zeitnah auf Veränderungen zu reagieren. Es handelt sich um folgende

Artikel: 12 Absatz 4 Buchstaben a, c und d, 12 Absatz 5 Buchstaben d und e, 13 Ab-

satz 3, 17 Absatz 3 Buchstaben c und d, 17 Absatz 4 Buchstabe b, 23 Absatz 2 und 34

Absatz 3.

Einzelne EU-Rechtsakte, die in Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit

aufgelistet sind und künftig auch für die Schweiz gelten, überlassen es den Mitglied-

staaten und künftig auch der Schweiz, die Einzelheiten zu regeln und gewisse Aus-

783 / 931

nahmen vorzusehen. Der VE-LMG überträgt dem Bundesrat in diesen Bereichen ent-

sprechende Regelungskompetenzen. Zudem muss dem Bundesrat ermöglicht werden,

gewisse Anpassungen vorzunehmen, sollte sich im betreffenden Bereich anderweitig

kurzfristig technischer Rechtsetzungsbedarf ergeben. Die erwähnten Regelungskom-

petenzen finden sich in: Artikel 10 Absatz 2 Buchstaben a und b, 10 Absatz 3, 11 Ab-

satz 4 Buchstabe a, 12 Absatz 4 Buchstabe b, 12 Absatz 5 Buchstaben a–c, 16 Ab-

satz 3 sowie 57 Absatz 3.

Auch die Organisation und Sicherstellung des Vollzugs erfordert das Regeln techni-

scher Einzelheiten, die einen Detailierungsgrad aufweisen, welcher nicht unter Arti-

kel 164 Absatz 1 BV fällt. Dasselbe gilt bezüglich der Zusammenarbeit mit dem Aus-

land und internationalen Organisationen. Im Einzelnen handelt es sich um folgende

Artikel: 6 Absatz 2, 15 Absatz 4, 27 Absatz 2, 37 Absatz 3, 41, 51 Absatz 2, 54 Ab-

sätze 2 und 3, 55, 56 Absatz 3, 57 Absatz 1, 63 Absatz 1, 65, 66 Absätze 2 und 4, 67

Absatz 1, 69 Absätze 4 und 5, 72 Absätze 3-5, 73 Absatz 2, 74 Absatz 4, 75 Absatz 6,

76 Absatz 1, 77 Absatz 4 sowie 87 Absatz 5.

2.12.9.7.6

Datenschutz

Der Vorentwurf zur Änderung des LMG enthält die Anpassungen im Rahmen der

Umsetzung des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit, insbesondere hinsichtlich des

in Anhang I dieses Protokolls aufgeführten EU-Rechts, und beschreibt die Grundsätze

und Rechtsgrundlagen in Bezug auf die Bearbeitung von Personendaten, wobei der

Bearbeitungszweck unverändert bleibt.

Der bisherige Artikel 60 LMG mit den Rechtsgrundlagen zur Bearbeitung von Perso-

nendaten wird erweitert (Art. 73 VE-LMG). Neu ist, dass auch die nicht mit dem Voll-

zug der Lebensmittelgesetzgebung beauftragten Stellen von Bund und Kantonen be-

rechtigt werden, denjenigen, die mit dem Vollzug der Lebensmittelgesetzgebung

beauftragt sind, die hierfür erforderlichen Informationen zukommen zu lassen. Dies

soll auch für Dritte gelten, die mit Aufgaben nach den Artikeln 14–16, 18, 64 und 180

LwG betraut sind.

Eine Betriebsanalyse bei begründetem Verdacht (VE-BArt. 74) hat die Risikobeurtei-

lung des Betriebs zum Ziel und dient nicht der Erstellung eines Risikoprofils von na-

türlichen Personen.

Ausserdem wurde ein rechtlicher Rahmen für die Bekanntgabe von Informationen

zwischen den Behörden geschaffen (VE-Art. 75). Das Ziel ist, einen schnellen und

effizienten Informationsaustausch innerhalb der von der Lebensmittelgesetzgebung

festgelegten Zwecke zu pflegen. Dazu wurden die Behörden und Vollzugsorgane, die

solche Daten austauschen können, eindeutig festgelegt. Der Austausch besonders

schützenswerter Daten erfolgt ausschliesslich auf Anfrage.

Gemäss Anhang I Abschnitt 2 Überschrift C des Protokolls zur Lebensmittelsicher-

heit gilt jeder Verweis auf die EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) bei eu-

ropäischen Regelungen als Verweis auf das Bundesgesetz vom 25. September 2020

784 / 931

über den Datenschutz (DSG), das gemäss Angemessenheitsfeststellung von Seiten der

EU (erneuert 2024)

725

ein angemessenes Mass an Datenschutz bietet.

Es werden auch Vollzugsbestimmungen erlassen mit dem Ziel, die Pflichten der Stel-

len zu definieren, die für die Bearbeitung von Daten verantwortlich sind, und um die

Rechte von Einzelpersonen insbesondere hinsichtlich der Vertraulichkeit zu sichern.

2.12.10

Umsetzung in der Landwirtschafts- und Waldgesetzgebung

2.12.10.1

Landwirtschafts- und Waldgesetzgebung

Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit regelt auch die Themenbereiche Tierzucht,

Pflanzengesundheit und Produktionsmittel. Diese sind im 6. und 7. Titel des Bundes-

gesetzes vom 29. April 1998

726

über die Landwirtschaft (Landwirtschaftsgesetz,

LwG) und im Bundesgesetz vom 4. Oktober 1991

727

über den Wald (Waldgesetz,

WaG) geregelt. Beide Gesetze und darauf abgestützte Ausführungserlasse müssen da-

her in diesen Bereichen angepasst werden. Die agrarpolitischen Instrumente sind vom

Abkommen nicht betroffen und die Schweiz bleibt in der Ausgestaltung der Agrarpo-

litik eigenständig.

In den Artikeln 141 LwG (Zuchtförderung) und 148 LwG (Ausführungsbestimmun-

gen zu Pflanzenschutz und Produktionsmitteln) soll auf den Anhang 1 des Protokolls

zur Lebensmittelsicherheit verwiesen werden. Damit soll aus dem LwG hervorgehen,

dass Anhang 1 des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit die in der Schweiz direkt

anwendbaren EU-Rechtsakte über die Tierzucht, den Pflanzenschutz und die Produk-

tionsmittel enthält.

Zudem wird darauf hingewiesen, dass der Bund in diesen Bereichen die erforderlichen

Ausführungsbestimmungen zum Protokoll zur Lebensmittelsicherheit erlassen kann.

Die in Artikel 154ff. LwG enthaltenen Regelungen, wer die Schadorganismenbe-

kämpfungen innerhalb der Schweiz durchzuführen hat und wie die Kosten getragen

und Abfindungen geregelt werden, bleiben bestehen. Auch der 8. Titel des LwG

(Rechtsschutz, Verwaltungsmassnahmen und Strafbestimmungen) bleibt unverän-

dert. Bei Widerhandlungen gegen Bestimmungen, auf die neu in den Artikeln 141 und

148 LwG verwiesen wird, können die gleichen Massnahmen ergriffen werden wie bei

den übrigen Widerhandlungen gegen das LwG und dessen Ausführungsbestimmun-

gen.

In den Bereichen der Pflanzengesundheit und der Produktionsmittel (Pflanzenver-

mehrungsmaterial) ist auch das Waldgesetz betroffen. Auch hier sind Anpassungen

nötig. Einerseits, um die künftige direkte Anwendung der in das Protokoll zur Lebens-

mittelsicherheit integrierten EU-Bestimmungen in Bezug auf die Massnahmen zur

Verhütung und Behebung von Schäden zu gewährleisten, die durch besonders gefähr-

liche Schadorganismen verursacht werden und andererseits, um einen reibungslosen

Vollzug sicherstellen zu können.

725

Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die erste Über-

prüfung der Wirkungsweise der Angemessenheitsfeststellungen gemäss Artikel 25 Absatz

6 der Richtlinie 95/46/EG, S. 15; COM(2024) 7 final.

726

SR

910.1

727

SR

921.0

785 / 931

Die künftige direkte Anwendung der ins Protokoll zur Lebensmittelsicherheit inte-

grierten einschlägigen EU-Bestimmungen zieht auch gewisse Anpassungen in den

entsprechenden Verordnungen nach sich: Viele Bestimmungen können aufgehoben,

andere müssen angepasst werden. Nachstehend werden die wichtigsten Anpassungen

im Verordnungsrecht pro Bereich aufgezeigt.

2.12.10.1.1

Pflanzengesundheit

Im Hinblick auf die Aktualisierung von Anhang 4 des Landwirtschaftsabkommens

wird das Schweizer Pflanzengesundheitsrecht regelmässig an das aktuell geltende

Pflanzengesundheitsrecht in der EU, die Verordnung (EU) 2016/2031 des Europäi-

schen

Parlaments

und

des

Rates

vom

26.

Oktober

2016

728

(«EU-

Pflanzengesundheitsverordnung») und die gestützt darauf erlassenen Durchführungs-

erlasse der Europäischen Kommission, angepasst. Die EU-Kontrollverordnung (Ver-

ordnung (EU) 2017/625) hingegen ist nicht Teil des geltenden Landwirtschaftsab-

kommens. Ihre Bestimmungen werden im Bereich der Pflanzengesundheit heute nur

teilweise von der Schweiz autonom nachvollzogen.

Neu werden die Bestimmungen der EU-Pflanzengesundheitsverordnung und der EU-

Kontrollverordnung sowie der gestützt darauf erlassenen Durchführungserlasse der

Europäischen Kommission mit ihrer Integration in den Anhang I des Protokolls zur

Lebensmittelsicherheit in der Schweiz grundsätzlich direkt angewendet. Im Schwei-

zer Recht werden die EU-Bestimmungen lediglich bei Bedarf präzisiert oder mit Best-

immungen ergänzt, welche unter anderem die Zuständigkeiten für den Vollzug und

die Finanzierung der Massnahmen regeln. Dadurch kann auf neue pflanzengesund-

heitliche Risiken bei der Einfuhr oder im Inland zukünftig schneller als heute reagiert

werden.

Wo das EU-Recht Bereiche im Geltungsbereich des Protokolls zur Lebensmittelsi-

cherheit nicht abschliessend regelt, wird die Schweiz – analog zu den Mitgliedsstaaten

der EU – betreffend pflanzengesundheitliche Massnahmen auf dem eigenen Territo-

rium weiterhin einen gewissen Spielraum haben. Sie kann beispielsweise Massnah-

men zur Tilgung eines auftretenden Quarantäneorganismus im Einzelfall weiterhin

selbst anordnen. Ein allfälliger Wechsel von der Tilgungs- zur Eindämmungsstrategie

jedoch kann zu einem höheren phytosanitären Risiko für die Nachbarländer führen.

Deswegen ist es wichtig, dass solche Entscheidungen für den gesamten Lebensmittel-

sicherheitsraum einheitlich gefällt werden. Im Falle, dass ein Quarantäneorganismus

nicht mehr getilgt werden kann, wird nach dem Protokoll zur Lebensmittelsicherheit

daher zukünftig die Europäische Kommission Massnahmen zur Eindämmung des

728

Verordnung (EU) 2016/2031 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober

2016 über Massnahmen zum Schutz vor Pflanzenschädlingen, zur Änderung der Verord-

nungen (EU) Nr. 228/2013, (EU) Nr. 652/2014 und (EU) Nr. 1143/2014 des Europäischen

Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinien 69/464/EWG, 74/647/EWG,

93/85/EWG, 98/57/EG, 2000/29/EG, 2006/91/EG und 2007/33/EG des Rates ABl. L 317

vom 23.11.2016, S. 4, zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2024/3115 des Europäi-

schen Parlaments und des Rates vom 27. November 2024, ABl. L, 2024/3115 vom

16.12.2024.

786 / 931

Schadorganismus festlegen, welche auch für die Schweiz verbindlich sind. In die Ent-

scheidungsfindung wird die Schweiz eingebunden sein und ihre Interessen damit aktiv

einbringen können.

Pflanzengesundheitsverordnungen

Im Bereich der Pflanzengesundheit müssen die bestehenden Verordnungen des Bun-

desrates (Verordnung vom 31. Oktober 2018

729

über den Schutz von Pflanzen vor

besonders gefährlichen Schadorgansimen, Pflanzengesundheitsverordnung, PGesV),

der Departemente WBF und UVEK (Verordnung des WFB und des UVEK vom 14.

November 2019

730

zur Pflanzengesundheitsverordnung, PGesV-WBF-UVEK) und

der Bundesämter BAFU und BLW (Verordnung des BAFU vom 29. November

2017

731

über phytosanitäre Massnahmen für den Wald, VpM-BAFU, und Verordnung

des BLW vom 29. November 2019

732

über phytosanitäre Massnahmen für die Land-

wirtschaft und den produzierenden Gartenbau, VpM-BLW) totalrevidiert werden. Ein

grosser Teil der aktuellen Bestimmungen – insbesondere Listen der Schadorganis-

men, geregelten Waren und Anforderungen für die Einfuhr und das Inverkehrbringen

– kann dabei aufgehoben werden. Ein Teil der Verordnungsbestimmungen wird bei-

behalten – vor allem betreffend die Finanzierung und Zuständigkeiten. Teilweise müs-

sen neu die einschlägigen Bestimmungen der EU im Schweizer Recht präzisiert oder

ergänzt werden.

Waldverordnung

Die Ergänzung von Artikel 26 WaG hat auch Auswirkungen auf die Verordnung vom

30. November 1992

733

über den Wald (Waldverordnung, WaV). Heute verweist Ar-

tikel 28 Absatz 2 WaV für die materiellen Regelungen zur Überwachung und Be-

kämpfung von besonders gefährlichen Schadorganismen (bgSO) auf die PGesV. Die-

ser Verweis kann gestrichen werden, weil die Regelungen der EU zur Überwachung

und Bekämpfung von bgSO neu mit ihrer Aufnahme ins Protokoll zur Lebensmittel-

sicherheit auch in der Schweiz grundsätzlich direkt anwendbar sind. Artikel 26 Absatz

1

bis

des Waldgesetzes verweist künftig auf das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit.

GebV-BAFU und FrSV

Die Gebührenverordnung vom 3. Juni 2005

734

über die Gebühren des Bundesamtes

für Umwelt (Gebührenverordnung BAFU, GebV-BAFU) als auch die Verordnung

729

SR

916.20

730

SR

916.201

731

SR

916.202.2

732

SR

916.202.1

733

SR

921.01

734

SR

814.014

787 / 931

vom 10. September 2008

735

über den Umgang mit Organismen in der Umwelt (Frei-

setzungsverordnung, FrSV) verweisen auf einzelne Bestimmungen der PGesV. Diese

Verweise sind anzupassen, um auf das einschlägige EU-Recht zu verwiesen.

GebV-BAFU und FrSV

Die Gebührenverordnung vom 3. Juni 2005

736

über die Gebühren des Bundesamtes

für Umwelt (Gebührenverordnung BAFU, GebV-BAFU) als auch die Verordnung

vom 10. September 2008

737

über den Umgang mit Organismen in der Umwelt (Frei-

setzungsverordnung, FrSV) verweisen auf einzelne Bestimmungen der PGesV. Diese

Verweise sind anzupassen, um auf das einschlägige EU-Recht zu verwiesen.

2.12.10.1.2

Pflanzenvermehrungsmaterial

Die Regulierung des Pflanzenvermehrungsmaterials umfasst Qualitäts- und Identi-

tätsstandards, die sich in der Schweiz wie in zahlreichen anderen Ländern im Verlauf

eines Jahrhunderts entwickelten. Für den EU-Binnenmarkt wird das Pflanzenvermeh-

rungsmaterial sektorspezifisch in insgesamt 12 Richtlinien des Rates und den gestützt

darauf erlassenen Rechtsakten geregelt. Sie wurden gesamthaft in den Anhang I des

Protokolls zur Lebensmittelsicherheit integriert. Sieben Richtlinien sind bereits Be-

standteil des geltenden Landwirtschaftsabkommens. Fünf Richtlinien, die in der Ver-

gangenheit noch nicht Bestandteil des Landwirtschaftsabkommens waren, erfordern

eine Umsetzung:

1.

Richtlinie 98/56/EG des Rates vom 20. Juli 1998 über das Inverkehrbringen

von Vermehrungsmaterial von Zierpflanzen

738

,

2.

Richtlinie 1999/105/EG des Rates vom 22. Dezember 1999 über den Verkehr

mit forstlichem Vermehrungsgut

739

,

3.

Richtlinie 2008/72/EG des Rates vom 15. Juli 2008 über das Inverkehrbringen

von Gemüsepflanzgut und Gemüsevermehrungsmaterial mit Ausnahme von

Saatgut

740

,

4.

Richtlinie 2002/55/EG des Rates vom 13. Juni 2002 über den Verkehr mit

Gemüsesaatgut

741

und

735

SR

814.911

736

SR

814.014

737

SR

814.911

738

Richtline 98/56/EG des Rates vom 20. Juli 1998 über das Inverkehrbringen von Vermeh-

rungsmaterial von Zierpflanzen, ABl. L 226 vom 13.8.1998, S. 16 ; zuletzt geändert durch

Richtlinie 2003/61/EG des Rates vom 18. Juni 2003, ABl. L 165 vom 3.7.2003, S. 23.

739

Richtlinie 1999/105/EG des Rates vom 22. Dezember 1999 über den Verkehr mit forstli-

chem Vermehrungsgut, ABl. L 11 vom 15.1.2000, S. 17.

740

Richtlinie 2008/72/EG des Rates vom 15. Juli 2008 über das Inverkehrbringen von Gemü-

sepflanzgut und Gemüsevermehrungsmaterial mit Ausnahme von Saatgut (kodifizierte

Fassung), ABl. L 205 vom 01/08/2008, S. 28.

741

Richtlinie 2002/55/EG des Rates vom 13. Juni 2002 über den Verkehr mit Gemüsesaatgut

ABl. L 193 vom 20.7.2002, S. 33

,

zuletzt geändert durch Richtlinie 2004/117/EG des Ra-

tes vom 22. Dezember 2004, ABl. L 14 vom 18.1.2005, S. 18.

788 / 931

5.

Richtlinie 2008/90/EG des Rates vom 29. September 2008 über das Inver-

kehrbringen von Vermehrungsmaterial und Pflanzen von Obstarten zur

Fruchterzeugung

742

.

Die Umsetzung bedeutet für Pflanzenvermehrungsmaterial von Gemüse-, Obst- und

Zierpflanzenarten inhaltliche Anpassungen auf Verordnungsstufe im Landwirt-

schaftsrecht. Für das forstliche Vermehrungsgut werden inhaltliche Anpassungen auf

Gesetzes- und Verordnungsstufe im Waldrecht (Waldgesetz, Waldverordnung, Ver-

ordnung über forstliches Vermehrungsgut) erforderlich. Letztere zwei Richtlinien er-

fordern lediglich ergänzende Anpassungen.

Vermehrungsmaterial-Verordnung

In der Verordnung vom 7. Dezember 1998

743

über die Produktion und das Inverkehr-

bringen von pflanzlichem Vermehrungsmaterial (Vermehrungsmaterial-Verord-

nung,) sind die prinzipiellen Grundlagen für landwirtschaftliches Pflanzenvermeh-

rungsmaterial geregelt. Geltungsbereich und Begriffsdefinitionen werden ergänzt und

erstrecken sich auch auf die Vermarktung von Pflanzenvermehrungsmaterial von

Zierpflanzen- und Gemüsearten zur nicht-gewerblichen Nutzung.

Schweizer Saatgutproduzent/-innen sollen Obst- und Gemüsesorten – wie bereits

heute Getreide-, Kartoffel-, und Futterpflanzensorten – aus dem EU-Sortenregister

vermehren können. Hierzu wird ein Bezug zum EU-Sortenregister in den Vorausset-

zungen für die Anerkennung, Vermarktung und Einfuhr von Pflanzenvermehrungs-

material hergestellt.

Die Schweiz wird am EU-Binnenmarkt für Pflanzenvermehrungsmaterial teilnehmen.

Die EU erweitert den Binnenmarkt für Acker- und Futterpflanzensaatgut um Dritt-

staaten, die sie als technisch äquivalent anerkennt. In den Bestimmungen zur Einfuhr

wird ein entsprechender Bezug hergestellt, der die nationalen Bestimmungen zur An-

erkennung der Gleichwertigkeit von Drittstaaten ersetzt.

Zur Nutzung phytogenetischer Ressourcen werden die Bestimmungen für Erhaltungs-

sorten umgesetzt, einschliesslich der Bestimmungen zu Erhaltungsmischungen von

Futterpflanzenarten und Amateursorten von Gemüsearten.

Bei vorübergehenden generellen Versorgungsschwierigkeiten wird anstelle der gel-

tenden Regelung von Aushilfssaatgut die entsprechende Ausnahmeregelung

744

für das

Inverkehrbringen von Saatgut mit niedrigeren Anforderungen im EU-Binnenmarkt

umgesetzt. Diese deckt nationale oder multinationale Versorgungsschwierigkeiten

mit einem Bewilligungsverfahren der Europäischen Kommission ab.

742

Richtlinie 2008/90/EG des Rates vom 29. September 2008 über das Inverkehrbringen von

Vermehrungsmaterial und Pflanzen von Obstarten zur Fruchterzeugung (Neufassung) ABl.

L 267 vom 8.10.2008, S. 8.

743

SR

916.151

744

Siehe Artikel 17 der RL 66/402/EG für Aushilfssaatgut von Getreide.

789 / 931

WBF-Vermehrungsmaterialverordnung Acker- und Futterpflanzen

Die Verordnung des WBF vom 7. Dezember 1998

745

über Vermehrungsmaterial von

Ackerpflanzen-, Futterpflanzen- und Gemüsearten (WBF-Vermehrungsmaterial-

verordnung Acker- und Futterpflanzen) enthält die Durchführungsbestimmungen zur

Sortenregistrierung und Saatgutanerkennung von Acker-, Futterpflanzen- und Gemü-

searten sowie entsprechende Bestimmungen zu Kartoffelpflanzgut. Sie wird entspre-

chend den Anpassungen der Vermehrungsmaterial-Verordnung ergänzt.

Obst- und Beerenobstpflanzgutverordnung des WBF

Die Verordnung des WBF vom 11. Juni 1999

746

über die Produktion und das Inver-

kehrbringen von anerkanntem Vermehrungsmaterial und Pflanzgut von Obst und Bee-

renobst (Obst- und Beerenobstpflanzgutverordnung des WBF) enthält Durchfüh-

rungsbestimmungen zum anerkannten Vermehrungsmaterial und Pflanzgut von

Obstarten. Neu wird sämtliches Vermehrungsmaterial und Pflanzgut von Obstarten

für die Fruchterzeugung geregelt, das heisst auch das nicht-anerkannte. Mit der Ein-

führung der Materialkategorie CAC

747

werden hierfür Mindestqualitätsanforderungen

festgelegt. Die heutige Liste der Obstarten wird um einzelne Obst-, Beerenobst- und

Nussbaumarten erweitert.

Waldverordnung

Da das forstliche Vermehrungsgut zu grossen Teilen aktuell auf Stufe Waldverord-

nung geregelt ist, müssen mit grosser Wahrscheinlichkeit auch mehrere Bestimmun-

gen in der Waldverordnung angepasst werden, damit sie in Einklang mit der Richtlinie

1999/105/EG stehen. Dies betrifft sowohl die Bestimmungen für die Einfuhr von

forstlichem Vermehrungsgut aus der EU und aus Drittländern als auch die Regelungen

zum nationalen Kataster der Samenerntebestände.

Zudem dürfte es notwendig sein, in der Waldverordnung eine Bestimmung aufzuneh-

men, wonach bei einem Lieferengpass auch forstliches Vermehrungsgut verwendet

werden kann, das den Anforderungen der Richtlinie 1999/105/EG nicht entspricht.

Die EU kennt bereits eine solche Ausnahme

748

, die Schweiz bisher hingegen nicht.

Schliesslich werden auch Ergänzungen zu den regelmässigen amtlichen Kontrollen

der registrierten Lieferanten von forstlichem Vermehrungsgut notwendig sein.

Verordnung über forstliches Vermehrungsgut

745

SR

916.151.1

746

SR

916.151.2

747

Conformitas Agragria Communitatis.

748

Siehe Art. 18 der Richtlinie 1999/105/EG.

790 / 931

Die Verordnung vom 29. November 1994

749

über forstliches Vermehrungsgut (Ver-

ordnung über forstliches Vermehrungsgut) ist in weiten Teilen aufgrund der künftigen

direkten Anwendung des einschlägigen EU-Rechts anzupassen. Beispielsweise wer-

den in der Schweiz und in der EU teilweise unterschiedliche Begriffe und Definitio-

nen verwendet. Des Weiteren sind Anpassungen dort angezeigt, wo es um die Einfuhr

von forstlichem Vermehrungsgut aus EU-Ländern geht und auch bei der Einfuhr von

Vermehrungsgut aus Drittländern. Die Anwendung der im EU-Recht enthaltenen

Bestimmungen zur Warenbuchhaltung, zur Betriebsführung und zur Kennzeichnung

muss ebenfalls sichergestellt werden. Ausserdem müssen die Anhänge angepasst wer-

den, da sie inhaltlich teilweise abweichen (z. B. unterschiedliche Arten auf den Baum-

artenlisten).

2.12.10.1.3

Pflanzenschutzmittel

Im Bereich Pflanzenschutzmittel führt die Umsetzung des Protokolls zur Lebensmit-

telsicherheit zu keinen grösseren materiellen Änderungen. So wurde die Verordnung

vom 12. Mai 2010

750

über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln (Pflan-

zenschutzmittelverordnung; PSMV) in den letzten Jahren bereits mehrfach revidiert,

um autonome Anpassungen an das EU-Recht vorzunehmen.

Mit dem Protokoll zur Lebensmittelsicherheit wird erreicht, dass die Schweiz in das

gemeinschaftliche System für das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln inte-

griert wird. Eine vollständige Übernahme der Bestimmungen der Verordnung (EG)

Nr. 1107/2009

751

des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009

über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln war bis anhin nicht möglich.

Zahlreiche Bestimmungen dieser Verordnung und der entsprechenden Durchfüh-

rungsverordnungen betreffen nämlich die Gemeinschaftsverfahren, an denen die

Schweiz ohne spezifisches Kooperationsabkommen nicht teilnehmen konnte. Um

denselben Status wie ein Mitgliedstaat zu erlangen, müssen auch die Bestimmungen

der Richtlinie 2009/128/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Ok-

tober 2009

752

über einen Aktionsrahmen der Gemeinschaft für die nachhaltige Ver-

wendung von Pestiziden übernommen werden.

Erlangt die Schweiz in diesem Bereich den gleichen Status wie ein Mitgliedstaat, wird

sie Zugang zu zahlreichen Daten- und Informationsquellen der Europäischen Behörde

für Lebensmittelsicherheit (EFSA), der Europäischen Kommission oder Mitgliedstaa-

ten haben. Zudem wird sie sich aktiv an der Bewertung und Genehmigung von Wirk-

749

SR

921.552.1

750

SR

916.161

751

Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Ok-

tober 2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln und zur Aufhebung der

Richtlinien 79/117/EWG und 91/414/EWG des Rates, ABl. L 309 vom 24.11.2009, S. 1;

zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2019/1381 des Europäischen Parlaments und des

Rates vom 20. Juni 2019, ABl. L 231 vom 6.9.2019, S. 1.

752

Richtlinie 2009/128/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober

2009 über einen Aktionsrahmen der Gemeinschaft für die nachhaltige Verwendung von

Pestiziden, ABl. L 309 vom 24.11.2009, S. 71; geändert durch Verordnung (EU)

2019/1243 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019, ABl. L 198

vom 25.7.2019, S. 241.

791 / 931

stoffen beteiligen können. Dies ist nicht nur im Interesse der Industrie und der An-

wenderinnen und Anwender von Pflanzenschutzmitteln, sondern wird auch den

Schutz für Mensch, Tier und Umwelt stärken.

Mit der direkten Anwendung des in das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit inte-

grierten EU-Rechts beim Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln muss die

Mehrheit der Verfahrens- sowie der materiellen Bestimmungen in Zukunft nicht mehr

auf Ebene des nationalen Rechts festgelegt werden.

Zukünftig wird das Bewertungs- und Genehmigungsverfahren für in Pflanzenschutz-

mitteln verwendete Wirkstoffe nach dem bereits jetzt innerhalb der EU geltenden Mo-

dell erfolgen. Die Bewertung und Zulassung der Pflanzenschutzmittel wird hingegen

auf nationaler Ebene in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten durchgeführt.

Wirkstoffe, die in Pflanzenschutzmitteln eingesetzt werden sollen, durchlaufen inner-

halb der EU ein sehr strenges Zulassungsverfahren. Für jeden Antrag führt die EFSA

eine Analyse sowie eine vertiefte wissenschaftliche Bewertung anhand von auf euro-

päischer Ebene harmonisierten Kriterien durch. Damit ein Wirkstoff genehmigt wird,

muss die Bewertung zeigen, dass er keinerlei unannehmbares Risiko für die Gesund-

heit von Mensch oder Tier aufweist und auch keine unzulässige Umweltbelastung

darstellt. Nach Abschluss dieser Etappe prüft die Europäische Kommission als für das

Risikomanagement zuständige Behörde das Dossier im Rahmen des Ausschussver-

fahrens, bei dem die Mitgliedstaaten und zukünftig auch die Schweiz konsultiert wer-

den. Das Ausschussverfahren umfasst eine Reihe von Verfahrensschritten, die den

EU-Mitgliedstaaten ein Mitspracherecht bei von der Europäischen Kommission ver-

abschiedeten Durchführungsrechtsakten geben.

Die Zulassung der Pflanzenschutzmittel an sich erfolgt hingegen weiterhin auf natio-

naler Ebene. Für die Verwaltung der Zulassungen ist die EU in drei geografische Zo-

nen unterteilt: Norden, Mitte und Süden. Die Zulassungsanträge werden von einem

als Berichterstatter bezeichneten Mitgliedstaat bewertet; für jede Zone und jedes Dos-

sier wird ein solcher Berichterstatter benannt. Bei der Bewertung haben alle Mitglied-

staaten aus derselben Zone die Möglichkeit, ihre Beobachtungen einzubringen. Durch

die Ratifizierung des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit wird die Schweiz Teil der

Zone Mitte.

Dieses Zulassungskonzept ermöglicht die Berücksichtigung rechtlicher Besonderhei-

ten der Mitgliedstaaten derselben Zone, insbesondere in Bezug auf den Grundwasser-

schutz. Nach erfolgter Bewertung gewähren oder verweigern die betreffenden Mit-

gliedstaaten und die Schweiz die Zulassung. Doch auch im Falle einer Zulassung kann

jeder Mitgliedstaat sowie die Schweiz noch besondere Bedingungen festlegen, wie

etwa Einschränkungen für die Anwendung oder zusätzliche Anforderungen, vor allem

zum Schutz von besonders schützenswerten Gebieten oder zur Umsetzung lokaler

umweltpolitischer Vorgaben.

Dieser Ansatz gewährleistet ein hohes Schutzniveau für die öffentliche Gesundheit

und die Umwelt, während gleichzeitig auch das harmonisierte Inverkehrbringen von

Pflanzenschutzmitteln auf dem Gebiet der EU und der Schweiz sichergestellt ist.

Diese direkte Anwendung des EU-Rechts wirkt sich auf die Gesetzgebung so aus,

dass alle materiellen Bestimmungen in der PSMV aufgehoben werden. Wie bereits

792 / 931

erwähnt sind diese Bestimmungen schon heute sehr ähnlich wie diejenigen im EU-

Recht. Somit verbleiben in der PSMV nur noch die Bestimmungen zur Organisation

der Zulassungsverfahren für Pflanzenschutzmittel sowie die Bestimmungen zu auf

europäischer Ebene nicht geregelten Bereichen (z. B. Inverkehrbringen von Makroor-

ganismen).

Ausserdem müssen die in der Verordnung über die Gebühren des Bundesamtes für

Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen vom 30. Oktober 1985

753

(Gebührenver-

ordnung BLV) festgelegten Gebühren erhöht werden. In der EU wird für jeden Zulas-

sungsantrag für ein Pflanzenschutzmittel ein Mitgliedstaat als für die Bewertung die-

ses Mittels verantwortlich bezeichnet. Dieser Mitgliedstaat bewertet das

Pflanzenschutzmittel unter Berücksichtigung der spezifischen nationalen Anforderun-

gen der verschiedenen Länder, die zu derselben Zone gehören. So wird die Arbeit

unter allen Mitgliedstaaten aufgeteilt. Mit der Integration der Schweiz in das Zonen-

System der EU müssen die Gebühren für die Zulassungsverfahren gleich hoch ange-

setzt werden wie in den anderen Ländern der Zone Mitte. Andernfalls besteht das

Risiko, dass die Unternehmen die Schweiz als Eingangstor für das Inverkehrbringen

ihrer Produkte nutzen, was aufgrund mangelnder Personalressourcen für die Bearbei-

tung der Anträge zu grösseren organisatorischen Problemen bei den Schweizer Be-

hörden führen könnte.

2.12.10.1.4

Futtermittel

Gemäss dem aktuellen Abkommen ist die zurzeit geltende Schweizer Gesetzgebung

in diesem Bereich aus technischer Sicht vollständig angeglichen an die Richtli-

nie 2002/32/EG

754

, die Verordnung (EG) Nr. 1831/2003

755

, die Verordnung (EG)

Nr. 183/2005

756

, die Verordnung (EG) Nr. 767/2009

757

sowie die Verordnung (EU)

753

SR

916.472

754

Richtlinie 2002/32/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. Mai 2002 über

unerwünschte Stoffe in der Tierernährung, ABl. L 140 vom 30.5.2002, S. 10; zuletzt geän-

dert durch Verordnung (EU) 2019/1243 des Europäischen Parlaments und des Rates vom

20. Juni 2019, ABl. L 198 vom 25.7.2019, S. 241.

755

Verordnung (EG) Nr. 1831/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom

22. September 2003 über Zusatzstoffe zur Verwendung in der Tierernährung, ABl. L 268

vom 18.10.2003, S. 29; zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2019/1381 des Europäi-

schen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019, ABl. L 231 vom 6.9.2019, S. 1.

756

Verordnung (EG) Nr. 183/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Ja-

nuar 2005 mit Vorschriften für die Futtermittelhygiene, ABl. L 35 vom 8.2.2005, S. 1; zu-

letzt geändert durch Verordnung (EU) 2019/1243 des Europäischen Parlaments und des

Rates vom 20. Juni 2019, ABl. L 198 vom 25.7.2019, S. 241.

757

Verordnung (EG) Nr. 767/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom

13. Juli 2009 über das Inverkehrbringen und die Verwendung von Futtermitteln, zur Ände-

rung der Verordnung (EG) Nr. 1831/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates und

zur Aufhebung der Richtlinien 79/373/EWG des Rates, 80/511/EWG der Kommission,

82/471/EWG des Rates, 83/228/EWG des Rates, 93/74/EWG des Rates, 93/113/EG des

Rates und 96/25/EG des Rates und der Entscheidung 2004/217/EG der Kommission,

ABl. L 229 vom 1.9.2009, S. 1.

793 / 931

2017/625

758

. Durch die zukünftige direkte Anwendung des in das Protokoll zur Le-

bensmittelsicherheit integrierten EU-Rechts wird sich auf technischer Ebene für die

Schweiz nichts ändern. Der

Acquis

im Bereich GVO

759

sowie Fütterungsarzneimittel

bleibt bestehen.

Durch ihren Einbezug bei der Ausarbeitung von EU-Rechtsakten (

Decision Shaping

,

s. Ziff. 2.12.6 zu Art. 12 des Abkommens) wird es für die Schweiz möglich sein, sich

beim Zulassungsverfahren für Futtermittelzusatzstoffe oder andere Futtermittel stär-

ker einzubringen und das betreffende Verfahren auf nationaler Ebene zu vereinfachen

und zu beschleunigen.

Futtermittel-Verordnungen

Eine Totalrevision der Verordnung vom 26. Oktober 2011

760

über die Produktion und

das Inverkehrbringen von Futtermitteln (Futtermittel-Verordnung, FMV) ist notwen-

dig. Dies vor allem, um die Artikel aufzuheben, die aufgrund der direkten Anwendung

des in das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierten EU-Rechts überflüssig

werden. Die Vollzugsbestimmungen werden angepasst und diejenigen zu den GVO

beibehalten. Die Verordnung des WBF vom 26. Oktober 2011

761

über die Produktion

und das Inverkehrbringen von Futtermitteln, Zusatzstoffen für die Tierernährung und

Diätfuttermitteln (Futtermittelbuch-Verordnung, FMBV), die fast ausschliesslich aus

dem EU-Recht übernommene Bestimmungen enthält, sollte aufgehoben werden kön-

nen.

2.12.10.1.5

Tierzucht

Die Verordnung vom 31. Oktober 2012

762

über die Tierzucht (Tierzuchtverordnung,

TZV) ist bereits weitgehend kompatibel mit dem EU-Tierzuchtrecht. Mit der laufen-

den Totalrevision werden auch die Bestimmungen der Tierzuchtverordnung zum In-

verkehrbringen von Zuchttieren von und nach der EU entsprechend dem einschlägi-

gen EU-Recht ausgestaltet. Die Tierzuchtverordnung regelt schwergewichtig die

Finanzhilfen des Bundes. Diese werden bestehen bleiben. Es ist also nur mit gering-

fügigen Änderungen der Tierzuchtverordnung zu rechnen (v.a. um Doppelspurigkei-

ten zu vermeiden). Am heutigen System wird sich nichts ändern.

758

Verordnung (EU) 2017/625 des Europäischen Parlaments und des Rates vom

15. März 2017 über amtliche Kontrollen und andere amtliche Tätigkeiten zur Gewährleis-

tung der Anwendung des Lebens- und Futtermittelrechts und der Vorschriften über Tier-

gesundheit und Tierschutz, Pflanzengesundheit und Pflanzenschutzmittel, ABl. L 95 vom

7.4.2017, S. 1; zuletzt geändert durch Verordnung (EU) 2024/3115 des Europäischen Par-

laments und des Rates vom 27. November 2024, ABl. L 2024/3115 vom 16.12.2024.

759

Vgl. Art. 7 Bst. a des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit.

760

SR

916.307

761

SR

916.307.1

762

SR

916.310

794 / 931

2.12.10.1.6

Hygiene in der Primärproduktion (Futter- und

Lebensmittel)

Die Verordnung vom 23. November 2005

763

über die Primärproduktion (VPrP), die

die Sicherheit von Futtermitteln und Lebensmitteln auf der Stufe der Primärproduk-

tion gewährleisten soll, sowie die Milchprüfungsverordnung vom 20. Okto-

ber 2010

764

(MiPV) stützen sich sowohl auf das LwG als auch auf das LMG. Die Aus-

wirkungen des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit auf diese beiden Verordnungen

sind in Ziffer 2.12.9 «Umsetzung in der Lebensmittelgesetzgebung» beschrieben.

2.12.10.2

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

Die Verabschiedung einer Botschaft zu einem Lebensmittelsicherheitsabkommen mit

der EU in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode ist in der vom Bundesrat verab-

schiedeten Botschaft vom 24. Januar 2024 zur Legislaturplanung 2023–2027 ange-

kündigt. Der Abschluss des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit bildet somit Be-

standteil der Strategie des Bundesrates für die Jahre 2023–2027 und hat unter anderem

die Änderung des LwG sowie des WaG zur Folge. Der Bundesrat wird seine finanz-

politischen Entscheidungen im Rahmen der Erstellung des jährlichen Voranschlags

treffen.

2.12.10.3

Umsetzungsfragen

In den Bereichen Landwirtschaft und Wald stellen sich keine gesonderten Umset-

zungsfragen.

2.12.10.4

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln der Umsetzungserlasse

2.12.10.4.1

Landwirtschaftsgesetz (LwG)

Art. 141

In Art. 141 LwG zur Zuchtförderung wird ein dritter Absatz hinzugefügt, der besagt,

dass der Bund die Ausführungsbestimmungen, die zur Umsetzung des Protokolls zur

Lebensmittelsicherheit erforderlich sind, erlassen kann.

Art. 148

In Art. 148 LwG betreffend die Ausführungsbestimmungen zu Pflanzenschutz und

Produktionsmitteln wird ein dritter Absatz hinzugefügt, der besagt, dass der Bund die

Ausführungsbestimmungen, die zur Umsetzung des Protokolls zur Lebensmittelsi-

cherheit erforderlich sind, erlassen kann.

763

SR

916.020

764

SR

916.351.0

795 / 931

2.12.10.4.2

Waldgesetz (WaG)

Art. 24 Abs. 2

Mit der Ergänzung von Artikel 24 Absatz 2 WaG kann sichergestellt werden, dass

vom Bundesrat erlassene Regelungen zur Ein- und Ausfuhr von forstlichem Vermeh-

rungsgut in die Schweiz und aus der Schweiz heraus ebenfalls auf einer gesetzlichen

Grundlage basieren und dass die Vorschriften der Richtlinie 1999/105/EG vollständig

umgesetzt werden können. Insbesondere im Verhältnis mit Drittstaaten sollen beim

Import und Export von forstlichem Vermehrungsgut andere Regeln gelten als bei der

Ein- und Ausfuhr aus EU-Mitgliedstaaten.

Art. 26

Artikel 26 WaG überträgt dem Bundesrat die Kompetenz, Vorschriften über Mass-

nahmen zur Verhütung und Behebung von Schäden zu erlassen, die durch Naturer-

eignisse oder Schadorganismen verursacht werden und die den Wald in seinen Funk-

tionen erheblich gefährden können. Diese Kompetenz bleibt weiterhin bestehen,

jedoch wird Artikel 26 WaG mit einem neuen Absatz 1

bis

ergänzt werden, wonach

sich die Massnahmen zur Verhütung und Behebung von Schäden, die durch besonders

gefährliche Schadorganismen verursacht werden, direkt nach dem im Protokoll zur

Lebensmittelsicherheit integrierten EU-Recht richten. Die besonders gefährlichen

Schadorganismen nach Absatz 1

bis

bilden dabei eine Teilmenge der Schadorganismen

gemäss Absatz 1.

Art. 50b

Mit Art. 50

b

soll neu eine Auskunftspflicht für jede Person vorgesehen werden. Damit

soll ein reibungsloser Vollzug der Waldgesetzgebung sichergestellt werden können.

Insbesondere im Bereich des forstlichen Vermehrungsguts haben die Behörden auf-

grund der Richtlinie 1999/105/EG künftig Pflichten, die sie teilweise nur dann ord-

nungsgemäss wahrnehmen können, wenn Dritte eine Mitwirkungspflicht haben. Die

Auskunftspflicht von jeder Person bildet somit das Gegenstück zu den Verpflichtun-

gen der Behörden. Künftig werden die Behörden in regelmässigen Abständen die na-

türlichen und juristischen Personen, die forstliches Vermehrungsgut gewerbsmässig

in Verkehr bringen oder in die Schweiz einführen, kontrollieren müssen. Dabei sind

die Behörden auf Daten, Dokumente und sonstige Unterlagen dieser Personen ange-

wiesen. Ohne eine gesetzlich verankerte Auskunftspflicht lässt sich eine ordnungsge-

mässe Kontrolle aber unter Umständen nicht durchführen. Die Auskunftspflicht reicht

im Einzelnen aber nur so weit, als es der Vollzug der Waldgesetzgebung tatsächlich

erfordert. Verfügt der Auskunftspflichtige nicht über die Unterlagen, so muss er al-

lenfalls bei den erforderlichen Abklärungen mitwirken oder diese durch die Behörde

erdulden (Absatz 1). Heikle Angaben der privaten oder juristischen Personen, die ins-

besondere das Geschäfts- oder Fabrikationsgeheimnisse betreffen, sind von den Be-

hörden vertraulich zu behandeln (Absatz 2).

796 / 931

2.12.10.5

Auswirkungen dieser Umsetzungserlasse

2.12.10.5.1

Auswirkungen auf den Bund

Pflanzengesundheit

Im Bereich der Pflanzengesundheit (Quarantäne) hat das Protokoll zur Lebensmittel-

sicherheit insbesondere folgende Auswirkungen auf den Bund:

Die Bestimmungen der EU-Kontrollverordnung sollen auch für pflanzengesundheit-

liche Massnahmen in der Schweiz angewendet werden. Damit müssen die Betriebe in

Bezug auf den Pflanzenpass und den ISPM 15-Standard

765

(Verpackungsmaterial aus

Holz) gegenüber heute verstärkt kontrolliert werden. Betriebe, die für das Ausstellen

von Pflanzenpässen zugelassen sind, werden in jedem Fall mindestens einmal jährlich

amtlich kontrolliert, eine risikobasierte Reduktion der Kontrollfrequenz ist nur noch

in begründeten Ausnahmefällen möglich. Tritt in einer Region ein prioritärer Quaran-

täneorganismus wie der Japankäfer oder der Asiatische Laubholzbockkäfer auf, müs-

sen zwei amtliche Kontrollen pro Jahr durchgeführt werden. Für den Bund, der diese

Kontrollen durchführt, bedeutet dies einen finanziellen und personellen Mehrauf-

wand.

Alle Quarantäneorganismen, die sich in der Schweiz ansiedeln könnten, müssen im

Landesinneren dem Risiko entsprechend und mindestens alle 10 Jahre amtlich über-

wacht werden. In der Folge haben die Kantone ihr Hoheitsgebiet neu auf mehr Qua-

rantäneorganismen zu überwachen. Der Bund wird hier einen finanziellen Mehrauf-

wand haben, da er sich an den Aufwänden der Kantone für die Gebietsüberwachung

beteiligt. Zusätzlich übernimmt der Bund die Planung, Koordination und Analytik der

Proben, was mit personellem und finanziellem Mehraufwand verbunden ist.

Vollzug der EU-Bestimmungen und Überwachung des Vollzugs im Bereich der

Pflanzengesundheit haben für den Bund einen geschätzten finanziellen Mehraufwand

von rund 5 Millionen Franken pro Jahr zur Folge, mit einer möglichen Reduktion auf

4,1 Millionen Franken pro Jahr ab 2033. Dies beinhaltet 1,5 Millionen Franken pro

Jahr für rund 9 zusätzliche Vollzeitstellen auf vier Bundesstellen verteilt für die ersten

Jahre, die auf 5 zusätzliche Vollzeitstellen für die Jahre ab 2033 reduziert werden

können (0,8 Mio. Franken pro Jahr). Die zusätzlichen Stellen werden bei Agroscope,

bei der WSL, im BLW und im BAFU insbesondere für die Wahrnehmung der folgen-

den Aufgaben benötigt:

Diagnostik von Proben (Labore);

Intensivierung der Gebietsüberwachung (mehr Überwachungsaufträge er-

arbeiten und umsetzen);

Akkreditierung Labore und mandatierte Kontrollorganisationen;

765

Internationaler Standard für Phytosanitäre Massnahmen Nr. 15 des Internationalen Pflan-

zenschutzübereinkommens. Der Standard schreibt vor, dass Paletten und andere Verpa-

ckungen aus Massivholz behandelt werden, damit keine Schadorganismen in den Verpa-

ckungen verschleppt werden.

797 / 931

in der Übergangszeit: Kommunikation und Koordination der Änderungen

im Recht und im Vollzug gegenüber heute.

Neu erhält die Schweiz die Gelegenheit, bei der Ausarbeitung von Änderungen der

betreffenden EU-Rechtsakte oder bei der Schaffung neuen EU-Rechts im Bereich der

Pflanzengesundheit mitzuwirken (sog.

Decision Shaping

). Dies bedeutet zwar eben-

falls einen personellen Mehrbedarf. Die Interessen der Schweiz können damit aber

aktiv eingebracht werden.

Die Zuständigkeiten und Kompetenzen auf Stufe Bund und zwischen Bund und Kan-

tonen bleiben gleich.

Pflanzenvermehrungsmaterial

Die Umsetzung der EU-Bestimmungen im Bereich des Pflanzenvermehrungsmateri-

als kann in den bestehenden Vollzug der Pflanzengesundheit integriert werden. Pro-

duzentenzulassungen, Registrierungen, Kontrollstrukturen und Bescheinigungen be-

ziehen sich auf dieselben Entitäten. Die jährlichen Aufwände zur Erweiterung der

Kontrollen für landwirtschaftliches und gartenbauliches Pflanzenvermehrungsmate-

rial umfassen in den ersten beiden Jahren schätzungsweise 100 000 Franken für man-

datierte Kontrollorganisationen und 0,7 FTE interne personelle Ressourcen, danach

40 000 Franken beziehungsweise 0,3 FTE.

Erleichterungen sind im Aussenhandel mit Pflanzenvermehrungsmaterial zu erwar-

ten. Einerseits durch die Gültigkeit der EU-Sortenregister für Obst- und Gemüsearten.

Andererseits durch den Wegfall der technischen Handelsbarriere zur EU bei Obst-

und Gemüsepflanzgut. Beides erleichtert die Kommunikation im Vollzugsbereich.

Der Aufbau der Kontrolle der Importeurinnen und Importeure von forstlichem Ver-

mehrungsgut wird vor allem in der Aufbauphase personelle Ressourcen beanspruchen

(ca. 0.2 FTE pro Jahr). Bei einer Auslagerung der Kontrollen sind zusätzliche finan-

zielle Mittel erforderlich. Die Umsetzung der Kontrolle würde für die ersten 2 Jahre

ca. 100 000 Franken pro Jahr kosten (Aufbau) und danach 50 000 Franken pro Jahr

(Betrieb).

Pflanzenschutzmittel

Die Integration der Schweiz in das Zonen-System der EU wird sich auf die Organisa-

tion der Zulassungsverfahren für Pflanzenschutzmittel auswirken. Heute muss ein Un-

ternehmen, das ein neues Pflanzenschutzmittel in Verkehr bringen will, bei der Zu-

lassungsstelle des BLV ein Gesuch inklusive der erforderlichen Unterlagen und

Studien einreichen.

Nach einer groben Vollständigkeitsprüfung durch die Zulassungsstelle wird das ein-

gereichte Dossier an die Beurteilungsstellen weitergeleitet. Diese sind für die wissen-

schaftliche Beurteilung der Unterlagen zuständig und bei verschiedenen Bundesäm-

tern

angesiedelt:

Bundesamt

für

Umwelt

(BAFU),

Bundesamt

für

Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV), Bundesamt für Landwirtschaft

798 / 931

(BLW) mit Agroscope sowie Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO). Nach dem Er-

halt des Dossiers führen die Beurteilungsstellen in ihrem jeweiligen Fachbereich eine

detaillierte Vollständigkeitsprüfung durch. In Zukunft wird sich die Frage stellen, ob

dieses dezentral organisierte System auch für die neuen Pflichten noch angemessen

ist, die die Integration der Schweiz ins Zonen-System der EU mit sich bringt.

Die zusätzlich benötigten Personalressourcen lassen sich momentan nicht genau be-

ziffern. Neue Aufgaben (Beteiligung an Bewertungen der EFSA, Teilnahme an Fach-

ausschüssen usw.) könnten zwar zu einem zusätzlichen Personalbedarf führen, dies

dürfte jedoch dadurch kompensiert werden, dass die Zuständigkeit für die Zulassungs-

verfahren für Pflanzenschutzmittel in Zukunft unter den Mitgliedstaaten und der

Schweiz aufgeteilt wird.

Sollte die Integration der Schweiz ins europäische System dennoch einen grösseren

personellen oder finanziellen Bedarf nach sich ziehen, wäre dieser zumindest teil-

weise durch die zusätzlichen Einnahmen aufgrund der Gebührenerhöhung gedeckt.

Futtermittel

Die im Bereich Futtermittel aktuell geltende Schweizer Gesetzgebung wurde zur Um-

setzung des Landwirtschaftsabkommens bereits an das entsprechende EU-Recht an-

geglichen. Die zukünftige direkte Anwendung des in das Protokoll zur Lebensmittel-

sicherheit integrierten EU-Rechts sollte keine finanziellen Auswirkungen auf den

Bund haben. Die in die Zuständigkeit des Bundes fallenden Vollzugsaufgaben ändern

sich in Bezug auf die Häufigkeit gar nicht und hinsichtlich der Vorgehensweise nur

geringfügig. Die heute für die Revision der Verordnungen und das Zulassungsverfah-

ren zuständigen Ressourcen werden zukünftig aktiv an der Ausarbeitung von EU-

Entscheiden mitwirken.

Tierzucht

Die schweizerische Tierzuchtgesetzgebung ist bereits heute kompatibel mit der ent-

sprechenden EU-Gesetzgebung. Neu wird sich die Schweiz aktiv an der Erarbeitung

des EU-Tierzuchtrechts beteiligen können, was im Interesse der Schweiz ist. Der dies-

bezügliche Mehraufwand wird BLW-intern kompensiert.

2.12.10.5.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf

urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

Pflanzengesundheit

Alle Quarantäneorganismen, die sich in der Schweiz ansiedeln könnten, müssen ge-

mäss EU-Recht im Landesinneren dem Risiko entsprechend und mindestens alle

10 Jahre amtlich überwacht werden. In der Folge haben die Kantone ihr Hoheitsgebiet

neu auf mehr Quarantäneorganismen zu überwachen.

Der Vollzug und die Überwachung der EU-Bestimmungen im Bereich der Pflanzen-

gesundheit haben für die Kantone einen Mehraufwand von schätzungsweise 1 Million

799 / 931

Franken pro Jahr gegenüber heute zur Folge (insgesamt für alle Kantone, inklusive

Personal).

Ein allfälliger Wechsel von der Tilgungs- zur Eindämmungsstrategie kann zu einem

höheren phytosanitären Risiko für die Nachbarländer führen. Deswegen ist es wichtig,

dass solche Entscheidungen für den gesamten Lebensmittelsicherheitsraum einheit-

lich gefällt werden.

Im Falle, dass ein Quarantäneorganismus nicht mehr getilgt wer-

den kann, wird nach dem Protokoll zur Lebensmittelsicherheit daher zukünftig die

Europäische Kommission Massnahmen zur Eindämmung des Schadorganismus fest-

legen, welche auch für die Schweiz verbindlich sind. In die Entscheidungsfindung

wird die Schweiz eingebunden sein und ihre Interessen damit aktiv einbringen kön-

nen.

Die Zuständigkeiten und Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen bleiben gleich.

Pflanzenvermehrungsmaterial

Wenn der Bund keine Einfuhrkontrollen für forstliches Vermehrungsgut mehr durch-

führt, werden die Kantone in diesem Bereich mehr Verantwortung tragen müssen, da

sie gemäss Artikel 21 WaV die Versorgung mit geeignetem forstlichem Vermeh-

rungsgut sicherstellen.

Pflanzenschutzmittel

Die Aufgaben der Kantone als Vollzugsbehörden werden sich inhaltlich nicht ändern.

Mit dem Inkrafttreten des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit wird die Schweiz je-

doch die in der Verordnung (EU) 2017/625 festgehaltenen Kontrollbestimmungen di-

rekt anwenden müssen. Auch wenn die hiesigen Kontrollen bereits den in den EU-

Mitgliedstaaten durchgeführten Kontrollen entsprechen, könnte unter bestimmten

Umständen eine Verstärkung der Kontrollen notwendig werden. Dies gilt insbeson-

dere für den Fall, dass die Europäische Kommission eine einheitliche Mindesthäufig-

keit der amtlichen Kontrollen festlegt, wenn beispielsweise ein Mindestmass an amt-

licher Kontrolle erforderlich ist, um den anerkannten einheitlichen Gefahren und

Risiken zu begegnen.

Futtermittel

Die auf der Stufe der Primärproduktion in die Zuständigkeit der Kantone fallenden

Vollzugsaufgaben ändern sich weder in Bezug auf die Häufigkeit noch hinsichtlich

der Vorgehensweise.

Tierzucht

800 / 931

Die Vorlage hat keine Auswirkungen auf die Kantone.

2.12.10.5.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Pflanzengesundheit

Gemäss den Vorgaben der EU-Kontrollverordnung werden die Kontrollen in Betrie-

ben in Bezug auf den Pflanzenpass und den ISPM 15-Standard (Verpackungsmaterial

aus Holz) verstärkt und mindestens einmal jährlich durchgeführt werden. Da ein Teil

der Kosten für die Betriebskontrollen von den kontrollierten Betrieben getragen wird,

steigt der Aufwand für die Betriebe. Beim Auftreten eines prioritären Quarantäneor-

ganismus müssen die Kontrollen in für das Ausstellen von Pflanzenpässen zugelasse-

nen Betrieben auf zwei pro Jahr erhöht werden. Auch hier wird ein Teil der Kontroll-

kosten auf die Betriebe überwälzt.

Dies trägt jedoch zur Minderung der Verbreitung

von Schadorganismen und der damit zusammenhängenden volkswirtschaftlichen

Kosten bei.

Allgemein wird den pflanzenproduzierenden Betrieben einen erleichterten

Handel ermöglich.

Pflanzenvermehrungsmaterial

Für den Saatgutsektor und das Baumschulwesen wird eine vollständige Integration in

den EU-Binnenmarkt und Rechtssicherheit erreicht. Das ist wichtig, denn Pflanzen-

züchtung, Saat- und Pflanzgutproduktion sind sehr spezialisierte, kapital- und zeitin-

tensive landwirtschaftliche Zweige, die nicht isoliert vom europäischen Binnenmarkt

geführt werden können. Für Pflanzenvermehrungsmaterial von Obst-, Gemüse- und

Zierpflanzenarten wird ein Anschluss an den EU-Binnenmarkt erreicht. Einschlägige

Produzentinnen und Produzenten sind bereits im Rahmen der Pflanzengesundheit zur

Ausstellung des Pflanzenpasses registriert. Kontrollen können gleichzeitig mit dem

Pflanzenpass durchgeführt werden. Bei Forstbaumschulen werden Kontrollen durch

den Bund eingeführt, die jährlich zu einem finanziellen Mehraufwand von 5 000 bis

7 000 Franken pro Jahr führen.

Pflanzenschutzmittel

Die Integration der Schweiz in das nach Zonen unterteilte Zulassungssystem der EU

wird die Arbeit der Unternehmen erleichtern, die ihre Pflanzenschutzmittel in der

Schweiz in Verkehr bringen wollen. Nach dem neuen Verfahren kann ein Unterneh-

men sein Dossier gleichzeitig in mehreren Ländern einer Zone einreichen. Die Be-

wertung wird sodann zugunsten aller Länder durch ein einziges als Berichterstatter

bezeichnetes Land vorgenommen. Das Zulassungsverfahren ist zwar bereits heute

stark harmonisiert, aber nur unilateral, was bedeutet, dass erleichterte Verfahren nur

für in der EU bereits zugelassene Pflanzenschutzmittel vorgesehen sind. Somit müs-

sen die Unternehmen dennoch ein Dossier in der Schweiz einreichen und die hiesigen

Behörden ihrerseits eine Bewertung vornehmen. Für die betroffenen Unternehmen

801 / 931

bringt die neue Regelung somit sowohl einen Zeitgewinn als auch Kosteneinsparun-

gen mit sich (weniger Gebühren für Zulassungsverfahren). Darüber hinaus werden die

Anwenderinnen und Anwender von Pflanzenschutzmitteln in der Schweiz in Zukunft

Zugang zu denselben Pflanzenschutzmitteln haben wie ihre europäischen Pendants

und somit besser gerüstet sein zur Bekämpfung von Schadorganismen. Wie bereits

erwähnt wird es aufgrund der Integration der Schweiz ins Zonen-System der EU je-

doch notwendig sein, die Gebühren für die Zulassungsverfahren auf das in den Län-

dern der Zone Mitte geltende Niveau zu erhöhen.

Futtermittel

Mit der direkten Anwendung des in das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit inte-

grierten EU-Rechts fällt der Grundsatz der Zulassung der Produkte auf nationaler

Ebene weg. Somit werden die Futtermittelindustrie und die Primärproduktion von ei-

nem rascheren und einfacheren Zugang zu den in der EU zugelassenen Produkten

profitieren.

Tierzucht

Die Vorlage hat keine Auswirkungen auf die Volkswirtschaft.

2.12.10.5.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Pflanzengesundheit

Die Vorlage hat eine positive Auswirkung auf die Gesellschaft. Mit den zusätzlichen

pflanzengesundheitlichen Kontrollen können auch soziale Schäden verringert werden.

Pflanzenvermehrungsmaterial

Die Vorlage hat eine positive Auswirkung auf die Gesellschaft, da damit sichergestellt

wird, dass in der Schweiz und in der EU jederzeit dasselbe hohe Sicherheitsniveau

gilt.

Pflanzenschutzmittel

Die Teilnahme der Schweiz am EU-System wird das Schutzniveau für die menschli-

che Gesundheit erhöhen. Der Zugang zu den von den EU-Behörden und den Mitglied-

staaten gemeinsam genutzten Informationen sowie eine verstärkte Zusammenarbeit

mit den Sachverständigen der EU werden dazu beitragen, dass die in Verkehr gebrach-

ten Pflanzenschutzmittel garantiert den höchsten Sicherheitsstandards entsprechen.

802 / 931

Futtermittel

Die Vorlage hat keine Auswirkungen auf die Gesellschaft.

Tierzucht

Die Vorlage hat keine Auswirkungen auf die Gesellschaft.

2.12.10.5.5

Auswirkungen auf die Umwelt

Pflanzengesundheit

Durch die intensivierte Überwachung von geregelten Schadorganismen ist davon aus-

zugehen, dass Befälle viel früher entdeckt werden und somit weniger gravierende

Schäden ausrichten können. Dies hat eine positive Wirkung auf die Umwelt, insbe-

sondere auf den Wald.

Pflanzenvermehrungsmaterial

Die Vorlage hat keine Auswirkungen auf die Umwelt.

Pflanzenschutzmittel

Wie bereits erwähnt erfordert die Integration der Schweiz ins EU-System keine we-

sentlichen Änderungen der materiellrechtlichen Anforderungen im Hinblick auf das

Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln. Ziel der letzten Revisionen der PSMV

war nämlich bereits eine möglichst starke Harmonisierung des Schweizer Rechts mit

dem entsprechenden EU-Recht. Hingegen stellt die Teilnahme von Sachverständigen

der Schweiz am EU-Zulassungssystem einen grossen Fortschritt dar, da dies zu einem

verbesserten Schutz der Umwelt und der menschlichen Gesundheit beiträgt, insbeson-

dere auch dank dem Zugang zu und dem Austausch von Informationen der EU-

Behörden oder der EU-Mitgliedstaaten.

Futtermittel

Die Vorlage hat keine Auswirkungen auf die Umwelt.

Tierzucht

Die Vorlage hat keine Auswirkungen auf die Umwelt.

803 / 931

2.12.10.5.6

Andere Auswirkungen

Es sind keine anderen Auswirkungen zu erwarten.

2.12.10.6

Rechtliche Aspekte der Umsetzungserlasse

2.12.10.6.1

Verfassungsmässigkeit

Nach Artikel 104 Absatz 3 BV richtet der Bund die Massnahmen so aus, dass die

Landwirtschaft ihre multifunktionalen Aufgaben erfüllt. In diesem Zusammenhang

verfügt der Bund über eine umfassende Gesetzgebungskompetenz, zum Beispiel im

Bereich der Tierzucht, des Pflanzenschutzes und der Produktionsmittel (Artikel 104

Absatz 3 Buchstaben b, c und d BV). Für den Bereich Wald bildet Artikel 77 BV die

Verfassungsgrundlage, wonach der Bund dafür sorgt, dass der Wald seine Schutz-,

Nutz- und Wohlfahrtsfunktionen erfüllen kann (Abs. 1) und ihn zu diesen Zwecken

ermächtigt, Grundsätze über den Schutz des Waldes festzulegen (Abs. 2).

2.12.10.6.2

Vereinbarkeit mit anderen internationalen

Verpflichtungen der Schweiz

Die vorgeschlagenen Änderungen sind vereinbar mit den internationalen Verpflich-

tungen der Schweiz. Im Übrigen wird auf die Erläuterungen in Ziffer 2.12.13.3 ver-

wiesen.

2.12.10.6.3

Erlassform

Vorliegend werden bestehende Bundesgesetze revidiert. Die Erlassform ist beizube-

halten. Zur Frage der Bündelung der Umsetzungsgesetzgebung, siehe Ziff. 4.3.

2.12.10.6.4

Vorläufige Anwendung

Es ist keine vorläufige Anwendung vorgesehen.

2.12.10.6.5

Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV sieht zum Zweck der Ausgabenbegrenzung vor,

dass Subventionsbestimmungen sowie Verpflichtungskredite und Zahlungsrahmen,

die neue einmalige Ausgaben von mehr als 20 Millionen Franken oder wiederkeh-

rende Ausgaben von mehr als 2 Millionen Franken nach sich ziehen, in jedem der

beiden Räte der Zustimmung der Mehrheit aller Mitglieder bedürfen. Mit der Vorlage

werden weder neue Subventionsbestimmungen (die Ausgaben über einem der

Schwellenwerte nach sich ziehen) geschaffen, noch neue Verpflichtungskredite / Zah-

lungsrahmen (mit Ausgaben über einem der Schwellenwerte) beschlossen.

Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der fiskalischen Äquivalenz

Die Vorlage tangiert die Aufgabenteilung oder die Aufgabenerfüllung durch Bund

und Kantone nicht.

804 / 931

Einhaltung der Grundsätze des Subventionsgesetzes

Mit der Vorlage werden keine neuen Subventionsbestimmungen geschaffen.

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

Die Bestimmungen dieses Erlasses legen die Grundsätze sowie alle Bereiche fest, die

gemäss Artikel 164 Absatz 1 BV einer Grundlage in einem formellen Gesetz bedür-

fen. Das ins Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierte EU-Recht enthält teil-

weise sehr detaillierte Vorschriften, die den Rahmen dessen übersteigen, was nach

Artikel 164 Absatz 1 BV auf der Ebene eines formellen Gesetzes geregelt werden

muss. Daher wird dem Bundesrat in Artikel 141 beziehungsweise Artikel 148 LwG

neu die Kompetenz übertragen, diese Einzelheiten in Ausführungsbestimmungen zu

regeln.

2.12.10.6.6

Datenschutz

Die Vorlage tangiert den Datenschutz nicht.

2.12.11

Umsetzung in der Tierseuchengesetzgebung

2.12.11.1

Tierseuchengesetz

Ein gemeinsamer Lebensmittelsicherheitsraum Schweiz-EU ist nur dann möglich,

wenn in diesem Raum für alle beteiligten Staaten grundsätzlich zu jedem Zeitpunkt

dasselbe Recht gilt. Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit trägt diesem Erfordernis

Rechnung. Es sind Verfahren vorgesehen, damit das im Anhang I des Protokolls zur

Lebensmittelsicherheit aufgelistete EU-Recht sowie das gestützt darauf erlassene so-

genannte Tertiärrecht (Durchführungsrechtsakte und delegierte Rechtsakte der Euro-

päischen Kommission) in der EU und in der Schweiz gleichzeitig angewendet wird

(vgl. Art. 13 und Art. 15 des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit). Neues EU-Recht

im Geltungsbereich des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit wird mit einem Be-

schluss des Gemischten Ausschusses in den Anhang I des Protokolls zur Lebensmit-

telsicherheit integriert (siehe Ziff. 2.1.6.2.2) Die Schweiz hat dann grundsätzlich die

Möglichkeit, das in den Anhang I integrierte EU-Recht direkt anzuwenden, das heisst

ohne die Schaffung entsprechenden Schweizer Rechts. Im Gegenzug erhält die

Schweiz Gelegenheit, bei der Ausarbeitung von Änderungen der betreffenden EU-

Rechtsakte im Geltungsbereich des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit oder bei der

Schaffung neuen EU-Rechts im Geltungsbereich des Protokolls zur Lebensmittelsi-

cherheit mitzuwirken (sog.

Decision Shaping

).

Aufgrund der künftigen grundsätzlich direkten Anwendung des einschlägigen, in An-

hang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit gelisteten EU-Rechts regelt die

schweizerische Sachgesetzgebung lediglich noch diejenigen Belange, in denen das

EU-Recht im Schweizer Recht präzisiert werden muss sowie spezifisch für die

Schweiz geltende Sachverhalte in Bereichen, die nicht vom einschlägigen EU-Recht

805 / 931

geregelt sind. Dies führt beim Tierseuchengesetz (TSG) dazu, dass zahlreiche Best-

immungen – beispielsweise zur Kennzeichnung und Registrierung von Tieren, zum

Tierverkehr und zu den Massnahmen im Verdachts- und Seuchenfall – aufgehoben

werden können, da sich die anwendbaren Regelungen künftig direkt aus dem im Pro-

tokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierten EU-Recht ergeben und Doppelspurig-

keiten vermieden werden sollen. Bei dieser Gelegenheit werden die Bestimmungen

zur Ausbildung im Bereich des Vollzugs des TSchG, des TSG und des LMG harmo-

nisiert. Dies erfolgt in Anlehnung an den «vom Hof auf den Tisch»-Ansatz des EU-

Lebensmittelrechts.

766

2.12.11.2

Verordnungsrecht

Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit hat neben einer Änderung des TSG auch

eine Revision von verschiedenen Verordnungen zur Folge.

Die Tierseuchenverordnung vom 27. Juni 1995

767

(TSV) bezeichnet die einzelnen

Seuchen und teilt sie in die derzeit geltenden verschiedenen Kategorien (hochanste-

ckend, auszurottend, zu bekämpfend, zu überwachend, s. die Art. 2–5) ein. Zudem

legt sie unter anderem für die einzelnen Seuchen die Bekämpfungsmassnahmen fest

sowie die Entschädigung der Tierhaltenden.

Künftig gilt für die Einteilung der Tierseuchen Artikel 1 der Verordnung

(EU) 2018/1882

768

in Verbindung mit Artikel 9 der Verordnung (EU) 2016/429

769

. Es

gibt die Kategorien A bis E. Die Kategorie A bezeichnet im Anhang der Verordnung

2018/1882 aufgeführte Tierseuchen, die normalerweise nicht in der EU auftreten und

für die unmittelbare Tilgungsmassnahmen ergriffen werden müssen, sobald sie nach-

gewiesen wird. Seuchen der Kategorie B sind im Anhang der Verordnung 2018/1882

aufgeführte Tierseuchen, die in allen EU-Mitgliedstaaten bekämpft werden müssen,

mit dem Ziel, sie in der gesamten EU zu tilgen. Die Kategorie C bezeichnet im An-

hang der Verordnung 2018/1882 aufgeführte Tierseuchen, die für einige EU-

Mitgliedstaaten relevant ist und für die Massnahmen getroffen werden müssen, damit

sie sich nicht in anderen Teilen der EU ausbreiten, die amtlich seuchenfrei sind oder

in denen es Tilgungsprogramme für eine solche Seuche gibt. Seuchen der Kategorie

D sind im Anhang der Verordnung 2018/1882 aufgeführte Tierseuchen, gegen die

Massnahmen getroffen werden müssen, um ihre Ausbreitung im Zusammenhang mit

dem Eingang in die EU oder durch Verbringungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten

zu verhindern. Seuchen der Kategorie E sind schliesslich im Anhang der Verordnung

2018/1882 aufgeführte Tierseuchen, die innerhalb der EU überwacht werden müssen.

766

https://food.ec.europa.eu > horizontal-topics > farm-fork-strategy

767

SR

916.401

768

Durchführungsverordnung (EU) 2018/1882 vom 3. Dezember 2018 über die Anwendung

bestimmter Bestimmungen zur Seuchenprävention und -bekämpfung auf Kategorien gelis-

teter Seuchen und zur Erstellung einer Liste von Arten und Artengruppen, die ein erhebli-

ches Risiko für die Ausbreitung dieser gelisteten Seuchen darstellen; ABl. L, 2018/1882,

4.12.2018.

769

Verordnung (EU) 2016/429 vom 9. März 2016 zu Tierseuchen und zur Änderung und Auf-

hebung einiger Rechtsakte im Bereich der Tiergesundheit («Tiergesundheitsrecht»); ABl

L, 2016/429, 31.3.2016, S. 1, geändert durch die Verordnung (EU) 2017/625 des Europäi-

schen Parlaments und des Rates vom 15. März 2017, ABl. L 95, vom 7.4.2017, S. 1.

806 / 931

Seuchen der Kategorie A entsprechen den hochansteckenden Tierseuchen nach Arti-

kel 2 TSV, Seuchen der Kategorie B ungefähr den auszurottenden Tierseuchen nach

Artikel 3 TSV, Seuchen der Kategorien C ungefähr den zu bekämpfenden Tierseu-

chen nach Artikel 4 TSV und Seuchen der Kategorie E den zu überwachenden Seu-

chen nach Artikel 5 TSV. Seuchen der Kategorien D sind Seuchen der Kategorien A–

C im Zusammenhang mit der Einfuhr von Tieren und Tierprodukten in die EU und

deren Verbringung zwischen den Mitgliedstaaten. – Es wird folglich eine Anpassung

der TSV hinsichtlich der Kategorisierung der Tierseuchen erforderlich sein.

Die Regelungen der TSV zur Registrierung von Tieren und zum Tierverkehr werden

aufgrund der direkten Anwendung der in das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit in-

tegrierten Regelungen des EU-Rechts grösstenteils wegfallen. Nicht mehr benötigt

werden sodann die Regelungen zu den Bekämpfungsmassnahmen, da sich diese eben-

falls künftig aus dem EU-Recht ergeben werden. Nach wie vor erforderlich sein wer-

den die Bestimmungen zur Sömmerung und zu Wanderherden, zu Viehmärkten und

zum Viehhandel, zum nationalen Überwachungsprogramm, zur Entschädigung und

zum Vollzug sowie gewisse Bestimmungen zu den tierischen Stoffen und zum Zucht-

material. Schliesslich räumt die Verordnung (EU) 2016/429 den EU-Mitgliedstaaten

in Bezug auf verschiedene Vorgaben Möglichkeiten für den Erlass von Ausnahmen

ein. So können unter gewissen Voraussetzungen Ausnahmen von der Zulassungs-

pflicht für Aquakulturbetriebe sowie für die Registrierung von Schafen und Ziegen

vorgesehen werden. Für die Verbringung von Schweinen und von Wassertieren dür-

fen die Mitgliedstaaten in Bezug auf die sie begleitenden Dokumente ebenfalls Er-

leichterungen vorsehen. Für die entsprechenden Ausnahmen beziehungsweise Er-

leichterungen bedarf es Regelungen in der TSV.

Die Verordnung vom 25. Mai 2011

770

über tierische Nebenprodukte (VTNP) enthält

die für den Handel mit tierischen Nebenprodukten und deren Entsorgung massgeben-

den Regelungen, welche bereits heute dem einschlägigen EU-Recht entsprechen.

Massgebend sind hier insbesondere die Verordnung (EG) Nr. 1069/2009

771

(Verord-

nung über tierische Nebenprodukte) und die Verordnung (EU) Nr. 142/2011

772

zur

Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 1069/2009. So wurde beispielsweise die Ein-

teilung der tierischen Nebenprodukte in die Kategorien 1–3 aus dem EU-Recht über-

nommen (s. die Art. 4ff. VTNP bzw. Art. 7ff. der Verordnung (EG) Nr. 1069/2009),

ebenso die Registrierungs- und Bewilligungspflichten (s. die Art. 10ff. VTNP bzw.

Art. 23ff. und 44ff. der Verordnung (EG) Nr. 1069/2009) sowie die Vorgaben für die

Verwendung von tierischen Nebenprodukten zur Fütterung sowie zur Herstellung von

Dünger (s. die Art. 27ff. VTNP bzw. Art. 11ff. und 32ff. der Verordnung (EG)

770

SR

916.441.22

771

Verordnung (EG) Nr. 1069/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Ok-

tober 2009 mit Hygienevorschriften für nicht für den menschlichen Verzehr bestimmte tie-

rische Nebenprodukte und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1774/2002 (Verord-

nung über tierische Nebenprodukte), ABl. L 300 vom 14.11.2009, S. 1, zuletzt geändert

durch Verordnung (EU) 2019/1009 vom 5. Juni 2019, ABl. L 170 vom 25.6.2019, S. 1.

772

Verordnung (EU) Nr. 142/2011 der Kommission vom 25. Februar 2011 zur Durchführung

der Verordnung (EG) Nr. 1069/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates mit Hy-

gienevorschriften für nicht für den menschlichen Verzehr bestimmte tierische Nebenpro-

dukte sowie zur Durchführung der Richtlinie 97/78/EG des Rates hinsichtlich bestimmter

gemäss der genannten Richtlinie von Veterinärkontrollen an der Grenze befreiter Proben

und Waren, ABl. L 54 vom 26.2.2011, S. 1.

807 / 931

Nr. 1069/2009). Auch die übrigen Regelungen der VTNP wurden dem EU-Recht

nachgebildet und fortlaufend an dieses angepasst. Vorgaben, welche einzig die

Schweiz betreffen, enthält die VTNP nicht. Sie wird daher bei Inkrafttreten des Pro-

tokolls zur Lebensmittelsicherheit nicht mehr benötigt und kann aufgehoben werden.

Für die Ein- und Durchfuhr von Tieren und Tierprodukten aus Drittstaaten gelten be-

reits heute die harmonisierten Regelungen des EU-Rechts (Art. 5 Abs. 1 bzw. 38 Abs.

1 der Verordnung vom 18. November 2015

773

über die Ein-, Durch- und Ausfuhr von

Tieren und Tierprodukten im Verkehr mit Drittstaaten [EDAV-DS]). Dasselbe gilt für

die Ein-, Durch- und Ausfuhr von Tieren und Tierprodukten im Verkehr mit den EU-

Mitgliedstaaten, Island und Norwegen sowie Nordirland (Art. 5 Abs. 1, 24 Abs. 2 und

25 Abs. 1 der Verordnung vom 18. November 2015

774

über die Ein-, Durch- und Aus-

fuhr von Tieren und Tierprodukten im Verkehr mit den EU-Mitgliedstaaten, Island

und Norwegen sowie Nordirland [EDAV-EU]). Die entsprechenden Regelungen wer-

den künftig direkt gestützt auf das Protokoll angewendet werden; die diesbezüglichen

Bestimmungen in der EDAV-DS und der EDAV-EU werden daher nicht mehr benö-

tigt und können aufgehoben werden. Dasselbe gilt für die Bestimmungen zu den Kon-

trollen und Massnahmen, welche sich aus der EU-Kontrollverordnung ergeben. Wei-

terhin benötigt werden in beiden Verordnungen die Regelungen zu den

Informationssystemen, zu den Gebühren und Kosten sowie die Verfahrensbestim-

mungen. In der EDAV-DS verbleiben zusätzlich die Regelungen, für welche im Pro-

tokoll zur Lebensmittelsicherheit Ausnahmen vorgesehen sind (Einfuhr von Pelzen

und Pelzprodukten sowie Einfuhr von Rindfleisch aus Staaten ohne Verbot von hor-

monellen Stoffen als Leistungsförderer), sowie die Bestimmungen zur Ausfuhr und

zur Organisation der Vollzugstätigkeit.

In der Verordnung vom 28. November 2014

775

über die Ein-, Durch- und Ausfuhr von

Heimtieren (EDAV-Ht) werden lediglich noch die Bestimmungen zur Strafverfol-

gung, zu den Gebühren und Kosten sowie zum Schweizerischen Heimtierpass benö-

tigt. Die restlichen Bestimmungen werden durch die direkte Anwendung der in das

Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierten Verordnung (EU) 2016/429 abge-

löst.

2.12.11.3

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

Die Verabschiedung einer Botschaft zu einem Lebensmittelsicherheitsabkommen mit

der EU in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode ist in der vom Bundesrat verab-

schiedeten Botschaft vom 24. Januar 2024 zur Legislaturplanung 2023–2027 ange-

kündigt. Der Abschluss des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit bildet somit Be-

standteil der Strategie des Bundesrates für die Jahre 2023–2027 und hat unter anderem

die Änderung des TSG zur Folge. Der Bundesrat wird seine finanzpolitischen Ent-

scheidungen im Rahmen der Erstellung des jährlichen Voranschlags treffen.

773

SR

916.443.10

774

SR

916.443.11

775

SR

916.443.14

808 / 931

2.12.11.4

Umsetzungsfragen

Für den Vollzug des TSG sind bis auf wenige Ausnahmen die Kantone zuständig (s.

Art. 53). Die direkte Anwendung des einschlägigen EU-Rechts wird unter anderem

zu einer Umstellung bei der Verfügungspraxis der kantonalen Vollzugsorgane führen,

da Verfügungen künftig direkt gestützt auf das im Protokoll zur Lebensmittelsicher-

heit integrierte EU-Recht erlassen werden. Ebenso müssen die kantonalen Vollzugs-

organe zusätzliche Registrierungs- und Bewilligungspflichten von Tierhaltenden um-

setzen sowie neue Konzepte anwenden (geschlossene Betriebe/Kompartimente).

Damit die Vollzugsorgane ausreichend Zeit haben, ihre Praxis anzupassen, wird in

Artikel 31 des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit eine Übergangsfrist von maximal

zwei Jahren nach Inkrafttreten vorgesehen (s. Ziff. 2.12.7).

2.12.11.5

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des

Umsetzungserlasses

Ingress

Im Ingress werden die bereits im geltenden TSG aufgeführten Bestimmungen der BV

genannt, welche den Bund zur Gesetzgebung im Bereich der Bekämpfung übertrag-

barer, stark verbreiteter oder bösartiger Krankheiten von Tieren sowie zum Erlass von

Vorschriften über die Ausübung der privatwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit ermäch-

tigen. Neu wird ebenfalls das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit erwähnt, da das

Gesetz unter anderem dessen Umsetzung dient.

Art. 1

Geltungsbereich

Wie unter Ziffer 2.12.3.2 erwähnt, wird das im Bereich Tiergesundheit geltende EU-

Recht, welches Bestandteil des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit ist, künftig

grundsätzlich direkt angewendet. Die im Einzelnen geltenden EU-Erlasse werden in

Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit aufgeführt (s. Ziff. 2.12.4). Mas-

sgebend für den Tierseuchenbereich sind insbesondere die in Anhang I Abschnitt 2

Buchstaben A (amtliche Kontrollen und Einfuhr), G (Tierseuchen, Tiergesundheit)

und Q (tierische Nebenprodukte) aufgeführten EU-Verordnungen. Zentrale Erlasse

sind die Verordnungen (EU) 2016/429 (Tiergesundheitsrecht der EU) und die EU-

Kontrollverordnung (Verordnung [EU] 2017/625).

Die Regelungen im TSG werden sich daher künftig auf diejenigen Belange

beschrän-

ken, in denen das EU-Recht im Schweizer Recht präzisiert werden muss sowie spezi-

fisch für die Schweiz geltende Vorschriften. Bei einer allfälligen Kollision geht das

im Protokoll zur Lebensmittel-sicherheit aufgeführte EU-Recht dem TSG vor.

Der Inhalt des bestehenden Artikels 1 wird in den Artikel 1

a

verschoben. In Artikel 1

wird neu das Verhältnis des TSG zu anderen Erlassen geklärt. Grundsätzlich gilt das

TSG nur, soweit nicht die Bestimmungen der EU-Rechtsakte, die in Anhang I des

Protokolls zur Lebensmittelsicherheit aufgelistet sind, zur Anwendung kommen. Alle

809 / 931

in Anhang I Abschnitt 2 des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit genannten EU-

Rechtsakte sind anwendbar und die Bestimmung nennt die relevantesten.

Art. 1a

Der bestehende Artikel 1

a

kann aufgehoben werden, da sich die Definition der Tier-

seuchen aus Artikel 5 der Verordnung (EU) 2016/429 richtet. Der Inhalt des beste-

henden Artikels 1 wird in Artikel 1

a

verschoben.

Art. 3 Ziff. 1 und Art. 3a–3d

Das LMG, das TSG und das TSchG regeln die Anforderungen an die Mitarbeiterinnen

und Mitarbeiter der Vollzugsorgane sowie die Aus- und Weiterbildung heute einzeln

und spezifisch. Aktuell regelt die Verordnung vom 16. November 2011 über die Aus-

, Weiter- und Fortbildung der Personen im öffentlichen Veterinärwesen

776

die Tätig-

keit der amtlichen Fachexpertinnen und -experten sowie der amtlichen Fachassisten-

tinnen und -assistenten (letztere sind im Bereich der Schlachttier- und Fleischunter-

suchung tätig) sowie die Voraussetzungen dafür. Die im Laufe der Zeit entstandenen

Inkohärenzen werden mit der vorliegenden Änderung eliminiert und die Inhalte aktu-

alisiert. Die Änderung kann so als Grundlage für eine künftige gemeinsame «Bil-

dungsverordnung» der Vollzugsorgane im Lebensmittel- und im Veterinärbereich

dienen.

In Artikel 3

b

wird neu der Begriff «formale Bildung» eingeführt. Dadurch erfolgt eine

Angleichung der Terminologie an diejenige, die im Bundesgesetz vom 20. Juni

2014

777

über die Weiterbildung (WeBiG) verwendet wird. Nach Artikel 3 Buchstabe

a WeBiG ist unter «formaler Bildung» eine staatlich geregelte Bildung zu verstehen,

die zum Erwerb eines Diploms führt, das die Voraussetzung für die Ausübung einer

staatlich geregelten beruflichen Tätigkeit bildet. Die formale Bildung der Vollzugsor-

gane soll auf den «vom Hof auf den Tisch»-Ansatz des EU-Lebensmittelrechts

778

aus-

gerichtet werden. Diese sieht vor, dass die verschiedenen Verwaltungseinheiten, die

an der Kontrolle der Lebensmittelkette beteiligt sind, ein gemeinsames Konzept um-

setzen. Das Konzept beinhaltet auch eine Angleichung der Anforderungen an das

Kontrollpersonal. Absatz 2 von Artikel 3

b

gibt dem Bundesrat die Kompetenz, die

Einzelheiten der formalen Bildung zu regeln. Dazu gehört auch die Regelung der Vo-

raussetzungen für die Zulassung zur formalen Bildung. Die raschen Entwicklungen in

der Lebensmitteltechnologie und die Komplexität der zu beurteilenden Prozesse er-

fordern, dass die Kenntnisse der für den Vollzug im Lebensmittel- und Veterinärbe-

reich zuständigen Personen periodisch erweitert werden. Der Bund und die Kantone

sollen deshalb die Möglichkeit haben, für das Vollzugspersonal im Rahmen der for-

malen Bildung Weiterbildungen anzubieten (Abs. 3 von Art. 3

b

). Diese «Weiterbil-

dungen» sind nicht gleichzusetzen mit den «Weiterbildungen» nach Artikel 3 Buch-

stabe a WeBiG. Absatz 4 von Artikel 3

b

füllt eine Lücke in der bisherigen

Gesetzgebung. Er räumt dem Bundesrat die Kompetenz ein, das Ausbildungsniveau

776

SR

916.402

777

SR

419.1

778

https://food.ec.europa.eu > horizontal-topics > farm-fork-strategy

810 / 931

der Vollzugsorgane von Bund und Kantonen durch das Vorschreiben von Weiterbil-

dungen nach Absatz 3 auf dem neuesten Stand zu halten. Auch Weiterbildungen, die

von externen Stellen angeboten werden, können in Frage kommen.

Artikel 3

c

erlaubt dem Bundesrat, Prüfungskommissionen zu ernennen. Dabei handelt

es sich um beratende ausserparlamentarische Kommissionen nach Artikel 57

a

ff. des

Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes vom 21. März 1997

779

. Sie haben

keine Entscheidkompetenz. Ihre Aufgaben bestehen darin, Prüfungen abzunehmen

und die zuständige Bundesstelle in Ausbildungsfragen zu beraten.

Da im Zusammenhang mit der Ausbildung der mit der amtlichen Kontrolle betrauten

Personen auch Personendaten bearbeitet werden können, wird mit Artikel 3

d

eine Re-

gelung hinsichtlich der Datenbearbeitung eingefügt.

Art. 8

Kontrolle

Zwar wird der Inhalt des geltenden Artikels 8 durch Artikel 15 der Verordnung (EU)

2017/625 abgedeckt. Dennoch wird Artikel 8 beibehalten und es wird auf die Bestim-

mung im EU-Recht verwiesen, damit das Gesetz aus sich heraus verständlich bleibt.

Art. 9a

Die Seucheneinteilung richtet sich künftig nach dem EU-Recht. Das EU-Recht kennt

den Begriff der «Hochansteckenden Seuchen» nicht. Folglich werden keine entspre-

chenden Regelungen dazu benötigt und der Artikel 9

a

kann aufgehoben werden.

Art. 10

Massnahmen im Tierseuchenfall

Im Tierseuchenfall, d. h. wenn eine Tierseuche ausbricht oder ein Ausbruch unmittel-

bar droht, ergänzt diese Bestimmung zu Verwaltungsmassnahmen die Regelungen der

Verordnung (EU) 2016/429 für diejenigen Konstellationen, die vom EU-Recht nicht

abgedeckt werden. Verwaltungsmassnahmen nach Kontrollen werden von Artikel 138

der Verordnung EU 2017/625 erfasst. Die Massnahmen im Verdachtsfall werden voll-

umfänglich von der Verordnung (EU) 2016/429 geregelt.

Art. 11 Abs. 1 und 2 erster Satz

Der Inhalt von Artikel 11 Absatz 1 wird durch Artikel 10 der Verordnung (EU)

2016/429 abgedeckt. Daher wird Absatz 1 aufgehoben. Aus diesem Grund muss der

erste Satz von Absatz 2 angepasst werden, damit die Bestimmung auch ohne Absatz 1

verständlich bleibt.

779

SR

172.010

811 / 931

Art. 12

Verbotener Verkehr mit Tieren, Ausnahmen

Die Bestimmungen zum Verdachts- und Seuchenfall in der Verordnung (EU)

2016/429 decken den Inhalt des Artikels 12 ab. Dennoch wird Artikel 12 beibehalten

und es wird auf das EU-Recht verwiesen, damit das Gesetz aus sich heraus verständ-

lich bleibt.

Art. 13 Abs. 2

Artikel 13 Absatz 2 wird durch Artikel 15 der Verordnung (EU) 2017/625 abgedeckt.

Daher kann diese Bestimmung aufgehoben werden.

Art. 14–15a

Die Inhalte der Artikel 14–15

a

werden durch die Artikel 112–115 der Verordnung

(EU) 2016/429 abgedeckt. Dennoch werden diese Artikel beibehalten und es wird auf

die Bestimmungen im EU-Recht verwiesen, damit das Gesetz aus sich heraus ver-

ständlich bleibt. Die Sachüberschriften bleiben gleich.

Art. 16

Der Inhalt des Artikels 16 wird durch die Artikel 112–115 der Verordnung (EU)

2016/429 abgedeckt. Daher kann diese Bestimmung aufgehoben werden. Das Gesetz

bleibt auch durch die Aufhebung dieser Bestimmung verständlich.

Art. 17 und 23

Artikel 242 der Verordnung (EU) 2016/429 deckt den Inhalt des Artikels 17 ab und

Artikel 23 wird durch die Artikel 125 und 192 der Verordnung (EU) 2016/429 abge-

deckt. Daher können diese Bestimmungen aufgehoben werden.

Art. 24

Ein-, Durch- und Ausfuhr von Tieren und Tierprodukten und

grenzüberschreitender Personenverkehr

Absatz 1 und 2 des geltenden Artikels 24 sind künftig überflüssig, da sich die Rege-

lungen zur Ein-, Durch- und Ausfuhr aus Teil V der Verordnung (EU) 2016/429 er-

geben. Auch Absatz 4 ist überflüssig, da er durch Artikel 59 der Verordnung (EU)

2017/625 abgedeckt wird. Die Verweise auf die Vorschriften der EU in Buchstabe a

von Absatz 3 im geltenden Artikel gelten durch das Protokoll ohnehin und sind daher

überflüssig. Da sich damit fast der gesamte Artikel ändert und nur noch der leicht

angepasste Absatz 3 bestehen bleibt, wird der Artikel neu geschrieben und neu geglie-

dert.

Art. 25 Abs. 2 und 3

Die beiden Absätze dieser Bestimmung werden durch die Artikel 66 und 67 der Ver-

ordnung (EU) 2017/625 abgedeckt, weshalb sie aufgehoben werden können.

812 / 931

Art. 47 Abs. 1

Wer gegen die Bestimmungen hinsichtlich Tierverkehr und die Ein-, Durch- und Aus-

fuhr in der Verordnung (EU) 2016/429 verstösst, macht sich strafbar. Absatz 1 wird

entsprechend ergänzt und neu gegliedert.

Art. 48 Abs. 1

Wer gegen die Pflicht der Unternehmer zur Identifizierung und Registrierung von

Rindern, Schafen, Ziegen, Equiden und Schweinen sowie die Seuchenpräventions-

massnahmen bei der Beförderung von Land- und Wassertieren verstösst, macht sich

strafbar. Absatz 1 wird entsprechend ergänzt und neu gegliedert. Der neue Buchstabe

a entspricht dem Absatz 1 im geltenden Recht. Die Verweise auf die Artikel 13–16

und 23 werden gestrichen, da sie nicht mehr erforderlich sind. Buchstabe b ersetzt

Artikel 13 Absatz 2 und Buchstabe c ersetzt die Artikel 14–16 und 23.

Art. 53 Abs. 1

bis

Dieser Absatz wird in die neuen Ausbildungsbestimmungen (Art. 3

a

–3

c

) verschoben.

2.12.11.6

Auswirkungen dieses Umsetzungserlasses

2.12.11.6.1

Auswirkungen auf den Bund

Bei der Planung der jährlichen nationalen Überwachungs- und Tilgungsprogramme

für Tierseuchen werden künftig die Kriterien des einschlägigen EU-Rechts massge-

bend sein. Alle Anforderungen, die in Bezug auf eine bestimmte Tierseuche festgelegt

sind, müssen erfüllt werden. Zudem werden die Kriterien des einschlägigen EU-

Rechts 1:1 für die Erlangung des Status der Freiheit in Bezug auf eine bestimmte Seu-

che gelten.

Für alle nach einschlägigem EU-Recht geregelten Tierseuchen muss ein nationales

Referenzlabor benannt werden, das für die Überwachung der Diagnostik zuständig ist

(s. Art. 100 der EU-Kontrollverordnung).

Dadurch, dass das im Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierte EU-Recht in

der Schweiz grundsätzlich direkt angewendet wird, hat die Schweiz neu wie ein EU-

Mitgliedstaat Zugang zu den Banken der EU für Antigene, Impfstoffe und diagnosti-

sche Reagenzien (s. Art. 48ff. der Verordnung 2016/429). Im Gegenzug wird die

MKS-Antigenbank des Instituts für Virologie und Immunologie (IVI) in das EU-

Netzwerk eingebettet.

Schliesslich entsteht für die Schweiz eine Verpflichtung, Krisenübungen und Simula-

tionen durchzuführen und Notfallpläne zu verwalten (s. Art. 43ff. der Verordnung

2016/429). Es wird beispielsweise ein nationaler Aktionsplan zur Prävention der Af-

rikanischen Schweinepest für die Wildschweinpopulation auf Schweizer Gebiet vor-

geschrieben (s. Art. 56 der Verordnung (EU) 2023/594

780

), der zusammen mit den

780

Durchführungsverordnung (EU) 2023/594 vom 16. März 2023 mit besonderen Seuchenbe-

kämpfungsmaßnahmen in Bezug auf die Afrikanische Schweinepest und zur Aufhebung

der Durchführungsverordnung (EU) 2021/605, ABl. L, 2023/594, 17.3.2023.

813 / 931

Umsetzungsergebnissen jährlich der Europäischen Kommission und den Mitglied-

staaten vorgelegt wird.

Aufgrund dessen, dass das in das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierte EU-

Recht im Tierseuchenbereich grundsätzlich direkt anwendbar sein wird, ergeben sich

Einsparungen bei den personellen Ressourcen. Hingegen ergeben sich aus den zusätz-

lichen Verpflichtungen wie Überwachungs- und Tilgungsprogrammen oder Krisen-

vorbereitungen Mehraufwände, die sich zum jetzigen Zeitpunkt jedoch nicht genau

beziffern lassen.

2.12.11.6.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf

urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

Materiell führt die vorliegende Änderung der Tierseuchengesetzgebung zu keinen

grossen Anpassungen, da das Schweizerische Tierseuchenrecht schon heute dem ein-

schlägigen EU-Recht entspricht. Auch die Organisation des Vollzugs erfährt keine

Veränderung

Die kantonalen Vollzugsorgane werden die Tierseuchengesetzgebung künftig haupt-

sächlich gestützt auf das in das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierte EU-

Recht vollziehen; konkret werden sie Bekämpfungsmassnahmen sowie anderweitige

Anordnungen überwiegend direkt gestützt auf dieses Recht verfügen. Aufgrund der

grundsätzlich direkten Anwendung des in das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit

integrierten EU-Rechts sowie der Änderung der bundesrechtlichen Tierseuchenge-

setzgebung wird auch die kantonale Tierseuchengesetzgebung angepasst werden müs-

sen. Aufgrund des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit werden sodann neue Kon-

zepte anwendbar, wie beispielsweise Kompartimente (s- Art. 37 der Verordnung

2016/429) und geschlossene Betriebe (s. Art. 96 der Verordnung 2016/429). Die not-

wendigen Änderungen bei der Gesetzgebung, die Umstellung der Verfügungspraxis

sowie die Anwendung der neuen Konzepte werden bei den Vollzugsorganen zu einem

Mehraufwand führen. Weiter führen die zusätzlichen Registrierungs- und Zulassungs-

pflichten (s. Ziff. 2.12.11.6.3) ebenfalls zu einem steigenden Aufwand im Vollzug.

Insgesamt ist in den Kantonen mit einem Mehraufwand zu rechnen, der sich zum jet-

zigen Zeitpunkt jedoch nicht genau beziffern lässt.

2.12.11.6.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Das ins Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierte EU-Recht sieht für gewisse

Betriebe Registrierungs- und Bewilligungspflichten vor, die im Schweizer Recht nicht

vorgesehen sind. Künftig werden diese Bestimmungen des EU-Rechts gestützt auf das

Protokoll zur Lebensmittelsicherheit in der Schweiz grundsätzlich direkt angewendet

werden. Beispielsweise werden neu Transportunternehmen die Huftiere transportie-

ren, registrierungspflichtig sein (s. Art. 87 der Verordnung 2016/429). Diese Regist-

rierungspflicht gilt auch für Unternehmen, die unabhängig von einem Betrieb Auf-

triebe durchführen (s. Art. 90 der Verordnung 2016/429). Neue Bewilligungspflichten

ergeben sich zudem in den Bereichen Aquakultur und Geflügelhaltung

Weiter schreibt das einschlägige EU-Recht den Tierhaltenden vor, sogenannte «Tier-

gesundheitsbesuche» durch eine Tierärztin oder einen Tierarzt vornehmen zu lassen

(s. Art. 25 der Verordnung 2016/429), die der Seuchenprävention dienen und deren

814 / 931

Häufigkeit im Verhältnis zu den vom betreffenden Betrieb ausgehenden Risiken ste-

hen muss.

Laboratorien für die amtliche Tierseuchendiagnostik müssen künftig positive Ergeb-

nisse von Proben aus einem EU-Mitgliedstaat – oder künftig aus der Schweiz – der

Behörde des betreffenden Mitgliedstaates – oder künftig der Schweiz – melden.

Für die Tierhaltenden beziehungsweise Unternehmen bedeutet die grundsätzlich di-

rekte Anwendung des ins Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierten EU-Rechts

eine grössere Rechtssicherheit im Handel mit der EU. Der Abbau von Handelshemm-

nissen stärkt den Wettbewerb und sichert die Standortattraktivität der Schweiz. Aus-

serdem wird eine gesicherte Beteiligung am EU-Binnenmarkt ermöglicht. Schliess-

lich liegt die umfassende Bekämpfung von Tierseuchen im gesamtschweizerischen

Interesse. Tierleid wird verhindert und allfällige wirtschaftliche Schäden und Aus-

fälle, die Tierhaltende im Seuchenfall zu gewärtigen hätten, werden abgewendet. Dies

wirkt sich positiv auf die Volkswirtschaft aus.

2.12.11.6.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Die Umsetzung im Bereich der Tierseuchengesetzgebung hat keine Auswirkungen auf

die Gesellschaft.

2.12.11.6.5

Auswirkungen auf die Umwelt

Die Umsetzung im Bereich der Tierseuchengesetzgebung hat keine Auswirkungen auf

die Umwelt.

2.12.11.6.6

Andere Auswirkungen

Es sind keine anderen Auswirkungen zu erwarten.

2.12.11.7

Rechtliche Aspekte dieses Umsetzungserlasses

2.12.11.7.1

Verfassungsmässigkeit

Nach Artikel 118 Absatz 2 Buchstabe b BV erlässt der Bund Vorschriften über «die

Bekämpfung übertragbarer, stark verbreiteter oder bösartiger Krankheiten von Men-

schen und Tieren». Der Bund hat in diesem Bereich eine umfassende Gesetzgebungs-

kompetenz. Sodann kann er Vorschriften erlassen über die Ausübung der privatwirt-

schaftlichen Erwerbstätigkeit (Art. 95 Abs. 1 BV), wovon im TSG ebenfalls Gebrauch

gemacht wird.

2.12.11.7.2

Vereinbarkeit mit anderen internationalen

Verpflichtungen der Schweiz

Aufgrund des bestehenden Landwirtschaftsabkommens mit der EU ist das Schweizer

Recht schon heute grundsätzlich mit der Verordnung (EU) Nr. 2016/429 (bzw. deren

Vorgänger-Rechtsakten) harmonisiert und die Schweiz ist schon heute verpflichtet,

verschiedene Vorschriften der EU auf den Handel zwischen der Schweiz und der Eu-

ropäischen Union und auf die Einfuhr aus Drittländern anzuwenden. Entsprechend

ergeben sich aufgrund der vorgeschlagenen Änderungen keine Widersprüche zu Ab-

kommen mit Vertragspartnern ausserhalb der EU.

815 / 931

2.12.11.7.3

Erlassform

Vorliegend wird ein bestehendes Bundesgesetz teilrevidiert. Die Erlassform ist beizu-

behalten. Zur Frage der Bündelung der Umsetzungsgesetzgebung, siehe Ziff. 4.3.

2.12.11.7.4

Vorläufige Anwendung

Es ist keine vorläufige Anwendung des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit vorge-

sehen. Dies gilt ebenfalls mit Bezug auf den VE-TSG.

2.12.11.7.5

Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass

Unterstellung unter die Ausgabenbremse

Artikel 159 Absatz 3 Buchstabe b BV sieht zum Zweck der Ausgabenbegrenzung vor,

dass Subventionsbestimmungen sowie Verpflichtungskredite und Zahlungsrahmen,

die neue einmalige Ausgaben von mehr als 20 Millionen Franken oder wiederkeh-

rende Ausgaben von mehr als 2 Millionen Franken nach sich ziehen, in jedem der

beiden Räte der Zustimmung der Mehrheit aller Mitglieder bedürfen. Mit der Umset-

zung im Bereich der Tierseuchengesetzgebung werden weder neue Subventionsbe-

stimmungen (die Ausgaben über einem der Schwellenwerte nach sich ziehen) ge-

schaffen, noch neue Verpflichtungskredite / Zahlungsrahmen (mit Ausgaben über

einem der Schwellenwerte) beschlossen.

Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der fiskalischen Äquivalenz

Die Umsetzung im Bereich der Tierseuchengesetzgebung tangiert die Aufgabentei-

lung oder die Aufgabenerfüllung durch Bund und Kantone nicht.

Einhaltung der Grundsätze des Subventionsgesetzes

Mit der Umsetzung im Bereich der Tierseuchengesetzgebung werden keine neuen

Subventionsbestimmungen geschaffen. Artikel 10 wurde aus dem geltenden Recht

übernommen (Art. 11

a

TSG).

Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen

Das TSG regelt künftig nur noch diejenigen Belange, in denen das EU-Recht im

Schweizer Recht präzisiert werden muss sowie spezifisch für die Schweiz geltende

Sachverhalte in Bereichen, die nicht vom einschlägigen EU-Recht geregelt sind. Da-

bei bedürfen die Grundsätze sowie alle Bereiche nach Artikel 164 Absatz 1 BV (u.a.

Rechte und Pflichten von Privatpersonen) einer Grundlage im formellen Gesetz. Die

Ausführungsbestimmungen werden vom Bundesrat erlassen. Konkret wird er neu in

Bezug auf die Anforderungen an die Mitarbeitenden der Fachstellen, deren Bildung

816 / 931

und der diesbezüglichen Prüfungskommission die entsprechenden Ausführungsbe-

stimmungen erlassen. Die übrigen Ermächtigungen zum Erlass von Ausführungsbe-

stimmungen durch den Bundesrat, beispielsweise im Zusammenhang mit der Kenn-

zeichnung von Hunden sowie den Kosten für die Tierseuchenbekämpfung und der

Entschädigung von Tierverlusten, werden aus dem geltenden Recht übernommen.

2.12.11.7.6

Datenschutz

Neu enthält das TSG zusätzlich zu den Bestimmungen zur Bearbeitung der Daten in

den Informationssystemen auch Bestimmungen zur Datenbearbeitung im Zusammen-

hang mit der Ausbildung der mit der amtlichen Kontrolle betrauten Personen. Bei die-

sen gelten bei der Bearbeitung durch Bundesorgane ebenfalls die Grundsätze des

DSG.

2.12.12

Auswirkungen des Paketelements

Zusammenfassende Darstellung der wichtigsten Auswirkungen auf die davon

betroffenen Gesetzgebungen:

Umset-

zungserlass

Bund

Kanton

Volkswirtschaft

Gesellschaft

Umwelt

LWG

&

WaG

Pflanzen-

gesundheit

Der Mehraufwand

für Vollzug und

Überwachung der

Umsetzung

der

Bestimmungen im

Bereich der Pflan-

zengesundheit be-

trägt für den Bund

schätzungsweise

rund 5 Mio. CHF

pro Jahr, mit einer

möglichen Reduk-

tion auf 4,1 Mio.

CHF pro Jahr ab

2033. Dies bein-

haltet

1,5 Mio.

CHF pro Jahr für

rund 9 zusätzliche

Vollzeitstellen auf

vier Bundesstellen

verteilt für die ers-

ten

vier

Jahre.

Diese können auf

5

Vollzeitstellen

für die darauffol-

genden Jahre redu-

ziert

werden

(0,8 Mio. CHF pro

Jahr).

Der Mehraufwand

für Vollzug und

die Überwachung

der Umsetzung der

Bestimmungen im

Bereich der Pflan-

zengesundheit be-

trägt für die Kan-

tone

schätzungsweise

1 Mio. CHF pro

Jahr

(insgesamt

über alle Kantone,

inklusive

Perso-

nal).

Das Protokoll er-

möglicht

pflan-

zenproduzieren-

den

Betrieben

einen erleichterten

Handel. Die Be-

triebe

werden

mehr Kontrollge-

bühren entrichten

müssen,

da

die

Frequenz der Kon-

trollen erhöht wer-

den muss. Dies

trägt jedoch zur

Minderung

der

Verbreitung

von

Schadorganismen

und der damit zu-

sammenhängen-

den

volkswirt-

schaftlichen

Kosten bei.

Die Vorlage hat

eine positive Aus-

wirkung auf die

Gesellschaft. Mit

den

zusätzlichen

pflanzengesund-

heitlichen

Kon-

trollen

können

auch soziale Schä-

den

verringert

werden.

Durch intensivierte

Überwachung von

Schadorganismen

sind positive Ef-

fekte auf die Um-

welt zu erwarten.

Pflanzen-

vermeh-

rungsma-

terial

Der

jährliche

Mehraufwand im

Bereich Pflanzen-

Es sind geringe

Auswirkungen auf

die Kantone zu er-

warten.

Für den Saatgut-

sektor

und

das

Baumschulwesen

Die Vorlage hat

eine positive Aus-

wirkung auf die

Gesellschaft,

da

Es sind keine Aus-

wirkungen auf die

Umwelt zu erwar-

ten.

817 / 931

vermehrungsma-

terial liegt insge-

samt bei 362 000

CHF in den ersten

beiden Jahren (für

Vollzug

resp.

Kontrolle). Lang-

fristig sinkt dieser

auf 180 000 CHF.

Davon

entfallen

auf das forstliche

Vermehrungsgut

150 000 CHF bzw.

langfristig 86 000

CHF.

wird das Abkom-

men eine vollstän-

dige Integration in

den

EU-

Binnenmarkt und

Rechtssicherheit

schaffen.

Neue

Kontrollanforde-

rungen werden ge-

meinsam mit dem

Bereich Pflanzen-

gesundheit umge-

setzt.

damit

sicherge-

stellt wird, dass in

der Schweiz und

in der EU jederzeit

dasselbe hohe Si-

cherheitsniveau

gilt.

Pflanzen-

schutzmit-

tel

Der zusätzliche

Personalbedarf

kann heute noch

nicht genau bezif-

fert werden. Sollte

die Integration der

Schweiz in das

System der EU ei-

nen erhöhten Res-

sourcenbedarf be-

wirken, so wäre

dieser teilweise

durch Zusatzein-

nahmen aus er-

höhten Gebühren

gedeckt.

Es werden keine

Auswirkungen auf

die Kantone er-

wartet.

Die Integration der

Schweiz ins Zo-

nensystem der EU

für die Zulassung

wird die Arbeit

von Unternehmen

vereinfachen, die

ihre Produkte in

den Schweiz auf

den Markt bringen

wollen.

Ausser-

dem bekäme die

Schweizer Land-

wirtschaft densel-

ben Zugang zu den

Produkten, die in

der EU zugelassen

sind, was sich po-

sitiv

auf

die

Schädlingsbe-

kämpfung auswir-

ken würde. Eine

solche Integration

erfordert

aller-

dings eine Anglei-

chung der Zulas-

sungsgebühren an

diejenigen der an-

deren Länder der

zentralen

Zone.

Stärkung

des

Schutzes im Be-

reich menschliche

Gesundheit

Verbesserter Um-

weltschutz

Tierzucht

Allenfalls wird es

einen

geringen

Mehrbedarf

an

personellen

Res-

sourcen geben auf-

grund des Mitwir-

kungsrechts

der

Schweiz bei der

Erarbeitung

von

EU-Recht.

Keine

Keine

Keine

Keine

818 / 931

Futtermit-

tel

Finanzielle

Aus-

wirkungen

sind

nicht zu erwarten.

Die direkte An-

wendung des EU-

Rechts hat keine

wesentlichen Än-

derungen für die

Vollzugsbehörde

des Bundes zur

Folge. Die Voll-

zugsaufgaben än-

dern sich nicht in

ihrer

Häufigkeit

und nur geringfü-

gig in ihrer Vorge-

hensweise.

Es sind keine Aus-

wirkungen auf die

Kantone zu erwar-

ten. Die Vollzugs-

aufgaben auf Stufe

der Primärproduk-

tion ändern sich

weder in der Häu-

figkeit noch in der

Vorgehensweise.

Dank dem Wegfall

des Erfordernisses

einer

nationalen

Zulassung

erhält

die

Futtermittelin-

dustrie

einen

schnelleren

und

direkteren Zugang

zu den Produkten,

die in der EU zu-

gelassen sind.

Die Vorlage hat

eine positive Aus-

wirkung auf die

Gesellschaft,

da

damit

sicherge-

stellt wird, dass in

der Schweiz und

in der EU jederzeit

dasselbe hohe Si-

cherheitsniveau

gilt.

Es sind keine Aus-

wirkungen auf die

Umwelt zu erwar-

ten

LMG

Zum jetzigen Zeit-

punkt kann nicht

abgeschätzt wer-

den,

inwieweit

sich die Verände-

rungen der Aufga-

ben auf den Perso-

nal-Etat auswirkt.

Die direkte An-

wendung des in

das Protokoll zur

Lebensmittelsi-

cherheit integrier-

ten

EU-Rechts

führt bei den kan-

tonalen Vollzugs-

stellen zu keinen

nennenswerten

Veränderungen.

Die Vollzugsauf-

gaben ändern sich

weder in der Fre-

quenz noch der

Vorgehensweise.

Auf

städtische

Zentren,

Agglo-

merationen

und

Berggebiete

hat

die Vorlage keine

konkreten Auswir-

kungen.

Die vorgeschlage-

nen

Änderungen

des LMG sichern

die

Harmonisie-

rung mit dem EU-

Recht und damit

den vereinfachten

gegenseitigen

Marktzugang

im

Lebensmittelbe-

reich. Dies verhin-

dert

technische

Handelshemm-

nisse und wirkt

sich damit positiv

auf

das

Wirt-

schaftswachstum

und die wirtschaft-

lichen Rahmenbe-

dingungen.

Aus dem Blick-

winkel des Ge-

sundheitsschutzes

ist die direkte An-

wendung von EU-

Recht

in

der

Schweiz positiv zu

beurteilen.

Es sind keine Aus-

wirkungen auf die

Umwelt zu erwar-

ten.

TSG

Im Bereich der

Planung von Mo-

nitoring Aktivitä-

ten ergibt sich ein

Mehraufwand

während bei der

Anpassung

der

rechtlichen Vorga-

ben ein Minder-

aufwand resultiert.

Zum jetzigen Zeit-

punkt kann nicht

abgeschätzt wer-

den,

inwieweit

sich die Verände-

Die Anpassungen

in der Gesetzge-

bung, der Verfü-

gungspraxis,

der

Anwendung neuer

Konzepte,

sowie

der

zusätzlichen

Registrierungs-

und

Zulassungs-

pflichten

führen

bei den Vollzugs-

organen zu einem

Mehraufwand.

Zum jetzigen Zeit-

punkt kann aber

nicht abgeschätzt

Die Tierhaltenden

bzw.

Unterneh-

men haben eine

grössere Rechtssi-

cherheit im Han-

del mit der EU und

einen gesicherten

Zugang zum EU-

Binnenmarkt. Der

Abbau von Han-

delshemmnissen

stärkt den Wettbe-

werb und sichert

die Standortattrak-

tivität

der

Schweiz.

Es sind keine Aus-

wirkungen auf die

Gesellschaft zu er-

warten.

Es sind keine Aus-

wirkungen auf die

Umwelt zu erwar-

ten.

819 / 931

rungen der Aufga-

ben auf den Perso-

nal-Etat auswirkt.

werden, in wel-

chem Rahmen sich

dieser bewegt. Auf

städtische Zentren,

Agglomerationen

und

Berggebiete

hat die Vorlage

keine

konkreten

Auswirkungen.

Die

umfassende

Bekämpfung von

Tierseuchen ist im

schweizerischen

Interesse und ver-

hindert

Tierleid

sowie

allfällige

wirtschaftliche

Schäden,

Dies

wirkt sich positiv

auf die Volkswirt-

schaft aus.

TSchG

Der aufgrund der

Änderung

des

TSchG anfallende

Mehraufwand

wird voraussicht-

lich mit den beste-

henden

Ressour-

cen

kompensiert

werden können.

Die Änderung des

TSchG führt bei

den Kantonen zu

personellen Aus-

wirkungen,

die

sich zum jetzigen

Zeitpunkt jedoch

nicht genau bezif-

fern lassen. Auf

städtische Zentren,

Agglomerationen

und

Berggebiete

hat die Vorlage

keine

konkreten

Auswirkungen.

Die

Bestimmun-

gen zu internatio-

nalen

Tiertrans-

porten und Tötung

von Tieren sind

bereits weitgehend

äquivalent, womit

die Auswirkungen

stark

begrenzt

sind.

Vereinzelt

dürften

zusätzli-

che Unternehmen

dem Geltungsbe-

reich

unterstellt

werden.

Es sind keine Aus-

wirkungen auf die

Gesellschaft zu er-

warten.

Es sind keine Aus-

wirkungen auf die

Umwelt zu erwar-

ten.

2.12.12.1

Auswirkungen auf den Bund

Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit betrifft die Landwirtschafts-, Lebensmittel-

, Tierseuchen-, Tierschutz- und Waldgesetzgebung. Die betreffenden Gesetze und de-

ren Ausführungserlasse haben bereits im Rahmen des bestehenden Landwirtschafts-

abkommen (Bilaterale I) in vielen Bereichen eine Angleichung an das EU-Recht er-

fahren. Unter dem aktuell geltenden System der Äquivalenz der Rechtsvorschriften

hat die Schweiz zu den einschlägigen Bestimmungen des EU-Rechts gleichwertiges

Schweizer Recht erlassen, welches zu den gleichen Ergebnissen führt und die gleiche

Wirkung erzielt.

Mit dem Protokoll zur Lebensmittelsicherheit werden sich die Aufgaben der Mitar-

beitenden in der Bundesverwaltung verändern. Aufgrund der künftig vorgesehenen

direkten Anwendung des in das Abkommen aufgenommenen massgebenden EU-

Rechts muss die schweizerische Gesetzgebung entlang der Lebensmittelkette über-

prüft und bereinigt werden.

Die Überprüfung und Bereinigung des Schweizer Rechts bringt einen anfänglichen

Mehraufwand mit sich. Diese Vorbereitungsarbeiten erfordern den Einsatz von erheb-

lichen personellen Ressourcen. Das BLV plant, diese Aufgaben mit den bestehenden

Ressourcen zu bewältigen und dafür seine für 2025–2028 vorgesehenen Tätigkeiten

neu zu organisieren. Das BLW und das BAFU schätzen, dass die Vorbereitungsarbei-

820 / 931

ten im Fachbereich Pflanzengesundheit 2 zusätzliche Vollzeitäquivalente bis 2027 er-

fordern. Für die Umsetzung des neuen Abkommens ab dem Zeitpunkt der Annahme

schätzen das BLW und das BAFU den zusätzlichen Bedarf an personellen Ressourcen

auf ungefähr 9 Vollzeitäquivalente bis 2032 und 5 Vollzeitäquivalente ab 2033 für die

Bearbeitung von Dossiers im Bereich Pflanzengesundheit und Pflanzenvermehrungs-

material durch das BLW, Agroscope, die WSL und das BAFU. Aufgrund der grossen

Anzahl betroffener Verordnungen und der Tatsache, dass in der Schweiz das Umset-

zungsverfahren und die Inhalte noch in Bearbeitung sind, kann der zusätzliche Bedarf

an personellen Ressourcen für die Umsetzung der Gesetze und Verordnungen bezüg-

lich Lebensmitteln und Pflanzenschutzmitteln nach heutigem Stand nicht genau be-

messen werden. Dies wird erst möglich sein, nachdem alle betroffenen Verordnungen

vollständig überarbeitet wurden. Dasselbe gilt für die Umsetzung der Gesetze und

Verordnungen im Tierseuchenbereich. Der effektive Ressourcenbedarf kann erst be-

ziffert werden, nachdem die betreffenden Verordnungen einer Totalrevision unterzo-

gen wurden. Da schon heute ein gemeinsamer europäischer Veterinärraum besteht,

dürfte der allfällige zusätzliche Bedarf aber geringer ausfallen.

Mit dem Protokoll zur Lebensmittelsicherheit wird neu die Möglichkeit geschaffen,

dass die Schweiz bei der Ausarbeitung von neuem EU-Recht mitwirken kann (

Deci-

sion Shaping

; s. Ziff. 2.1.6.2.1). Das bedeutet, dass Schweizer Fachleute am Prozess

der Ausarbeitung von EU-Rechtsakten innerhalb der Europäischen Kommission mit-

wirken und regelmässig an Sitzungen vor Ort teilnehmen können. Dies verursacht so-

wohl einen personellen wie auch einen finanziellen Mehraufwand. Zudem werden

Schweizer Expertinnen und Experten direkt und aktiv an den Arbeiten der EFSA mit-

wirken. Die Mitarbeit der Schweiz in der EFSA sowie die Möglichkeit der Mitwir-

kung der Schweiz bei der Ausarbeitung neuen EU-Rechts ermöglichen es, die Anlie-

gen der Schweiz aktiv einzubringen und allfällige Bedenken frühzeitig zu platzieren.

Die rechtzeitige Einbindung der Kantone in diese Prozesse ist wichtig, muss entwi-

ckelt werden und benötigt sowohl auf Stufe Bund als auch Kanton Ressourcen.

Der Bundesrat wird den ausgewiesenen Ressourcenbedarf zu gegebener Zeit überprü-

fen und darauf achten, dass ein allfälliger Mehrbedarf an Personalaufwand innerhalb

des Eigenbereichs des Bundes kompensiert wird.

Die Teilnahme der Schweiz am Informationsmanagementsystem für amtliche Kon-

trollen (IMSOC), das aus den Komponenten iRASFF, ADIS, EUROPHYT und

TRACES besteht und für die Durchführung der gemäss der EU-Kontrollverordnung

vorgesehenen amtlichen Kontrollen erforderlich ist, sollte mit den bestehenden Res-

sourcen sichergestellt werden können. Schon heute müssen die Kantone dem Bund

die entsprechenden Vollzugsdaten liefern. Sie werden vom BAFU, BLV und BLW

ins System eingegeben. Das wird auch künftig so sein. Die nachfolgende Tabelle gibt

eine indikative Übersicht über die jährliche Kostenbeteiligung der Schweiz für die

Teilnahmen an den Informationssystemen der EU basierend auf deren Budgets für

2024.

821 / 931

Kostenbeteiligung an der EFSA und an EU-Informationssystemen:

IT-System

Bereich

EU-Budget (2024, falls nicht

anders angegeben)

CH Beitrag basierend auf IMI

Vorausschau 2024 GDP CH /

GDP EU plus 4% Teilnahme-

gebühr

Europhyt

LM-Sicherheit

1’000’000

50’500

GIS

LM Sicherheit

500’000

25’500

iRASFF

LM Sicherheit

4'500’000

227’250

TRACES

LM Sicherheit

7'200’000

363’600

TRACES-ADIS

LM Sicherheit

1'300’000

65’650

European Food Safety

Authority (EFSA)

LM-Sicherheit

155’207’166

7’837’962

Total

169’707’166

8’570’462

2.12.12.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf

urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit hat auch Auswirkungen auf die Aufgaben

der Mitarbeitenden bei den kantonalen Vollzugsbehörden. Aufgrund der direkten An-

wendung des im Protokoll zur Lebensmittelsicherheit integrierten EU-Rechts werden

kantonale Entscheide künftig direkt gestützt auf den massgeblichen EU-Rechtsakt er-

lassen, was eine vorgängige Anpassung der Vollzugsprozesse und -unterlagen erfor-

dert. In den Bereichen, in denen neue Aufgaben oder eine deutliche Intensivierung

und Anpassung der bisherigen Aufgaben auf die kantonalen Vollzugsbehörden zu-

kommen (Pflanzengesundheit, forstliches Pflanzenvermehrungsmaterial und Tierseu-

chenprävention), ist bei den Kantonen mit einem Mehraufwand im Vollzug zu rech-

nen, was im Ergebnis zu einer besseren Prävention zur Verhinderung der Ausbreitung

von Tierseuchen, Pflanzenschädlingen oder -krankheiten beiträgt. Andererseits wird

der Anschluss und die Mitarbeit in den Informationssystemen den schweizerischen

Vollzugsbehörden den effizienten Vollzug erleichtern und die Lebensmittelsicherheit

weiter stärken. Wie bereits im vorangehenden Kapitel dargelegt, wird auch die Ein-

bindung der Kantone bei der Mitwirkung der Schweiz bei der Ausarbeitung neuen

EU-Rechts sowohl auf Stufe Bund als auch Kanton Ressourcen benötigen.

2.12.12.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Für die Konsumentinnen und Konsumenten bringt die direkte Anwendung der in das

Abkommen aufgenommenen EU-Rechtsakte die Gewähr, dass in der Schweiz und in

der EU jederzeit dasselbe hohe Sicherheitsniveau gilt. Insgesamt wird der Verbrau-

cherschutz damit gestärkt. Durch die Mitarbeit der schweizerischen Expertinnen und

Experten in den entsprechenden EU-Gremien kann die Schweiz ihr Wissen einbringen

und aus erster Hand von den neusten Kenntnissen profitieren.

2.12.12.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Für die Konsumentinnen und Konsumenten bringt die direkte Anwendung der in das

Abkommen aufgenommenen EU-Rechtsakte die Gewähr, dass in der Schweiz und in

822 / 931

der EU jederzeit dasselbe hohe Sicherheitsniveau gilt. Insgesamt wird der Verbrau-

cherschutz damit gestärkt. Durch die Mitarbeit der schweizerischen Expertinnen und

Experten in den entsprechenden EU-Gremien kann die Schweiz ihr Wissen einbringen

und aus erster Hand von den neusten Kenntnissen profitieren.

2.12.12.5

Auswirkungen auf die Umwelt

Die Vorlage hat keine Auswirkungen auf die Umwelt.

2.12.12.6

Andere Auswirkungen

Es sind keine anderen Auswirkungen zu erwarten.

2.12.13

Rechtliche Aspekte des Paketelements

2.12.13.1

Verfassungsmässigkeit des Protokolls

Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 der Bun-

desverfassung (BV), wonach der Bund für die auswärtigen Angelegenheiten zustän-

dig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV ermächtigt den Bundesrat, völkerrechtliche Verträge

zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Die Bundesversammlung ist nach Artikel 166

Absatz 2 BV für die Genehmigung völkerrechtlicher Verträge zuständig sofern für

deren Abschluss nicht aufgrund von Gesetz oder völkerrechtlichem Vertrag der Bun-

desrat zuständig ist (Art. 24 Abs. 2 ParlG; Art. 7a Abs. 1 RVOG). Beim Protokoll zur

Lebensmittelsicherheit handelt es sich nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag, für

dessen selbstständigen Abschluss der Bundesrat aufgrund eines Gesetzes oder eines

von der Bundesversammlung genehmigten völkerrechtlichen Vertrags ermächtigt ist.

Insbesondere geht die direkte Anwendung des in das Protokoll zur Lebensmittelsi-

cherheit vorgesehenen direkten Anwendung des mit dem Protokoll übernommenen

EU-Rechts über die in Artikel 177a Absatz 1 LWG, Artikel 53b TSG, Artikel 32a

TSchG und Artikel 45 LMG vorgesehenen Anwendungsbereiche hinaus. Es handelt

sich auch nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag von beschränkter Tragweite nach

Artikel 7a Absatz 2 RVOG. Zudem erfordert die Umsetzung des Protokolls zur Le-

bensmittelsicherheit die Revision von Bundesgesetzen. Das Protokoll zur Lebensmit-

telsicherheit ist folglich der Bundesversammlung zur Genehmigung zu unterbreiten.

2.12.13.2

Verfassungsmässigkeit der Umsetzungsgesetzgebung und

Begleitmassnahmen

Siehe Ziffern 2.12.8.6.1, 2.12.9.7.1, 2.12.10.7.1 und 2.12.11.7.1.

2.12.13.3

Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen

der Schweiz

Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit ist vereinbar mit den internationalen Ver-

pflichtungen der Schweiz. Vorgesehen ist, dass auch das Zusatzabkommen vom 27.

September 2007 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, dem Fürstentum

Liechtenstein und der Europäischen Gemeinschaft über die Einbeziehung des Fürs-

tentums Liechtenstein in das Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenos-

senschaft und der Europäischen Gemeinschaft über den Handel mit landwirtschaftli-

chen Erzeugnissen entsprechend geändert wird.

823 / 931

Der Abschluss von Abkommen mit Drittstaaten ist – unter Berücksichtigung der nach-

stehend dargelegten Einschränkungen – weiterhin möglich. Mit Integration der EU-

Rechtsakte in Anhang I des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit werden diese Teil

der Schweizer Rechtordnung. Will die Schweiz bestimmte neue Regeln von künftig

zu integrierenden Rechtsakten in Bezug auf den auf den Schweizer Markt beschränk-

ten Import bestimmter Produkte aus Drittstaaten nicht oder anders anwenden, müsste

dies mit einer Ausnahmebestimmung im Protokoll zur Lebensmittelsicherheit ausge-

handelt werden. So ist beispielsweise die Einfuhr von Rindfleisch, das von möglich-

erweise mit Wachstumshormonen behandelten Rindern stammt, auch weiterhin zu-

lässig, sofern es ausschliesslich für den Verbrauch auf dem Inlandmarkt vorgesehen

ist (s. Ziff. 2.12.6).

Allenfalls erforderliche Anpassungen der Anhänge des Übereinkommens zur Errich-

tung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) werden geprüft und zu einem

späteren Zeitpunkt vorgenommen. Im Übrigen wird auf die Erläuterungen in Ziffer

3.1.3 verwiesen.

2.12.13.4

Erlassform

Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 der Bundesverfassung (BV) unterlie-

gen völkerrechtliche Verträge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige recht-

setzende Bestimmungen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesge-

setzen erfordert. Nach Artikel 22 Absatz 4 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember

2002 sind unter rechtsetzenden Normen jene Bestimmungen zu verstehen, die in un-

mittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten auferlegen, Rechte

verleihen oder Zuständigkeiten festlegen. Als wichtig gelten Bestimmungen, die auf

der Grundlage von Artikel 164 Absatz 1 BV in der Form eines Bundesgesetzes erlas-

sen werden müssten.

Die Umsetzung des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit erfordert die Totalrevision

des LMG, sowie die Teilrevision des TSG, TSchG, LwG und WaG. Gestützt auf Ar-

tikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 BV ist der Bundesbeschluss über die Geneh-

migung des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit deshalb dem fakultativen Referen-

dum zu unterstellen (siehe aber die Varianten in Ziff. 4.1). Zur Frage der Bündelung

der Umsetzungsgesetzgebung, siehe Ziff. 4.3.

2.12.13.5

Vorläufige Anwendung

Eine vorläufige Anwendung des Protokolls zur Lebensmittelsicherheit ist nicht vor-

gesehen.

2.12.13.6

Besondere rechtliche Aspekte zur Umsetzungsgesetzgebung

Siehe Ziffern 2.12.8.6.5, 2.12.9.7.5, 2.12.10.7.5 und 2.12.11.7.5

2.12.13.7

Datenschutz

Siehe Ziffern 2.1.9.7, 2.12.8.6.6, 2.12.9.7.6, 2.12.10.6.6 und 2.12.11.7.6.

824 / 931

2.13

Gesundheit

2.13.1

Zusammenfassung

Gesundheitskrisen machen nicht vor Grenzen Halt. Eine diesbezügliche Zusammen-

arbeit ist daher zentral – auf globaler, aber auch auf regionaler Ebene. Seit 2008 strebt

die Schweiz zum besseren Schutz der Schweizer Bevölkerung eine engere Zusam-

menarbeit mit der EU im Gesundheitsbereich an. Dazu möchte sie sich an den euro-

päischen Mechanismen zur Bewältigung schwerwiegender grenzüberschreitender Ge-

sundheitsbedrohungen, am Europäischen Zentrum für die Prävention und die

Kontrolle von Krankheiten (ECDC) und am Mehrjahresprogramm der EU im Gesund-

heitsbereich beteiligen können.

2018 stand die Schweiz kurz vor dem Abschluss eines Abkommens, das die Beteili-

gung an den oben genannten Instrumenten vorsah. Es scheiterte letztlich jedoch an

der fehlenden Einigung zwischen der Schweiz und der EU über die institutionellen

Fragen.

Eine Zusammenarbeit war deshalb nicht möglich, so dass die Schweiz im zentralen

Bereich der epidemiologischen Überwachung keinen Zugang zu den Informationen

und Mechanismen in der EU erhielt. Während der Covid-19-Pandemie musste die

Schweiz die EU um einen ad-hoc-Zugang ersuchen, um sich an bestimmten Gesund-

heitssicherheitsmechanismen der EU beteiligen zu können. Dieser inhaltlich und zeit-

lich beschränkte Zugang, den die EU der Schweiz in diesem besonderen Kontext ge-

währte, erwies sich als klarer Vorteil, da er in einer sehr schwierigen

epidemiologischen Lage eine wirksamere Reaktion ermöglichte. Seit August 2023

verfügt die Schweiz jedoch über keinen Zugang mehr.

Vor dem Hintergrund des nachgewiesenen Nutzens einer engeren Zusammenarbeit

haben die Schweiz und die EU vereinbart, ein Gesundheitsabkommen in den Paket-

ansatz aufzunehmen. Ziel ist es, die Zusammenarbeit mit der EU im prioritären Be-

reich der Gesundheitssicherheit zu formalisieren, um den Schutz der Schweizer Be-

völkerung vor epidemiologischen Risiken in einer schweren Gesundheitskrise zu

erhöhen und die Entstehung solcher Krisen verhindern zu können.

Entsprechend dem Schweizer Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 beschränkt

sich das Gesundheitsabkommen auf den Bereich der Gesundheitssicherheit und er-

möglicht der Schweiz den umfassenden Zugang:

zu den Gesundheitssicherheitsmechanismen der EU;

und zum ECDC.

Das Gesundheitsabkommen gewährleistet der Schweiz einen direkten und ständigen

Zugang zu den Frühwarnsystemen der EU und ermöglicht ihr so, rasch alle erforder-

lichen Informationen zu epidemiologischen Entwicklungen zu erhalten, beispiels-

weise im Fall einer Epidemie oder bei Ausbreitung einer neuen Virusvariante in einem

europäischen Land. Es erleichtert den Austausch mit den EU-Mitgliedstaaten und ver-

bessert die Fachkompetenzen und Instrumente der Schweiz, so dass sie durch erhöhte

825 / 931

Frühwarn- und Reaktionsfähigkeit im Bereich der epidemiologischen Überwachung

geeignete Massnahmen zum besseren Schutz ihrer Bevölkerung treffen kann. Das Ge-

sundheitsabkommen gewährleistet auch Zugang zu den Netzwerken und Informatio-

nen des ECDC im Bereich übertragbarer Krankheiten, einschliesslich Antibiotikare-

sistenzen. Zudem sieht das Abkommen vor, dass die Schweiz auf Wunsch fallweise

an gemeinsamen Beschaffungsverfahren für medizinische Gegenmassnahmen teil-

nehmen kann, was im Zusammenhang mit der Versorgungssicherheit interessant sein

könnte.

Mit diesem Abkommen hat die Schweiz im Bereich der Gesundheitssicherheit, der

durch das Abkommen abgedeckt wird, grundsätzlich die gleichen Rechte und Pflich-

ten wie die EU-Mitgliedstaaten. Die Schweiz ist insbesondere verpflichtet, relevante

Informationen zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsbedrohungen

bereitzustellen und sich finanziell an den entsprechenden Mechanismen beteiligen. Im

Gegenzug erhält die Schweiz umfassenden Zugang zu den epidemiologischen Daten

der EU-Mitgliedstaaten und kann am Austausch von Fachinformationen im Rahmen

der verschiedenen Gesundheitssicherheitsmechanismen teilnehmen. Dies soll dazu

beitragen, die Expertise in der Schweiz zu stärken. Die Schweiz wird weiterhin eigen-

ständig über allfällige Massnahmen zur Verhütung und Bewältigung von Epidemien

entscheiden.

Das Abkommen konzentriert sich auf den für die Schweiz prioritären Bereich der Ge-

sundheitssicherheit, damit sie ihre Bevölkerung besser vor schwerwiegenden Gesund-

heitsbedrohungen schützen kann. Andere Bereiche der Gesundheitspolitik wie Tabak

oder die Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung fallen

nicht in den Geltungsbereich des Gesundheitsabkommens. Das Abkommen sieht je-

doch die Möglichkeit einer künftigen Ausweitung auf andere Gesundheitsbereiche

vor, sofern dies im Interesse beider Parteien liegt. Eine solche Ausweitung des Gel-

tungsbereichs kann nur erfolgen, wenn sie von der Schweiz und der EU gemäss ihren

internen Verfahren zur Revision völkerrechtlicher Verträge genehmigt wird. Wie im

Schweizer Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 vorgesehen, werden die instituti-

onellen Elemente analog - soweit für das ordnungsgemässe Funktionieren des Ab-

kommens erforderlich - in das Gesundheitsabkommen übernommen.

Die Beteiligung der Schweiz am Mehrjahresprogramm der EU im Gesundheitsbereich

(derzeit «EU4Health») wird in einem separaten Abkommen geregelt. Hintergrund ist

der Entscheid, die Beteiligung der Schweiz an EU-Programmen in Protokollen zum

EU-Programmabkommen (EUPA) zu regeln, um Kohärenz zu gewährleisten. In bei-

den Abkommen sind Bestimmungen vorgesehen, um ihr ordnungsgemässes Funktio-

nieren zu gewährleisten und ihre Beziehungen zueinander zu regeln. So ist beispiels-

weise der Geltungsbereich des Gesundheitsabkommens massgebend für den Umfang

der Beteiligung der Schweiz am Mehrjahresprogramm der EU im Gesundheitsbe-

reich. Das Protokoll III zum EUPA über die Beteiligung der Schweiz am Programm

«EU4Health» (Protokoll EU4Health) sieht vor, dass die Schweiz ab dem 1. Januar des

auf das Inkrafttreten des Gesundheitsabkommens folgenden Jahres am Programm teil-

nehmen kann. Falls das Abkommen jedoch nicht bis zum 31. Dezember 2026 in Kraft

tritt, wird die Schweiz nicht am Programm «EU4Health» für den Zeitraum 2021–2027

teilnehmen. Wenn sich die Schweiz am nachfolgenden Gesundheitsprogramm (2028–

826 / 931

2034) beteiligen möchte, ist gemäss den üblichen Verfahren für völkerrechtliche Ver-

träge ein neues Protokoll zum EUPA auszuhandeln.

Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt. Er beantragt

im Rahmen des Weiterentwicklungsteils des Pakets Schweiz–EU die Genehmigung

des Gesundheitsabkommens.

2.13.2

Ausgangslage

Gesundheitskrisen machen nicht vor Grenzen Halt, wie es die Covid-19-Pandemie

verdeutlicht hat. Zur Bewältigung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesund-

heitsbedrohungen in Europa ist deshalb eine enge Zusammenarbeit über die Grenzen

hinweg sinnvoll. Zwischen der Schweiz und der EU gibt es bislang aber kein spezifi-

sches bilaterales Abkommen im Bereich Gesundheit. So fehlt insbesondere eine ver-

tragliche Grundlage für eine Zusammenarbeit im Bereich Gesundheitssicherheit. Die

Zusammenarbeit erfolgte bisher ad-hoc und beschränkt auf grössere Krisensituatio-

nen.

Die Schweiz und die EU verfolgen seit vielen Jahren das Ziel, die Zusammenarbeit

im Bereich Gesundheit durch ein bilaterales Abkommen zu stärken und zu formali-

sieren. Bereits 2008 verabschiedete der Bundesrat das Verhandlungsmandat für ein

Abkommen im Bereich öffentliche Gesundheit. In den darauffolgenden Jahren fanden

verschiedene Gespräche und Verhandlungen statt, wobei insbesondere 2018 wichtige

Fortschritte erzielt werden konnten. Der damals erarbeitete Entwurf eines Abkom-

mens sah die Beteiligung der Schweiz an den EU-Mechanismen im Bereich Gesund-

heitssicherheit, am ECDC sowie am damaligen EU-Gesundheitsprogramm (2014–

2020) vor. Aufgrund der auf übergeordneter Ebene ungeklärten institutionellen Fra-

gen war die EU jedoch nicht bereit, die Verhandlungen abzuschliessen.

Im Rahmen des Paketansatzes wurden die exploratorischen Gespräche für ein Ge-

sundheitsabkommen wieder aufgenommen (Juni–Oktober 2023). Gegenstand der ex-

ploratorischen Gespräche war in erster Linie der Geltungsbereich des Abkommens,

wobei die EU den Wunsch äusserte, die Zusammenarbeit auf Themenbereiche über

die Gesundheitssicherheit hinaus auszuweiten.

Als Ergebnis der exploratorischen Gespräche und gemäss dem Wunsch der Schweiz

wurde im

Common Understanding

jedoch festgehalten, dass der Geltungsbereich des

Abkommens auf die Gesundheitssicherheit und auf die in diesem Zusammenhang re-

levanten EU-Rechtsakte beschränkt bleiben sollte

781

. Die Schweiz sollte Zugang zu

den relevanten EU-Netzwerken und Mechanismen, zum ECDC sowie zum mehrjäh-

rigen EU-Gesundheitsprogramm «EU4Health» (2021–2027) erhalten. Es wurde ver-

einbart, dass die institutionellen Elemente im Gesundheitsabkommen analog Anwen-

dung finden sollen (s. Ziff. 2.13.6.1.2), um das reibungslose Funktionieren des

Abkommens zu gewährleisten. Schliesslich wurde festgehalten, dass eine künftige

Ausweitung der Zusammenarbeit auf andere Themenbereiche der Gesundheitspolitik

möglich sein soll, falls dies im Interesse beider Seiten wäre.

781

S.

Common Understanding

, Ziff. 4.

827 / 931

Ohne ein bilaterales Gesundheitsabkommen fehlt die notwendige Grundlage für eine

bessere, formalisierte Zusammenarbeit mit der EU im Bereich der Gesundheitssicher-

heit. Eine solche Zusammenarbeit stärkt den Schutz der Gesundheit der Schweizer

Bevölkerung. Dies hat die Covid-19-Krise konkret gezeigt. Während der Covid-19-

Pandemie gewährte die Europäische Kommission der Schweiz auf deren offizielle

Anfrage hin ad-hoc Zugang zu einem Teil der relevanten Gremien und Netzwerke.

Die Schweiz profitierte massgeblich von europäischen Mechanismen sowie Informa-

tions- und Austauschplattformen. Verschiedene Berichte, darunter jener der BK, zeig-

ten dies im Nachgang der Krise auf

782

. Dieser Zugang war aber inhaltlich und zeitlich

beschränkt und wurde im Sommer 2023 wieder eingestellt. Die Erfahrungen haben

gezeigt, wie wertvoll eine engere Zusammenarbeit für die Schweiz ist.

Mangels Abkommen hat die Schweiz derzeit keinen Zugang zu den relevanten EU-

Mechanismen und Gremien für die Prävention und Bewältigung von Krisen und zeit-

nahen Informationen über relevante epidemiologische Entwicklungen in der EU. Zu

diesen Mechanismen und Gremien gehören u. a. der Gesundheitssicherheitsausschuss

(HSC) sowie das Frühwarn- und Reaktionssystem (EWRS) der EU, über das die teil-

nehmenden Staaten ständigen Zugang zu epidemiologischen Daten haben, die rund

um die Uhr eingegeben und abgerufen werden können. Die Schweiz hat ein grosses

Interesse daran, die Zusammenarbeit mit der EU vertraglich abzusichern, um ihre

Frühwarn- und Reaktionsfähigkeit bei schwerwiegenden grenzüberschreitenden Ge-

sundheitsbedrohungen zu stärken. Es dient der Schweiz, zum Beispiel rasch alle nöti-

gen Informationen zur Ausbreitung neuer Virus-Varianten oder zu den Erfahrungen

und Erkenntnissen mit unterschiedlichen Teststrategien zu erhalten. Eine solche Zu-

sammenarbeit ist nicht nur in Krisensituationen wichtig, sondern bereits zur Vorbeu-

gung künftiger Krisen. Zudem stärkt sie die vorhandene Expertise in der Schweiz und

bietet u. a. die Möglichkeit, an europaweiten Studien teilzunehmen sowie Daten und

Erkenntnisse auf europäischer Ebene auszutauschen und zu vergleichen, etwa im Be-

reich der Antibiotikaresistenz.

Über Massnahmen, die in der Schweiz für die Verhütung oder Bewältigung von Ge-

sundheitsbedrohungen allenfalls zu treffen sind, entscheidet die Schweiz auch in Zu-

kunft eigenständig.

2.13.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

Mit dem Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 setzte sich die Schweiz das Ziel, die

Zusammenarbeit mit der EU im für sie prioritären Bereich der Gesundheitssicherheit

zu verstetigen und vertraglich zu regeln. Der Geltungsbereich des Abkommens sollte

wie von der Schweiz gewünscht auf den Bereich der Gesundheitssicherheit be-

schränkt sein. Andere Bereiche der Gesundheitspolitik, wie beispielsweise Tabak oder

die Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung, gehören

nicht zum Geltungsbereich des Abkommens.

782

S. hierzu: Bericht zur Auswertung des Krisenmanagements der Bundesverwaltung in der

Covid-19-Pandemie (2. Phase / August 2020 bis Oktober 2021), 22.Juni 2022, abrufbar

unter: www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/72153.pdf.

828 / 931

Der Bereich der Gesundheitssicherheit umfasst den Zugang zu den relevanten Netz-

werken und Mechanismen der EU zur Krisenbewältigung sowie zur Prävention von

grenzüberschreitenden Gesundheitsbedrohungen wie auch die Teilnahme am ECDC

und am aktuellen mehrjährigen EU-Gesundheitsprogramm «EU4Health» (2021–

2027).

Gemäss Schweizer Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 sollte sich die Teilnahme

an den Rechten und Pflichten in den massgeblichen Rechtsakten der EU ausrichten.

Dazu gehört auch eine finanzielle Beteiligung. Dafür wurde ein jährliches Kostendach

von 50 Millionen Franken festgelegt. Wie bereits im

Common Understanding

festge-

halten, sollten die institutionellen Elemente im Gesundheitsabkommen analog An-

wendung finden (s. Ziff. 2.13.6.1.2). Dies ermöglicht das reibungslose Funktionieren

des Abkommens und eine Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU im Be-

reich Gesundheitssicherheit gemäss den Rechten und Pflichten, die in den entspre-

chenden Rechtsgrundlagen vorgesehen sind. Dazu gehört beispielsweise der Einsitz

in den relevanten Gesundheitssicherheitsgremien der EU. Auch erlaubt die Anwen-

dung der institutionellen Elemente eine regelmässige Aktualisierung des Gesundheits-

abkommens, wodurch die verfügbaren Instrumente im Bereich der Gesundheitssicher-

heit den Entwicklungen im Bereich der grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren

angepasst bleiben. Die Anwendung der institutionellen Elemente im Gesundheitsab-

kommen, einem Kooperationsabkommen, erfolgt zudem vor dem Hintergrund des auf

die Gesundheitssicherheit und damit eng beschränkten Geltungsbereichs und nur so

weit für dessen Funktionieren notwendig. Die institutionellen Bestimmungen wurden

von der Verhandlungsgruppe «Institutionelle Bestimmungen und andere Fragen» in

Zusammenarbeit mit der Verhandlungsgruppe «Gesundheit» gemäss den im Schwei-

zer Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 definierten Grundsätzen und Zielen aus-

gehandelt (s. Ziff. 2.1.3.3).

Im Rahmen des Pakets Schweiz-EU wurden die Verhandlungen mit der EU im Be-

reich Gesundheit Mitte März 2024 aufgenommen. Es fanden insgesamt zehn Ver-

handlungsrunden statt, und die Verhandlungen für das Gesundheitsabkommen sowie

für das Protokoll EU4Health konnten am 20. Dezember 2024 materiell abgeschlossen

werden. Das Verhandlungsmandat wurde vollständig erfüllt.

2.13.4

Vorverfahren

Wie in der Ausgangslage erläutert, möchten die Schweiz und die EU bereits seit 2008

die Zusammenarbeit im Bereich Gesundheit stärken und formalisieren. Priorität hatte

für die Schweiz dabei immer die Zusammenarbeit im Bereich Gesundheitssicherheit

– ein Bereich, dessen Bedeutung durch die Erfahrungen aus der Covid-19-Pandemie

weiter zugenommen hat. Die EU hat den entsprechenden Rechtsrahmen und ihre

Strukturen zur Gesundheitssicherheit im Nachgang der Krise gestärkt, was eine zu-

künftige Schweizer Beteiligung noch relevanter macht.

Bereits Anfang 2023 und damit zu Beginn der exploratorischen Gespräche wurde ein

kontinuierlicher informeller Dialog mit interessierten nationalen Partnern im Gesund-

heitsbereich (darunter Vertreterinnen und Vertreter von Krankenversicherern, Ärzte-

verbänden, Spitälern, der Pharma- und Industriebranche, von Gewerkschaften und Pa-

tientenorganisationen) sowie der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen

829 / 931

und -direktoren GDK aufgenommen. In diesem Rahmen wurde regelmässig über die

Entwicklungen im Zusammenhang mit dem Gesundheitsabkommen berichtet. Diese

Gespräche haben gezeigt, dass ein Abkommen im Bereich Gesundheitssicherheit, wie

es im

Common Understanding

und im Schweizer Verhandlungsmandat vom 8. März

2024 definiert wurde, Unterstützung findet.

Im Zuge der Abklärungen zum Gesundheitsabkommen wurden die wichtigsten As-

pekte der Regulierungsfolgenabschätzung durch eine vorgängige Analyse geprüft.

Die Analyse ergab, dass davon auszugehen ist, dass das Gesundheitsabkommen einen

wesentlichen Beitrag zur Vorbeugung und Bewältigung gesundheitlicher Krisen leis-

ten wird. Durch die Zusammenarbeit mit der EU sowie die Einbindung in die relevan-

ten Mechanismen und das ECDC wird die Fähigkeit der Schweiz gestärkt, sich auf

Krisen vorzubereiten und diese wirksam zu bewältigen. Das Gesundheitsabkommen

trägt damit zu einem verbesserten Schutz der Gesundheit bei, verringert wirtschaftli-

che Folgekosten von Gesundheitsbedrohungen und hat dementsprechend relevante

positive Auswirkungen auf die Schweizer Bevölkerung. Da diese Auswirkungen nur

schwer quantifizierbar sind, wurde auf eine umfassende externe Analyse verzichtet (s.

Ziff. 2.13.8.3).

2.13.5

Grundzüge des Abkommens

Das im Schweizer Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 definierte Ziel, die Zu-

sammenarbeit mit der EU im Bereich Gesundheitssicherheit zu formalisieren, konnte

vollständig erreicht werden, wobei die finanziellen Folgen des Abkommens unterhalb

des im Verhandlungsmandat definierten Kostendachs liegen. Im Folgenden werden

die Grundzüge der Zusammenarbeit im Bereich Gesundheitssicherheit dargestellt.

Diese Zusammenarbeit ist in zwei separaten Abkommen geregelt.

2.13.5.1

Gesundheitsabkommen

Der Geltungsbereich des Gesundheitsabkommens beschränkt sich auf die zwei rele-

vanten EU-Rechtsakte im Bereich Gesundheitssicherheit: die Verordnung

(EU) 2022/2371 zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren

783

und die Verordnung (EG) Nr. 851/2004 zur Errichtung eines Europäischen Zentrums

für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten

784

. Die Integration dieser beiden

Verordnungen in das Gesundheitsabkommen sichert der Schweiz den ständigen Zu-

gang zu den Gesundheitssicherheitsmechanismen der EU sowie zum ECDC und sei-

nen verschiedenen Netzwerken und Plattformen, die ein breites Themenspektrum im

Bereich der übertragbaren Krankheiten abdecken, einschliesslich antimikrobieller Re-

sistenzen. Die Schweiz hat dabei, mit Ausnahme des Stimmrechts sowie einiger wei-

terer technischer Anpassungen (s. Ziff. 2.13.6), dieselben Rechte und Pflichten wie

783

Verordnung (EU) 2022/2371 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Novem-

ber 2022 zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren und zur Aufhe-

bung des Beschlusses Nr. 1082/2013/EU, ABl. L 314 vom 6.12.2022, S. 26.

784

Verordnung (EG) Nr. 851/2004 zur Errichtung eines Europäischen Zentrums für die Prä-

vention und die Kontrolle von Krankheiten, geändert durch Verordnung (EU) 2022/2370

des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. November 2022, ABl. L 314 vom

6.12.2022, S. 1.

830 / 931

die EU-Mitgliedstaaten und nimmt ebenfalls Einsitz in den entsprechenden Gouver-

nanzgremien. Wie im

Common Understanding

und im Schweizer Verhandlungsman-

dat vom 8. März 2024 vorgesehen, enthält das Gesundheitsabkommen eine analoge

Anwendung der für die Binnenmarktabkommen vorgesehenen institutionellen Ele-

mente (s. Ziff. 2.13.6.1.2).

2.13.5.2

Protokoll EU4Health

Die Teilnahme der Schweiz am aktuellen mehrjährigen EU-Gesundheitsprogramm

«EU4Health» (2021–2027)

785

wird im Protokoll III zum EUPA geregelt. Dieses Ab-

kommen definiert den rechtlichen Rahmen und die Bedingungen für die Teilnahme

der Schweiz an EU-Programmen, einschliesslich des EU-Gesundheitsprogramms (s.

Ziff. 2.8.5 und 2.8.6).

Durch verschiedene Bestimmungen soll den engen inhaltlichen Verbindungen zwi-

schen dem Gesundheitsabkommen und der Teilnahme am EU-Gesundheitsprogramm

Rechnung getragen, sowie eine kohärente Umsetzung des Gesundheitsabkommens

und des Protokolls EU4Health gewährleistet werden. Beispielsweise wurde eine enge

Abstimmung zwischen dem Gemischten Ausschuss des Gesundheitsabkommens und

dem Gemischten Ausschuss des EUPA vorgesehen. Zudem sind der Geltungsbereich

des Gesundheitsabkommens und der Umfang der Teilnahme der Schweiz am Gesund-

heitsprogramm aufeinander abgestimmt: So konzentriert sich die Teilnahme der

Schweiz am Programm auf den Bereich «Krisenvorsorge», andere Bereiche sind nicht

abgedeckt. Diese partielle Teilnahme ist im Vergleich mit einer Vollteilnahme mit

entsprechend geringeren Kosten für die Schweiz verbunden. Voraussetzung für die

Teilnahme der Schweiz am aktuellen EU-Gesundheitsprogramm «EU4Health»

(2021–2027) ist das Inkrafttreten des Gesundheitsabkommens.

2.13.6

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Abkommens

2.13.6.1

Gesundheitsabkommen

Das Gesundheitsabkommen umfasst neben der Präambel 27 Artikel, zwei Anhänge,

eine Anlage und ein Protokoll. Diese Elemente sind integrierender Bestandteil des

Gesundheitsabkommens und werden durch eine einseitige Erklärung der Schweiz er-

gänzt (s. Ziff. 2.13.6.1.2).

In der Präambel wird vor allem die Bedeutung der Zusammenarbeit bei schwerwie-

genden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren zum Schutz der Bevölkerung der

Vertragsparteien hervorgehoben.

2.13.6.1.1

Allgemeine Bestimmungen

Artikel 1 legt die Ziele des Abkommens dar: Die Verstärkung der Zusammenarbeit

im Bereich der Gesundheitssicherheit, um die Gesundheit der Bevölkerung in der

Schweiz sowie in den EU-Mitgliedstaaten zu schützen und zu verbessern.

785

Verordnung (EU) 2021/522 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. März

2021 zur Einrichtung eines Aktionsprogramms der Union im Bereich der Gesundheit

(„EU4Health-Programm“) für den Zeitraum 2021–2027 und zur Aufhebung der Verord-

nung (EU) Nr. 282/2014, ABl. L 107 vom 26.3.2021, S. 1.

831 / 931

Artikel 2 definiert den Geltungsbereich des Abkommens. Darin ist explizit festgehal-

ten, dass sich die im Rahmen dieses Abkommens vorgesehene Zusammenarbeit zwi-

schen der Schweiz und der EU auf die Gesundheitssicherheitsmechanismen in Bezug

auf schwerwiegende grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren und das ECDC be-

schränkt.

Artikel 3 weist auf die Bedeutung einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen den

Vertragsparteien im Bereich der Gesundheitssicherheit hin.

2.13.6.1.2

Institutionelle Bestimmungen

Die Präambel enthält mehrere für die Schweiz wichtige Aspekte im Zusammenhang

mit den institutionellen Bestimmungen

(

s. Ziff. 2.1.5.1.1). Sie präzisiert insbesondere,

dass das Gesundheitsabkommen zwar kein Binnenmarktabkommen ist, es jedoch an-

gebracht ist, die institutionellen Bestimmungen, die in allen Binnenmarktabkommen

zwischen der Schweiz und der EU enthalten sind, analog auf dieses Abkommen an-

zuwenden.

Um die Besonderheit des Gesundheitsabkommens hervorzuheben, gibt die Schweiz

eine einseitige Erklärung ab. Darin wird präzisiert, dass die Anwendung der instituti-

onellen Bestimmungen in diesem Kooperationsabkommen keinen Präzedenzfall für

künftige Abkommen darstellt, die keine Binnenmarktabkommen sind. Obwohl das

Gesundheitsabkommen kein Binnenmarktabkommen ist, wurden die institutionellen

Elemente analog aufgenommen, soweit sie für das ordnungsgemässe Funktionieren

des Abkommens erforderlich sind. Gewisse Elemente der institutionellen Bestimmun-

gen, die nur für Binnenmarktabkommen relevant sind, wurden nicht übernommen

oder an das Gesundheitsabkommen, das ein Kooperationsabkommen ist, angepasst.

Ziffer 2.1.5 beschreibt die institutionellen Bestimmungen ausführlich. Die unter die-

ser Ziffer angeführten Elemente zu den institutionellen Bestimmungen für Binnen-

marktabkommen gelten, sofern nichts anderes bestimmt ist, für die Artikel 4 bis 18

des Gesundheitsabkommens und das Protokoll zum Schiedsgericht. In diesem Ab-

schnitt werden daher nur die Elemente der institutionellen Bestimmungen dargelegt,

die spezifisch für das Gesundheitsabkommen gelten.

Artikel 4 des Gesundheitsabkommens legt den Zweck der institutionellen Bestim-

mungen fest, welche Rechtssicherheit für die Kooperation im Gesundheitsbereich ge-

mäss dem Geltungsbereich des Gesundheitsabkommens sicherstellen sollen. Ähnlich

wie in Artikel 1 Institutionelles Protokoll LuftVA (IP-LuftVA) wird insbesondere

festgehalten, dass die institutionellen Bestimmungen den Geltungsbereich des Ab-

kommens nicht abändern. Anders als beim IP-LuftVA wird dabei jedoch nicht auf die

Ziele des Abkommens Bezug genommen, da das Gesundheitsabkommens keine Ziel-

bestimmung enthält.

Da es sich beim Gesundheitsabkommen um ein Kooperationsabkommen und nicht

um ein Binnenmarktabkommen handelt, erübrigt sich eine Bestimmung, welche fest-

hält, dass es sich bei den Binnenmarktabkommen zwischen der Schweiz und der EU,

um ein kohärentes Ganzes handelt (Art. 3 IP-LuftVA).

832 / 931

Die Auslegung des Abkommens erfolgt sodann einheitlich innerhalb des Gesundheits-

abkommens und der darin integrierten EU-Rechtsakte (Art. 12 Gesundheitsabkom-

men) – und nicht wie für die Binnenmarktabkommen vorgesehen einheitlich zwischen

dem Gesundheitsabkommen und diesen Abkommen (Art. 7 IP-LuftVA).

Für die dynamische Rechtsübernahme und die Streitbeilegung gelten grundsätzlich

die gleichen Regeln wie für die Binnenmarktabkommen (s. Ziff. 2.1.5.2 und 2.1.5.4).

Ausgleichsmassnahmen dürfen jedoch als Konsequenz eines allfälligen Streitbeile-

gungsverfahrens gemäss Artikel 16 Absatz 1 Gesundheitsabkommen nur innerhalb

des Gesundheitsabkommens oder in Bezug auf das dem EUPA angehängten Protokoll

zur Beteiligung der Schweiz am mehrjährigen Gesundheitsprogramm der EU (Sus-

pendierung oder Terminierung, siehe auch Art. 19 Abs. 1 Bst. c und 20 Abs. 4 EUPA)

getroffen werden. Damit können Streitbeilegungsverfahren im Geltungsbereich des

Gesundheitsabkommens keine Auswirkungen auf die Binnenmarktabkommen haben.

Umgekehrt haben Streitbeilegungsverfahren in den Binnenmarktabkommen keine

Auswirkungen auf das Gesundheitsabkommen. Diese Besonderheit ist auch im Pro-

tokoll zum Schiedsgericht berücksichtigt (Art. III.6 Abs. 3).

Nach Artikel 19 wird ein Gemischter Ausschuss eingesetzt mit dem Auftrag, das ord-

nungsgemässe Funktionieren und die Anwendung des Abkommens sicherzustellen

sowie alle im Gesundheitsabkommen vorgesehenen Aufgaben wahrzunehmen. Dieser

Artikel wurde für die Abkommen des Pakets Schweiz-EU vereinheitlicht (s. Ziff.

2.1.5.7). Da die Gesundheitsaspekte in zwei separate Abkommen aufgeteilt sind – das

Gesundheitsabkommen einerseits und ein Protokoll zum EUPA andererseits – wurde

in Artikel 19 eine Bestimmung aufgenommen, um die Zusammenarbeit zwischen den

beiden zuständigen Gemischten Ausschüssen (Gemischter Ausschuss des Gesund-

heitsabkommens und Gemischter Ausschuss des EUPA) im Rahmen ihrer jeweiligen

Zuständigkeitsbereiche zu regeln und die Informationspflichten des einen Ausschus-

ses gegenüber dem anderen festzulegen (s. Ziff. 2.8.6).

2.13.6.1.3

Schlussbestimmungen

Artikel 20 präzisiert den räumlichen Geltungsbereich des Abkommens. Dieser Artikel

wurde für die verschiedenen Instrumente des Pakets Schweiz-EU vereinheitlicht (s.

Ziff. 1 und Ziff. 2.1.5.7).

Artikel 21 sieht vor, dass die Vertragsparteien regelmässig das Funktionieren des Ab-

kommens überprüfen. Sie können auch in Betracht ziehen, es zu revidieren, nament-

lich um ihre Zusammenarbeit zu verbessern oder sie auf weitere Aspekte des Gesund-

heitsbereichs auszuweiten, wenn das im Interesse beider Parteien liegt. Wird ein

solches Interesse festgestellt, können zu diesem Zweck Verhandlungen aufgenommen

werden, dies unter Einhaltung der internen Verfahren zur Revision völkerrechtlicher

Verträge.

Artikel 22 nennt die in Bezug auf das Berufsgeheimnis anwendbaren Regeln.

Nach Artikel 23 erfolgt der Austausch allfälliger als Verschlusssache eingestufter In-

formationen zwischen den Vertragsparteien gemäss dem Verfahren nach Artikel 5

833 / 931

Absatz 2 des Abkommens vom 28. April 2008

786

zwischen der Schweizerischen Eid-

genossenschaft und der Europäischen Union über die Sicherheitsverfahren für den

Austausch von Verschlusssachen. Wenn die Schweiz dies wünscht, können diese In-

formationen auch an das ECDC übermittelt werden. In Artikel 23 wird der Gemischte

Ausschuss zudem beauftragt, Handlungsanweisungen zum angemessenen Schutz der

ausgetauschten sensiblen Daten durch spezifischen Beschluss festzulegen.

Artikel 24 hält fest, dass die Anhänge, die Anlagen und das Protokoll über das

Schiedsgericht integrierender Bestandteil dieses Abkommens sind.

Artikel 25 und Anhang II über die Anwendung von Artikel 25 regeln die finanzielle

Beteiligung der Schweiz an den vom Abkommen abgedeckten Agenturen und Infor-

mationssystemen sowie die entsprechenden Zahlungsmodalitäten. Diese Bestimmun-

gen entsprechen im Wesentlichen den Bestimmungen über die finanzielle Beteiligung

in den Binnenmarktabkommen (s. Ziff. 2.1.5.5.1). Insbesondere ist vorgesehen, dass

die finanzielle Beteiligung der Schweiz aus einem operativen Beitrag und einer Teil-

nahmegebühr besteht. Die entsprechenden Beträge werden jährlich anhand eines Ver-

teilschlüssels berechnet, der auf den Bruttoinlandprodukten der Schweiz und der EU

beruht. Für das Gesundheitsabkommen gilt dies für den Beitrag der Schweiz zur Teil-

nahme am ECDC, einschliesslich des EWRS.

Artikel 26 legt das Verfahren für das Inkrafttreten fest. Da das Gesundheitsabkommen

zum Weiterentwicklungsteil gehört, kann es unabhängig von den anderen in Kraft

treten, vorausgesetzt die Instrumente des Stabilisierungsteils können ebenfalls in

Kraft treten (s. Ziff. 1 und Ziff. 2.1.5.6).

Artikel 27 legt fest, dass jede Vertragspartei das Gesundheitsabkommen jederzeit

kündigen kann, und welche Auswirkungen diese Kündigung auf die Rechte von Pri-

vatpersonen und Wirtschaftsakteuren hat.

2.13.6.1.4

Anhang I

In Anhang I sind die für die Schweiz geltenden EU-Rechtsakte aufgeführt: Verord-

nung (EU) 2022/2371

787

zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsge-

fahren, dazugehörige delegierte Rechtsakte und Durchführungsverordnungen sowie

Verordnung (EG) Nr. 851/2004

788

zur Errichtung eines Europäischen Zentrums für

die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten.

Wie im Änderungsprotokoll zum LuftVA (s. Ziff. 2.1.5.7) vorgesehen, sieht Anhang I

vor, dass die Schweiz die gleichen Rechte und Pflichten wie die EU-Mitgliedstaaten

gemäss den in Anhang I aufgeführten EU-Rechtsakten hat, sofern in den in diesem

786

SR

0.514.126.81

787

Verordnung (EU) 2022/2371 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Novem-

ber 2022 zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren und zur Aufhe-

bung des Beschlusses Nr. 1082/2013/EU, ABl. L 314 vom 6.12.2022, S. 26.

788

Verordnung (EG) Nr. 851/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April

2004 zur Errichtung eines Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle

von Krankheiten, geändert durch die Verordnung (EU) 2022/2370 des Europäischen Par-

laments und des Rates vom 23. November, ABl. L 314 vom 6.12.2022, S. 1.

834 / 931

Anhang festgelegten technischen Anpassungen keine abweichenden Regelungen ge-

troffen werden, wie etwa, dass die Schweiz ohne Stimmrecht am

HSC

teilnimmt. Die-

ser Grundsatz gilt unter vollständiger Einhaltung der institutionellen Bestimmungen

des Abkommens. Zudem sind technische Anpassungen der oben genannten Rechts-

akte vorgesehen, um der besonderen Situation der Schweiz als Nichtmitgliedstaat der

EU Rechnung zu tragen. Diese betreffen insbesondere die Frist für die Einreichung

des ersten Berichts, den die Schweiz vorzulegen hat, den Umstand, dass die Schweiz

ihre nationale Datenschutzgesetzgebung anwendet, oder auch, dass die Schweiz für

die Erklärung eines öffentlichen Gesundheitsnotstands auf ihrem Hoheitsgebiet zu-

ständig bleibt.

Die materiellen Verpflichtungen der Schweiz aufgrund der Verordnung (EU)

2022/3271 umfassen insbesondere: die Zusammenarbeit in den Gesundheitssicher-

heitsmechanismen, wie die Übermittlung epidemiologischer Daten; die Erstellung ei-

nes Berichts über die Planung und Umsetzung von Präventions-, Vorsorge- und Re-

aktionsmassnahmen auf nationaler Ebene; die Umsetzung von relevanten

Präventions-, Vorsorge- und Reaktionsmassnahmen; sowie die Übermittlung von

Warnmeldungen an das EWRS bei schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesund-

heitsgefahren. Dies betrifft in erster Linie schwerwiegende grenzüberschreitende Ge-

sundheitsgefahren biologischen Ursprungs (wie übertragbare Krankheiten), aber das

EWRS findet auch Anwendung bei schwerwiegenden Gesundheitsgefahren chemi-

schen, umweltbedingten oder unbekannten Ursprungs, die ein erhebliches Risiko der

Ausbreitung über die Staatsgrenzen hinaus bergen und eine Koordinierung auf euro-

päischer Ebene zum Schutz der Bevölkerung erfordern können. Schwerwiegende

grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren, die eine Warnmeldung an das EWRS

rechtfertigen, müssen bestimmte Kriterien erfüllen. So müssen sie zum Beispiel eine

erhebliche Morbidität oder Mortalität beim Menschen verursachen oder die nationa-

len Reaktionskapazitäten übersteigen. Die Kriterien sind in Artikel 19 Absatz 1 der

Verordnung (EU) 2022/2371 festgelegt.

Im Rahmen dieser Verordnung kann sich die Schweiz, wenn sie es wünscht, fallweise

am gemeinsamen Beschaffungsverfahren nach Artikel 12 dieser Verordnung beteili-

gen. Ein solches Instrument kann für die Sicherheit der Versorgung mit medizinischen

Gegenmassnahmen in der Schweiz nützlich sein. Die Schweiz behält jedoch die volle

Verantwortung für die Entscheidung über Gesundheitsmassnahmen, die auf ihrem

Hoheitsgebiet zur Bekämpfung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesund-

heitsgefahren zu treffen sind.

In Bezug auf die Verordnung (EG) Nr. 851/2004, geändert durch die Verordnung

(EU) 2022/2370, sehen die technischen Anpassungen in Anhang I vor, dass sich die

Schweiz in vollem Umfang am ECDC beteiligt. Dazu gehört auch die Einsitznahme

im Verwaltungsrat und im Beirat sowie die Beteiligung an den vom Zentrum betrie-

benen Netzen. Wie in allen EU-Agenturen, an denen die Schweiz auf Grundlage eines

Abkommens teilnimmt, hat sie jedoch kein Stimmrecht in den Gremien des Zentrums.

Anhang I und die dazugehörige Anlage führen die Vorrechte und Befreiungen auf,

welche die Schweiz dem ECDC und seinen Mitarbeitenden gewährt. Diese Regeln

entsprechen denen, die für andere EU-Agenturen gelten, an denen sich die Schweiz

beteiligt (s. Ziff. 2.1.5.7). Schliesslich wird in Anhang I festgelegt, dass Schweizer

835 / 931

Staatsangehörige beim ECDC beschäftigt werden können und dass die Entsendung

von Schweizer Sachverständigen ans Zentrum ebenfalls möglich ist.

2.13.6.2

Protokoll EU4Health

Das Protokoll III zum EUPA regelt die Teilnahme der Schweiz am Programm

«EU4Health» (2021–2027). Es umfasst fünf Artikel. Es präzisiert und ergänzt die für

die Teilnahme der Schweiz am EU4Health-Programm spezifischen und nicht im

EUPA geregelten Aspekte (s. Ziff. 2.8.6.1).

Artikel 1 definiert den Geltungsbereich des Protokolls EU4Health und präzisiert, dass

die Schweiz nur Zugang zu dem Teil des Programms hat, der derzeit in den Geltungs-

bereich des Gesundheitsabkommens fällt, nämlich die «Krisenvorsorge». Sollte der

Geltungsbereich des Gesundheitsabkommens in Zukunft ausgeweitet werden, hätte

die Schweiz entsprechend Zugang zum Gesundheitsprogramm.

Artikel 2 regelt hauptsächlich die Dauer der Teilnahme der Schweiz am EU4Health-

Programm und sieht vor, dass die Schweiz ab dem 1. Januar des auf das Inkrafttreten

des Gesundheitsabkommens folgenden Jahres teilnehmen wird. Das bedeutet, dass

das Protokoll EU4Health keine Wirkung entfaltet, wenn das Gesundheitsabkommen

nach dem 31. Dezember 2026 in Kraft tritt. In diesem Fall würde die Schweiz nicht

an diesem Programm teilnehmen und auch keinen finanziellen Beitrag leisten. Die

Teilnahme an der nächsten Generation des EU-Gesundheitsprogramms muss in einem

weiteren Protokoll gemäss den üblichen Entscheidungsprozessen ausgehandelt wer-

den.

Artikel 3 präzisiert bestimmte Modalitäten und Bedingungen für die Teilnahme am

EU4Health-Programm. So gilt, dass in der Schweiz niedergelassene Rechtsträger zu

den gleichen Bedingungen an Massnahmen im Rahmen des Programms teilnehmen

können wie Rechtsträger in der EU.

Artikel 4 besagt, dass Artikel 8 EUPA (Programme und Tätigkeiten, für die ein An-

passungsmechanismus für den operativen Beitrag gilt) nicht auf dieses Protokoll an-

wendbar ist, da das EU4Health-Programm über keinen Anpassungsmechanismus ver-

fügt.

Artikel 5 ist in allen Protokollen zum EUPA enthalten. Unter dem Titel «Schlussbe-

stimmungen» ist darin festgehalten, dass die Protokolle so lange in Kraft bleiben, wie

es für den Abschluss aller laufenden Projekte, aber auch sämtlicher für den Schutz der

finanziellen Interessen der EU erforderlichen Massnahmen und sämtlicher finanziel-

ler Verpflichtungen aus der Umsetzung dieses Protokolls erforderlich ist.

2.13.7

Grundzüge der Umsetzung

2.13.7.1

Umsetzungsgesetzgebung

2.13.7.1.1

Gesundheitsabkommen

Das Gesundheitsabkommen bietet der Schweiz hauptsächlich die Möglichkeit, sich

an den Gesundheitssicherheitsmechanismen und am ECDC zu beteiligen. Es steht im

836 / 931

Einklang mit dem einschlägigen nationalen Recht, und es sind keine Anpassungen auf

Gesetzesstufe vorgesehen. Es fällt in erster Linie in den Geltungsbereich des Epide-

miengesetzes vom 28. September 2012

789

(EpG), das die Früherkennung, Überwa-

chung, Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten in der Schweiz zum Schutz der

Gesundheit der Bevölkerung regelt. Mit dem aktuell geltenden EpG und der laufenden

Teilrevision sind die epidemiologischen Überwachungssysteme der Schweiz mit dem

einschlägigen EU-Recht kompatibel.

Neben übertragbaren Krankheiten ist das Gesundheitsabkommen auch auf andere

schwerwiegende grenzüberschreitende Gesundheitsbedrohungen anwendbar. Die

Durchführungsbefugnisse bei anderen schwerwiegenden grenzüberschreitenden Ge-

sundheitsbedrohungen sind in spezifischen Gesetzen geregelt: Bedrohungen durch

übertragbare Tierseuchen sind im Tierseuchengesetz vom 1. Juli 1966

790

(TSG) und

solche durch ionisierende Strahlung im Strahlenschutzgesetz vom 22. März 1991

791

(StSG, v. a. Art. 17 ff.) geregelt, während die Umweltschutzgesetzgebung und insbe-

sondere die Verordnung vom 27. Februar 1991

792

über den Schutz vor Störfällen

(Störfallverordnung, StFV, s. namentlich Art. 12 Abs. 2) bei toxischen Ereignissen

oder anderen chemischen Vorfällen zur Anwendung kommen.

Die Umsetzung des Abkommens erfordert jedoch Anpassungen auf Verordnungs-

ebene:

a) Gemäss Artikel 18 Absatz 3 der Verordnung (EU) 2022/2371 müssen die Mitglied-

staaten zum Zwecke der Frühwarnung und Reaktion die Behörden benennen, die auf

nationaler Ebene für die Übermittlung von Warnmeldungen an das EWRS zuständig

sind. Um eine einheitliche Übermittlung der Warnmeldungen und deren Weiterver-

folgung zu gewährleisten, soll diese Funktion vom BAG übernommen werden. Dies

wird nach Abschluss der innerstaatlichen Genehmigung in der Epidemienverordnung

vom 29. April 2015

793

(EpV) zu regeln sein. Das BAG ist auch die für die Umsetzung

des Gesundheitsabkommens zuständige Behörde. Ausserdem ist das BAG die für

übertragbare Krankheiten zuständige Behörde, bei der Gefahren für die öffentliche

Gesundheit gemeldet werden müssen (s

.

Art. 12 EpG). Dasselbe gilt für den Strahlen-

schutz, der ebenfalls in der Zuständigkeit des BAG liegt (s

.

Art. 137 Strahlenschutz-

verordnung vom 26 April 2017

794

). Weitere Bundesstellen sind für bestimmte andere

Bedrohungen zuständig. Das BLV ist die für Tierseuchen zuständige Behörde (Art. 57

TSG). Bei toxischen Ereignissen oder anderen chemischen Vorfällen bezeichnen die

Kantone eine zentrale Stelle, welche die Meldung von Störfällen unverzüglich an die

Alarmstelle NAZ (ASNAZ) bei der Nationalen Alarmzentrale (NAZ) weiterleitet (s

.

Art. 12 Abs. 2, StFV). Die NAZ ist die Einsatzorganisation des Bundes bei Industrie-

unfällen. Wenn sich Industrieunfälle oder Störfälle mit erheblichen Auswirkungen

über die Landesgrenzen hinaus ereignen, meldet die NAZ diese über das System zur

Meldung

von

Industrieunfällen

gemäss

dem

entsprechenden

UN/ECE-

789

SR

818.101

790

SR

916.40

791

SR

814.50

792

SR

814.012

793

SR

818.101.1

794

SR

814.501

837 / 931

Übereinkommen

an die Nachbarländer

795

. Im Bereich des Bevölkerungsschutzes hat

die NAZ Informations- und Warnaufgaben bei Gefährdung durch erhöhte Radioakti-

vität (Art. 7 Verordnung vom 11. November 2020

796

über den Bevölkerungsschutz,

BevSV), durch chemische Stoffe (Art. 8 BevSV), aus dem Weltraum (Art. 9 BevSV)

und weiteren Gefährdungen (Art. 10 BevSV), insbesondere durch ein bevölkerungs-

schutzrelevantes Ereignis von nationaler Tragweite. Die Koordination zwischen den

zuständigen Bundesstellen wird gewährleistet, um sicherzustellen, dass das BAG die

relevanten Warnmeldungen an das EWRS weiterleiten kann. Diese Koordination wird

im Rahmen des Ausführungsrechts der jeweiligen Bundesgesetze geregelt. Ergänzend

sollen Vereinbarungen zwischen dem BAG und den zuständigen Behörden, die Ge-

sundheitsgefährdungen überwachen und melden müssen, die Grundsätze der Zusam-

menarbeit präzisieren.

Für umweltbedingte schwerwiegende grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren,

welche die Kriterien der Verordnung (EU) 2022/2371 erfüllen und nicht in den Gel-

tungsbereich der bei toxischen Ereignissen oder anderen chemischen Vorfällen an-

wendbaren StFV fallen, besteht keine Pflicht zur Meldung an eine Bundesbehörde.

Die Kantone haben jedoch bereits die Möglichkeit, die NAZ über eine Warnmeldung

bei einem weitreichenden Schadensereignis (Störfall), einer Katastrophe oder einer

Notlage zu informieren. Um jedoch eine Pflicht der Kantone zur Meldung an die NAZ

vorzusehen, könnte im Rahmen einer ordentlichen Revision des Bevölkerungs- und

Zivilschutzgesetzes vom 20. Dezember 2019

797

(BZG) eine entsprechende Änderung

aufgenommen werden. Damit könnten schwerwiegende grenzüberschreitende Ge-

sundheitsbedrohungen umweltbedingten oder unbekannten Ursprungs erfasst werden,

die nicht von einer der oben genannten Bestimmungen abgedeckt sind. Dies stellt si-

cher, dass insbesondere in Zukunft keine Lücken bei den Meldepflichten der Kantone

bestehen. Derzeit sind keine plausiblen Situationen erkennbar, die nicht durch die be-

stehenden Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts abgedeckt wären. Eine Zusam-

menarbeit zwischen den zuständigen Bundesbehörden und den Kantonen wäre wün-

schenswert,

um

den

Informationsfluss

zu

solchen

schwerwiegenden

grenzüberschreitenden Gesundheitsbedrohungen zu erleichtern und damit dem BAG

die relevanten Informationen zur Weiterleitung an das EWRS zur Verfügung zu stel-

len.

b) Weitere Anpassungen betreffen die Verordnung des EDI vom 1. Dezember 2015

798

über die Meldung von Beobachtungen übertragbarer Krankheiten des Menschen

(VMüK). Diese Verordnung legt auf nationaler Ebene fest, welche Krankheiten und

Erreger von Gesundheitsfachpersonen und Laboratorien den Behörden gemeldet wer-

den müssen, um eine einheitliche und systematische Überwachung sicherzustellen. Es

handelt sich bei den Anpassungen nicht um grundlegende Änderungen, sondern um

präzisierende Anpassungen. Voraussichtlich müssen zusätzliche übertragbare Krank-

heiten des Menschen, die heute in der Schweiz – im Gegensatz zur EU – noch nicht

meldepflichtig sind, der Meldepflicht unterstellt werden. Damit soll sichergestellt

795

SR

0.814.04

796

SR

520.12

797

SR

520.1

798

SR

818.101.126

838 / 931

werden, dass die meldepflichtigen Krankheitserreger mit den Vorgaben auf EU-Ebene

und insbesondere mit den Empfehlungen des ECDC übereinstimmen. Zudem müssen

teilweise die Meldekriterien (klinische und epidemiologische Definitionen) angepasst

werden. Diese Meldekriterien sind in einem Leitfaden des BAG aufgeführt und haben

keinen rechtsetzenden Charakter. Die Schweiz orientiert sich bereits heute an interna-

tionalen Standards (Weltgesundheitsorganisation WHO, ECDC sowie anderen inter-

national anerkannten Instituten wie dem deutschen Robert Koch Institut), um die Ver-

gleichbarkeit und Effizienz ihrer epidemiologischen Überwachung sicherzustellen.

2.13.7.1.2

Protokoll EU4Health

Das Protokoll EU4Health regelt die Beteiligung der Schweiz am Mehrjahrespro-

gramm der EU im Gesundheitsbereich « EU4Health » (2021–2027). Es sind keine

Anpassungen auf Gesetzesstufe vorgesehen.

2.13.7.2

Umsetzungsfragen

Zur Umsetzung des Gesundheitsabkommens und der Anpassungen auf Verordnungs-

stufe bedarf es im Vollzug keiner grundlegenden Änderungen. Die Zuständigkeiten

im Vollzug bleiben dieselben wie auch im Rahmen des Vollzugs des Epidemienge-

setzes oder anderer betroffener Bundesgesetze, insbesondere des Strahlenschutzgeset-

zes, des Umweltschutzgesetzes, des Tierseuchengesetzes oder des Bevölkerungs und

Zivilschutzgesetzes.

Die Übermittlung von Warnmeldungen an das EWRS erfolgt durch das BAG. Durch

eine Abstimmung zwischen den Bundesbehörden wird sichergestellt, dass das BAG

über relevante Warnmeldungen informiert wird (s. Ziff. 2.13.7.1.1).

Durch allfällige Anpassungen der VMüK wird es gezielte Anpassungen inhaltlicher

und operativer Art geben, wie beispielsweise die Anpassung des Leitfadens des BAG

zur Meldepflicht übertragbarer Krankheiten und Erreger. Dieser Leitfaden dient als

praxisnahe Orientierungshilfe für Fachpersonen im Gesundheitswesen, indem wich-

tige Informationen zu Meldekriterien, -fristen und -wegen sowie die Falldefinitionen

bereitgestellt werden. Es handelt sich hierbei um gezielte, präzisierende Anpassungen,

die sich in das bestehende System einfügen und zur weiteren Harmonisierung mit in-

ternationalen Standards beitragen. Solche Anpassungen folgen etablierten Abläufen

und werden regelmässig vorgenommen, beispielsweise bei der Aufnahme neuer

Krankheitserreger. Weitere Anpassungen operativer Art ergeben sich in der Folge

auch bei den Meldeformularen und Meldesystemen, mit denen Ärztinnen und Ärzte,

Spitäler und Laboratorien ihre Befunde übermitteln, sowie in den Datenbanken, wel-

che die gemeldeten Informationen erfassen. Des Weiteren werden die Analysetools

angepasst werden, mit denen die Daten ausgewertet werden. Ebenfalls werden abhän-

gig von den Anpassungen, die gemacht werden, Verträge mit Referenzzentren (spe-

zialisierte Labore für Infektionskrankheiten) auf ihren Inhalt geprüft und ggf. überar-

beitet werden.

Neben dem in der VMüK geregelten obligatorischen Meldesystem existieren in der

Schweiz weitere Systeme zur Überwachung von Antibiotikaresistenzen und therapie-

839 / 931

assoziierten Infektionen. Diese Systeme orientieren sich bereits an den auf europäi-

scher Ebene festgelegten Spezifikationen. Es wird jedoch voraussichtlich erforderlich

sein, die Überwachungssysteme punktuell anzupassen, was im Rahmen der üblichen

Weiterentwicklung dieser Systeme gewährleistet werden kann.

2.13.7.3

Abstimmung von Aufgaben und Finanzen

Wie in den vorangehenden Ziffern erläutert, stärkt eine engere, dauerhafte Zusam-

menarbeit mit der EU im Bereich Gesundheitssicherheit den Schutz der Schweizer

Bevölkerung. Durch den Einsitz in den relevanten EU-Gremien sowie im ECDC wird

die frühzeitige Erkennung und Bekämpfung grenzüberschreitender Gesundheitsbe-

drohungen in der Schweiz optimiert. Bei einem Krankheitsausbruch in einem oder

mehreren Mitgliedstaaten der EU oder des EWR werden die zuständigen Dienste in

der Schweiz rascher informiert sein, sie werden über mehr Informationen zu den epi-

demiologischen Entwicklungen verfügen, und sie werden auf eine breitere Expertise

zurückgreifen können, um geeignete Schritte einzuleiten. Das Abkommen erhöht so

die Sicherheit, Effizienz und Geschwindigkeit bei der Früherkennung, Überwachung,

Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten.

Bei den rechtlichen und vollzugstechnischen Anpassungen handelt es sich hauptsäch-

lich um präzisierende Massnahmen, ohne dass grundlegende strukturelle Änderungen

im bestehenden nationalen System erforderlich sind. Eine Harmonisierung der Über-

wachungssysteme und Falldefinitionen mit EU-Standards ist notwendig. Zudem ist

das Abkommen mit laufenden Gesetzgebungsprozessen und Projekten auf nationaler

Ebene im Einklang, darunter mit der Teilrevision des EpG sowie mit relevanten Pro-

jekten von «DigiSanté», wie etwa der Stärkung der digitalen Prozesse bei der Mel-

dung übertragbarer Krankheiten. Der finanzielle Beitrag für die Teilnahme am ECDC

und am EWRS sowie die erforderlichen personellen Ressourcen für die Umsetzung

und Betreuung des Abkommens müssen berücksichtigt werden (s. Ziff. 2.13.8.1).

Im Vergleich zum erwarteten Nutzen – wie den optimierten Datenflüssen und einer

stärkeren Krisenbewältigungskapazität – ist der Anpassungsbedarf für die Umsetzung

in einem vertretbaren Verhältnis. Die Investition in die Stärkung der Strukturen für

die Krisenvorbeugung und eine effiziente Krisenbewältigung trägt massgeblich dazu

bei, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen von Gesundheitskrisen

zu minimieren. Ohne formalisierte Zusammenarbeit mit der EU im Bereich Gesund-

heitssicherheit hat die Schweiz weiterhin keinen gesicherten Zugang zu den relevan-

ten EU-Mechanismen für die Krisenvorbeugung und -bewältigung und zu zeitnahen

Informationen über epidemiologische Entwicklungen in Europa. Die Zusammenarbeit

mit der EU kann ohne Abkommen nur ad-hoc und auf grosse Krisensituationen be-

schränkt erfolgen – und bleibt damit abhängig vom Wohlwollen der EU, wie es wäh-

rend der Covid-19-Pandemie der Fall war. Zudem wäre eine Zusammenarbeit zur

Vorbereitung auf Gesundheitskrisen sowie deren Früherkennung nicht möglich. Ohne

ein bilaterales Abkommen kann die Schweiz bei schwerwiegenden grenzüberschrei-

tenden Gesundheitsbedrohungen nicht auf einen direkten, standardisierten Zugang zu

raschen und ausführlichen Informationen in ihrem direkten geographischen Umfeld

zählen.

840 / 931

2.13.8

Auswirkungen des Paketelements

2.13.8.1

Auswirkungen auf den Bund

2.13.8.1.1

Finanzielle Auswirkungen

Die Umsetzung des Gesundheitsabkommens bedeutet für den Bund zusätzliche Aus-

gaben von rund 5 Millionen Franken pro Jahr (ohne Eigenaufwand). Diese Kosten

stehen in Zusammenhang mit der Beteiligung der Schweiz am ECDC

.

Gemäss Artikel

25 des Gesundheitsabkommens ist ein jährlicher finanzieller Beitrag zu leisten, der

auch die Nutzung von Plattformen wie dem EWRS abdeckt.

Die ersten Zahlungen erfolgen ab dem Inkrafttreten des Gesundheitsabkommens. Die

Beträge liegen unter dem Gesamtkostendach von 50 Millionen Franken pro Jahr, das

im Schweizer Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 festgelegt wurde.

Die finanziellen Auswirkungen werden auf Grundlage des aktuellen Budgets des

ECDC geschätzt, also im Kontext einer normalen Situation und nicht einer schwer-

wiegenden Gesundheitslage wie einer Pandemie. In einem solchen Fall kann nicht

ausgeschlossen werden, dass das Budget des ECDC erhöht wird, was aufgrund des im

Abkommen vorgesehenen Berechnungsschlüssels für den finanziellen Beitrag der

Schweiz zu einer proportional vergleichbaren Erhöhung des Beitrags der Schweiz

führen würde. Die hier aufgeführten Kosten beinhalten auch keine allfälligen Kosten

für die Beteiligung der Schweiz an einem gemeinsamen Beschaffungsverfahren für

medizinische Gegenmassnahmen, über die der Bundesrat von Fall zu Fall entscheiden

müsste.

Wie in den Erläuterungen zum Protokoll EU4Health unter Ziffer 2.13.6.2 festgehal-

ten, wird dieses Protokoll zunächst keine finanziellen Auswirkungen auf den Bund

haben, da das aktuelle EU4Health-Programm im Jahr 2027 ausläuft und es unwahr-

scheinlich ist, dass das Gesundheitsabkommen bis zum 31. Dezember 2026 in Kraft

tritt. Über eine Beteiligung der Schweiz am nächsten EU-Gesundheitsprogramm

(2028–2034), die ab 2028 zusätzliche Kosten von schätzungsweise rund 20 Millionen

Franken pro Jahr verursachen würde, wird zu einem späteren Zeitpunkt entschieden.

Die nachfolgend genannten Zahlen beziehen sich daher ausschliesslich auf das Ge-

sundheitsabkommen.

Diesen Kosten steht neben dem praktischen Nutzen auch ein finanzieller Nutzen ge-

genüber, den das Gesundheitsabkommen mit sich bringt. Ohne das Abkommen dürfte

die Pandemiebewältigung im Falle einer zukünftigen Pandemie voraussichtlich hö-

here Kosten verursachen, unter anderem, weil die Schweiz weniger schnell an die

notwendigen Informationen zur Ausbreitung von Erregern gelangen würde.

2.13.8.1.2

Auswirkungen auf den Eigenaufwand und das Personal

Die Umsetzung des Gesundheitsabkommens führt beim BAG zu einem erheblichen

Mehraufwand. Es handelt sich um das erste Abkommen zwischen der Schweiz und

der EU, das in die Zuständigkeit des BAG fällt, weshalb eine geeignete Organisati-

onsstruktur geschaffen werden muss. Eine solche Struktur ist notwendig, um die Mög-

lichkeiten des Abkommens zur Stärkung des Schutzes der Schweizer Bevölkerung

841 / 931

und zur Wahrung der Interessen der Schweiz voll ausschöpfen zu können. Das Ab-

kommen beinhaltet zudem eine verstärkte Überwachung schwerwiegender grenzüber-

schreitender Gesundheitsbedrohungen zum Schutz der Schweizer Bevölkerung sowie

Massnahmen zur Verhinderung schwerwiegender Gesundheitskrisen Der zusätzliche

Eigenaufwand des BAG wird nach der Anfangsphase zur Anpassung der digitalen

Überwachungssysteme (voraussichtlich ab dem dritten Jahr nach Inkrafttreten des Ab-

kommens) insgesamt auf 3 Millionen Franken pro Jahr geschätzt. Der Personalbedarf

wird auf 11,8 Vollzeitäquivalente (VZÄ) pro Jahr (2,12 Millionen Franken) geschätzt.

Hinzu kommen Sach- und Betriebsausgaben von 400 000 Franken pro Jahr sowie Be-

triebs- und Wartungskosten von schätzungsweise 500 000 Franken pro Jahr für die

nationalen digitalen Melde- und Überwachungsplattformen. Für die Phase vor Inkraft-

treten des Gesundheitsabkommens benötigt das BAG 2 VZÄ (360 000 Franken), um

die erforderliche Organisationsstruktur amtsintern aufzubauen und vorbereitende

Massnahmen zur Umsetzung des Abkommens treffen zu können, insbesondere im

Zusammenhang mit der Meldung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesund-

heitsgefahren an die EU-Mechanismen und im Rahmen der institutionellen Bestim-

mungen.

In der Anfangsphase, also in den ersten zwei Jahren nach Inkrafttreten des Abkom-

mens, kommen zum zusätzlichen Eigenaufwand des BAG von schätzungsweise

3 Millionen Franken für die Umsetzung des Gesundheitsabkommens zusätzliche An-

fangskosten von 860 000 Franken für die Anpassung der digitalen Systeme (500 000

Franken für die Entwicklung der Plattformen und 360 000 Franken für 2 VZÄ) hinzu.

Synergien mit dem Programm «DigiSanté», insbesondere mit dem Projekt

«NASURE» («National Surveillance and Response»: eine neue, vom BAG betriebene

nationale Plattform zur Überwachung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten),

können genutzt werden, um den Mehraufwand so gering wie möglich zu halten. Diese

zusätzlichen Anfangskosten sind darauf zurückzuführen, dass die nationalen Überwa-

chungssysteme angepasst werden müssen, um die epidemiologische Überwachung

zusätzlicher Krankheitserreger sicherzustellen, wie sie durch die EU-Gesetzgebung

im Geltungsbereich des Gesundheitsabkommens vorgesehen ist. Der zusätzliche Ei-

genaufwand des BAG in der Anfangsphase wird daher für die ersten beiden Jahre

nach Inkrafttreten des Abkommens auf insgesamt 3,9 Millionen Franken geschätzt.

Der Personalbedarf (11,8 VZÄ) betrifft folgende Bereiche:

Umsetzung und allgemeine Überwachung des Abkommens:

2 VZÄ

(360 000 Franken). Dies umfasst insbesondere die Umsetzung von Arti-

kel 18, Vorbereitungsarbeiten und Teilnahme am Gemischten Ausschuss

des Gesundheitsabkommens (Art. 19) und am Gemischten Ausschuss des

EUPA (Art. 16 EUPA), Interessenvertretung in den relevanten Ausschüssen

und Gremien, Zusammenarbeit mit den betroffenen nationalen Stakehol-

dern und Verfolgung der für das Abkommen relevanten Entwicklungen der

EU-Gesetzgebung im Bereich Gesundheit (Art. 21) sowie Sicherstellung

der Kohärenz und Synergien mit dem EUPA in gesundheitsrelevanten Be-

langen.

842 / 931

EU-Recht und Landesrecht:

2,3 VZÄ (414 000 Franken). Das Abkommen

umfasst die Mitwirkung bei der Weiterentwicklung des einschlägigen EU-

Rechts in den dafür vorgesehenen Ausschüssen und Gremien (Art. 5 Mit-

spracherecht), die Sicherstellung des Prozesses zur dynamischen Über-

nahme von EU-Recht (Art. 6 Integration von Rechtsakten) und die Verfol-

gung

der

für

das

Abkommen

relevanten

Entwicklungen

des

Gesundheitsrechts in der EU (Art. 21). Ausserdem muss die Angleichung

des Landesrechts sichergestellt und die ordnungsgemässe Anwendung des

Abkommens überwacht werden, um Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden, und

bei Bedarf müssen allenfalls Stellungnahmen in Vorabentscheidungsver-

fahren und gegebenenfalls in Streitbeilegungsverfahren vorbereitet werden.

Gesundheitssicherheitsmechanismen – Teilnahme an verschiedenen Gre-

mien, Sitzungen und Aktivitäten im Bereich der Gesundheitssicherheit

:

3 VZÄ (540 000 Franken). Das Abkommen umfasst die Teilnahme an Gre-

mien, Sitzungen oder anderen Aktivitäten, die im Geltungsbereich des Ab-

kommens liegen, wie beispielsweise Lenkungsgremien des HSC, Arbeits-

gruppen und Fachstellen zu spezifischen Themen sowie Kontakte zur

weiteren Gesundheitssicherheitsarchitektur der EU. Dies beinhaltet auch

verschiedene Arbeiten zur Verstärkung des nationalen Präventions- und

Vorsorgeplans sowie die Koordination mit den Akteuren auf Bundes- und

Kantonsebene. Da die Schweiz bei der Festlegung von Massnahmen auf ih-

rem Hoheitsgebiet weiterhin eigenständig bleibt, sind damit zusätzliche

Aufgaben verbunden.

Beteiligung der Schweiz am ECDC

: 4,5 VZÄ (810 000 Franken). Das Ab-

kommen beinhaltet die Mitwirkung in den Gouvernanzgremien des ECDC

(Budget, Monitoring, Genehmigung der Arbeitsprogramme) sowie in den

technischen Arbeitsgruppen für die Ausarbeitung von Leitlinien, die Risi-

koanalyse und Forschungsprojekte, die Vertretung im Beratenden Forum

des ECDC und die Beteiligung an den Frühwarnnetzen/-plattformen der EU

(EWRS, EpiPulse). Die Überwachungs- und Frühwarnmechanismen um-

fassen insbesondere die Erhebung, Verarbeitung, Bewertung und Übermitt-

lung von Warnmeldungen und epidemiologischen Daten an die EU in Zu-

sammenarbeit mit den zuständigen nationalen und kantonalen Behörden.

Die Umsetzung des Abkommens bedeutet für das BAG einen zusätzlichen

Überwachungsaufwand, insbesondere aufgrund der grösseren Anzahl mel-

depflichtiger Krankheitserreger sowie der Pflicht zur Meldung an die euro-

päischen Mechanismen zur Überwachung von Spitalinfektionen und Anti-

biotikaresistenzen (EARS-Net). Darüber hinaus muss die Schweiz

weiterhin Massnahmen im Zusammenhang mit Weiterentwicklungen des

von ihr übernommenen EU-Rechts treffen. Neben der Stärkung der Fach-

kompetenz und der Verbesserung der Informationslage durch die Zusam-

menarbeit mit der EU wird die Schweiz die Überwachung und Bekämpfung

schwerwiegender grenzüberschreitender Gesundheitsbedrohungen auf ih-

rem Hoheitsgebiet weiterhin eigenständig gewährleisten. Die Umsetzung

des Abkommens bringt daher zusätzliche Aufgaben mit sich.

843 / 931

Eine interne Kompensation ist für das BAG ohne Verzicht auf andere Aufgaben nicht

möglich. Da es sich um das erste Abkommen mit der EU im Gesundheitsbereich han-

delt, existieren derzeit keine entsprechenden internen Strukturen, was die Nutzung

möglicher Synergien erschwert. Ausserdem musste das BAG bereits in den letzten

zehn Jahren in verschiedenen Bereichen neue Aufgaben im Umfang von insgesamt

16,5 Millionen Franken übernehmen und intern kompensieren. Daher kann das BAG

die Verpflichtungen aus dem Gesundheitsabkommen nicht erfüllen, ohne auf andere

Bereiche seines Mandats zu verzichten, die wesentlich zur Stärkung der öffentlichen

Gesundheit in der Schweiz beitragen. Dazu gehören auch Aufhebungen oder Ände-

rungen von Gesetzen.

Im Zusammenhang mit den oben genannten Aufgaben werden auch zusätzliche Sach-

und Betriebsausgaben anfallen. Diese werden auf insgesamt 400 000 Franken pro Jahr

geschätzt. Dazu gehören insbesondere Kosten für die Teilnahme an den im Abkom-

men vorgesehenen Gremien und Aktivitäten, wie beispielsweise der Besuch des

ECDC zur Unterstützung der nationalen Behörden bei der Vorbereitung der Präven-

tions-, Vorsorge- und Reaktionsplanung (50 000 Franken), Kosten für die Entsendung

von Personal (270 000 Franken) sowie Ausgaben für allfällige externe Mandate für

Regulierungsfolgenabschätzungen im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung des

Abkommens und der dynamischen Übernahme von EU-Recht (80 000 Franken). Dar-

über hinaus werden die jährlichen Kosten für den Betrieb der IT-Systeme zur Über-

wachung der neuen Krankheitserreger auf 500 000 Franken geschätzt (bei Gesamt-

kosten von rund 13 Millionen Franken für den aktuellen Betrieb dieser Systeme).

Der Bundesrat wird den ausgewiesenen Ressourcenbedarf zu gegebener Zeit überprü-

fen und darauf achten, dass ein allfälliger Mehrbedarf an Personalaufwand innerhalb

des Eigenbereichs des Bundes kompensiert wird.

2.13.8.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf

urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

Die Umsetzung des Gesundheitsabkommens erfordert eine Ausweitung des nationa-

len Systems zur Überwachung übertragbarer Krankheiten auf weitere Krankheitserre-

ger, um den Anforderungen des Gesundheitsabkommens gerecht zu werden. Dies

dürfte auch einen gewissen Mehraufwand für die Kantone bedeuten. Konkret geht es

um die Folgen der Anpassung der VMüK betreffend die Aufnahme von zusätzlichen

Krankheitserregern sowie der Anpassung der Meldekriterien. Es braucht einen an-

fänglichen Arbeitsaufwand, um die bestehenden Verfahren an die neuen Pflichten an-

zupassen, aber auch einen zusätzlichen operativen Aufwand im Rahmen der Vollzugs-

aufgaben für diese zusätzlichen Krankheitserreger. Die Umsetzung des Programms

«DigiSanté» und insbesondere des Projekts «NASURE» (National Surveillance and

Response), dürfte die Bemühungen in diesem Bereich jedoch unterstützen, da das Pro-

gramm bereits der Digitalisierung und der Anwendung internationaler Standards für

den Datenaustausch Rechnung trägt, um den Mehraufwand für den automatisierten

Datenaustausch möglichst gering zu halten.

Die neuen Aufgaben tragen zu einem verstärkten Schutz der Bevölkerung in der

Schweiz bei.

844 / 931

2.13.8.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Das Gesundheitsabkommen hat keine direkten oder quantifizierbaren volkswirt-

schaftlichen Auswirkungen auf die Schweiz. Durch einen besseren Schutz der

Schweizer Bevölkerung vor schweren Gesundheitskrisen und eine verstärkte Präven-

tion solcher Krisen wird die Beteiligung der Schweiz an den Gesundheitssicherheits-

mechanismen und am ECDC jedoch dazu beitragen, die sehr hohen Kosten solcher

Krisen für die Gesellschaft und die Wirtschaft insgesamt zu senken.

2.13.8.3.1

Auswirkungen auf Leistungserbringer

Die Umsetzung des Gesundheitsabkommens erfordert insbesondere eine Ausweitung

des nationalen Systems zur Überwachung übertragbarer Krankheiten auf weitere

Krankheitserreger, um den Anforderungen des Gesundheitsabkommens gerecht zu

werden. Dies dürfte auch einen gewissen Mehraufwand für bestimmte Leistungser-

bringer wie Laboratorien, Spitäler und Arztpraxen bedeuten, vor allem in der An-

fangsphase der Umsetzung der neuen Regelung, in der die aktuellen Prozesse und

Systeme angepasst werden müssen. Die Überwachung zusätzlicher Krankheitserreger

bedeutet auch zusätzliche Aufgaben für die Diagnostik und die Meldung der Labor-

befunde und klinischen Befunde zu diesen zusätzlichen Krankheitserregern an die Ge-

sundheitsbehörden. Die operative Mehrbelastung sollte jedoch durch die laufenden

Digitalisierungsarbeiten, insbesondere durch das Projekt «NASURE», beschränkt

sein (s. Ziff. 2.13.8.2).

2.13.8.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Das Gesundheitsabkommen hat positive Auswirkungen auf die Gesellschaft insge-

samt. Die Beteiligung an den Gesundheitssicherheitsmechanismen und am ECDC er-

möglicht einen besseren Schutz der Schweizer Bevölkerung dank höherer Kapazitäten

zur Vorbereitung und Reaktion auf schwerwiegende Gesundheitskrisen sowie zur Prä-

vention solcher Krisen.

2.13.8.5

Auswirkungen auf die Umwelt

Das Gesundheitsabkommen hat keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Umwelt.

2.13.9

Rechtliche Aspekte des Paketelements

Dieses Kapitel konzentriert sich auf das Gesundheitsabkommen. Da das Protokoll

EU4Health zum EUPA gehört, wird es in dessen Rahmen behandelt (s. Ziff. 2.8.10).

2.13.9.1

Verfassungsmässigkeit des Abkommens

Das Gesundheitsabkommen stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 BV, wonach auswär-

tige Angelegenheiten Sache des Bundes sind. Artikel 184 Absatz 2 BV erteilt dem

Bundesrat die Kompetenz zur Unterzeichnung und Ratifizierung völkerrechtlicher

Verträge. Nach Artikel 166 Absatz 2 BV obliegt die Genehmigung dieser Verträge

der Bundesversammlung, soweit sie nicht der Bundesrat aufgrund von Gesetz oder

845 / 931

völkerrechtlichem Vertrag selbstständig abschliessen kann (Art. 24 Abs. 2 Parla-

mentsgesetz vom 13. Dezember 2002

799

[ParlG] und Art. 7

a

Abs. 1 Regierungs- und

Verwaltungsorganisationsgesetz vom 21. März 1997

800

, [RVOG]). Das Gesundheits-

abkommen ist kein völkerrechtlicher Vertrag, zu dessen selbstständigem Abschluss

der Bundesrat durch ein Gesetz oder einen von der Bundesversammlung genehmigten

völkerrechtlichen Vertrag ermächtigt ist. Es handelt sich auch nicht um einen Vertrag

von beschränkter Tragweite im Sinne von Artikel 7

a

Absatz 2 RVOG. Das Gesund-

heitsabkommen muss daher der Bundesversammlung zur Genehmigung vorgelegt

werden.

2.13.9.2

Verfassungsmässigkeit der Umsetzungsgesetzgebung

Es sind weder eine Umsetzungsgesetzgebung noch Begleitmassnahmen vorgesehen.

2.13.9.3

Vereinbarkeit mit anderen internationalen Verpflichtungen

der Schweiz

Das Gesundheitsabkommen ist mit den anderen internationalen Verpflichtungen der

Schweiz vereinbar, insbesondere mit denjenigen aus den Internationalen Gesundheits-

vorschriften vom 23. Mai 2005

801

, dem Internationalen Abkommen vom 10. Februar

1937

802

über Leichenbeförderung, dem europäischen Übereinkommen vom 26. Okto-

ber 1973

803

über die Leichenbeförderung und dem Abkommen mit Frankreich vom

28. Juni 2010 über den Informationsaustausch im Bereich Grippepandemie und Ge-

sundheitsrisiken (nicht publiziert).

2.13.9.4

Erlassform

Nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3 der BV unterliegen völkerrechtliche

Verträge dem fakultativen Referendum, wenn sie wichtige rechtsetzende Bestimmun-

gen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Nach

Artikel 22 Absatz 4 ParlG sind unter rechtsetzenden Normen jene Bestimmungen zu

verstehen, die in unmittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten

auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen. Als wichtig gelten Best-

immungen, die nach Artikel 164 Absatz 1 BV in der Form eines Bundesgesetzes er-

lassen werden müssen. Das Gesundheitsabkommen enthält wichtige rechtsetzende

Bestimmungen. Insbesondere die institutionellen Bestimmungen, einschliesslich der

dynamischen Übernahme von EU-Recht, sind als wichtige rechtsetzende Bestimmun-

gen zu bezeichnen.

Der Bundesbeschluss über die Genehmigung des Gesundheitsabkommens untersteht

deshalb dem fakultativen Referendum nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d Ziffer 3

BV.

799

SR

171.10

800

SR

172.010

801

SR

0.818.103

802

SR

0.818.61

803

SR

0.818.62

846 / 931

2.13.9.5

Vorläufige Anwendung

Eine vorläufige Anwendung des Gesundheitsabkommens ist nicht vorgesehen.

2.13.9.6

Besondere rechtliche Aspekte zum Umsetzungserlass

Es sind keine besonderen rechtlichen Aspekte zu erwähnen.

2.13.9.7

Datenschutz

In Anhang I sehen die technischen Anpassungen der in das Gesundheitsabkommen

aufgenommenen EU-Rechtsakte vor, dass die Schweiz ihre nationale Datenschutzge-

setzgebung anwendet, die ein angemessenes Schutzniveau im Sinne der geltenden

EU-Gesetzgebung zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personen-

bezogener Daten und zum freien Datenverkehr gewährleistet. Da die EU der Auffas-

sung ist, dass die einschlägigen Gesetzgebungen der Schweiz und der EU einen

gleichwertigen Schutz bieten, sind keine Umsetzungsmassnahmen erforderlich

804

.

Die datenschutzrechtlichen Aspekte der institutionellen Bestimmungen im Gesund-

heitsabkommen entsprechen denjenigen in den Binnenmarktabkommen (s.

Ziff. 2.1.8.6.).

804 Entscheidung der Kommission vom 26. Juli 2000 gemäss der Richtlinie 95/46/EG des

Europäischen Parlaments und des Rates über die Angemessenheit des Schutzes

personenbezogener Daten in der Schweiz ABl. L 215 vom 25.8.2000, S. 1) und Bericht

der Kommission vom 15. Januar 2024 über die erste Überprüfung der Wirkungsweise der

Angemessenheitsfeststellungen gemäss Artikel 25 Absatz 6 der Richtlinie 95/46/EG,

15.1.2024, COM(2024) 7 final, S. 14–15.

847 / 931

2.14

Hochrangiger Dialog

2.14.1

Zusammenfassung

Die Schweiz unterhält mit der EU bisher keinen regelmässigen hochrangigen Aus-

tausch auf politischer Stufe, der es erlauben würde, eine Übersicht über die Gesamt-

beziehungen zu gewinnen. Über solche regelmässigen hochrangigen Kontakte auf

Präsidial- oder Ministerstufe verfügt die Schweiz mit zahlreichen anderen Partnern.

Auf Fachebene pflegt die Schweiz mit der EU bereits heute einen regelmässigen Aus-

tausch zu den verschiedenen Bereichen der bilateralen Beziehungen. Dieser Aus-

tausch findet betreffend bestehende bilaterale Abkommen im Rahmen der durch diese

Abkommen eingesetzten Gemischten Ausschüsse statt. Daneben gibt es zahlreiche

weitere Austauschformate auf Fachebene wie den Dialog über Finanzmarktregulie-

rung oder geographische und thematische Konsultationen im Bereich der Aussen- und

Sicherheitspolitik. Um die bestehenden Gespräche in spezifischen Bereichen mit einer

gesamtheitlichen, strategischen beziehungsweise politischen Perspektive zu ergänzen,

soll ein hochrangiger Dialog eingerichtet werden.

Der hochrangige Dialog soll es ermöglichen, die Zusammenarbeit im Rahmen des

Pakets Schweiz–EU, die Entwicklung der bilateralen Abkommen sowie die damit zu-

sammenhängenden Opportunitäten und gemeinsamen Herausforderungen regelmäs-

sig auf politischer Stufe zu thematisieren. Die bestehenden fachspezifischen Dialoge

und Konsultationen sowie auch die sektoriellen Gemischten Ausschüsse werden dabei

nicht ersetzt.

In den Verhandlungen haben sich die Schweiz und die EU geeinigt, die Einrichtung

des hochrangigen Dialogs in einer rechtlich unverbindlichen Erklärung festzuhalten.

Deren Abschluss liegt gemäss Artikel 184 Absatz 1 BV in der Kompetenz des Bun-

desrates (s. Ziff. 2.14.8). Der Dialog soll auf Ministerstufe stattfinden und gemeinsam

vom Vorsteher des EDA sowie dem für die Beziehungen zur Schweiz zuständigen

Kommissar der Europäischen Kommission geleitet werden. Die weitere Zusammen-

setzung der Delegation wird offengelassen, was seitens der Schweiz auch eine Teil-

nahme von weiteren Mitgliedern des Bundesrates, Expertinnen und Experten der Bun-

desverwaltung oder einer Vertretung der Kantone ermöglicht. Der Dialog soll jährlich

stattfinden und abwechselnd in der Schweiz und in Brüssel abgehalten werden, zum

ersten Mal innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten des Pakets Schweiz–EU.

Die Zusammenarbeit der Schweiz mit der EU im Bereich der Aussen- und Sicher-

heitspolitik ist nicht Gegenstand des hochrangigen Dialogs, da hierfür auf Seiten der

EU nicht die Kommission, sondern der Hohe Vertreter der Union für die Aussen- und

Sicherheitspolitik sowie der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) zuständig sind. In

der Gemeinsamen Erklärung wurde festgehalten, dass die Frage nach einem politi-

schen Dialog zwischen dem Hohen Vertreter und dem Vorsteher des EDA separat

behandelt werden soll.

Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt.

2.14.2

Ausgangslage

Die Schweiz pflegt mit der EU bereits heute einen regelmässigen Austausch zu den

verschiedenen Bereichen der bilateralen Beziehungen. Dieser findet vorwiegend im

848 / 931

Rahmen der Gemischten Ausschüsse statt, sofern es bestehende bilaterale Abkommen

betrifft. Die Gemischten Ausschüsse treten in der Regel mindestens einmal pro Jahr

zusammen und werden von Fachpersonen der Bundesverwaltung geführt.

Im Finanzbereich besteht mit dem Regulierungsdialog ein strukturierter Austausch

zwischen der Schweiz und der EU. Der Dialog konnte 2024 wiederaufgenommen

werden, nachdem er seit 2017 unterbrochen gewesen war. Obwohl der Dialog nicht

Gegenstand der Verhandlungen zum Paket war, hatte der Bundesrat eine rasche Wie-

deraufnahme im Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 als Ziel definiert.

Im Bereich der Aussen- und Sicherheitspolitik finden ebenfalls regelmässige Austau-

sche auf Fachebene statt. So führen etwa die einzelnen Abteilungen des EDA in un-

terschiedlicher Regelmässigkeit verschiedene geografische und thematische Konsul-

tationen mit dem EAD. Gemeinsam mit dem VBS führt das EDA auch einen

jährlichen Dialog über Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit dem EAD. Diesen

Formaten übergeordnet sind die aussen- und sicherheitspolitischen Konsultationen

auf Stufe Staatssekretär EDA – Generalsekretär EAD, welche grundsätzlich im Halb-

jahresrhythmus stattfinden.

Hingegen unterhält die Schweiz mit der EU bislang keinen übergeordneten regelmäs-

sigen hochrangigen Austausch auf politischer Stufe, der eine Gesamtschau und stra-

tegische Diskussion über die Gesamtbeziehungen erlauben würde. Mit zahlreichen

Ländern, zu denen die Schweiz enge Beziehungen pflegt, existieren solche hochran-

gigen Austauschformate. Mit allen europäischen Staaten und insbesondere den Nach-

barstaaten finden regelmässige Treffen auf allen politischen Ebenen statt. Für Öster-

reich ist zusätzlich der traditionelle Antrittsbesuch der Bundespräsidentin oder des

Bundespräsidenten der Schweiz zu nennen. Während für die Treffen mit Deutschland,

Frankreich und Liechtenstein keine formalisierte Vereinbarung besteht, hat die

Schweiz mit Italien eine rechtlich unverbindliche gemeinsame Erklärung sowie mit

Österreich ein rechtlich unverbindliches

Memorandum of Understanding

unterzeich-

net.

Die EU unterhält ihrerseits diverse regelmässige hochrangige Kontaktformate mit

Partnerländern. Je nach Ausgestaltung der Beziehungen sind diese unterschiedlich

stark institutionalisiert. Im Rahmen des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) ist

das Gremium des EWR-Rates zu nennen, dessen Funktionsweise in Artikel 89 ff. des

Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum geregelt ist.

805

Vertreten sind

in der Regel die Aussen- beziehungsweise die Europaministerinnen oder -minister der

drei dem EWR angehörenden EFTA-Staaten und des EU-Landes, welches gegenwär-

tig die EU-Ratspräsidentschaft innehat, sowie die Europäische Kommission und der

EAD. Am Rande der Treffen des EWR-Rates findet zudem jeweils ein informeller

politischer Dialog über aktuelle aussenpolitische Themen statt, an dem der EAD teil-

nimmt.

Mit dem Vereinigten Königreich finden auf der Grundlage von Artikel 7 des Abkom-

mens über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der

805

Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum, Fassung gemäss ABl. L 1 vom

3.1.1994, S. 3

849 / 931

Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Gross-

britannien und Nordirland andererseits jährliche Treffen innerhalb des sogenannten

Partnerschaftsrates statt.

806

Dieser wird von einem Mitglied der Europäischen Kom-

mission gemeinsam mit einer Vertreterin oder einem Vertreter des Vereinigten Kö-

nigreichs auf Ministerebene geführt. Der ehemalige Hohe Vertreter der Union für die

Aussen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, und der Aussenminister des Vereinig-

ten Königreichs, David Lammy, sind im Oktober 2024 ausserdem übereingekommen,

ab 2025 einen halbjährlichen aussenpolitischen Dialog auf Ministerstufe abzuhalten.

2.14.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

Um die bestehenden Gespräche auf Fachebene mit einer gesamtheitlichen politischen

Perspektive zu ergänzen und einen regelmässigen Gesprächsrahmen für die Gesamt-

beziehungen Schweiz–EU zu schaffen, soll ein hochrangiger Dialog eingerichtet wer-

den. Dieser soll es ermöglichen, die Entwicklung der bilateralen Beziehungen sowie

gemeinsame Herausforderungen auf politischer Stufe zu thematisieren. Die bestehen-

den fachspezifischen Dialoge und Konsultationen sowie auch die sektoriellen Ge-

mischten Ausschüsse werden dadurch nicht ersetzt.

Im Rahmen der exploratorischen Gespräche wurde der hochrangige Dialog als strate-

gisches Steuerungsinstrument besprochen, der zwischen der Schweiz und der Euro-

päischen Kommission auf Ministerstufe stattfinden soll. Er soll eine Gesamtübersicht

über die bilateralen Beziehungen ermöglichen, wie sie im

Common Understanding

807

vom 27. Oktober 2023 dargelegt worden sind. Dafür soll regelmässig ein koordinierter

Überblick über die Arbeit der sektoriellen Gemischten Ausschüsse vorgenommen

werden.

Bereits während der exploratorischen Gespräche wurde vereinbart, den Dialog betref-

fend die Aussen- und Sicherheitspolitik separat zu behandeln, da die Gemeinsame

Aussen- und Sicherheitspolitik (GASP) nicht im Zuständigkeitsbereich der Kommis-

sion, sondern des Hohen Vertreters sowie des EAD liegt.

Im Schweizer Verhandlungsmandat vom 8. März 2024 wurde unter Punkt 5 erwähnt,

dass ein hochrangiger Dialog auf Ministerstufe eingerichtet werden sollte.

808

Das

Vorhaben war im Rahmen der Konsultation zum Entwurf des Schweizer Verhand-

lungsmandats vom 15. Dezember 2023 ausschliesslich positiv bewertet worden

(vgl.

Bericht über die Ergebnisse der Konsultation zum Entwurf eines Verhandlungsman-

dats zwischen der Schweiz und der Europäischen Union über die Stabilisierung und

Weiterentwicklung ihrer Beziehungen

809

). Der Wirtschaftsdachverband economiesu-

isse hat die Einrichtung eines regelmässigen hochrangigen Dialogs als langjährige

Forderung der Wirtschaft bezeichnet. Dieser sollte vor allem «politisch motivierte»

806

Abkommen über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der

Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Grossbritan-

nien und Nordirland andererseits, Fassung gemäss ABl. L 149 vom 30.4.2021, S. 10

807

Abrufbar unter: www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Stabilisierung und Weiter-

entwicklung des bilateralen Wegs> Paketansatz Schweiz–EU.

808

Abrufbar unter: www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Stabilisierung und Weiter-

entwicklung des bilateralen Wegs> Paketansatz Schweiz–EU.

809

Abrufbar unter: www.eda.admin.ch/europa > Bilateraler Weg > Stabilisierung und Weiter-

entwicklung des bilateralen Wegs> Paketansatz Schweiz–EU.

850 / 931

Probleme angehen. Auch der Schweizerische Gewerbeverband sowie der Arbeitneh-

merdachverband Travail.Suisse haben das Vorhaben explizit befürwortet. Die Konfe-

renz der Kantonsregierungen gab ihrer Hoffnung Ausdruck, dass ein solcher regel-

mässiger Dialog die Bedeutung der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU

widerspiegeln und zum gegenseitigen Verständnis beitragen würde. Die Kantonsre-

gierungen forderten mit Verweis auf die Mitwirkungsrechte der Kantone in der Aus-

senpolitik die Möglichkeit einer Teilnahme am Dialog.

Im Rahmen der Verhandlungen, die in der Verhandlungsgruppe «Institutionelle Best-

immungen und andere Fragen» stattgefunden haben, waren sich die Delegationen der

Schweiz und der EU einig, dass die Einrichtung des hochrangigen Dialogs in einer

rechtlich unverbindlichen Erklärung festgehalten werden soll. Der Inhalt der Erklä-

rung war für beide Seiten grundsätzlich unbestritten. Die Diskussionen darüber ge-

stalteten sich entsprechend kurz, und die Verhandlungsziele der Schweiz wurden voll-

umfänglich erreicht.

2.14.4

Vorverfahren

Es gab kein spezifisches Vorverfahren für die Verhandlungen zum hochrangigen Di-

alog. Das Parlament, die Konferenz der Kantonsregierungen, die Sozialpartner sowie

Verbände und Organisationen hatten die Gelegenheit, im Rahmen der Konsultation

zum Entwurf des Schweizer Verhandlungsmandats vom 15. Dezember 2023 Stellung

zum Vorhaben zu nehmen.

2.14.5

Grundzüge des hochrangigen Dialogs

Die Einrichtung eines hochrangigen Dialogs wurde in einer Gemeinsamen Erklärung

zwischen der Schweiz und der EU festgehalten.

810

Hierbei handelt es sich um ein

rechtlich unverbindliches Instrument, dessen Gehalt ausschliesslich politischer Natur

ist. Es ist in den Aussenbeziehungen üblich, für die Vereinbarung von politischen

Konsultationen und Treffen auf solche rechtlich unverbindlichen Instrumente zurück-

zugreifen. Inhaltlich hält die Gemeinsame Erklärung die wesentlichen Elemente des

hochrangigen Dialogs fest. Dazu gehören insbesondere der Vorsitz des hochrangigen

Dialogs, dessen Zielsetzungen und Inhalte, die Häufigkeit der Treffen und die Durch-

führungsmodalitäten. Ausserdem wird eine Abgrenzung zu einem möglichen politi-

schen Dialog über die Aussen- und Sicherheitspolitik zwischen der Schweiz und der

EU vorgenommen.

2.14.6

Erläuterungen zu einzelnen Paragraphen der Gemeinsamen

Erklärung

Der Titel der Gemeinsamen Erklärung hält fest, dass der hochrangige Dialog auf das

Paket Schweiz–EU sowie auf mögliche Weiterentwicklungen der bilateralen Bezie-

hungen zwischen der Schweiz und der EU fokussiert. Nicht Gegenstand des Dialogs

sollen demnach davon abzugrenzende Politikbereiche wie etwa die Zusammenarbeit

in der Aussen- und Sicherheitspolitik sein.

810

Gemeinsame Erklärung der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen

Kommission über die Einrichtung eines hochrangigen Dialogs über das umfassende bilate-

rale Paket und die mögliche Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen zwischen der

Europäischen Union und der Schweiz

851 / 931

Der hochrangige Dialog soll vom Vorsteher des EDA sowie dem für die Beziehungen

zur Schweiz zuständigen Mitglied der Europäischen Kommission geleitet werden.

Abgesehen davon macht die Erklärung keine weiteren Vorgaben über die Zusammen-

setzung der Delegationen auf Seiten der Schweiz und der EU. Beide Parteien haben

hier einen entsprechenden Spielraum. Der Schweiz steht es somit frei, neben dem

Vorsteher des EDA auch die Teilnahme von weiteren Bundesratsmitgliedern, Vertre-

terinnen und Vertretern der Kantone sowie Expertinnen und Experten der betroffenen

Fachämter der Bundesverwaltung vorzusehen.

Die Erklärung hält fest, dass der hochrangige Dialog Themen von beiderseitigem In-

teresse diskutieren soll, insbesondere die sektorielle Teilnahme der Schweiz am Bin-

nenmarkt der EU sowie Möglichkeiten zur Stärkung der Partnerschaft der Schweiz

mit der EU. Weiter soll der hochrangige Dialog dazu dienen, regelmässig die Umset-

zung des Pakets Schweiz–EU, die Arbeit der Gemischten Ausschüsse sowie die mög-

liche Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen zu evaluieren.

Der hochrangige Dialog soll jährlich durchgeführt werden. Die Durchführung soll ab-

wechselnd in der Schweiz und in Brüssel erfolgen. Zum ersten Mal soll der Dialog

innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten des Pakets Schweiz–EU stattfinden.

Bei dieser Gelegenheit sollen auch gemeinsam die weiteren Modalitäten zur Durch-

führung des Dialogs definiert werden.

Abschliessend ist in der Erklärung festgehalten, dass diese die Einrichtung eines po-

litischen Dialogs über Fragen der Aussen- und Sicherheitspolitik zwischen dem Ho-

hen Vertreter sowie dem Vorsteher des EDA nicht berührt. Die Frage eines solchen

politischen Dialogs über die Aussen- und Sicherheitspolitik soll separat behandelt

werden.

2.14.7

Auswirkungen des Paketelements

Für den Bund fallen durch die Einrichtung respektive die Durchführung des hochran-

gigen Dialogs mit der EU keine Mehrkosten an. Die Arbeiten zur Umsetzung des Di-

alogs können im Rahmen der bestehenden finanziellen wie auch personellen Ressour-

cen bewältigt werden. Es ist offensichtlich, dass keine weiteren Auswirkungen auf

den Bund zu erwarten sind. Die entsprechenden Fragen wurden daher nicht geprüft.

Für die Kantone besteht die Möglichkeit, mittels einer Vertretung am hochrangigen

Dialog teilzunehmen (s. Ziff. 2.14.6). Es ist offensichtlich, dass keine weiteren Aus-

wirkungen auf die Kantone und Gemeinden sowie auf urbane Zentren, Agglomerati-

onen und Berggebiete zu erwarten sind. Die entsprechenden Fragen wurden daher

nicht geprüft.

Für die Bereiche Volkswirtschaft, Gesellschaft und Umwelt ist offensichtlich, dass

keine Auswirkungen zu erwarten sind. Die entsprechenden Fragen wurden daher nicht

geprüft.

Der hochrangige Dialog mit der EU ist im aussenpolitischen Interesse der Schweiz.

Ein regelmässiger Austausch auf Ministerebene zwischen der Schweiz und der EU

stärkt die bilateralen Beziehungen und entspricht somit dem in der Aussenpolitischen

Strategie 2024–2027 des Bundesrates definierten Ziel der Stabilisierung und Weiter-

entwicklung des bilateralen Wegs mit der EU. Andere Bereiche der Aussenpolitik

852 / 931

werden durch die Einrichtung des hochrangigen Dialogs mit der EU nicht direkt tan-

giert.

2.14.8

Rechtliche Aspekte des Paketelements

Bei der Gemeinsamen Erklärung zur Einrichtung des hochrangigen Dialogs handelt

es sich nicht um ein rechtlich verbindliches Instrument, sondern um eine Absichtser-

klärung politischer Natur. Deren Abschluss liegt in der Kompetenz des Bundesrates.

Dies ergibt sich aus Artikel 184 Absatz 1 BV, wonach die auswärtigen Angelegenhei-

ten Sache des Bundesrates sind und er diese unter Wahrung der Mitwirkungsrechte

der Bundesversammlung besorgt. Auf dieser Grundlage ist die operative Führung der

Aussenpolitik Sache des Bundesrates. Diese umfasst unter anderem die Zustimmung

zu rechtlich nicht verbindlichen aussenpolitischen Instrumenten.

853 / 931

2.15

Zusammenarbeit der Parlamente

2.15.1

Zusammenfassung

Bei den Konsultationen zum Entwurf des Verhandlungsmandats für das Paket

Schweiz–EU Anfang 2024 ersuchte die Aussenpolitische Kommission des Ständera-

tes (APK-S) den Bundesrat, eine Regelung zur parlamentarischen Zusammenarbeit

mit der EU anzustreben. Die Kommission war der Auffassung, dass ein solcher Aus-

tausch zwischen der Bundesversammlung und dem Europäischen Parlament, der in

dieser institutionalisierten Form noch nicht besteht, dazu beitragen könne, die demo-

kratische Verankerung der Abkommen Schweiz–EU zu stärken. Der Bundesrat nahm

diese Forderung in sein Verhandlungsmandat auf.

Auf dieser Grundlage hat der Bundesrat ein Protokoll über die parlamentarische Zu-

sammenarbeit zwischen der Schweiz und der Europäischen Union ausgehandelt. Mit

diesem Protokoll soll zwischen der Schweiz und der EU ein Gemischter Parlamenta-

rischer Ausschuss eingesetzt werden.

Der Gemischte Parlamentarische Ausschuss soll durch Dialog und Diskussion zu ei-

nem besseren Verständnis zwischen den Vertragsparteien über das umfassende bila-

terale Paket und eine mögliche Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen bei-

tragen. Im Rahmen seiner Befugnisse kann der Ausschuss insbesondere die

Vertragsparteien um sachdienliche Informationen über die Durchführung der Abkom-

men, die Teil des Pakets Schweiz–EU sind, ersuchen. Er kann auch Empfehlungen an

die Vertragsparteien, inklusive an den im Rahmen des Pakets eingerichteten hochran-

gigen Dialog Schweiz–EU, richten (s. Ziff. 2.14). Es sei darauf hingewiesen, dass sich

die Diskussionen beziehungsweise die allfälligen Empfehlungen des Ausschusses auf

dessen Verlangen auch auf Rechtsakte beziehen können, die im Rahmen des EU-

Rechtssetzungsprozesses erarbeitet werden und für das Paket Schweiz–EU relevant

sind. Dies würde die Mitwirkung der Bundesversammlung in europäischen Angele-

genheiten stärken (s. Ziff. 2.1.7.7).

Vor dem Abschluss der Verhandlungen mit der EU wurden die APK im November

beziehungsweise Dezember 2024 gemäss Artikel 152 Absatz 3 ParlG

811

zum Entwurf

des Protokolls konsultiert. In ihren Stellungnahmen an den Bundesrat unterstützten

beide den vorgelegten Entwurf.

Der Bundesrat erachtet das Verhandlungsmandat als vollständig erfüllt. Er beantragt,

das Protokoll über die parlamentarische Zusammenarbeit im Rahmen eines besonde-

ren Bundesbeschlusses, der nicht dem Referendum unterliegt, zu genehmigen. Das

Protokoll über die parlamentarische Zusammenarbeit schafft einen allgemeinen Rah-

men für eine verstärkte parlamentarische Zusammenarbeit zwischen der Bundesver-

sammlung und dem Europäischen Parlament. Der Ausschuss wird die konkreten Mo-

dalitäten in Bezug auf seine Funktionsweise selbst festlegen, insbesondere durch die

Verabschiedung einer Geschäftsordnung.

811

SR

171.10

854 / 931

2.15.2

Ausgangslage

Die Bundesversammlung pflegt bereits heute Beziehungen mit dem Europäischen

Parlament. Die diesbezüglichen Modalitäten sind in Artikel 3 VPiB festgelegt

812

. Für

die Pflege der Beziehungen mit dem Europäischen Parlament ist die Delegation im

parlamentarischen Ausschuss der EFTA (EFTA/EU-Delegation) zuständig. Die Prä-

sidentinnen oder Präsidenten der APK und der EFTA/EU-Delegation haben das

Recht, mit dem Europäischen Parlament Beziehungen zu pflegen.

Die Mitglieder der EFTA/EU-Delegation treffen die für die Beziehungen zur Schweiz

zuständigen Mitglieder der Delegation des Europäischen Parlaments (DEEA) jährlich

zu einem «interparlamentarischen Treffen». Diese Treffen dienen hauptsächlich dem

Meinungsaustausch. Sie können zur Verabschiedung gemeinsamer Erklärungen der

Vorsitzenden führen, wie zum Beispiel beim 41. Treffen am 7. Oktober 2022 in Rap-

perswil-Jona. Darüber hinaus sind die Mitglieder der EFTA/EU-Delegation eingela-

den, an den Veranstaltungen der Konferenz der Ausschüsse für Unionsangelegenhei-

ten der Parlamente der Europäischen Union (COSAC) teilzunehmen, in der die

Europa-Ausschüsse der nationalen Parlamente der EU sowie eine Delegation des Eu-

ropäischen Parlaments vertreten sind.

Diese Formen des interparlamentarischen Austausches stellen kein geeignetes Format

dar, um Mitglieder der eidgenössischen Räte und des Europäischen Parlaments auf

institutionalisierte Weise zusammenzubringen, wie es beispielsweise der Europäische

Wirtschaftsraum (EWR) mit dem Gemeinsamen Parlamentarischen Ausschuss

(Art. 95 des EWR-Abkommens

813

) oder das Vereinigte Königreich mit der Parlamen-

tarischen Partnerschaftsversammlung (Art. 11 des Abkommens über Handel und Zu-

sammenarbeit mit der EU

814

) kennen.

Bei den Konsultationen zum Entwurf des Verhandlungsmandats für das Paket

Schweiz–EU Anfang 2024 ersuchte die APK-S den Bundesrat, eine Regelung zur par-

lamentarischen Zusammenarbeit mit der EU anzustreben. In ihrer Stellungnahme ar-

gumentierte die Kommission, dass für die Verankerung und Akzeptanz der bilateralen

Verträge in der Schweiz deren demokratische Absicherung zentral sei und dass ein

institutionalisierter Austausch zwischen der Bundesversammlung und dem Europäi-

schen Parlament einen wichtigen Beitrag dazu leisten könne.

Der Bundesrat berücksichtigte diese Forderung bei der Verabschiedung seines end-

gültigen Verhandlungsmandats am 8. März 2024.

2.15.3

Zielsetzung und Verhandlungsverlauf

Das Verhandlungsmandat für das Paket Schweiz–EU sah in Ziffer 6.8 Folgendes vor:

«Die Schweiz strebt die Etablierung einer parlamentarischen Zusammenarbeit zwi-

schen der Bundesversammlung und dem Europäischen Parlament an.» In diesem

812

SR

171.117

813

Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum, ABl. L 1 vom 3.1.1994, S. 3.

814

Abkommen über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der

Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Grossbritan-

nien und Nordirland andererseits, ABl. L 149 vom 30.4.2021, S. 10.

855 / 931

Sinne bemühte sich der Bundesrat um ein Abkommen, das den Rahmen für eine in-

stitutionalisierte Zusammenarbeit zwischen dem Schweizer und dem Europäischen

Parlament schafft.

Die Verhandlungsdelegation des Bundesrates in der Verhandlungsgruppe «Institutio-

nelle Bestimmungen und andere Fragen» arbeitete deshalb einen Entwurf für ein Pro-

tokoll über die parlamentarische Zusammenarbeit Schweiz–EU aus. Diesen Entwurf

unterbreitete sie der EU-Delegation.

Gemäss Artikel 152 Absatz 3 ParlG konsultierte der Bundesrat die beiden APK zum

Entwurf des Protokolls. In Anwesenheit einer Delegation des EDA befasste sich die

APK-S an ihrer ordentlichen Sitzung vom 21. November 2024 mit dem Text. Die

Aussenpolitische Kommission des Nationalrates (APK-N) traf sich am 3. Dezember

2024 zu einer ausserordentlichen Sitzung. Aus den schriftlichen Stellungnahmen an

den Bundesrat ging hervor, dass beide Kommissionen das Protokoll über die parla-

mentarische Zusammenarbeit unterstützen. Die APK-S forderte eine Ergänzung be-

züglich der Regelmässigkeit der Treffen des Gemischten Parlamentarischen Aus-

schusses («mindestens einmal pro Jahr»).

Diesem Anliegen konnte bei den Verhandlungen über den endgültigen Text mit der

EU im Dezember 2024 entsprochen werden (s. Ziff. 2.15.6).

Da eine verstärkte parlamentarische Zusammenarbeit von Anfang an im gemeinsamen

Interesse beider Seiten stand, waren hierfür nur wenige Verhandlungsrunden notwen-

dig. Das von der Schweiz gemäss Verhandlungsmandat verfolgte Ziel wurde dabei

vollständig erreicht.

2.15.4

Vorverfahren

Neben der in Ziffer 2.15.2 erwähnten Konsultation zum Entwurf des Verhandlungs-

mandats für das Paket Schweiz–EU gibt es zum Vorverfahren keine nennenswerten

Elemente. Die zuständigen parlamentarischen Kommissionen (APK) wurden wie in

Ziffer 2.15.3 beschrieben konsultiert.

2.15.5

Grundzüge des Abkommens

Die Stärkung der parlamentarischen Zusammenarbeit Schweiz–EU wurde in einem

Protokoll zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen

Union festgelegt. Das Protokoll sieht die Einsetzung eines Gemischten Parlamentari-

schen Ausschusses vor und legt dessen Rahmenbedingungen fest (Zweck, Zusam-

mensetzung, Sitzungsrhythmus, Zuständigkeiten). Die konkreten Modalitäten in Be-

zug auf die Funktionsweise sind hingegen vom Ausschuss selbst festzulegen,

insbesondere durch die Verabschiedung einer Geschäftsordnung.

2.15.6

Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Abkommens

Vertragsparteien sind die Schweiz und die EU. Die Präambel nennt den Kontext für

das übergeordnete Ziel des Abkommens, nämlich die Stärkung der Zusammenarbeit

zwischen der Bundesversammlung und dem Europäischen Parlament. Das Abkom-

men wird im Rahmen des Pakets zur Stabilisierung und Weiterentwicklung der Be-

ziehungen zwischen der Schweiz und der EU abgeschlossen.

856 / 931

Der gemäss Artikel 1 eingesetzte Gemischte Parlamentarische Ausschuss soll durch

Dialog und Diskussion zu einem besseren Verständnis zwischen den Vertragsparteien

über das umfassende Paket Schweiz–EU und eine mögliche Weiterentwicklung der

bilateralen Beziehungen beitragen. Der auf die Themen des Pakets Schweiz–EU aus-

gerichtete Diskussionsbereich steht im Einklang mit den Zuständigkeiten des hoch-

rangigen Dialogs Schweiz–EU, der ebenfalls im Rahmen des Pakets Schweiz–EU ein-

gerichtet wird (s. Ziff. 2.14). Der Ausschuss kann ausserdem Empfehlungen an dieses

Gremium richten (siehe unten).

Der Gemischte Parlamentarische Ausschuss wird sich aus einer gleichen Anzahl von

Mitgliedern der Bundesversammlung und des Europäischen Parlaments zusammen-

setzen (Art. 1). Er wird sich mindestens einmal pro Jahr (wie von der APK-S im Rah-

men der Konsultation gewünscht, s. Ziff. 2.15.2) abwechselnd in der Schweiz und in

der EU treffen (Art. 3). Er wird seine Geschäftsordnung mit einer Zweidrittelmehrheit

seiner Mitglieder verabschieden (Art. 5).

Artikel 4 beschreibt die Zuständigkeiten des Gemischten Parlamentarischen Aus-

schusses. Im Rahmen seiner Befugnisse kann der Ausschuss die Vertragsparteien um

sachdienliche Informationen über die Umsetzung der im Paket Schweiz–EU enthalte-

nen Abkommen ersuchen. Ausserdem wird der Ausschuss regelmässig über die Be-

schlüsse und Empfehlungen der gemischten Ausschüsse der Abkommen, die Teil des

Pakets Schweiz–EU sind, informiert. Der genaue Informationsablauf ist mit den De-

partementen, die für die gemischten Ausschüsse der genannten Abkommen zuständig

sind, festzulegen. Schliesslich kann der Ausschuss Empfehlungen an die Vertragspar-

teien richten. «Vertragsparteien» ist so zu verstehen, dass der Ausschuss insbesondere

Empfehlungen an die Vertreterinnen und Vertreter der Vertragsparteien des hochran-

gigen Dialogs richten kann, der im Rahmen des Pakets Schweiz–EU eingerichtet wird

(s. Ziff. 2.14).

Die Artikel 6 und 7 (Ratifikation, Inkrafttreten, Änderung, Kündigung) enthalten die

für ein solches Instrument üblichen Bestimmungen.

2.15.7

Auswirkungen des Paketelements

Das Abkommen hat keine finanziellen und personellen Auswirkungen auf den Bund.

Der Arbeitsaufwand kann mit dem vorhandenen Personalbestand abgedeckt werden.

Die Parlamentsdienste gehen davon aus, dass sie für die verstärkte parlamentarische

Zusammenarbeit eine Vollzeitstelle benötigen. Ausserdem hat das Abkommen offen-

kundig keine Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf urbane Zentren,

Agglomerationen und Berggebiete. Es hat auch keine direkten Auswirkungen auf die

Volkswirtschaft, die Umwelt oder die Gesellschaft. Diese Fragen wurden somit nicht

weiter vertieft. Zu den wirtschaftlichen Auswirkungen des Pakets Schweiz–EU im

Allgemeinen siehe Ziffer 3.3.

Eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen der Bundesversammlung und dem Euro-

päischen Parlament ist aus aussenpolitischer Sicht wichtig. Das Abkommen steht im

Einklang mit dem Ziel, den bilateralen Weg mit der EU zu stabilisieren und weiterzu-

entwickeln, da es den direkten Austausch zwischen Volksvertreterinnen und -vertre-

tern der Schweiz und Parlamentarierinnen und Parlamentariern aus den EU-

857 / 931

Mitgliedstaaten fördert. Dieser Austausch konzentriert sich auf die Bereiche des Pa-

kets Schweiz–EU und allfällige zukünftige Entwicklungen der bilateralen Beziehun-

gen.

2.15.8

Rechtliche Aspekte des Paketelements

Das Protokoll über die parlamentarische Zusammenarbeit ist ein rechtsverbindlicher

Vertrag. Das Abkommen stützt sich auf Artikel 54 Absatz 1 BV, wonach der Bund

für die auswärtigen Angelegenheiten zuständig ist. Artikel 184 Absatz 2 BV ermäch-

tigt den Bundesrat, einen solchen völkerrechtlichen Vertrag zu unterzeichnen und zu

ratifizieren. Gemäss Artikel 166 Absatz 2 BV obliegt es der Bundesversammlung,

diese zu genehmigen, ausgenommen sind die Verträge, für deren Abschluss aufgrund

von Gesetz oder völkerrechtlichem Vertrag der Bundesrat zuständig ist (s. auch Art.

24 Abs. 2 ParlG und Art. 7a Abs. 1 RVOG). Das Protokoll über die parlamentarische

Zusammenarbeit ist kein völkerrechtlicher Vertrag, zu dessen selbständigem Ab-

schluss der Bundesrat durch Bundesgesetz oder von der Bundesversammlung geneh-

migten völkerrechtlichen Vertrag ermächtigt ist. Es handelt sich auch nicht um einen

völkerrechtlichen Vertrag von beschränkter Tragweite im Sinne von Artikel 7a Absatz

2 RVOG. Das Protokoll über die parlamentarische Zusammenarbeit muss daher der

Bundesversammlung zur Genehmigung vorgelegt werden. Der Bundesrat beantragt,

es im Rahmen eines besonderen Bundesbeschlusses, der nicht dem Referendum un-

terliegt, zu genehmigen.

Der Vollzug des Abkommens obliegt der Bundesversammlung. Sie legt die Modali-

täten der konkreten Umsetzung fest. Die Umsetzung könnte eine Anpassung der Ver-

ordnung der Bundesversammlung über die Pflege der internationalen Beziehungen

des Parlamentes (VPiB)

815

erfordern.

Der Vertrag steht im Einklang mit den anderen internationalen Verpflichtungen der

Schweiz.

815

SR

171.117

858 / 931

3

Auswirkungen des Pakets Schweiz–EU

3.1

Auswirkungen auf den Bund

3.1.1

Finanzielle Auswirkungen

Das Paket Schweiz–EU bringt zusätzliche Ausgaben für den Bundeshaushalt im Um-

fang von rund 1,4 Milliarden Franken pro Jahr mit sich. Dabei handelt es sich um die

direkten Auswirkungen. Nicht berücksichtigt sind allfällige indirekte Kosten des Pa-

kets – und insbesondere nicht dessen indirekter Nutzen für den Bundeshaushalt. Die

Mehrbelastungen sind im Kontext der volkswirtschaftlichen Auswirkungen zu sehen

(s. Ziff. 3.3). Das zusätzlich generierte Wirtschaftswachstum (im Vergleich zu einem

Alternativszenario ohne Paket) dürfte langfristig eine stärkere Wirkung auf die Bun-

desfinanzen haben als die hier ausgewiesenen zusätzlichen Ausgaben. Obwohl es sich

selbstverständlich auch bei den angegebenen Mehrbelastungen um Schätzungen han-

delt, ist der Effekt des Pakets auf das Bruttoinlandprodukt (BIP) noch schwieriger zu

prognostizieren, und erst recht die sich daraus ergebende Steigerung namentlich der

Steuereinnahmen. Eine explizite Gesamtprojektierung der langfristigen Auswirkun-

gen auf den Bundeshaushalt lässt sich somit kaum verlässlich anstellen. Daher muss

vorliegend zwangsläufig die einseitige Beschränkung auf die Ausgabenseite erfolgen.

Zu beachten ist im Übrigen, dass mit dem Paket auch Mehrbelastungen für den Bund

vermieden werden. Dies gilt speziell mit Blick auf nationale Ersatzmassnahmen und

-infrastrukturen, die ohne das Paket in einigen Bereichen wohl anstehen würden, ins-

besondere bei den Bildungs- und Forschungsprogrammen.

Die beiden mit Abstand bedeutendsten Posten sind die Programme und der Schweizer

Beitrag; sie machen zusammen über neun Zehntel der Mehrausgaben aus (s. pro Jahr

ausgewiesen in Tabelle 3.1.1 (1) und die Darstellungen der Auswirkungen in den ein-

zelnen Abkommen unter Ziff. 2). Aufgrund der Auszahlungsplanung beim Schweizer

Beitrag dürfte die Grössenordnung der Gesamtausgaben von 1,4 Milliarden Franken

pro Jahr nicht unmittelbar, sondern erst im Jahr 2035 erreicht werden. Angesichts des

nach wie vor erheblichen Bereinigungsbedarfs im Bundeshaushalt in den kommenden

Jahren muss besonders den gleich nach Inkrafttreten des Pakets anstehenden Mehrbe-

lastungen Beachtung geschenkt werden. Die Beteiligung an Nachfolgeprogrammen

für das Horizon-Paket sowie an Erasmus+ für die neue Programmperiode (2028–

2034) wird dem Parlament in einer eigenen Botschaft zur Genehmigung unterbreitet.

Die Entscheidung über die Teilnahme am nächsten mehrjährigen Programm der EU

im Bereich Gesundheit (2028–2034) wird zu einem späteren Zeitpunkt getroffen.

859 / 931

Tabelle 3.1.1 (1): Finanzielle Auswirkungen nach Abkommen (Mio. Fr.)

2027

2028

2029

2030

2031

2032

Institutionelle

Elemente

Staatliche

Beihilfen

0,25

0,25

PFZ*

16,79

51,09

51,09

51,09

51,09

16,89

MRA

0,26

0,06

0,06

0,06

0,06

Landverkehr

Luftverkehr

Landwirt-

schaft

Programme*

842,30

934,40

943,70

953,20

962,70

972,30

Weltraum

3,80

3,80

3,80

3,80

3,80

3,80

Schweizer

Beitrag

9,95

58,23

119,13

154,13

Strom

0,90

1,65

1,65

1,65

1,65

1,65

Lebensmittel-

sicherheit

10,50

11,90

12,30

12,30

12,20

Gesundheit

26,40

26,40

25,90

25,90

25,90

Hochrangiger

Dialog

Zus’arbeit der

Parlamente

Total

863,79

1028,10

1048,55

1106,23

1176,88

1187,18

860 / 931

*Ein Teil der finanziellen Auswirkungen kann über bereits eingestellte Mittel im Fi-

nanzplan abgedeckt werden (s. entsprechende Erläuterungen unter Ziff. 2).

3.1.2

Personelle Auswirkungen

Das Paket generiert einen Stellenbedarf von rund 100 Vollzeitäquivalenten (davon

rund 25 bis 30 Vollzeitäquivalente für den Schweizer Beitrag, die mit der im Beitrags-

abkommen Schweiz–EU vereinbarten Eigenaufwandpauschale von fünf Prozent fi-

nanziert werden und daher nicht zusätzlich anfallen, s. Ziff. 2.10.9.1). Der Bundesrat

wird den ausgewiesenen Ressourcenbedarf zu gegebener Zeit überprüfen und darauf

achten, dass ein allfälliger Mehrbedarf an Personalaufwand innerhalb des Eigenbe-

reichs des Bundes kompensiert wird.

861 / 931

Tabelle 3.1.2 (1): Stellenbedarf (Vollzeitäquivalente)

2027

2028

2029

2030

2031

2032

Institutionelle

Elemente

5,5–7,5

5,5–7,5

5,5–7,5

5,5–7,5

5,5–7,5

Staatliche

Beihilfen

2,0

2,0

2,0

2,0

3,5

3,5

PFZ

3,0

7,7–9,7

7,7–9,7

6,7–8,7

6,7–8,7

6,7–8,7

MRA

2,0

2,0

2,0

2,0

2,0

Landverkehr

Luftverkehr

Landwirt-

schaft

Programme

7,0

9,0

9,0

7,0

6,0

8,0

Weltraum

Strom

15,0

18,0

18,0

18,0

18,0

18,0

Lebensmittel-

sicherheit

2,0

8,5

12,0

17,0

24,0

24,0

Gesundheit

2,0

13,8

13,8

11,8

11,8

11,8

Hochrangiger

Dialog

Zus’arbeit der

Parlamente

1,0

1,0

1,0

1,0

1,0

Total

31,0 67,5–71,5 71,0–75,0 71,0–75,0 78,5–82,5 80,5–84,5

Ohne Schweizer Beitrag (ca. 25–30 Vollzeitäquivalente, für die 5 % der Mittel des

Beitrags reserviert sind).

862 / 931

Institutionelle Elemente: 1,5 der 5,5–7,5 Vollzeitäquivalente fallen bei der Bundes-

versammlung (Parlamentsdienste) an.

3.1.3

Auswirkungen auf die Aussenpolitik

Das Paket Schweiz–EU widerspiegelt eine aussenpolitische Kontinuität in den Bezie-

hungen zwischen der Schweiz und der EU. Es ist entscheidend für die Stabilisierung

und Weiterentwicklung des bewährten bilateralen Wegs mit der EU und entspricht

damit dem ersten in der Aussenpolitischen Strategie des Bundesrates 2024–2027

816

definierten Ziel. Das Paket Schweiz–EU wird sich positiv auf die Beziehungen der

Schweiz zur EU und den EU-Mitgliedstaaten auswirken und die Zusammenarbeit er-

leichtern. Dies reflektiert auch die Gemeinsame Erklärung zum Umfang der Partner-

schaft und der Zusammenarbeit im Zeitraum von Ende 2024 bis zum Inkrafttreten des

Pakets Schweiz–EU, in welcher die beiden Parteien insbesondere festgehalten haben,

dass mit dem Abschluss der Verhandlungen die Zusammenarbeit im Rahmen der bi-

lateralen Beziehungen ausgebaut werden sollte (s. Ziff. 1.3.4).

Die Schweiz und die EU haben über die Jahrzehnte ein Netz von über hundert Ab-

kommen

817

geknüpft. Darunter fallen auch Bereiche der Zusammenarbeit, die nicht

direkt vom Paket Schweiz–EU betroffen sind. Beispiele dafür sind die Schengen/Dub-

lin-Assoziierung

818

,

819

betreffend Grenze, Justiz, Polizei, Visa und Asyl, der zollfreie

Handel mit Industrieprodukten basierend auf dem Freihandelsabkommen

820

, die Zu-

sammenarbeit im Steuerbereich

821

oder die Verknüpfung der Emissionshandelssys-

teme

822

. Auch wenn gewisse Elemente der bilateralen Zusammenarbeit nicht direkt

vom Paket Schweiz–EU betroffen sind, können diese tendenziell von einer Stabilisie-

rung und Weiterentwicklung des bilateralen Wegs profitieren. Beispielsweise wurde

bereits im Juli 2024 der Regulierungsdialog im Finanzmarktbereich mit der EU fort-

gesetzt, nachdem dieser während mehreren Jahren unterbrochen gewesen war. Der

Dialog war nicht Gegenstand der Verhandlungen zum Paket Schweiz–EU. Der Bun-

desrat hatte jedoch eine rasche Wiederaufnahme in seinem Verhandlungsmandat als

Ziel definiert.

816

Abrufbar unter: www.eda.admin.ch> Aussenpolitik > Strategien und Grundlagen > Aus-

senpolitische Strategie.

817

Abrufbar unter: www.eda.admin.ch> Bilateraler Weg > Überblick.

818

Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, der

Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft über die Assoziierung dieses

Staates bei der Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen-Besitzstands,

SR

0.362.31

.

819

Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und

der Europäischen Gemeinschaft über die Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des zu-

ständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat oder in der Schweiz gestell-

ten Asylantrags, SR

0.142.392.68

.

820

Abkommen von 22. Juli 1972 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der

Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, SR

0.632.401

.

821

Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und

der Europäischen Union über den automatischen Informationsaustausch über Finanzkonten

zur Förderung der Steuerehrlichkeit bei internationalen Sachverhalten, SR

0.641.926.81

.

822

Abkommen vom 23. November 2017 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft

und der Europäischen Union zur Verknüpfung ihrer jeweiligen Systeme für den Handel

mit Treibhausgasemissionen, SR

0.814.011.268

.

863 / 931

Das Paket Schweiz–EU eröffnet der schweizerischen Aussenpolitik zusätzliche In-

strumente, um die Beziehungen zur EU zu gestalten. Beispielsweise den neu geschaf-

fenen hochrangigen Dialog zwischen der Schweiz und der EU (s. Ziff. 2.14) oder die

verstärkte Zusammenarbeit der Parlamente (s. Ziff. 2.15). Über den Schweizer Bei-

trag (s. Ziff. 2.10) können die Beziehungen der Schweiz zu den Partnerstaaten in po-

litischer, wirtschaftlicher und institutioneller Hinsicht gestärkt werden. Es handelt

sich dabei um ein bewährtes Element der schweizerischen Europapolitik, das im Rah-

men des Pakets Schweiz–EU verstetigt wird. Auch weitere Elemente des Pakets, wie

beispielsweise die Teilnahme der Schweiz an EU-Programmen in den Bereichen For-

schung und Bildung (s. Ziff. 2.8), schaffen Opportunitäten für vertiefte aussenpoliti-

sche Zusammenarbeit. Die institutionellen Elemente (s. Ziff. 2.1) sehen Instrumente

wie das

Decision Shaping

und die Möglichkeit von Stellungnahmen vor dem Ge-

richtshof der Europäischen Union (EuGH) bei Vorabentscheidungsverfahren von EU-

Mitgliedstaaten vor. Diese Instrumente ermöglichen es der Schweiz, ihre Interessen

im Rahmen der Rechtsetzungs- und Rechtsprechungsprozesses der EU verstärkt zu

vertreten. Zudem erlaubt es der neue Streitbeilegungsmechanismus der Schweiz, ihre

Rechte wirksam geltend zu machen, und schützt sie vor willkürlichen und unverhält-

nismässigen Retorsionsmassnahmen und vor «Nadelstichen».

Das Paket Schweiz–EU hat voraussichtlich auch Auswirkungen auf die Zusammen-

arbeit der Schweiz mit den übrigen EFTA-Staaten (Norwegen, Island und Liechten-

stein). Das revidierte EFTA-Übereinkommen vom 21. Juni 2001

823

hatte zum Ziel,

unter den heutigen EFTA-Staaten Liechtenstein, Norwegen, Island und der Schweiz

ein wirtschaftliches Integrationsniveau zu erreichen, das im Wesentlichen dem Inhalt

der Bilateralen I zwischen der Schweiz und der EU entsprach. Das EFTA-

Übereinkommen wird daher regelmässig angepasst, um die Entwicklungen der bila-

teralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU sowie innerhalb des Europä-

ischen Wirtschaftsraums (EWR) zu berücksichtigen. Entsprechend wird aufgrund des

Pakets Schweiz–EU auch eine Anpassung des EFTA-Übereinkommens zu prüfen

sein, um weiterhin möglichst einheitliche Regeln zwischen den EU- und EFTA-

Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Dies wird jedoch separat geschehen und nicht im

Rahmen des Pakets Schweiz–EU.

Abgesehen von den Beziehungen der Schweiz zur EU, respektive deren Mitgliedstaa-

ten, ist die schweizerische Aussenpolitik durch das Paket Schweiz–EU nicht tangiert.

Die schweizerische Aussenpolitik wird nicht eingeschränkt. Die Schweiz kann wei-

terhin selbstbestimmt die Beziehungen zu anderen Staaten und Weltregionen gestal-

ten, beispielsweise durch den Abschluss von Freihandelsabkommen oder anderen in-

ternationalen Verträgen. Sie bleibt in der Gestaltung ihrer Aussen- und

Sicherheitspolitik autonom. Die Neutralität der Schweiz bleibt gewahrt.

823

Abkommen vom 21. Juni 2001 zur Änderung des Übereinkommens vom 4. Januar 1960

zur Errichtung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA), SR

0.632.31

.

864 / 931

3.2

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden sowie auf

urbane Zentren, Agglomerationen und Berggebiete

3.2.1

Auswirkungen auf Kantone und Gemeinden

Das Paket Schweiz–EU hat keinen Einfluss auf die grundlegende Kompetenzvertei-

lung zwischen Bund und Kantonen.

Das Paket hat direkte und indirekte Auswirkungen auf die Kantone und die Arbeit

ihrer Verwaltungen. Deswegen war es dem Bundesrat ein Anliegen, die Kantone über

die Länge des gesamten Prozesses zum Paket hin so stark wie möglich einzubinden

und permanent zu informieren. Der Einbezug der Kantone in die exploratorischen Ge-

spräche und die Verhandlungen wird detailliert in Ziffer 1.3.3 beschrieben.

Während die meisten Auswirkungen kantonsübergreifender Natur sind, kann es auf-

grund regionaler Besonderheiten (etwa die wirtschaftliche oder demografische Struk-

tur) sein, dass gewisse Kantone oder Gebiete stärker oder schwächer betroffen sind.

So weisen beispielweise die Berggebiete im gesamtschweizerischen Vergleich am

meisten strukturelle Besonderheiten auf, insbesondere in den wirtschaftlichen, geo-

grafischen und demografischen Dimensionen. Entsprechend werden die Auswirkun-

gen des Paketes auf die Berggebiete gegen Ende der Ziffer kurz gesondert beschrie-

ben.

Das Paket stellt die Stabilisierung und Weiterentwicklung des bewährten bilateralen

Weges sicher, von dem auch die Kantone profitieren. Der Ausbau der Wirtschaftsbe-

ziehungen, die wissenschaftliche Zusammenarbeit und die gemeinsame Bewältigung

aktueller grenzüberschreitender Herausforderungen sind unerlässlich, um die Sicher-

heit und den Wohlstand der Schweiz und damit auch der Kantone zu gewährleisten.

3.2.1.1

Auswirkungen im Bereich institutionelle Elemente

Die institutionellen Elemente sehen Instrumente vor, die es der Schweiz ermöglichen,

ihre Interessen im Rahmen des Rechtsetzungs- und Rechtsprechungsprozesses der EU

verstärkt zu vertreten, namentlich das

Decision Shaping

und Einreichung von Stel-

lungnahmen im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren (s. Ziff. 2.1). Darüber hin-

aus sehen sie auch einen Streitbeilegungsmechanismus vor, der es den Parteien er-

möglicht, ein Schiedsgericht anzurufen, falls im Gemischten Ausschuss keine

politische Lösung für einen Streit gefunden wird. In diesem Zusammenhang werden

die Kantone regelmässig informiert und eng eingebunden, wenn ihre Zuständigkeits-

bereiche betroffen sind. Die Modalitäten der Information und Beteiligung der Kantone

an der Mitwirkung der Schweiz am Rechtssetzungs- und Rechtsprechungsprozess der

EU sowie am Streitbeilegungsmechanismus werden bis zum Inkrafttreten des Pakets

festgelegt, beispielsweise im Rahmen einer neuen Vereinbarung zwischen Bund und

Kantonen analog zur Vereinbarung im Bereich Schengen/Dublin (s. Ziff. 2.1.9.2).

824

Die technischen Gespräche mit der Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) zu ei-

ner solchen Vereinbarung wurden bereits gestartet. Im Rahmen des durch das Paket

824

Convention entre la Confédération et les cantons relative à la mise en œuvre, à l’applica-

tion et au développement de l’acquis de Schengen et de Dublin du 20 mars 2009.RS

362.1

.

865 / 931

vorgesehenen hochrangigen Dialogs (s. Ziff.2.14) ist bei sie betreffenden Themen zu-

dem die Möglichkeit einer Teilnahme der Kantone vorgesehen. Somit wird durch das

Paket auch die kantonale Mitwirkung an der Aussenpolitik gestärkt.

3.2.1.2

Weitere Auswirkungen

Ähnlich wie für die Bundesverwaltung (s. Ziff. 3.1) hat das Paket auch direkte Aus-

wirkungen auf die kantonalen Verwaltungen. Die meisten Auswirkungen des Pakets,

die spezifisch die Kantone betreffen, sind finanzieller Natur: Dazu gehören Mehrkos-

ten, Mindereinnahmen oder erhöhte Personalkosten. Diese können beispielsweise aus

der Schaffung neuer Stellen, neuer Prozesse oder aus einem erhöhten Verwaltungs-

aufwand resultieren. Die kantonalen Verwaltungen werden in gewissen Bereichen

(etwa in den Bereichen der Personenfreizügigkeit (s. Ziff. 2.3), Lebensmittelsicherheit

(s. Ziff. 2.12) oder Gesundheit (s. Ziff. 2.13)) teilweise zusätzliche Aufgaben über-

nehmen müssen, was auch mit einem personellen Mehraufwand verbunden sein kann.

Selten ist der Aufwand mit der Etablierung neuer Prozesse verbunden. Rechtliche

Neuerungen wird es für die Kantone vor allem in zwei Bereichen geben, namentlich

aufgrund des Beitritts zum EU-Strombinnenmarkt und der Anpassung bestehender

Beihilferegelungen an die mit der EU vereinbarten Regeln über staatliche Beihilfen.

Die negativen Auswirkungen auf die Kantone werden – soweit möglich – durch Kom-

pensationsmassnahmen des Bundes abgefedert (vgl. Ziff. 3.2.1.3). Zudem ist davon

auszugehen, dass sich viele Investitionen langfristig positiv auswirken werden. Durch

die Digitalisierung und Optimierung von Prozessen (siehe dazu bspw. Abschnitte zum

Gesundheitsbereich (Ziff. 2.13) oder zum Lohnschutz (Ziff. 2.3)) dürften die Kosten

für die kantonalen Verwaltungen langfristig niedriger ausfallen. Detaillierte Erläute-

rungen zu den finanziellen, personellen und gesetzlichen Auswirkungen pro Abkom-

men finden sich in den entsprechenden Abschnitten in Kapitel 2 (insb. Ziff. 2.1 –

2.13).

Staatliche Beihilfen

Die Einführung der Beihilfenüberwachung beziehungsweise des neuen Beihilfen-

überwachungsgesetzes (BHÜG) wird für die Kantone unterschiedliche Folgen haben.

Generell wird sich der gestärkte Wettbewerbsschutz positiv auf die Volkswirtschaft

und damit auch auf den Wohlstand in den Kantonen auswirken (s. Ziff. 3.3). Für die

Kantone werden durch diese Bestimmungen aber auch neue Verpflichtungen bei der

Umsetzung des Bundesrechts eingeführt (Anmeldung von geplanten Beihilfen und

Mitteilung von beihilfegewährenden Entscheiden und Erlassen an die Beihilfeüber-

wachungsbehörde, Transparenz bezüglich den von ihnen gewährten Beihilfen, Kosten

bei kantonalen Gerichten, wenn Beschwerden gegen kantonale Beihilfen eingereicht

werden). Diese Verpflichtungen werden detailliert in Ziffer 2.2.9.2. beschrieben. Hin-

sichtlich des Überwachungsverfahrens stellt die mit der EU ausgehandelte Lösung

sicher, dass die verfassungsmässige Kompetenzordnung zwischen Bund und Kanto-

nen sowie die Gewaltenteilung im Schweizer Verfahren gewahrt bleiben. Die Über-

wachung in der Schweiz wird – gemäss dem vereinbarten «Zwei-Pfeiler-Ansatz» –

einer Schweizer Behörde obliegen und nicht der EU.

Personenfreizügigkeit

866 / 931

Im Zuwanderungsbereich gibt es keine grundlegenden Änderungen der Aufgaben der

zuständigen kantonalen Vollzugsbehörden durch das Änderungsprotokoll zum Frei-

zügigkeitsabkommen (FZA). Der Vollzug bleibt im Ausländerrecht nach wie vor Sa-

che der Kantone. Bei einer Zunahme zu prüfender Fälle im Ausländerrecht wird aber

ein Mehraufwand für die Kantone entstehen

825

. Der dadurch entstehende Mehrauf-

wand kann langfristig durch eine Vereinfachung der Bewilligungsverfahren (weniger

Wechsel zwischen der Aufenthaltsbewilligung und der Niederlassungsbewilligung)

kompensiert werden. Auch bei der Anerkennung von beruflichen Qualifikationen

kann es zu einem Mehraufwand kommen Unter anderem ist eine koordinierende Stelle

pro Kanton für die Teilnahme am Binnenmarkt-Informationssystem (IMI), aber auch

für die Übernahme zusätzlicher Aufgaben erforderlich. Ein weiteres Beispiel für einen

erwarteten Mehraufwand im Bereich des FZA stellt die Prüfung des Aufenthaltsrechts

dar, der durch den erhöhten Koordinationsaufwand zwischen den Migrationsbehörden

und der öffentlichen Arbeitsvermittlung entsteht.

Bei der Anwendung der Schutzklausel können bei den Kantonen und Gemeinden per-

sonelle Zusatzaufwände entstehen, um allfällige Schutz- oder Ausgleichsmassnahmen

umzusetzen. Der konkrete Aufwand wird aber variieren, je nach Art der Massnahmen.

Die kantonalen Vollzugsstellen im Migrationsbereich haben bereits Erfahrungen bei

der Anwendung der Zulassungsvoraussetzungen aus dem AIG (z.B. Prüfung des In-

ländervorrangs), falls in diesem Bereich Schutz- oder Ausgleichsmassnahmen ergrif-

fen würden. Gleichzeitig wird je nach ergriffenen Massnahmen eine finanzielle Ent-

lastung erwartet, insbesondere bei den Sozialversicherungen oder der Sozialhilfe, da

weniger Personen anspruchsberechtigt wären.

Eine detaillierte Übersicht über die Auswirkungen des Änderungsprotokolls zum FZA

auf die Kantone findet sich in Ziffer 2.3.9.2.

Im Hochschulbereich führt das Paket durch die neue Gleichbehandlung von EU-

Studierenden betreffend Studiengebühren zu Mindereinnahmen gewisser Hochschu-

len. Der Bund wird sich aber mit einer finanziellen Kompensationsmassnahme am

Ausgleich dieser Mindereinnahmen beteiligen (s. Ziff.2.3.7.3).

Im Bereich der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung bis maximal 90 Ar-

beitstage pro Kalenderjahr wird die Voranmeldefrist für Unternehmen aus den EU-

Mitgliedstaaten die in der Schweiz Dienstleistungen erbringen wollen, von acht Ka-

lendertagen auf vier Arbeitstage verkürzt. Dies wird zu einem höheren Verwaltungs-

aufwand führen, wobei die Betroffenheit der Kantone von deren wirtschaftlichen und

geografischen Charakteristiken abhängig ist. Die Schweiz nimmt

im Bereich der

grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung nach einer Übergangsfrist von drei

Jahren nach Inkrafttreten des Pakets Schweiz-EU am IMI teil. In den kantonalen Voll-

zugsbehörden muss hierfür eine koordinierende Stelle geschaffen werden. Diese ver-

schafft den kantonalen Behörden einen direkten Informationsaustausch mit den zu-

ständigen

Stellen

der

EU-Mitgliedsstaaten.

Bei

den

Anpassungen

des

825

www.sem.admin.ch > Publikation & Service > Service > Forschung und Evaluation > Stu-

die von Ecoplan vom 09.05.2025: «RFA zur Teilübernahme der Unionsbürgerrichtlinie

UBRL. Auswirkungen auf die staatlichen Institutionen».

867 / 931

Entsendegesetzes im Rahmen der inländischen Massnahmen zur Sicherung der Lohn-

schutzes dürfte die Optimierung und Weiterentwicklung des Meldeverfahrens den

Kantonen die Möglichkeit verschaffen, ihre Kontrollen unter Berücksichtigung der

verkürzten Meldefrist vorzeitig zu planen. Die vorgesehenen Massnahmen zur Stei-

gerung der Effizienz im Meldeverfahren dürften den zusätzlichen Ressourcenbedarf

in den Kantonen begrenzen.

Strom

Das neue Stromabkommen mit der EU dürfte sich insgesamt positiv auf die Kantone

auswirken. Es leistet einen wichtigen Beitrag zur Gewährleistung der Versorgungssi-

cherheit sowie des sicheren Netzbetriebs und ermöglicht Handelsopportunitäten für

die flexible Schweizer Wasserkraft, die hauptsächlich im Besitz der Kantone und Ge-

meinden ist. Die Marktöffnung für Endverbraucherinnen und Endverbraucher dürfte

die heute regional sehr unterschiedlich hohen Stromtarife tendenziell ausgleichen.

Dieser Wettbewerbsdruck kann auch finanzielle Rückwirkungen für die Stromunter-

nehmen im Eigentum von Kantonen, Städten und Gemeinden haben. Auf der anderen

Seite führen zusätzliche Handelsgewinne insbesondere bei Betreibern von Speicher-

und Pumpspeicherkraftwerken (siehe «Auswirkungen auf die Volkswirtschaft» unter

Ziff. 2.11.9.3) tendenziell zu höheren Steuer- und Dividendeneinnahmen bei Kanto-

nen und Gemeinden.

Die Teilnahme am EU-Strombinnenmarkt führt aber auch dazu, dass sich Kantone

und Gemeinden künftig in denjenigen Bereichen an EU-Recht halten müssen, die sich

innerhalb des Anwendungsbereichs des Stromabkommens befinden. Beispielsweise

haben Kantone und Gemeinden, welche die Installation von Anlagen zur Erzeugung

von Elektrizität aus erneuerbaren Quellen finanziell fördern, bei der Ausgestaltung

ihrer Förderprogramme die EU-Förderregeln zu beachten. Dies betrifft etwa kanto-

nale Förderprogramme oder eigene Aktivitäten der Kantone bei der Nutzung erneuer-

barer Energien. Die meisten kantonalen Förderprogramme dürften jedoch unter die

mit der EU vereinbarten Mindestschwellen fallen. Das Stromabkommen ist nicht auf

Verbrauch von Strom und Energie (bspw. Heizen oder Effizienzmassnahmen bei Ge-

bäuden) anwendbar, womit nicht in diese kantonalen Kompetenzen eingegriffen wird.

Für die Berggebiete steht, aufgrund ihrer Energieinfrastruktur, insbesondere die Was-

serkraft im Fokus. Im Stromabkommen ist, wie im Verhandlungsmandat des Bundes-

rates vorgesehen, festgehalten, dass das Abkommen keine Vorgaben betreffend

Vergabe von Konzessionen oder zum Wasserzins macht. Dies wird am Ende dieser

Ziffer sowie eingehend in Ziffer 2.11. beschrieben. Spezifische Ausführungen zu den

Auswirkungen auf die Kantone im Bereich Strom finden sich in Ziffer 2.11.9.2.

Landwirtschaft

Aufgrund der substanziellen Ausdehnung des Landwirtschaftsabkommens im Le-

bensmittelsicherheitsbereich (s. Ziff. 2.7) dürfte für die Kantone ein gewisser Mehr-

aufwand im Vollzug in Folge einer Ausweitung von Überwachungsaufgaben entste-

hen. Dies würde insbesondere die Pflanzengesundheit (Kantone müssen ihr

Hoheitsgebiet neu auf mehr Quarantäneorganismen überwachen), die Vorbeugung

von Tierseuchen (bspw. zusätzliche Registrierungs- und Zulassungspflichten) und den

Tierschutz (Anpassungen bei Kontrollen) betreffen. Eine detaillierte Übersicht über

868 / 931

die Auswirkungen des Zusatzprotokolls zum Landwirtschaftsabkommen auf die Kan-

tone findet sich in Ziffer 2.7.9.2.

Gesundheit

Die Umsetzung des neuen Gesundheitsabkommens (s. Ziff. 2.13) führt zu einer Er-

weiterung des nationalen Überwachungssystems für übertragbare Krankheiten und

weitere Krankheitserreger, was auch eine gewisse Ausweitung der Überwachungsauf-

gaben der Kantone mit sich bringt. Konkret betrifft dies zusätzlich zu überprüfende

und zu meldende Krankheitserreger und eine Anpassung der Meldekriterien. Die da-

mit deutlich bessere Informationslage dürfte die Kantone massgeblich dabei unter-

stützen, die Ausbreitung von Krankheiten vorzubeugen. Eine detaillierte Übersicht

über die Auswirkungen des Gesundheitsabkommens auf die Kantone findet sich in

Ziffer 2.13.9.2.

3.2.1.3

Massnahmen des Bundes und Chancen für die Kantone in

zusätzlichen Bereichen

In vielen Bereichen, in denen für die Kantone Mehraufwand aus dem Paket resultiert,

dürfte dieser durch Massnahmen des Bundes aber wieder verringert werden. So dürfte

sich der zusätzliche Aufwand der Kantone beim Lohnschutz, der durch die Verkür-

zung der Voranmeldefrist von Unternehmen aus dem EU-Raum entsteht, unter ande-

rem durch die Optimierung des Online-Meldeverfahrens zugleich verkleinern. Auch

beim Gesundheitsabkommen, das für die Kantone einen gewissen Mehraufwand bei

der Kontrolle von übertragbaren Krankheiten verursachen dürfte, schafft der Bund

mittels der Umsetzung des Programms zur Förderung der digitalen Transformation

im Gesundheitswesen (DigiSanté) insbesondere des Projekts

National Surveillance

and Response

(NASURE) einen Weg, die zusätzliche Belastung durch den digitali-

sierten Datenaustausch so gering wie möglich zu halten. Bei der Einführung der Bei-

hilfenüberwachung (s. Ziff. 2.2) wird der Bund eine zentrale Datenbank einrichten,

die von den Kantonen ebenfalls genutzt werden kann, womit dieser Kostenpunkt für

sie entfällt. Die Optimierung dieser Prozesse und der Zugang zu mehr Daten dürfte

sich langfristig positiv auf die Effizienz der kantonalen Verwaltungen auswirken.

In den bisher nicht beschriebenen Bereichen wurde ebenfalls geprüft, ob das Paket

spezifische Auswirkungen auf die Kantone hat und ob sich zusätzliche Chancen für

die Kantone ergeben. Im Bereich Landverkehr dürften die Auswirkungen äusserst ge-

ring sein - eigenständige örtliche und regionale Netze wie Schmalspurnetze oder

Tramnetze und die ausschliesslich darauf verkehrenden Unternehmen werden vom

Landverkehrsabkommen beispielsweise gar nicht erfasst (s. Ziff.2.5.9.2). Vom inter-

nationalen Schienenpersonenverkehr tangierte Gebiete (insbesondere Städte und

Berggebiete, siehe weiter unten in dieser Ziffer) dürften vom ergänzenden Angebot

auf diesen Strecken profitieren, da dies die Erreichbarkeit und damit die Attraktivität

für den Tourismus fördert. Die Schweiz wird von der in der EU geltenden Ausschrei-

bungspflicht ausgenommen. Sie kann Bestellungen im grenzüberschreitenden Regio-

nalverkehr weiterhin direkt vergeben. Das Abkommen zum Abbau der technischen

Handelshemmnisse (MRA) birgt keine direkten Auswirkungen für die Kantone selbst,

dürfte ihnen aber durch den positiven Effekt auf exportorientierte Wirtschaftssektoren

indirekt zugutekommen. Bei einem Wegfall von MRA-Kapiteln müssten Kantone mit

869 / 931

negativen Folgen für ihre exportorientierten Wirtschaftssektoren rechnen (s. Ziff.

2.4.9.2) Auch bei den Anpassungen im Luftverkehrsabkommen, beim Weltraum oder

bei den Programmen dürften die Kantone indirekt, oder im Falle des Horizon-Pakets

auch direkt, profitieren. Beispielsweise wird die Teilnahme an der Agentur der Euro-

päischen Union für das Weltraumprogramm (EUSPA) die Aufnahme von Verhand-

lungen über eine Teilnahme an

Public Regulated Service (PRS)

, einem Navigations-

service, erlauben. Dieser würde den Kantonen im Falle von Ausfällen ihrer

Navigationssysteme bei Krisen oder Katastrophen für den Schutz ihrer Bevölkerung

zur Verfügung stehen. Im Rahmen des Horizon-Pakets können Forschende von kan-

tonalen Universitäten und Fachhochschulen, sowie Kantone und Gemeinden künftig

direkt an Forschungs- und Innovationsprojekten teilnehmen und entsprechende Mittel

akquirieren. Dies kann sich auch positiv auf die Innovationsfähigkeit, Standortattrak-

tivität und somit auf die lokale Wirtschaft von Gemeinden, Städten oder Kantonen

auswirken (s. auch Ziff. 3.3). Die geförderten Aktivitäten und die zur Verfügung ste-

henden Fördermittel von Erasmus+ kommen beispielsweise. auch insbesondere kan-

tonalen Bildungsinstitutionen in der Schul-, Berufs- und Hochschulbildung zugute.

Beim Schweizer Beitrag und der Zusammenarbeit zwischen den Parlamenten gibt es

keine absehbaren direkten Auswirkungen auf die Kantone.

Ähnlich wie für den Bund (s. Ziff. 3.1) oder die Volkswirtschaft (s. Ziff. 3.3) hat das

Paket also auch direkte Auswirkungen auf die Kantone und die tägliche Arbeit ihrer

Verwaltungen. Durch das Paket steigt der Verwaltungsaufwand für die Kantone, lang-

fristig dürfte die Effizienz der kantonalen Verwaltungen durch die bessere Informati-

onslage und die Optimierung von Prozessen beim Datenaustausch (sei es mit dem

Bund oder mit Behörden der EU-Mitgliedsstaaten) aber steigen. Der Bund versucht

durch die oben beschriebenen Gegenmassnahmen (bspw. Übernahme von Teilkosten,

Optimierung von Verfahren oder das zur Verfügung stellen von Informationsplattfor-

men) dem Mehraufwand in einigen dieser Bereiche möglichst effektiv entgegenzu-

wirken.

3.2.2

Auswirkungen auf urbane Zentren

Auswirkungen des Paketes, die speziell städtische Zentren betreffen, beschränken sich

grösstenteils auf die Bereiche Landverkehr und Programme. Städtische Zentren dürf-

ten sektoriell vom Paket profitieren, beispielsweise durch das neu ergänzende Ange-

bot im internationalen Schienenpersonenverkehr oder durch die indirekte Standortför-

derung von Universitätsstädten via Teilnahme an den EU-Programmen (wie Horizon

Europe). Im Rahmen vom Horizon-Paket könnten neben den Kantonen auch städti-

sche Gemeinden direkt an Forschungs- und Innovationsprojekten teilnehmen und ent-

sprechende Mittel akquirieren. Dies dürfte insbesondere Hochschulstandorten zugute-

kommen.

3.2.3

Auswirkungen auf Agglomerationen

Die Frage, ob die Vorlage darüber hinaus zusätzliche spezifische Auswirkungen auch

auf die Agglomerationen in der Schweiz hat, wurde geprüft. Sie kann verneint werden.

870 / 931

3.2.4

Auswirkungen auf Bergebiete

Wie eingangs dieses Kapitels erwähnt, weisen die Berggebiete im gesamtschweizeri-

schen Vergleich am meisten strukturelle Besonderheiten auf, insbesondere in den

wirtschaftlichen, geografischen und demografischen Bereichen.

Beim Stromabkommen gibt es für die Berggebiete aufgrund ihrer Energieinfrastruk-

tur, insbesondere aufgrund des Fokus auf Wasserkraft ein besonderes Interesse an der

Vergabe der Wasserkraftkonzessionen und am Wasserzins. Im Stromabkommen ist,

wie im Verhandlungsmandat des Bundesrates vorgesehen, festgehalten, dass das Ab-

kommen keine Vorgaben betreffend Vergabe von Konzessionen oder zum Wasserzins

macht. Die Schweiz kann über die Bedingungen der Nutzung der Wasserkraft selber

entscheiden. Das Stromabkommen enthält keine Vorgaben zum Wasserzins oder zur

Vergabe von Konzessionen für Wasserkraftwerke. Das EU-Recht kennt keine Vorga-

ben zu Besitzverhältnissen. Die Kantone können die Konzessionen weiterhin gemäss

dem geltenden Schweizer Wasserrechtsgesetz vergeben (s. Ziff. 2.11.9.2).

3.3

Auswirkungen auf die Volkswirtschaft

Für die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft wie der Schweiz, die über keine be-

deutenden natürlichen Ressourcen und einen nur begrenzten Binnenmarkt verfügt, ist

der Zugang zu ausländischen Märkten unabdingbar. Die Integration der Schweizer

Volkswirtschaft in globale Wertschöpfungsketten ermöglicht die Aufteilung von Pro-

duktionsprozessen und damit die Spezialisierung der Schweizer Unternehmen auf

jene Bereiche, wo sie eine hohe Wertschöpfung schaffen und damit attraktive Arbeits-

plätze anbieten können.

Der internationale Handel mit Waren und Dienstleistungen hat für die Schweiz über

die letzten Jahrzehnte weiter an Bedeutung gewonnen. Der Anteil der Exporte und

Importe von Waren und Dienstleistungen am Schweizer Bruttoinlandprodukt (BIP)

hat seit 1995 von 34 % auf über 56 % im Jahr 2023 zugenommen.

826

Im Vergleich zu

ähnlich grossen Volkswirtschaften weist die Schweiz eine relativ hohe Diversifikation

ihrer Handelspartner auf. Die EU ist jedoch mit einem Anteil von rund 59 % am Wa-

renhandel die mit Abstand wichtigste Handelspartnerin der Schweiz. Das Warenhan-

delsvolumen der Schweiz mit der EU ist rund fünfmal so gross wie dasjenige mit dem

zweitwichtigsten Handelspartner, den USA, und neunmal grösser als dasjenige mit

dem drittwichtigsten Handelspartner, China.

827

Umgekehrt ist die Schweiz für die EU

nach den USA, China und dem Vereinigten Königreich die viertwichtigste Handels-

partnerin.

Für die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Unternehmen und die Funktionsfähig-

keit der Volkswirtschaft ist auch der Zugang zu ausländischen Arbeitskräften in jenen

826

BFS: Aussenhandelsverflechtung. Abrufbar unter: www.bfs.admin.ch > Statistiken >

Querschnittsthemen > Monitoring der Legislaturplanung > Aussenhandelsverflechtung

(Stand: 10.02.2025).

827

Abrufbar unter www.eda.admin.ch/europa > Publikationen > Schweiz-EU in Zahlen (ba-

sierend auf Total 1, ohne Gold, 2023).

871 / 931

Bereichen, wo auf dem hiesigen Arbeitsmarkt nicht genügend Beschäftigte verfügbar

sind, von hoher Bedeutung. Täglich arbeiten rund 400 000 Grenzgängerinnen und

Grenzgänger aus den Nachbarstaaten in der Schweiz. Insgesamt 27 % der Erwerbstä-

tigen in der Schweiz besitzen die Staatsangehörigkeit eines EU- oder EWR-

Mitgliedstaats.

828

Eine enge Verflechtung zur EU besteht auch über den Kapitalmarkt.

Investoren aus den EU-Mitgliedstaaten halten mit 65 % den grössten Anteil am Be-

stand ausländischer Direktinvestitionen in der Schweiz.

829

Umgekehrt liegen rund

46 % des Bestands an Schweizer Direktinvestitionen im Ausland in den EU-

Mitgliedstaaten.

830

Vor dem Hintergrund dieser engen wirtschaftlichen Verknüpfung hat die Teilnahme

am EU-Binnenmarkt in der Schweizer Wirtschafts- und Aussenwirtschaftspolitik eine

zentrale Bedeutung. In einer zunehmend fragmentierten Welt mit geopolitischen

Spannungen und aufgrund der sich abzeichnenden Schwächung des regelbasierten

Handelssystems ist der EU-Binnenmarkt ein Stabilitätsanker. Diese Stabilität ist mit

der Tatsache verbunden, dass dessen Grundfreiheiten in den EU-Verträgen verankert

sind und nur durch Einstimmigkeit verändert werden können. Die Schweiz als offene

Volkswirtschaft hat daher ein hohes Interesse ihren Marktzugang zum wichtigsten

Handelspartner vertraglich abzusichern und auszubauen. Damit schafft sie Planungs-

sicherheit für die Wirtschaft. Auch für die Erhöhung der Versorgungssicherheit der

Schweizer Wirtschaft - beispielsweise mit mineralischen Rohstoffen und mit Halb-

fabrikaten und Komponenten, die solche enthalten

831

- sind geregelte Beziehungen

zur EU zentral.

Das Paket Schweiz–EU stabilisiert diese Beteiligung am Binnenmarkt und entwickelt

sie weiter (s. Ziff. 1.1 und 1.6). Es umfasst dazu einerseits den Stabilisierungsteil,

welcher die Binnenmarktbeteiligung gemäss den Bilateralen I sowie die Teilnahme

an den EU-Programmen langfristig sichert. Anderseits umfasst das Paket Schweiz–

EU den Weiterentwicklungsteil mit den zusätzlichen Abkommen im Bereich Strom,

Lebensmittelsicherheit und Gesundheit.

Die volkswirtschaftlichen Auswirkungen des Pakets Schweiz–EU lassen sich damit

in drei Bereiche gliedern:

828

BFS: Erwerbstätige (Inlandkonzept) nach Geschlecht, Nationalität und Aufenthaltsstatus.

Durchschnittliche Quartals- und Jahreswerte. Abrufbar unter: www.bfs.admin.ch > Statis-

tiken > Arbeit und Erwerb > Erwerbstätigkeit und Arbeitszeit > Erwerbsbevölkerung, Er-

werbsbeteiligung > Ausländische Arbeitskräfte (Stand: 21.02.2025).

829

SNB: Ausländische Direktinvestitionen in der Schweiz – Stufe Investor, Länder und Län-

dergruppen, Kapitalbestand nach unmittelbarem Investor. Abrufbar unter:

https://data.snb.ch/de > Themen > Aussenwirtschaft > Direktinvestitionen (Stand:

10.02.2025).

830

SNB: Schweizerische Direktinvestitionen im Ausland – Länder und Ländergruppen. Ab-

rufbar unter: https://data.snb.ch/de > Themen > Aussenwirtschaft > Direktinvestitionen

(Stand: 10.02.2025).

831

Siehe Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulates 20.3950 Schneider-Schneiter

vom 8. September 2020, Versorgung der Schweizer Industrie mit mineralischen Rohstof-

fen für die Energiewende. Abrufbar unter: www.parlament.ch > 20.3950 > Bericht in Er-

füllung des parlamentarischen Vorstosses.

872 / 931

1.

die ökonomische Bedeutung der langfristigen Sicherung der sektoriellen

Binnenmarktteilnahme dank des Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–

EU (s. Ziff. 3.3.1);

2.

die direkten Auswirkungen der einzelnen Elemente des Stabilisierungsteils

des Pakets Schweiz–EU (s. Ziff. 3.3.2);

3.

die Auswirkung der drei neuen Abkommen (s. Ziff. 3.3.3).

Nicht Gegenstand dieses Kapitels sind die Auswirkungen des Pakets Schweiz–EU

und dessen Elemente auf die Finanzen von Bund, Kantonen und Gemeinden. Diese

werden in den Ziffern 3.1 und 3.2 im Detail behandelt.

3.3.1

Ökonomische Bedeutung der langfristigen Sicherung der

sektoriellen Binnenmarktteilnahme

Der Stabilisierungsteil des Pakets Schweiz–EU sichert die sektorielle Teilnahme am

Binnenmarkt der EU. Diese erfolgt im Wesentlichen über die Binnenmarktabkommen

der Bilateralen I. Diese Abkommen erleichtern den gegenseitigen Marktzugang für

Waren und Dienstleistungen dank einer gegenseitigen Öffnung zuvor weitgehend ge-

schlossener Märkte (insb. Freizügigkeitsabkommen (FZA), Luft- und Landverkehr)

und dank des Abbaus technischer und tarifärer Handelshemmnisse (bei Industriepro-

dukten mit dem MRA, bei landwirtschaftlichen Gütern und Lebensmitteln tierischer

Herkunft mit dem Landwirtschaftsabkommen).

Eine verbesserte Teilnahme am EU-Binnenmarkt stärkt die Wettbewerbsfähigkeit der

Schweizer Unternehmen und hat positive Auswirkungen auf die Beschäftigung und

das Einkommen der Schweizer Bevölkerung. Der Abbau technischer und tarifärer

Handelshemmnisse führt zu tieferen Preisen und einer grösseren Produktvielfalt für

die Konsumentinnen und Konsumenten. Die Bilateralen I ermöglichen dank vertrag-

lich abgesicherter Zusammenarbeit der Marktüberwachungsbehörden den Abbau von

Handelshemmnissen, welche mit unilateralen Massnahmen unter Beibehaltung des

hohen Produktesicherheitsniveau der Schweiz nicht möglich wäre. Sie schaffen in

verschiedenen Bereichen binnenmarktähnliche Verhältnisse, welche über die Mög-

lichkeiten eines Freihandelsabkommens hinausgehen. Die damit gewährleistete Bin-

nenmarktbeteiligung und die Zusammenarbeit der Vollzugsbehörden tragen zur Ver-

sorgungssicherheit und Resilienz der Schweizer Wirtschaft bei.

Mit dem FZA hat die hiesige Wirtschaft die Sicherheit, bei Bedarf, ohne administrativ

aufwändige Verfahren Arbeitskräfte aus der EU rekrutieren zu können. Schliesslich

stärkt die Teilnahme an den EU-Programmen für Bildung, Forschung und Innovation

die Attraktivität des Schweizer Bildungs- und Forschungsplatzes sowie insgesamt die

Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz.

Bisherige Studien zum Wert der Bilateralen I

873 / 931

Die wirtschaftliche Bedeutung der Bilateralen I für die Schweiz ist Gegenstand ver-

schiedener Studien, die insgesamt eine klar positive Bilanz ziehen.

832

Sie zeigen, dass

die Bilateralen I zur positiven wirtschaftlichen Entwicklung der Schweiz nach der

Jahrtausendwende beigetragen haben.

833

Im Fokus einer Vielzahl der Studien stehen

die Auswirkungen des FZA. Sie zeigen, dass die Zuwanderung im Rahmen der Per-

sonenfreizügigkeit der letzten zwei Jahrzehnte von der Entwicklung der Arbeitskräf-

tenachfrage der Unternehmen in der Schweiz bestimmt war.

834

Die Zuwanderung er-

folgte einerseits in Berufen mit sehr hohen Qualifikationsanforderungen, was die

Spezialisierung auf eine wissensintensive Wertschöpfungserbringung begünstigte.

Daneben konnten Schweizer Unternehmen bei Bedarf auch für Tätigkeiten etwa in

Gastgewerbe, Bau und Industrie Arbeitskräfte aus dem EU-Raum rekrutieren, da sich

diese Stellen im Inland unter anderem aufgrund der Höherqualifizierung der inländi-

schen Bevölkerung nicht mehr vollständig besetzen liessen. Die zugewanderten Ar-

beitskräfte aus dem EU/EFTA-Raum bildeten eine Ergänzung zu den einheimischen

Arbeitskräften, weshalb unerwünschte Effekte der Zuwanderung auf Arbeitslosigkeit

und Beschäftigung der Einheimischen gering blieben. Die mit dem FZA einhergehen-

den Rekrutierungsmöglichkeiten im EU-Raum spielten – ergänzend zum nur noch

schwach wachsenden und bereits gut genutzten inländischen Arbeitskräftepotenzial –

eine wichtige Rolle zur Deckung der starken Arbeitskräftenachfrage und ermöglichten

ein Beschäftigungswachstum, welches angesichts der demografischen Alterung in der

Schweiz das Potenzial an inländischen Arbeitskräften deutlich überstieg. Das ist ein

entscheidender Standortfaktor – entsprechend hoch bewerten die Unternehmen die

Relevanz des FZA.

835

Die mit der Personenfreizügigkeit einhergehende Zuwanderung

hat auch Auswirkungen auf weitere Bereiche. Sie verstärkt die Nachfrage nach Wohn-

raum und Infrastrukturleistungen und sorgt für zusätzliche Steuereinnahmen. Die

Auswirkungen der Zuwanderung auf sämtliche relevante Politikbereiche wird der

Bundesrat eingehend im Rahmen des überwiesenen Postulats Gössi vom 28. Septem-

ber 2023

836

analysieren.

832

Eine Übersicht zu allen Studien zu den Bilateralen I ist abrufbar unter: www.seco.ad-

min.ch > Aussenwirtschaft & Wirtschaftliche Zusammenarbeit > Wirtschaftsbeziehungen

> Europäische Union (EU) > Wirtschaftliche Bedeutung der Bilateralen I.

833

Siehe bspw. KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (2015): Der bilaterale Weg

- eine ökonomische Bestandsaufnahme. KOF Studien Nr. 58. Abrufbar unter: www.rese-

arch-collection.ethz.ch/bitstream/handle/20.500.11850/112229/eth-49559-01.pdf.

834

Berichte zu den Auswirkungen der Personenfreizügigkeit auf den Arbeitsmarkt und die

Sozialversicherungen sind abrufbar unter: www.seco.admin.ch > Arbeit > Personenfreizü-

gigkeit und Arbeitsbeziehungen > Das Observatorium zum Freizügigkeitsabkommen

Schweiz – EU. Im 19. Bericht des Observatoriums wurde ein Rückblick auf 20 Jahre Per-

sonenfreizügigkeit gemacht.

835

BAK Economics (2013): Bedeutung der Personenfreizügigkeit aus Branchensicht - Ergeb-

nisse einer Unternehmensbefragung. BAK Economics im Auftrag der Wirtschafts- und

Brachenverbände Swissmem, HotellerieSuisse, TVS Textilverband Schweiz, ASA/SVV

Schweizerischer Versicherungsverband, scienceindustries, AGV Banken, economiesuisse,

Schweizer Obstverband und Privatkliniken Schweiz. Abrufbar unter: www.bak-econo-

mics.com > Studien & Analysen > Bedeutung der Personenfreizügigkeit aus Branchen-

sicht (Stand: 10.02.2025), sowie Industrie- und Handelskammer St. Gallen – Appenzell

(2024): Migration und ihre Bedeutung für Ostschweizer Unternehmen. Ergebnisse zur Un-

ternehmensumfrage. Abrufbar unter: www.ihk.ch > Wirtschaftspolitik > Publikationen >

Nr. 41: Arbeitsmigration.

836

2023 P 23.4171 Aktualisierter Bericht zur Personenfreizügigkeit und Zuwanderung in die

Schweiz (N 22.12.2023, Gössi Petra).

874 / 931

Neue Studien

Eine umfassende gesamtwirtschaftliche Abschätzung des volkswirtschaftlichen Werts

der Bilateralen I nahmen die Studien von Ecoplan und BAK Economics vor, welche

2015 die Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen I schätzten.

837

Im Jahr 2020 wurde die Studie von BAK Economics im Auftrag der Industrie- und

Handelskammer St. Gallen-Appenzell und der Industrie- und Handelskammer Thur-

gau aktualisiert.

838

Im Auftrag des SECO hat Ecoplan 2025 ihre Studie von 2015 ak-

tualisiert. Damit wurden gegenüber der ersten Ecoplan-Studie (2015) auch der Brexit,

die veränderten Handelsströme, neue Verkehrsdaten und neue Bevölkerungsszenarien

berücksichtigt sowie die Modellsimulation auf den Zeitraum 2028 bis 2045 angepasst.

Simuliert wird der Wegfall der bisherigen Abkommen der Bilateralen I vor Aktuali-

sierung durch das Paket Schweiz–EU. Die aktualisierten Modellberechnungen von

Ecoplan (2025a)

839

zu den bisherigen Bilateralen I bestätigen den hohen Wert der Bi-

lateralen I und der Assoziierung an die EU-Programme für Forschung und Innovation

für die Schweizer Volkswirtschaft. Gemäss den Modellberechnungen würde im Falle

eines Wegfalls der Bilateralen I und einer Rückstufung der Teilnahme der Schweiz an

den EU-Programmen für Forschung und Innovation auf den Status eines nicht-asso-

ziierten Drittstaats das BIP im Jahr 2045 um -4,90 % geringer ausfallen als mit funk-

tionierenden Abkommen und einer Assoziierung. Das FZA ist dabei das wichtigste

Abkommen. In einer isolierten Betrachtung entspricht der Wegfall des FZA rund drei

Viertel der Summe der Einzeleffekte. Der Wegfall der übrigen Abkommen der Bila-

teralen I entspricht rund einem Viertel.

Diese Studien reihen sich in die bestehende Literatur zu den Bilateralen I ein und un-

terstreichen, dass ein Wegfall der Bilateralen I bedeutende Veränderungen der wirt-

schaftlichen Rahmenbedingungen und negative Auswirkungen auf die Schweizer

Wirtschaft zur Folge hätte. Der Effekt auf das BIP pro Kopf eines Wegfalls der Bila-

teralen I schätzt die Modellsimulation auf -1,65 %. Das verlangsamte BIP-Wachstum

würde einen Einkommensverlust von rund 2500 Franken pro Kopf implizieren. Ku-

muliert über den Zeitraum 2028 bis 2045 würden die BIP-Einbussen 520 Milliarden

Franken erreichen.

Ohne Stabilisierung der Beziehungen Schweiz–EU, das heisst ohne die entsprechen-

den Elemente des neuen Pakets Schweiz–EU, ist zu erwarten, dass ganze Abkommen

oder Teile davon blockiert wären. In diesen Bereichen könnte die Schweiz aufgrund

einer mangelnden Aktualisierung nicht mehr am Binnenmarkt teilnehmen. In wel-

chem Umfang dies der Fall wäre, lässt sich heute nicht präzise voraussagen. Die in

der Studie von Ecoplan (2025a) geschätzten Auswirkungen beziehen sich auf das

837

Zwei Studien hatte das SECO im Auftrag des Bundesrates 2015 durch BAK Economics

und Ecoplan erstellen lassen. Die Studien sowie ein Synthesebericht sind abrufbar unter:

www.seco.admin.ch > Aussenwirtschaft & Wirtschaftliche Zusammenarbeit > Wirt-

schaftsbeziehungen > Europäische Union (EU) > Wirtschaftliche Bedeutung der Bilatera-

len I > Volkswirtschaftliche Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen I.

838

BAK Economics (2020): Volkswirtschaftliche Auswirkungen einer Kündigung der Bilate-

ralen I auf die Ostschweiz. Abrufbar unter: www.bak-economics.com > Studien & Analy-

sen > Volkswirtschaftliche Auswirkungen einer Kündigung der Bilateralen I auf die Ost-

schweiz.

839

Abrufbar unter: www.seco.admin.ch > Wirtschaftslage & Wirtschaftspolitik > Wirtschafts-

politik > Grundlagen für die Wirtschaftspolitik.

875 / 931

langfristige Szenario eines vollumfänglichen Wegfalls der Abkommen der Bilatera-

len I. Ein solches Szenario entspricht tendenziell einem Negativszenario in Bezug auf

die Auswirkungen eines Nicht-Abschlusses des Pakets Schweiz–EU. Es sind aber

auch andere Szenarien denkbar – etwa, dass die Zusammenarbeit in gewissen Berei-

chen weitergeführt würde oder – im Gegenteil – eine Blockade auch Abkommen aus-

serhalb der Bilateralen I betreffen würde, wie beispielsweise die Schengen/Dublin-

Assoziierung. Im ersten Fall dürften die negativen Auswirkungen eines Nicht-Ab-

schlusses gegenüber dem von der Studie gewählten Szenario deutlich geringer ausfal-

len, insbesondere wenn das FZA weitergeführt würde. Im letzteren Fall wären die

negativen Auswirkungen deutlich grösser. Der Bericht in Erfüllung des Postulats

15.3896 «Wirtschaftliche Vorteile dank Schengen-Partnerschaft»

840

kommt zum

Schluss, dass der Wegfall der Schengen/Dublin-Assoziierung bis 2030 zu einem jähr-

lichen Einkommensverlust von 4,7 bis 10,7 Milliarden Franken für die Schweizer

Volkswirtschaft führen würde. Das BIP würde um 1,6 bis 3,7 % geschmälert. Auch

für die öffentlichen Ausgaben im Asylbereich hätte dies Auswirkungen, da die

Schweiz deutlich mehr Personen an andere Dublin-Staaten überstellt, als sie selbst

von diesen übernimmt. Alleine die entsprechenden Einsparungen im Asylbereich ha-

ben sich zwischen 2012 und 2016 auf rund 220 Millionen Franken pro Jahr belaufen.

Weiter kommt der Bericht zum Schluss, dass jährlich rund 400 bis 500 Millionen

Franken nötig wären, damit die Schweiz ohne Schengen-Zusammenarbeit ein adäqua-

tes Niveau an innerer Sicherheit erreichen könnte.

Eine spezifische Abschätzung der faktischen Auswirkungen einer Blockade von Ab-

kommen der Bilateralen I ist nur in jenen Bereichen möglich, in denen es bereits zu

einer Blockade gekommen ist. Dies betrifft insbesondere das MRA im Bereich der

Medizinprodukte, dessen Aktualisierung seit 2021 blockiert ist, und den Bereich der

Forschungszusammenarbeit, wo die Schweiz zwischen 2021 und 2024 auf den Status

eines nicht-assoziierten Drittstaats zurückgestuft wurde. Infras

841

respektive BSS

Volkswirtschaftliche Beratung

842

haben diesbezüglich Untersuchungen durchgeführt

(s. Ziff. 2.4.8.3 und 2.8.9.3), welche die Modellsimulationen von Ecoplan ergänzen.

Das MRA im Medizinproduktebereich deckt Exporte von rund 6,1 Milliarden Fran-

ken und Importe von rund 3,4 Milliarden Franken ab und ist volkswirtschaftlich von

840

Siehe Bericht des Bundesrates «Die volkswirtschaftlichen und finanziellen Auswirkungen

der Schengen-Assoziierung der Schweiz» in Erfüllung des Postulats 15.3896 «Wirtschaft-

liche Vorteile dank Schengen-Partnerschaft». Abrufbar unter: www.parlament.ch > Su-

che > 15.3896.

841

Infras (2025): Vertiefungsstudie MRA - Fallbeispiel Medizinprodukte. Studie im Auftrag

des SECO. Zürich. Abrufbar unter: www.seco.admin.ch > Aussenwirtschaft & Wirtschaft-

liche Zusammenarbeit > Wirtschaftsbeziehungen > Technische Handelshemmnisse >

Staatsvertragliche Vereinbarungen (Mutual Recognition Agreements - MRA) > MRA

Schweiz – EU.

842

BSS Volkswirtschaftliche Beratung (2025): Einzelförderung der EU-Rahmenprogramme

für Forschung und Innovation: Auswirkungen der Schweizer Teilnahme. Studie im Auf-

trag des SBFI. Basel. Abrufbar unter: www.sbfi.amin.ch > Forschung und Innovation >

Internationale Forschungs- und Innovationszusammenarbeit > EU-Rahmenprogramme >

Zahlen und Fakten zur Schweizer Beteiligung> Einzelförderung der EU-

Rahmenprogramme für Forschung und Innovation: Auswirkungen der Schweizer Beteili-

gung.

876 / 931

Bedeutung. Insgesamt umfasst das MRA 20 Produktsektoren mit einem Exportvolu-

men in die EU von über 96 Milliarden Franken (ca. 72 % der Industriegüterexporte in

die EU) sowie einem Importvolumen aus der EU von über 94 Milliarden Franken (ca.

64 % der Industriegüterimporte aus der EU). Die Studie von Infras (2025) zeigt, dass

die Nicht-Aktualisierung des MRA im Bereich der Medizinprodukte zu Mehrkosten

für Schweizer Hersteller führte, auch wenn diese ihre Produkte bereits zuvor meist in

der EU hatten zertifizieren lassen. Die Mehrkosten variieren jedoch stark. Für grosse

Unternehmen, welche bereits Tochterunternehmen in der EU hatten und diese bei-

spielsweise als Bevollmächtigte bezeichnen konnten, waren die wiederkehrenden

Mehrkosten gemessen am Umsatz sehr gering (0,03–0,06 %). Bei kleineren und mit-

telgrossen Unternehmen, welche teilweise auf externe Dienstleister für die Ernennung

eines Bevollmächtigten angewiesen sind, waren die Mehrkosten deutlich höher (0,9–

1,3 % bei kleinen Unternehmen; 0,3–0,8 % bei mittleren Unternehmen). Zusätzlich

zu den wiederkehrenden Kosten fielen auch relevante einmalige Kosten für die Um-

stellung auf die Situation ohne MRA an. Diese betrugen im Durchschnitt 0,3 bis 0,7 %

des Umsatzes der Unternehmen und waren ebenfalls bei KMU deutlich höher. Diese

Kosten stellen einen wichtigen Faktor bei Standortentscheiden dar. Ein Drittel der be-

fragten Herstellerinnen und Hersteller berichtete im Zusammenhang mit der Nicht-

Aktualisierung, Produktionsverlagerungen geprüft zu haben. Einige Unternehmen ha-

ben Verlagerungen vollzogen.

Ähnlich hohe Mehrkosten entstanden auch auf der Importseite (wiederkehrende Kos-

ten von 0,3–0,4 % des Importwerts), was tendenziell das Produktangebot in der

Schweiz verteuert und die Produktvielfalt gesenkt hat. Darüber hinaus war die Ver-

waltungseffizienz beeinträchtigt, da Swissmedic eigenständig eine Datenbank für Me-

dizinprodukte

843

aufbauen und die Marktüberwachung ohne EU-Zusammenarbeit

ausbauen musste. Dies ging mit deutlich höherem Personalaufwand bei Swissmedic

einher.

Die Studie von BSS Volkswirtschaftliche Beratung untersuchte die Auswirkungen des

Wegfalls der Einzelprojektförderung aufgrund der Teilnahme der Schweiz als nicht-

assoziierter Drittstaat an den EU-Rahmenprogrammen für Forschung und Innovation,

wie dem mit 95,5 Milliarden Euro dotierten Programm Horizon Europe. Sie bestätigt

Ergebnisse früherer Umfragen bei Schweizer Programmteilnehmenden

844

, wonach

die nationalen Ausschreibungen die EU-Programme in ihrer Wirkung nicht ersetzen

konnten. Die Teilnahme an den EU-Einzelförderprojekten ist aufgrund des hohen

Wettbewerbs mit einem hohen Renommee für die Schweizer Forschenden, wie auch

für Forschungseinrichtungen, KMU und Start-ups verbunden. Ohne Teilnahme ist es

für den Schweizer Forschungsplatz schwieriger, Spitzenforschende zu rekrutieren und

zu halten. Neben dem Ausschluss aus der Einzelprojektförderung konnten Forschende

in der Schweiz auch an Verbundprojekten nur mit Einschränkungen und mittels der

im Rahmen der Übergangsmassnahmen genehmigten Direktfinanzierung durch den

843

Abrufbar unter: www.swissmedic.ch > Medizinprodukte > Swissdamed.

844

Abrufbar unter: www.sbfi.amin.ch > Forschung und Innovation > Internationale For-

schungs- und Innovationszusammenarbeit > EU-Rahmenprogramme > Zahlen und Fakten

zur Schweizer Beteiligung> Einzelförderung der EU-Rahmenprogramme für Forschung

und Innovation: Auswirkungen der Schweizer Beteiligung.

877 / 931

Bund teilnehmen (s. Ziff. 2.8.2.3.1). Forschenden von Schweizer Institutionen war es

nicht mehr erlaubt, Verbundprojekte zu koordinieren. Insgesamt würde der For-

schungsplatz Schweiz an Attraktivität verlieren, wenn die Schweiz nicht vollassoziiert

an den Programmen der EU teilnehmen kann. Das Staatssekretariat für Bildung, For-

schung und Innovation (SBFI) wird im Jahr 2026 eine ausführliche Wirksamkeitsstu-

die über die Beteiligung der Schweiz an den EU-Programmen für Forschung und In-

novation veröffentlichen.

Sowohl die Studie von Ecoplan (2025a) als auch die Studien von Infras und BSS

Volkwirtschaftliche Beratung untersuchten nicht den potenziellen Nutzen einer Wei-

terentwicklung der Teilnahme am EU-Binnenmarkt, die mit dem Paket Schweiz–EU

möglich wird (s. Ziff. 3.3.2). Eine solche Weiterentwicklung über die Elemente des

Pakets Schweiz–EU hinaus wird über die Zeit notwendig, da sich sowohl das Pro-

duktmarktrecht in der EU als auch in der Schweiz ständig weiterentwickelt, um tech-

nologischen Entwicklungen aber auch geänderten Regulierungsansprüchen Rechnung

zu tragen.

3.3.2

Auswirkungen der einzelnen Elemente des

Stabilisierungsteils des Pakets Schweiz–EU

Der Stabilisierungsteil des Pakets Schweiz–EU umfasst die institutionellen Elemente,

die staatlichen Beihilfen, den Schweizer Beitrag sowie die Aktualisierung und punk-

tuelle Ergänzung der bestehenden fünf Binnenmarktabkommen der Bilateralen I

(FZA, MRA, Landverkehr, Luftverkehr, Landwirtschaft) und die Teilnahme an den

EU-Programmen (Horizon-Paket, Erasmus+) und Agenturen (Weltraum). Der Wert

einer langfristigen Absicherung der bestehenden fünf Binnenmarktabkommen und der

Assoziierung an den EU-Programmen für Forschung und Innovation ist in Ziffer 3.3.1

thematisiert und in der darin vorgestellten Studie von Ecoplan (2025a) erfasst. Nach-

folgend werden die unmittelbaren volkswirtschaftlichen Auswirkungen der angepass-

ten bestehenden Binnenmarktabkommen erläutert.

Die

institutionellen Elemente

stellen sicher, dass im gemeinsamen Binnenmarkt mit

der EU für alle Marktteilnehmenden die gleichen Spielregeln gelten. Sie sind Voraus-

setzung für die langfristige Weiterführung des bilateralen Wegs (s. Ziff. 3.3.1), erhö-

hen die Rechtssicherheit und sichern die Teilnahme am EU-Binnenmarkt in den ge-

nannten Bereichen auch für die Zukunft. So darf etwa die EU bei künftigen

Differenzen die Aktualisierung der Binnenmarktabkommen nicht mehr verweigern –

die Schweiz könnte in einem solchen Fall ihre Interessen dank dem Streitbeilegungs-

mechanismus geltend machen – und keine unverhältnismässigen Ausgleichsmassnah-

men ergreifen. Eine erhöhte Rechtssicherheit in den Beziehungen zum wichtigsten

Handelspartner ist für die Schweiz gerade in Zeiten hoher geopolitischer Unsicherheit

und weltweiter protektionistischer Tendenzen ein wichtiger Standortvorteil. Mit der

Möglichkeit, bei den relevanten Rechtsetzungs- und Rechtsprechungsprozessen der

EU mitzureden (

Decision Shaping

und Stellungnahme bei Vorabentscheidungsver-

fahren der EU-Mitgliedstaaten vor dem EuGH), kann zudem auf diese Prozesse neu

zum Vorteil der Schweizer Volkswirtschaft Einfluss genommen werden.

Die

Einführung der Beihilfeüberwachung

im Anwendungsbereich der drei Abkom-

men (Landverkehr, Luftverkehr und Strom) wird den Wettbewerb und damit die Rah-

menbedingungen für den Standort Schweiz stärken. Auch wenn Beihilfen selten als

878 / 931

unzulässig beurteilt werden (s. Ziff. 2.2.10), kann die Überwachung eine wettbe-

werbsfreundlichere Ausgestaltung der geplanten Beihilfen bewirken und sich so po-

sitiv auf die Volkswirtschaft auswirken.

Der

Schweizer Beitrag

trägt zur wirtschaftlichen Entwicklung der Partnerstaaten bei,

indem unter anderem die institutionellen Rahmenbedingungen und die Rechtssicher-

heit gefördert werden. Eine dadurch verbesserte wirtschaftliche Entwicklung in diesen

Ländern kommt auch der Schweizer Wirtschaft in Form von neu geschaffenen Ab-

satzmärkten und Investitionsmöglichkeiten zugute. Zudem können Schweizer Unter-

nehmen sowohl über direkte und indirekte Auftragsvergabe im Rahmen des Schwei-

zer Beitrags als auch über die öffentlichen Ausschreibungen in der EU, die aus den

EU-Struktur- und Kohäsionsprogrammen finanziert werden, profitieren. Dies bestä-

tigt auch eine externe Evaluation des ersten, bereits abgeschlossenen Erweiterungs-

beitrags.

845

Die vertiefte Prüfung einer Stichprobe von 29 Projekten zeigt, dass die

Projekte einen Mehrwert schaffen und positiv zur längerfristigen wirtschaftlichen und

sozialen Entwicklung der betroffenen Branchen und Regionen beitragen. Ausserdem

bestätigte die Evaluation die positiven Auswirkungen auf die bilateralen Beziehungen

der Schweiz zu den Partnerstaaten sowie gestärkte Partnerschaften zwischen Organi-

sationen der beiden Länder und erhöhte wirtschaftliche Opportunitäten für Schweizer

Firmen.

Die

Aktualisierung des FZA

garantiert, dass die Zuwanderung weiterhin arbeits-

marktorientiert erfolgt und das schweizerische Lohnschutzniveau auf Grundlage der

flankierenden Massnahmen abgesichert ist. Ein dreistufiges Schutzkonzept bestehend

aus Ausnahmen, Absicherungen und einer konkretisierten Schutzklausel gewährleis-

tet eine massgeschneiderte Übernahme des relevanten EU-

Acquis

, insbesondere der

Teilübernahme der Richtlinie 2004/38/EG. Diese Teilübernahme führt zu gewissen

Mehrkosten beim Staat (s. Ziff. 2.3.9.1.1), hat aber keine direkten Auswirkungen auf

die Unternehmen in der Schweiz. Die inländischen Begleitmassnahmen beim Lohn-

schutz sind gezielt auf die Bereiche ausgerichtet, in denen Handlungsbedarf besteht,

um das Lohnschutzniveau aufrechtzuerhalten. Anvisiert werden in erster Linie Ent-

sendebetriebe aus dem EU-Raum. Soweit sich die Massnahmen auch an Schweizer

Unternehmen richten, bauen sie auf dem Bestehenden auf und schaffen keine neuen

Belastungen für Schweizer Firmen. Der flexible Arbeitsmarkt wird nicht einge-

schränkt. (s. Ziff. 2.3.1). Die mit dem Verhandlungsresultat vorgesehene Gleichbe-

handlung bei den Studiengebühren von Studierenden aus der EU mit solchen aus der

Schweiz dürfte keine namhaften Auswirkungen auf die Volkswirtschaft haben, nicht

zuletzt da weiterhin eine mengenmässige Beschränkung, beispielsweise über Leis-

tungstests, möglich ist. Die Konkretisierung der Schutzklausel bietet der Schweiz die

Möglichkeit, die Personenfreizügigkeit beziehungsweise einzelne Bestimmungen da-

raus vorübergehend einzuschränken, sofern sich aus deren Anwendung schwerwie-

gende wirtschaftliche oder soziale Schwierigkeiten ergeben. Durch die Konkretisie-

rung des Vorgehens und der neuen Streitbeilegungsmechanismen sind die möglichen

Ausgleichsmassnahmen enger definiert und die Risiken bei einer Berufung auf die

Schutzklausel besser abschätzbar. Insgesamt ist gegenüber der heutigen Regelung mit

845

Abrufbar unter: www.eda.admin.ch > EDA > Publikationen > Evaluationsbericht zum Er-

weiterungsbeitrag 2015: Das Wichtigste in Kürze.

879 / 931

keinen bedeutenden Veränderungen zu rechnen. Die Schweizer Wirtschaft kann wei-

terhin bei Bedarf Arbeitskräfte aus der EU rekrutieren, was für den Wirtschaftsstand-

ort und die Planungssicherheit der Unternehmen von grosser Bedeutung ist.

Die Verankerung der institutionellen Elemente im

MRA

ermöglicht eine regelmäs-

sige Aktualisierung des Abkommens und, wo im Interesse der Schweiz und der EU,

eine Ausdehnung des Abkommens auf neue Bereiche, womit technische Handels-

hemmnisse abgebaut werden können. Derzeit von einer Blockade der Aktualisierung

betroffen ist der Medizinproduktebereich, was den Handel mit Medizinprodukten er-

schwert (s. Ziff. 3.3.2). Eine Aktualisierung des MRA steht künftig zudem unter an-

derem im Bereich der Maschinen und der Bauprodukte an.

Die

Aktualisierung des Landverkehrsabkommens

umfasst eine Öffnung des inter-

nationalen Schienenpersonenverkehrs, wobei die hohe Qualität des Schweizer öV-

Systems sowie auch die Schweizer Lohn- und Arbeitsbedingungen nicht negativ be-

einträchtigt werden. Diese Öffnung erlaubt neuen Anbietern, unter bestimmten Vo-

raussetzungen zusätzliche internationale Verbindungen zu schaffen und damit das An-

gebot zugunsten der Kunden allgemein zu verbessern. Der neu geschaffene

Wettbewerb kann zudem die Preise senken, wovon Kunden weiter profitieren.

Die

Aktualisierung des Luftverkehrsabkommens

umfasst die Realisierung der Ka-

botage (8. und 9. Freiheit) sowie die Beteiligung an der Forschungspartnerschaft

SESAR 3. Durch den Austausch der Kabotagerechte erhalten Schweizer Fluggesell-

schaften das Recht, Inlandflüge innerhalb der EU-Staaten anzubieten, was deren

Wettbewerbsfähigkeit stärkt und eine effiziente Auslastung ermöglicht. EU-

Fluggesellschaften haben zukünftig die Möglichkeit, im Gegenzug Inlandflüge in der

Schweiz anzubieten.

Die Teilnahme an SESAR 3 ermöglicht es zudem der Luftfahrt-

industrie, insbesondere Flugsicherungsanbietern, Flughäfen und Fluggesellschaften,

über hierfür vorgesehene Fördermittel in die Entwicklung von innovativen Technolo-

gien und Verfahren zu investieren.

Im Agrarteil des

Landwirtschaftsabkommens

erfolgen keine volkswirtschaftlich re-

levanten Änderungen. Die volkswirtschaftlichen Auswirkungen des Zusatzprotokolls

zur Lebensmittelsicherheit finden sich unter Ziffer 3.3.3.

Das

Programmabkommen

bietet einen Rechtsrahmen für die Assoziierung der

Schweiz an die Programme der EU, namentlich auch in den Bereichen Bildung, For-

schung und Innovation. Es sichert die Assoziierung am Horizon-Paket 2021–2027,

Erasmus+ und EU4Health und legt die Grundlage für die Teilnahme an deren Nach-

folgeprogrammen sowie an anderen Programmen und Agenturen der EU, beispiels-

weise in den Bereichen Kultur oder Raumfahrt. Wie in Ziffer 3.3.1 ausgeführt, wird

mit der Assoziierung ans Horizon-Paket 2021–2027 die internationale Wettbewerbs-

fähigkeit in Forschung und Innovation gestärkt sowie die Standortattraktivität für for-

schungsstarke Unternehmen erhöht und gefestigt. Für die Attraktivität der Hochschu-

len im Wettbewerb um die besten Forschenden und Studierenden ist die internationale

Vernetzung und der Zugang zur Einzelförderung zentral. Die Assoziierung an Eras-

mus+ stärkt die Mobilität von Personen in der Ausbildung sowie die Zusammenarbeit

der Bildungsinstitutionen und -akteure. Dies trägt zu einer hohen Bildungsqualität bei

und verbessert damit das Arbeitskräfteangebot. Schliesslich erleichtert die Teilnahme

880 / 931

an der EUSPA den Schweizer Unternehmen, die in der Raumfahrt tätig sind, die Be-

teiligung an Ausschreibungen und Konsortien bezüglich den Programmkomponenten

Galileo und EGNOS des EU-Weltraumprogramms. Insgesamt trägt die Assoziierung

an die EU-Programme zur internationalen Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der

Schweiz bei.

3.3.3

Auswirkungen der drei neuen Abkommen

Mit den drei neuen Abkommen weitet die Schweiz die Binnenmarktteilnahme auf ei-

nen neuen Bereich aus, erweitert die Teilnahme in einem Weiteren und strebt im Ge-

sundheitsbereich eine engere Zusammenarbeit mit der EU an.

Mit dem

Stromabkommen

zwischen der Schweiz und der EU werden der Zugang

der Schweiz zum europäischen Strommarkt abgesichert, Risiken wie ungeplante

Stromflüsse reduziert und die Versorgungssicherheit gestärkt. Dies wirkt sich positiv

auf die Standortattraktivität und Planungssicherheit für die Unternehmen aus. Zudem

wird der Strommarkt für alle Kunden geöffnet, was die Wettbewerbsdynamik stärkt,

den Stromlieferanten Effizienzanreize gibt und zu tieferen Endverbraucherpreisen

beitragen kann. Gewisse Mehrkosten entstehen für einige Stromunternehmen auf-

grund der stärkeren Entflechtung. Diese Entflechtung ist jedoch notwendig, um den

Wettbewerb im Strommarkt zugunsten der Volkswirtschaft insgesamt zu stärken.

Dank des Stromabkommens können die Grenztransportkapazitäten für Strom völker-

rechtlich abgesichert werden. Ecoplan (2025b)

846

schätzt, dass dadurch im Zeitraum

2030 bis 2050 im Vergleich zu einem Szenario mit stark eingeschränkten Grenzkapa-

zitäten (Szenario KEINE KOOPERATION) zusätzliche Handelsgewinne von jährlich

rund 0,5 bis 1,2 Milliarden Franken zu erwarten sind und bis 2050 Stromsystemkosten

in der Grössenordnung von jährlich bis zu 1 Milliarde Franken eingespart werden

können. Die Strompreise fielen dadurch im Jahr 2050 rund 14 % tiefer aus, das BIP

knapp 0,5 % höher. Diese geschätzten Auswirkungen sind jedoch mit hoher Unsicher-

heit verbunden, da das Referenzszenario bei einem Nichtzustandekommen des Strom-

abkommens unklar ist.

Darüber hinaus erhalten die Konsumenten und Konsumentinnen neu die Möglichkeit,

sich zwischen dem Angebot der Grundversorgung und dem freien Markt zu entschei-

den. Dies stärkt den Wettbewerb im Schweizer Strommarkt und wirkt sich positiv auf

die Angebotsvielfalt aus. Es begünstigt zudem tiefere Preise und fördert die Innova-

tion.

Mit einem

Protokoll zum Landwirtschaftsabkommen im Bereich der Lebensmit-

telsicherheit

werden nichttarifäre Handelshemmnisse für den Handel mit Lebensmit-

teln, Pflanzenschutzmitteln, Pflanzen, Saatgut, Futtermitteln sowie Tieren und tieri-

schen Produkten weiter reduziert und der Verbraucherschutz zugleich gestärkt. Dies

wird möglich dank der Errichtung eines gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraums

mit harmonisierten Rechtsvorschriften, welcher auch den Zugang zur Europäischen

Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) und zu europäischen Warn- und Koope-

846

Abrufbar unter: www.bfe.admin.ch > Versorgung > Stromversorgung > Stromabkommen

Schweiz – EU.

881 / 931

rationssystemen vorsieht und die Schweiz in das Zulassungssystem für Pflanzen-

schutzmittel der EU einbindet. Vereinzelt kommt es dadurch zu zusätzlichen Anfor-

derungen. Dies betrifft beispielsweise verstärkte Kontrollen im Bereich Pflanzenge-

sundheit oder eine Pflicht zur Durchführung von Tierarztbesuchen in Abhängigkeit

des Risikos einer Tierseuche. Diese Massnahmen mindern umgekehrt die Risiken von

Tierseuchen oder der Verbreitung von Pflanzenschädlingen und -krankheiten sowie

die damit zusammenhängenden volkswirtschaftlichen Kosten.

Mit dem

Gesundheitsabkommen

strebt die Schweiz eine engere Zusammenarbeit im

Gesundheitsbereich an. Dadurch erhält sie Zugang zu epidemiologischen Informatio-

nen, Fachwissen und Netzwerken, was eine frühzeitige Erkennung und wirksame Re-

aktion bei grenzüberschreitenden Gesundheitsbedrohungen ermöglicht. Dies bedingt

unter anderem eine Ausweitung des nationalen Überwachungssystems für übertrag-

bare Krankheiten auf weitere Krankheitserreger, wie dies in der EU vorgesehen ist.

Dies dürfte insbesondere in der Einführungsphase zu einem gewissen Mehraufwand

für bestimmte Gesundheitsdienstleister wie Labore oder Kliniken führen. Durch Sy-

nergien mit den laufenden Digitalisierungsarbeiten dürfte der Mehraufwand jedoch

begrenzt ausfallen (s. Ziff. 2.13.8.3). Diesem Mehraufwand sind die Kosten von Ge-

sundheitskrisen gegenüberzustellen. Wie die Covid-19-Pandemie gezeigt hat, können

diese mit hohen volkswirtschaftlichen Kosten einhergehen. Mit einer engeren grenz-

überschreitenden Koordination und Zusammenarbeit in Europa kann die Krisenbe-

wältigung sowie Prävention gestärkt, die Bevölkerung besser geschützt und damit die

volkswirtschaftlichen Kosten im Falle von Gesundheitskrisen gesenkt werden.

3.3.4

Fazit

Das Paket Schweiz–EU sichert die sektorielle Teilnahme am EU-Binnenmarkt in den

bisherigen Bereichen der Bilateralen I und dehnt diese Teilnahme auf den Strom- und

den gesamten Lebensmittelbereich aus. Mit den institutionellen Elementen erhöht die

Schweiz die Rechtssicherheit und sichert die Teilnahme am EU-Binnenmarkt in den

genannten Bereichen auch für die Zukunft. Zudem wird eine Zusammenarbeit im Ge-

sundheitsbereich etabliert. Mit den in den Verhandlungen erreichten Ausnahmen und

den inländischen Begleitmassnahmen bleibt die Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt

ausgerichtet und der Lohnschutz sowie der

Service public

der Schweiz sind abgesi-

chert. Schweizer Unternehmen haben damit eine hohe Rechtssicherheit, dass Waren,

Dienstleistungen und Kapital auch in Zukunft mit dem wichtigsten Handelspartner

der Schweiz möglichst ungehindert zirkulieren können und bei Bedarf Arbeitskräfte

aus der EU rekrutiert werden können. In Zeiten geopolitischer Spannungen und einer

fragmentierten Weltordnung ist dies ein entscheidender Standortfaktor für eine offene

Volkswirtschaft wie die Schweiz.

3.4

Auswirkungen auf die Gesellschaft

Mit Blick auf die Gesellschaft ist das Paket insofern von Bedeutung, als es die man-

nigfaltigen Errungenschaften des bilateralen Wegs seit 1999 abzusichern hilft. Dazu

gehören beispielsweise die Möglichkeiten für eine freiere und einfachere Mobilität in

Europa, die sich den Schweizerinnen und Schweizern mit dem FZA eröffneten. Beim

882 / 931

FZA lassen sich ferner auch die positiven Effekte auf die Altersvorsorge durch die

Zuwanderung vor allem jüngerer Personen in die Schweiz anführen (s. Ziff. 2.3.9.4).

Einige Elemente des Pakets dienen dem Schutz der Menschen in der Schweiz, etwa

vor Risiken aufgrund mangelnder Produktsicherheit (mit dem MRA und mit dem Le-

bensmittelsicherheitsabkommen) oder vor Gesundheitsgefahren (mit dem Gesund-

heitsabkommen).

3.5

Auswirkungen auf die Umwelt

Das Paket dürfte lediglich punktuelle Auswirkungen auf die Umwelt entfalten. Ge-

mäss den Darstellungen zu den einzelnen Abkommen unter Ziffer 2 fallen die Aus-

wirkungen auf die Umwelt, wo absehbar, jeweils positiv aus. Zu nennen sind bei-

spielsweise die Weiterführung der Verlagerungspolitik im Landverkehr, das grosse

Gewicht der Klimaforschung im Rahmen von Horizon Europe oder die Förderung von

Projekten durch den Schweizer Beitrag, die den Schutz der Umwelt zum Ziel haben.

883 / 931

4

Rechtliche Aspekte des Pakets Schweiz–EU

4.1

Genehmigungsbeschlüsse

Der Bundesrat beantragt den Räten die Genehmigung von vier referendumsfähigen

Bundesbeschlüssen: ein Genehmigungsbeschluss zur Stabilisierung der bilateralen

Beziehungen, drei Genehmigungsbeschlüsse zur Weiterentwicklung der bilateralen

Beziehungen, die jeweils dem fakultativen Referendum unterstehen. Ausserdem un-

terbreitet er einen Genehmigungsbeschluss über die parlamentarische Zusammenar-

beit und vier Finanzierungsbeschlüssen. Dabei handelt es sich um einfache Bundes-

beschlüsse, die nicht dem Referendum unterstehen. Dieses Vorgehen entspricht dem

verfassungsmässigen Grundsatz der Einheit der Materie.

Der Genehmigungsbeschluss zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen umfasst

das Änderungsprotokoll zum Freizügigkeitsabkommen, das Institutionelle Protokoll

zum Freizügigkeitsabkommen, das Änderungsprotokoll zum MRA, das Institutionelle

Protokoll zum MRA, das Änderungsprotokoll zum Landverkehrsabkommen, das In-

stitutionelle Protokoll zum Landverkehrsabkommen, das Beihilfeprotokoll zum Land-

verkehrsabkommen, das Änderungsprotokoll zum Luftverkehrsabkommen, das Insti-

tutionelle Protokoll zum Luftverkehrsabkommen, das Beihilfeprotokoll zum

Luftverkehrsabkommen, das Änderungsprotokoll zum Landwirtschaftsabkommen,

das EU-Programmabkommen, das Weltraumabkommen und das Beitragsabkommen.

Das Inkrafttreten dieser völkerrechtlichen Verträge ist über eine entsprechende in al-

len Verträgen gleichlautende Klausel miteinander verbunden. Sie werden deshalb in

einem Genehmigungsbeschluss zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen vorge-

legt.

Das Protokoll zur Lebensmittelsicherheit, das Stromabkommen und das Gesundheits-

abkommen werden in drei separaten Genehmigungsbeschlüssen zur Weiterentwick-

lung der bilateralen Beziehungen vorgelegt. Das Inkrafttreten dieser völkerrechtlichen

Verträge ist über eine Klausel im jeweiligen Vertrag mit dem Inkrafttreten der völker-

rechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen verknüpft. Hin-

gegen ist das Inkrafttreten der drei völkerrechtlichen Verträge zur Weiterentwicklung

der bilateralen Beziehungen rechtlich nicht untereinander verbunden. Auch das In-

krafttreten der völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Beziehun-

gen ist nicht rechtlich mit dem Inkrafttreten der Verträge zur Weiterentwicklung der

bilateralen Beziehungen verknüpft.

Das Protokoll über die parlamentarische Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und

der EU wird in einem separaten einfachen Bundesbeschluss zur Genehmigung unter-

breitet.

884 / 931

4.2

Genehmigungsbeschluss zur Stabilisierung der bilateralen

Beziehungen

4.2.1

Referendum

4.2.1.1

Fakultatives Staatsvertragsreferendum

Einem fakultativen Referendum des Volkes unterstehen nach Artikel 141 Absatz 1

Buchstabe d Ziffer 3 BV völkerrechtliche Verträge, die wichtige rechtsetzende Best-

immungen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert.

Fast alle völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen

entsprechen diesem Kriterium (s. jeweils die Ziffer zu den rechtlichen Aspekten eines

Paketelements).

847

Der Genehmigungsbeschluss zur Stabilisierung der bilateralen Be-

ziehungen erfüllt demnach die Voraussetzungen des fakultativen Staatsvertragsrefe-

rendums.

4.2.1.2

Obligatorisches Staatsvertragsreferendum

Einem obligatorischen Referendum von Volk und Ständen untersteht nach 140 Absatz

1 Buchstabe b BV der Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu

supranationalen Gemeinschaften. Die völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung

der bilateralen Beziehungen sehen nicht einen Beitritt zu einer Organisation für kol-

lektive Sicherheit vor. Zu prüfen bleibt, ob sie das Kriterium eines Beitritts zu einer

supranationalen Gemeinschaft erfüllen.

Nach der Praxis des Bundesrates

848

setzt der Beitritt zu einer supranationalen Gemein-

schaft voraus, dass sich die Schweiz Organen unterstellt, die:

unabhängig, das heisst nicht an Instruktionen der Vertragsparteien gebun-

den sind;

ihre Befugnisse durch Mehrheitsbeschluss ausüben;

direkt anwendbare Entscheide treffen, die auch für Einzelpersonen unmit-

telbar verbindlich sind;

relativ umfassende materielle Befugnisse haben.

Die völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen erfül-

len diese Kriterien nicht. Erstens schaffen sie im Bereich der Rechtsetzung keine Me-

chanismen, die einem unabhängigen Organ die Befugnis erteilen, verbindliche

Rechtsanpassungen zu beschliessen. Die Schweiz entscheidet weiterhin autonom und

nach ihren bestehenden Rechtsetzungsverfahren über das für sie geltende Recht (s.

847

Eine Ausnahme bildet insbesondere das Änderungsprotokoll zum MRA, das der Bundesrat

gestützt auf Art. 14 des Gesetzes über die technischen Handelshemmnisse (SR

946.51

) ab-

schliessen könnte. Wegen der Konnexität zum Stabilisierungsteil soll auch dieses Ände-

rungsprotokoll in den Bundesbeschluss aufgenommen werden.

848

Botschaft vom 18. Mai 1992 zur Genehmigung des Abkommens über den Europäischen

Wirtschaftsraum, BBl 1992 IV 1, 539; Botschaft vom 23. Oktober 1974 über die Neuord-

nung des Staatsvertragsreferendums, BBl 1974 III 1133, 1156 f.

885 / 931

Ziff. 2.1.7). Zweitens schaffen die Verträge im Bereich der Rechtsanwendung keine

von den Vertragsparteien unabhängigen Organe. Bei Streitigkeiten suchen die Ver-

tragsparteien zunächst im Rahmen von Gesprächen im Gemischten Ausschuss des je-

weiligen Abkommens nach einer Einigung. Wird keine Einigkeit erzielt, kann jede

Vertragspartei, wie auch im Wirtschaftsvölkerrecht üblich, ein paritätisch zusammen-

gesetztes Schiedsgericht anrufen. Das Schiedsgericht zieht, wenn seiner Ansicht nach

die Auslegung von EU-Recht für die Beurteilung des Streitfalls relevant und notwen-

dig ist, den EuGH zur Auslegung bei. Der Streit selbst wird jedoch nicht vom EuGH,

sondern immer nur vom Schiedsgericht beurteilt (s. Ziff. 2.1.5.4). Drittens ist die Zu-

sammenarbeit mit der EU weiterhin materiell auf einzelne Sektoren beschränkt. Die

institutionellen Elemente sind im Rahmen der völkerrechtlichen Verträge zur Stabili-

sierung der bilateralen Beziehungen schliesslich nur für die bestehenden Binnen-

marktabkommen (ohne Landwirtschaftsabkommen) vorgesehen (s. Ziff. 2.1.1).

Der Bundesrat prüfte die Kriterien der Supranationalität auch bei der Vorlage der

Schengen/Dublin-Assoziierungsabkommen und des EWR-Abkommens. Er verneinte

die Supranationalität in beiden Fällen.

849

Der Bundesrat vertrat jedoch die Auffas-

sung, dass das EWR-Abkommen in den Bereichen der Rechtsetzung und der Rechts-

anwendung supranationale Elemente aufweist. Zudem hätte das EWR-Abkommen zur

integralen Geltung des EU-Binnenmarktrechts geführt, einschliesslich der Regelun-

gen in Bereichen wie Umwelt, Konsumentenschutz, Gesellschafts- und Steuerrecht.

Dennoch kam der Bundesrat zum Ergebnis, dass das EWR-Abkommen keinen Beitritt

zu einer supranationalen Gemeinschaft bewirkt hätte.

Die völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Verträge weisen an-

ders als das EWR-Abkommen keine supranationalen Elemente und einen materiell

weniger umfassenden Anwendungsbereich auf. Sie bewirken deshalb keinen Beitritt

zu einer supranationalen Gemeinschaft und unterstehen nicht dem obligatorischen

Staatsvertragsreferendum nach Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe b BV.

4.2.1.3

In der Verfassung nicht vorgesehenes obligatorisches

Staatsvertragsreferendum (sui generis)

Die Bundesversammlung unterstellte unter der alten BV drei völkerrechtliche Ver-

träge einem obligatorischen Referendum, obwohl die zum jeweiligen Zeitpunkt gel-

tende Verfassung das nicht vorsah: den Beitritt zum Völkerbund (1920), das Freihan-

delsabkommen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1972) und den Beitritt

zum EWR (1992). Der Bundesrat bekräftigt die Auffassung, dass dieses Vorgehen in

Ausnahmefällen zur Anwendung kommen kann, wenn der völkerrechtliche Vertrag

einen schwerwiegenden Eingriff in die innere Struktur der Schweiz mit sich bringt,

849

Botschaft vom 18. Mai 1992 zur Genehmigung des Abkommens über den Europäischen

Wirtschaftsraum, BBl 1992 IV 1, 539 ff.; Botschaft vom 1. Oktober 2004 zur Genehmi-

gung der bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union, ein-

schliesslich der Erlasse zur Umsetzung der Abkommen («Bilaterale II»), BBl 2004 5965

ff., 6288 ff.

886 / 931

namentlich die verfassungsmässige Ordnung tangiert, oder eine grundlegende Neu-

orientierung der schweizerischen Aussenpolitik bewirkt.

850

Der Bundesrat und die Bundesversammlung haben bisher nie die institutionellen Ele-

mente der bestehenden bilateralen Abkommen als schwerwiegenden Eingriff in die

innere Struktur der Schweiz und ihre verfassungsmässige Ordnung beurteilt. Mit dem

Luftverkehrsabkommen der Bilateralen I (1999) unterstellte sich die Schweiz der Zu-

ständigkeit der EU-Kommission sowie des EuGH für die Durchsetzung der wettbe-

werbsrechtlichen Bestimmungen. In eng begrenzten Bereichen erfolgte somit eine

Übertragung von gewissen Kompetenzen an die EU-Organe. Das Abkommen erlaubt

den Vertragsparteien zudem, bei Vertragsverletzungen Schutzmassnahmen zu ergrei-

fen. Eine Unterstellung der Bilateralen I unter ein obligatorisches Referendum auf-

grund dieser institutionellen Elemente beim Luftverkehrsabkommen stand jedoch we-

der im Bundesrat noch in den Räten zur Debatte

851

, obwohl die Übertragung von

gewissen Kompetenzen an die EU-Organe – wenn auch in einem eng begrenzten

Sachbereich – weitergingen als der nun vorgesehene Streitbelegungsmechanismus in

den Binnenmarktabkommen. Die Schengen/Dublin-Assoziierungsabkommen der Bi-

lateralen II (2004) beinhalten die Pflicht der Schweiz, im Anwendungsbereich der

Abkommen dynamisch EU-Recht in die Abkommen zu übernehmen. Kommt es zwi-

schen der Schweiz und der EU zu einem Streit über die Rechtsübernahme und gelingt

es den Vertragsparteien nicht, diesen innert sechs Monaten beizulegen, führt dies au-

tomatisch zur Beendigung der Abkommen. Der EuGH spielt bei der Auslegung des

Schengen-/Dublin-Besitzstandes eine wichtige Rolle. Trotzdem kam der Bundesrat

auch hier zum Schluss, dass die Assoziierung an Schengen und an Dublin «zu keiner

tiefgreifenden Änderung unseres Staatswesens führt», «nicht die verfassungsmässige

Ordnung tangiert» und nicht «die Souveränität unseres Landes [einschränkt]».

852

Diese Auffassung wurde in den Ratsdebatten bestätigt.

853

850

Botschaft vom 23. Oktober 1974 über die Neuordnung des Staatsvertragsreferendums, BBl

1974 III 1133, 1138; Votum Koller (Departementsvorsteher EJPD), AB N 1998 54 f. (To-

talrevision der BV); Botschaft vom 1. Oktober 2004 zur Genehmigung der bilateralen Ab-

kommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union, einschliesslich der Erlasse

zur Umsetzung der Abkommen («Bilaterale II»), BBl 2004 5969 ff., 6288 f.; Botschaft

vom 1. Oktober 2010 zur Volksinitiative «Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussen-

politik (Staatsverträge vors Volk!)», BBl 2010 6963 ff., 6970, 6985; Botschaft vom 15. Ja-

nuar 2020 zum obligatorischen Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfas-

sungscharakter (Änderung von Art. 140 der Bundesverfassung), BBl 2020 1243 ff., 1247.

851

Botschaft zur Genehmigung der sektoriellen Abkommen zwischen der Schweiz und der

EG vom 23. Juni 1999, BBl 1999 6128, 6438. Die einzige Forderung nach einem obligato-

rischen Referendum in den Räten war so begründet, dass die Bilateralen I einem «histori-

schen Schritt» entsprächen und das Landverkehrsabkommen dem Alpenschutzartikel wi-

derspreche. Der Antrag wurde abgelehnt mit 146 zu 26 Stimmen (AB N 1999 1487 ff.).

852

Botschaft vom 1. Oktober 2004 zur Genehmigung der bilateralen Abkommen zwischen

der Schweiz und der Europäischen Union, einschliesslich der Erlasse zur Umsetzung der

Abkommen («Bilaterale II»), BBl 2004 5969 ff., 6290

853

Anträge auf Unterstellung unter ein obligatorisches Referendum wurden abgelehnt, im

Ständerat mit mit 6 zu 31 Stimmen (AB S 2004 728 f.) und im Nationalrat mit 57 zu 120

Stimmen (AB N 2004 1969 ff.). Vgl. Votum Blocher (Departementsvorsteher EJPD), AB

S 2004 729: «Die Frage war, zu prüfen, ob diese Rechtsfolge der faktischen Kündigung

des Vertrages eine Einschränkung des freien Wählerwillens ist. [...] Das ist die Frage der

Souveränität: Ist sie beeinträchtigt oder nicht? [...] [Der Bundesrat] findet nicht, dass das

ein so schwerwiegender Eingriff in die Souveränität sei.»

887 / 931

Die völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen wahren

das Funktionieren der Schweizer Institutionen sowie die aus der direkten Demokratie,

dem Föderalismus und der Unabhängigkeit des Landes fliessenden Prinzipien. Na-

mentlich wird die Schweiz weiterhin eigenständig, gemäss ihren bestehenden Recht-

setzungsverfahren und unter Wahrung der direktdemokratischen Rechte über alle

Rechtsanpassungen entscheiden können. Ein Streitfall infolge der Nicht-Übernahme

eines relevanten EU-Rechtsaktes in ein Binnenmarktabkommen kann gegebenenfalls

zu verhältnismässigen Ausgleichsmassnahmen der EU im betroffenen Abkommen

oder einem anderen Binnenmarktabkommen (ohne Landwirtschaftsabkommen) füh-

ren. Die Konsequenzen einer Nicht-Übernahme sind damit weniger einschneidend als

unter den Schengen/Dublin-Assoziierungsabkommen, welche vorbehältlich einer Ei-

nigung der Parteien bei einer Nicht-Übernahme automatisch dahinfallen. Die völker-

rechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen wahren auch die

verfassungsmässigen Rechte sowie die Zuständigkeiten der Kantone, des Parlaments,

des Bundesgerichts und der übrigen Schweizer Gerichte sowie des Bundesrates. Ihre

Umsetzung erfordert keine Anpassung der BV. Wie die Bilateralen I und II bewirken

demnach auch die völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Bezie-

hungen keinen schwerwiegenden Eingriff in die innere Struktur der Schweiz und tan-

gieren auch nicht die verfassungsmässige Ordnung.

Durch die völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen

will der Bundesrat, den mit den Bilateralen I und II eingeschlagenen Weg weiterfüh-

ren. Die Stabilisierung der bilateralen Beziehungen bewirkt demnach keine grundle-

gende Neuorientierung der schweizerischen Aussenpolitik.

Die völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen wahren

nach dem Gesagten die verfassungsmässige Ordnung und bewirken weder einen

schwerwiegenden Eingriff in die innere Struktur der Schweiz noch eine grundlegende

Neuorientierung der schweizerischen Aussenpolitik.

Die Notwendigkeit eines obligatorischen Referendums lässt sich schliesslich auch

nicht damit begründen, dass die völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung gemäss

der bundesgerichtlichen Rechtsprechung der Verfassung vorgehen und damit faktisch

eine Verfassungsänderung bewirken würden. Bereits die Bundesverfassung sieht vor,

dass im Falle eines Normenkonflikts zwischen einem Staatsvertrag und der Verfas-

sung, wenn dieser durch eine koordinierende Auslegung nicht gelöst werden kann,

Staatsverträge unabhängig vom gewählten Referendum anzuwenden sind, also einen

Anwendungsvorrang geniessen. Nach der Praxis der Bundesbehörden gilt dieser An-

wendungsvorrang jedenfalls im Falle eines Konflikts zwischen einer älteren Verfas-

sungsbestimmung und einem jüngeren Staatsvertrag. Aus diesem Anwendungsvor-

rang, den Artikel 190 BV Staatsverträgen und Bundesgesetzen gleichermassen

zubilligt, kann weder abgeleitet werden, dass Staatsverträge und Bundesgesetze in der

Normenhierarchie über der Verfassung oder auf dem gleichen Rang wie diese stehen,

noch dass sie dem obligatorischen Referendum zu unterstellen sind.

4.2.1.4

Obligatorisches Referendum über eine Verfassungsrevision

Die völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen unter-

stehen nach der geltenden Verfassung dem fakultativen Staatsvertragsreferendum (s.

888 / 931

Ziff. 4.2.1.1-4.2.1.3). Der einzige Weg, sie in Abweichung der Artikel 140 und 141

BV einem obligatorischen Referendum zu unterstellen, wäre demnach eine Anpas-

sung der BV. Die Revisionsschranken nach Artikel 194 Absatz 2 BV würden es nicht

ausschliessen, die BV um eine Übergangsbestimmung zu ergänzen, welche vorsieht,

dass die völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen

genehmigt werden und der Bundesrat ermächtigt ist, sie zu ratifizieren. Die Über-

gangsbestimmung unterstünde einem obligatorischen Referendum nach Artikel 140

Absatz 1 Buchstabe a BV.

Für die Genehmigung eines völkerrechtlichen Vertrags auf dem Weg der förmlichen

Verfassungsrevision gibt es bisher ein Beispiel. Seit 2002 ist der Beitritt der Schweiz

zur UNO, und damit einhergehend die Genehmigung der UNO-Charta

854

, in Artikel

197 Ziffer 1 BV vorgesehen. Allerdings ist der UNO-Beitritt nicht mit den völker-

rechtlichen Verträgen zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen vergleichbar.

Erstens geht die Bestimmung auf eine Volksinitiative zurück. Da die BV nur die

Volksinitiative auf Änderung der BV kennt, stand den Initianten bloss dieser Weg

offen. Das gilt für den Bundesrat und die Bundesversammlung nicht. Zweitens betraf

die Volksinitiative den Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrags, der nach Artikel

140 Absatz 1 Buchstaben b BV ohnehin dem obligatorischen Referendum unterstan-

den hätte, da die UNO eine Organisation für kollektive Sicherheit darstellt. Die Tat-

sache, dass der UNO-Beitritt auf dem Weg einer Verfassungsrevision genehmigt

wurde, hatte mit anderen Worten keine Auswirkungen auf die Zuständigkeitsordnung.

4.2.1.5

Vorschlag des Bundesrates

Die völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen erfül-

len nicht die Voraussetzungen eines obligatorischen Staatsvertragsreferendums nach

Artikel 140 Absatz 1 Buchstabe b BV. Sie erfüllen auch nicht die Voraussetzungen,

unter denen nach der Praxis unter der alten BV ein völkerrechtlicher Vertrag, der nicht

unter das obligatorische Staatsvertragsreferendum fiel, einem obligatorischen Refe-

rendum (sui generis) unterstellt werden konnte. Sie unterstehen demnach nach der

geltenden BV dem fakultativen Staatsvertragsreferendum.

Mit der Wahl des fakultativen Referendums wahrt der Bundesrat die Kohärenz mit

seiner bisherigen Praxis und die Kontinuität der Schweizer Europapolitik. Die grund-

sätzliche Frage eines obligatorischen Staatsvertragsreferendums sui generis bleibt

durch den Entscheid des Bundesrates unberührt.

Die Genehmigung der völkerrechtlichen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen

Beziehungen auf dem Weg der Verfassungsrevision bringt nach der Auffassung des

Bundesrates staatspolitische Risiken mit sich. Erstens würde es bedeuten, dass im Ein-

zelfall ohne Zustimmung des Verfassungsgebers vom verfassungsmässigen Verfah-

ren für die Genehmigung völkerrechtlicher Verträge abgewichen würde. Zuständig

wären Volk und Stände anstatt dem Volk. Mit dem notwendigen Mehr würde ein

zentraler Aspekt des direkt-demokratischen Verfahrens durch den Bundesrat und die

854

SR

0.120

889 / 931

Bundesversammlung anstatt durch die Verfassung bestimmt. Zweitens besteht für die-

ses Vorgehen kein vergleichbarer Präzedenzfall. Der UNO-Beitritt hätte wie darge-

stellt ohnehin einem obligatorischen Referendum unterstanden (s. Ziff. 4.2.1.4). Die

Genehmigung auf dem Weg der Verfassungsrevision veränderte die Zuständigkeits-

ordnung demnach nicht. Unter der alten BV unterstellte die Bundesversammlung drei

völkerrechtliche Verträge entgegen der jeweils geltenden Verfassung einem obligato-

rischen Referendum (s. Ziff. 4.2.1.3). Auch diese Beispiele sind nicht mit dem vorlie-

genden Vertragspaket vergleichbar: Der Beitritt zum Völkerbund und das Freihan-

delsabkommen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hätten nach der

damaligen Rechtslage andernfalls überhaupt keinem Referendum unterstanden. Der

Beitritt zum EWR wies supranationale Elemente auf (s. Ziff. 4.2.1.2) und erforderte

eine Verfassungsänderung, die ohnehin dem obligatorischen Referendum unterstan-

den hätte. Drittens besteht das Risiko, dass durch die Genehmigung auf dem Weg der

Verfassungsrevision ein Präzedenzfall für zukünftige völkerrechtliche Verträge ent-

stehen würde.

Der Bundesrat schlägt aus diesen Gründen vor, die völkerrechtlichen Verträge zur

Stabilisierung der bilateralen Beziehungen entsprechend den Vorgaben der geltenden

BV einem fakultativen Referendum zu unterstellen.

4.2.2

Umsetzungsgesetzgebung

Die Bundesgesetze und Gesetzesänderungen, die der Umsetzung der völkerrechtli-

chen Verträge zur Stabilisierung der bilateralen Beziehungen dienen, werden in den

Genehmigungsbeschluss zu den völkerrechtlichen Verträgen aufgenommen, wie dies

Artikel 141

a

Absatz 2 BV vorsieht. Dieses Vorgehen entspricht dem verfassungsmäs-

sigen Grundsatz der Einheit der Materie und berücksichtigt die Praxis von Bundesrat

und Bundesversammlung betreffend die Genehmigung und Umsetzung völkerrechtli-

cher Verträge.

4.3

Genehmigungsbeschlüsse zur Weiterentwicklung der

bilateralen Beziehungen

4.3.1

Referendum

Die drei Genehmigungsbeschlüsse zur Weiterentwicklung der bilateralen Beziehun-

gen unterstehen jeweils einem fakultativen Referendum des Volkes nach Artikel 141

Absatz 1 Buchstabe d BV. Nach dieser Bestimmung werden völkerrechtliche Verträge

dem fakultativen Referendum unterstellt, die wichtige rechtsetzende Bestimmungen

enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert. Das Pro-

tokoll zur Lebensmittelsicherheit, das Stromabkommen und das Gesundheitsabkom-

men entsprechen diesem Kriterium (s. Ziff. 2.11.10.4, 2.12.13.4, 2.13.9.4).

4.3.2

Umsetzungsgesetzgebung

Die Bundesgesetze und Gesetzesänderungen, die der Umsetzung der völkerrechtli-

chen Verträge zur Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen dienen, werden in

den Genehmigungsbeschluss zum jeweiligen Vertrag aufgenommen, wie dies Artikel

141

a

Absatz 2 BV vorsieht. Dieses Vorgehen entspricht dem verfassungsmässigen

Grundsatz der Einheit der Materie und berücksichtigt die Praxis von Bundesrat und

890 / 931

Bundesversammlung betreffend die Genehmigung und Umsetzung völkerrechtlicher

Verträge.

4.4

Genehmigungsbeschluss über die parlamentarische

Zusammenarbeit

Der Genehmigungsbeschluss zum Protokoll über die parlamentarische Zusammenar-

beit zwischen der Schweiz und der EU untersteht keinem Referendum. Das Protokoll

erfüllt keine der Voraussetzungen nach Artikel 141 Absatz 1 Buchstabe d BV.

891 / 931

5

Würdigung des Pakets Schweiz–EU

Aufgrund des Umfangs des vorliegenden Geschäfts wird im Folgenden eine Gesamt-

würdigung aus übergeordneter Sicht dargelegt.

5.1

Die Weiterführung des bilateralen Wegs als bewährte

Option

Vor dem Hintergrund der aktuellen geopolitischen Lage, in welcher sich Europa mit

industriepolitischen und protektionistischen Strömungen und sicherheitspolitischen

Herausforderungen konfrontiert sieht, sind stabile und berechenbare Beziehungen zur

EU von strategischer Notwendigkeit. Die Zusammenarbeit mit dem Nachbarn wider-

spiegelt sich in eng verflochtenen Wirtschafts- und Wissenschaftsbeziehungen (s.

Ziff. 3.3). Das Warenhandelsvolumen der Schweiz mit der EU (rund 300 Mrd. CHF /

2023) ist fünfmal grösser als jenes mit den USA (63 Mrd. CHF / 2023) und rund

neunmal grösser als mit der Volksrepublik China (33 Mrd. CHF / 2023).

855

Allein der

Handel mit den Grenzregionen (Baden-Württemberg, Bayern, Auvergne-Rhône-Al-

pes, Grand Est, Bourgogne-Franche-Comté, Lombardei, Piemont, Trentino / Alto A-

dige, Aostatal, Tirol, Vorarlberg) der Schweiz (93 Mrd. CHF / 2023)

856

übertrifft den-

jenigen mit den USA. Die Entwicklung der Märkte ausserhalb der EU stellt dabei

genauso ein Erfordernis dar, wie die Stabilisierung und Weiterentwicklung der sekto-

riellen Teilhabe am europäischen Binnenmarkt eine Notwendigkeit ist. Aus diesen

Gründen stehen die Stabilisierung und Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen

der Schweiz und der EU im Zentrum der bundesrätlichen Aussen- und Wirtschaftspo-

litik (s. Ziff. 3.1.3. und Ziff. 3.3). Angesichts der Weltlage und deren Entwicklung in

absehbarer Zukunft ist es entscheidend, Kontinuität zu bewahren und voraussehbare

und berechenbare rechtliche Grundlagen mit der Nachbarschaft zu haben.

Die Schweiz verfolgt seit mehr als 25 Jahren auf konsequente Weise den bilateralen

Weg mit der EU. In seinen drei jüngsten europapolitischen Berichten von 2006

857

,

2010

858

und 2023

859

bekräftigte der Bundesrat diesen Weg als bestes Instrument für

die Gestaltung der Beziehungen zur EU. Der bilaterale Weg weist von allen Optionen

(Nichtstun, Freihandel, Beitritt zum EWR, Beitritt zur EU) das ausgewogenste Ver-

hältnis von konkretem, namentlich wirtschaftlichem Nutzen und politischem Gestal-

tungsspielraum auf (s. Ziff. 1.2). Die Schweiz kann aufgrund der mit der EU abge-

schlossenen Binnenmarkt- und Kooperationsabkommen gezielt an denjenigen

Bereichen teilhaben, die ihren Kernanliegen dienen. Mit den in der dynamischen

855

www.eda.admin.ch/europa > Publikationen > Schweiz-EU in Zahlen (basierend auf Total

1, ohne Gold, 2023).

856

Daten gemäss Rückmeldungen der Schweizer Botschaften, auf Basis der nachfolgenden

Quellen: Französischer Zoll (www.lekiosque.finance.gouv.fr), Italienisches Statistikamt

(www.coeweb.istat.it), Österreichische Bundesländer (www.wko.at), Deutsche Bundeslän-

der (www.statistik-bw.de und www.export-app.de). Für Umrechnung von EUR in CHF

wurde der durchschnittliche Wechselkurs von 2023 von 0,97 verwendet (Eidgenössische

Steuerverwaltung ESTV).

857

www.eda.admin.ch/europa > Publikationen > Berichte > Links > Europabericht 2006.

858

www.eda.admin.ch/europa > Publikationen > Berichte > Links > Bericht des Bundesrates

über die Evaluation der schweizerischen Europapolitik.

859

www.eda.admin.ch/europa > Publikationen > Berichte > Dokumente > Bericht Lagebeur-

teilung Beziehungen Schweiz-EU.

892 / 931

Rechtsübernahme ausgehandelten Mitwirkungsrechten für Bund, Kantone und Parla-

ment wird sie sich in Zukunft ausserdem bei der Weiterentwicklung des Rechts, das

Teil der Abkommen ist und sein wird, einbringen können. Ein stabiler und vorherseh-

barer Binnenmarkt sowie politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich solide Mit-

gliedstaaten liegen im Interesse der Schweiz. Über die Projekte des Schweizer Bei-

trags (s. Ziff. 2.10) zeigt sich die Schweiz nicht nur solidarisch mit ihren Partnern in

Europa, sondern hält auch die Instrumente in der Hand, um diese Ziele gemeinsam

mit den EU-Mitgliedstaaten zu erreichen. Davon profitieren beide Seiten.

5.2

Erfolgsfaktoren: Paketansatz, breite innenpolitische

Abstützung und Transparenz

Der Bundesrat wählte im Februar 2022 unter dieser Prämisse einen breiten Ansatz,

der bei der Gestaltung der bilateralen Beziehungen zur EU die Kerninteressen der

Schweiz (und ihrer Wirtschaft) am besten berücksichtigt: den Paketansatz. Auf diesen

Vorschlag liess sich die EU in den darauffolgenden exploratorischen Gesprächen (ab

März 2022) und Verhandlungen (ab März 2023) ein. Dieser breite Paketansatz hat

sich als ein ausschlaggebender Faktor für den erfolgreichen Abschluss der Verhand-

lungen erwiesen. Das Paket umfasst einen

Stabilisierungsteil

mit

(i)

der sektoriellen

Verankerung von institutionellen Elementen in den bestehenden Binnenmarktabkom-

men Personenfreizügigkeit, technische Handelshemmnisse (MRA), Land- und Luft-

verkehr unter Berücksichtigung von Ausnahmen, Absicherungen und Prinzipien,

(ii)

der Aufnahme von Bestimmungen über staatliche Beihilfen in die bestehenden Land-

und Luftverkehrsabkommen,

(iii)

weiteren Anpassungen der bestehenden Abkommen

Personenfreizügigkeit, technische Handelshemmnisse (MRA), Land- und Luftverkehr

sowie Landwirtschaft,

(iv)

Kooperationsabkommen in den Bereichen Forschung, Bil-

dung und Weltraum sowie

(v)

der Verstetigung des Schweizer Beitrags. Ein

Weiter-

entwicklungsteil

widerspiegelt die Schweizer Interessen an einem gezielten Ausbau

der bilateralen Beziehungen mit der EU. Er umfasst:

(i)

neue Binnenmarktabkommen

in den Bereichen Strom (inkl. institutionelle Elemente und staatliche Beihilfen) und

Lebensmittelsicherheit (inkl. institutionelle Elemente) sowie

(ii)

ein neues Koopera-

tionsabkommen im Bereich Gesundheit. Die Schweiz und die EU streben zudem nach

einem regelmässigen politischen Austausch in unterschiedlichen Bereichen. Folglich

wurden

(i)

ein hochrangiger Dialog und

(ii)

eine institutionalisierte parlamentarische

Zusammenarbeit beschlossen. In einer gemeinsamen Erklärung wurden Übergangsre-

geln für die Phase ab Ende 2024 bis zum Inkrafttreten des Pakets festgelegt

.

Nach zahlreichen politischen Kontakten, elf exploratorischen und 46 technischen Ge-

sprächen konnten die Sondierungen im Oktober 2023 mit der Vorlage eines gemein-

samen Dokuments (

Common Understanding

) abgeschlossen werden.

860

Die Intensität

und Tiefe insbesondere der technischen Gespräche zeitigten in allen Paketelementen

mögliche Lösungsansätze. Das zuvor breit definierte Interessenfeld konnte hierdurch

enger abgesteckt werden. Dies schuf geeignete Voraussetzungen für die Verhandlun-

gen.

860

www.eda.admin.ch/europa > Publikationen > Berichte > Dokumente > Bericht zu den ex-

ploratorischen Gesprächen zwischen der Schweiz und der EU zur Stabilisierung und Wei-

terentwicklung ihrer Beziehungen, 15.12.2023.

893 / 931

Die Verhandlungen wurden unter der Leitung des Chefunterhändlers Patric Franzen,

stellvertretender Staatssekretär im EDA, zwischen März und Dezember 2024 in 14

verschiedenen Verhandlungsgruppen geführt. Sechs Departemente, mehr als 20 Bun-

desämter und über 70 Expertinnen und Experten waren Teil einer austarierten Struk-

tur, in welcher das Gleichgewicht zwischen sektorspezifischen und allgemeinen Inte-

ressen gemeinsam definiert wurde. Der Paketansatz ermöglichte während des ganzen

Prozesses (mehr als 200 Verhandlungsrunden) die Wahrung eines Gesamtblicks, auch

wenn die Verhandlungen in einzelnen Bereichen – taktisch oder politisch bedingt –

unterschiedlich rasch voranschritten. Flankiert wurden die exploratorischen Gesprä-

che und Verhandlungen mit der EU von Kontakten auf politischer Ebene. Dies ge-

schah einerseits zwischen dem jeweiligen Bundespräsidenten und der Präsidentin der

Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, und anderseits zwischen dem Vor-

steher des EDA, Bundesrat Ignazio Cassis, und dem Vizepräsidenten der Europäi-

schen Kommission, Maroš Šefčovič (s. Ziff. 1.3).

Zur Stärkung der politischen und inhaltlichen Steuerung der Gespräche mit der EU

und den inländischen Akteuren setzte der Bundesrat am 31. August 2022 eine Pro-

jektorganisation unter der Leitung des Vorstehers des EDA ein. Diese Organisation

umfasst eine Steuerungsgruppe, in der alle Departemente und die Bundeskanzlei (BK)

vertreten sind, sowie ein enger gefasstes Gremium (Kerngruppe), dem das EDA, das

EJPD, das WBF und die BK angehören. Eine interdepartementale Arbeitsgruppe unter

der Leitung des Staatssekretärs des EDA, Alexandre Fasel, koordiniert zusätzlich die

inländischen Umsetzungsarbeiten auf operativer Ebene.

Bereits ab Sommer 2021 erfolgte die Einbindung der innenpolitischen Akteure syste-

matisch. Bei der Schaffung der Projektorganisation wurde sodann ein beratender Aus-

schuss (

Sounding Board

) institutionalisiert, welcher den direkten Einbezug der Kan-

tone, der Sozialpartner und der Wirtschaft erlaubt. Dieses Gremium wird ebenfalls

vom Vorsteher des EDA geleitet. Im Laufe der exploratorischen Gespräche wurden

parallele Gespräche mit einer Vielzahl von innenpolitischen Akteuren aufgenommen.

Dem Bundesrat war es von Anfang an ein grosses Anliegen, den Prozess auf eine

tragfähige Basis zu stellen. Im Europadialog zwischen Bund und Kantonen, geleitet

durch die Vorsteher des EDA und des WBF, wurden die einzelnen Etappen und Her-

ausforderungen regelmässig beleuchtet und auf Anfrage in technischen Sitzungen im

Rahmen der Europakommission der Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) ver-

tieft. Ein konstanter Austausch mit den zuständigen parlamentarischen Kommissio-

nen der eidgenössischen Räte gewährleistete deren Einbezug und diente dem Bundes-

rat zur stetigen Prüfung der innenpolitischen Machbarkeit. WBF, UVEK und EJPD

etablierten ausserdem diverse Gesprächsgefässe zu den innenpolitisch entscheidenden

Elementen des Pakets: Lohnschutz, Zuwanderung, Studiengebühren, Strom und

Landverkehr. Teilweise unter Beteiligung der jeweiligen Departementsvorsteher wur-

den die Anliegen der Kantone, der parlamentarischen Kommissionen, der Städte und

Gemeinden, der Verbände und Unternehmen, der Sozialpartner sowie der Parteien

wurden geprüft. Diese flossen in die aussenpolitische Positionierung ein. Der Bundes-

rat ist der Ansicht, dass diese konsequent geführten innenpolitischen Gespräche und

die Verhandlungen es ermöglichten, bei der Lösungssuche den grössten gemeinsamen

Nenner zu definieren, der im Sinne des Paketansatzes den Interessen der Schweiz

bestmöglich dient.

894 / 931

Laufende Verhandlungen bedingen eine gewisse Zurückhaltung und Sorgfalt in der

Handhabung von Positionen und taktischen Überlegungen. Trotzdem entschied sich

der Bundesrat bei der Einbindung der genannten innenpolitischen Akteure für maxi-

male Transparenz unter Wahrung der aussenpolitischen Interessen. Mitunter deshalb

gelang es, im Dialog mit den inländischen Partnern Vertrauen aufzubauen. Im De-

zember 2023 entschied sich der Bundesrat für eine breite Konsultation des provisori-

schen Verhandlungsmandats und die Veröffentlichung des

Common Understanding

.

Mehr Adressaten als rechtlich notwendig wurden zu einer Stellungnahme aufgefor-

dert. Das Parlament widmete dem Geschäft in der Folge 20 Sitzungen in acht ver-

schiedenen parlamentarischen Kommissionen (Aussenpolitische Kommissionen

[APK] und weitere interessierte Kommissionen: Kommissionen für Wissenschaft,

Bildung und Kultur [WBK], Kommissionen für soziale Sicherheit und Gesundheit

[SGK], Kommissionen für Umwelt, Raumplanung und Energie [UREK], Kommissi-

onen für Verkehr und Fernmeldewesen [KVF], Kommissionen für Wirtschaft und Ab-

gaben [WAK], Staatspolitische Kommissionen [SPK], Finanzkommissionen [FK]).

Die APK sowie zwei weitere Sachbereichskommissionen (WAK, KVF) reichten Stel-

lungnahmen ein. Die Kantone verabschiedeten mit 24 Stimmen (bei einer Gegen-

stimme und einer Enthaltung) ebenfalls eine zustimmende Stellungnahme. Von den

angefragten Sozial- und Wirtschaftspartnern sowie weiteren innenpolitischen Part-

nern wandten sich sieben mit Stellungnahmen an den Bundesrat. 27 weitere Stellung-

nahmen von nicht direkt angeschriebenen Akteuren gingen ein. Der Bundesrat be-

rücksichtigte die Präzisierungsvorschläge aus der Konsultation bei der Ausarbeitung

des endgültigen Verhandlungsmandats. Er passte das Mandat in vier Bereichen an:

institutionelle Elemente, Personenfreizügigkeit (Zuwanderung, Lohnschutz), Land-

verkehr und Strom.

861

Die jeweiligen Anpassungen und damit das definitive Verhand-

lungsmandat machte er öffentlich.

5.3

Das Verhandlungsmandat erfüllt – inländische

Begleitmassnahmen beschlossen

Die vorliegenden Abkommen sind Ausdruck der massgeschneiderten Beziehungen

zwischen der Schweiz und der EU. Das Paket CH-EU widerspiegelt Kontinuität, sta-

bilisiert den bewährten Weg und baut ihn aus. Nach einigen Jahren der Stagnation und

Rechtsunsicherheit, in denen die Schweiz willkürlichen oder unverhältnismässigen

Massanahmen der EU im Falle von Streitigkeiten ausgeliefert war, legt der Bundesrat

mit dem vorliegenden Paket eine solide Grundlage für geregelte Beziehungen mit dem

wichtigsten Partner. Die Tatsache, dass die Europäische Kommission bestrebt war,

die Verhandlungen noch vor Ende Jahr materiell abzuschliessen, gereichte der

Schweiz zum Vorteil. Der Bundesrat kam am 20. Dezember 2024 zum Schluss, dass

das Mandat vom 8. März 2024 in sämtlichen Bereichen erfüllt und die Resultate des

Common Understanding

übertroffen wurden. In einzelnen Bereichen konnten im Ver-

gleich zum Mandat Verbesserungen erzielt werden:

861

www.admin.ch > Dokumentation > Medienmitteilungen > Medienmitteilungen des Bun-

desrats > 08.03.2024 > Beziehungen Schweiz-EU: Der Bundesrat verabschiedet das end-

gültige Verhandlungsmandat > Bericht über die Ergebnisse der Konsultation zum Entwurf

eines Verhandlungsmandats zwischen der Schweiz und der Europäischen Union über die

Stabilisierung und Weiterentwicklung ihrer Beziehungen.

895 / 931

(1) Die im Rahmen der Verhandlungen gefundene Lösung bezüglich der Schutzklau-

sel (Art. 14 Ab. 2 FZA) (s. Ziff. 2.3) erfüllt die Ansprüche des Mandats hinsichtlich

einer Konkretisierung und ergänzt das Schutzkonzept Zuwanderung mit drei Ausnah-

men (Daueraufenthalt, Landesverweisung, Biometrie) und zwei Absicherungen (Mel-

deverfahren, Aufenthaltsbeendigung) um wichtige Elemente. Indem die Konkretisie-

rung für den gesamten Anwendungsbereich des FZA gilt, wurde das

Verhandlungsmandat übertroffen. Aufgrund der erreichten Ausgestaltung kann die

Schutzklausel grundsätzlich auch beim Lohnschutz greifen.

(2) Hervorzuheben sind die Verhandlungsergebnisse betreffend Landwirtschaftsab-

kommen (s. Ziff 2.7). Während das Verhandlungsmandat vorsieht, dass sämtliche

Binnenmarktabkommen durch ein Zusatzprotokoll zu den institutionellen Elementen

ergänzt werden, konnte erreicht werden, dass der Agrarteil von der dynamischen

Rechtsübernahme ausgenommen wird und ein eigener Streitbeilegungsmechanismus

ohne Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Anwendung gelangt. Zudem können

Ausgleichsmassnahmen in den Agrar-Anhängen nur im Falle einer Verletzung des

Landwirtschaftsabkommens (inkl. Lebensmittelsicherheit) ergriffen werden. Das be-

deutet, dass die Agrar-Anhänge vor allfälligen Ausgleichsmassnahmen bei Verlet-

zung anderer Binnenmarktabkommen geschützt sind (keine

Cross-Retaliation

). Dies

sind wichtige Errungenschaften mit Blick auf den Erhalt der Souveränität in der Ag-

rarpolitik. Des Weiteren konnte neben der Absicherung der im Mandat vorgesehenen

Ausnahmen im Protokoll zur Lebensmitteilsicherheit noch eine zusätzliche Absiche-

rung (betreffend Angabe Herkunftsland bei Lebensmitteln) erreicht werden. Diese Er-

gebnisse stellen bedeutende Verbesserungen im Vergleich zum

Common Under-

standing

und zum Verhandlungsmandat dar.

(3) Ebenfalls erwähnenswert sind die Resultate und Verbesserungen betreffend Land-

verkehrsabkommen (s. Ziff. 2.5). Die Kernanliegen hinsichtlich Absicherung der

Trassenvergabe durch die Schweiz und des Taktfahrplans konnten erreicht werden.

Darüber hinaus werden die Bestrebungen der Schweiz, die Verlagerungspolitik weiter

zu stärken, mit dem vorliegenden Abkommen unterstützt werden, indem die Leis-

tungsabhängige Schwerverkehrsabgabe (LSVA) an die zukünftigen Entwicklungen

angepasst werden kann.

In den Verhandlungen mit der EU ist es gelungen, innerhalb aller Verhandlungsgrup-

pen eine ausgewogene Balance zu erreichen. In der Gesamtsicht führt dies zu einem

deutlich besseren Ergebnis, als dies mit den vergangenen Ansätzen erreicht werden

konnte.

Die durch die Bundesverfassung garantierten Initiativ- und Referendumsrechte

(Art.136 Abs. 2 BV) sind weiterhin in vollem Umfang gewährleistet. Weder die ein-

zelnen Abkommen noch die darin enthaltenen institutionellen Elemente verhindern,

dass eine Volksinitiative lanciert werden kann, die sich gegen die Übernahme einer

relevanten Weiterentwicklung des EU-Rechts in das betroffene Abkommen richtet,

sofern sie die bekannten verfassungsrechtlichen Gültigkeitsvoraussetzungen erfüllt.

Ebenso wird gegen eine solche Rechtsübernahme beziehungsweise ein in diesem Zu-

sammenhang erforderliches neues Gesetz oder eine erforderliche Gesetzesanpassung

wie bisher das Referendum ergriffen werden können.

896 / 931

Inländische Begleitmassnahmen ergänzen das Paket. Es handelt sich dabei um Mass-

nahmen, die für die Umsetzung der völkerrechtlichen Verträge nicht zwingend sind,

vom Bundesrat jedoch zwecks Erhöhung der innenpolitischen Tragfähigkeit des Pa-

kets zusätzlich ausgearbeitet wurden.

- Zuwanderung

Die ausgehandelte Schutzklausel wird mit der innenpolitischen Umsetzung in der na-

tionalen Gesetzgebung weiter konkretisiert. Artikel 21b des Vorentwurfs zum Aus-

länder- und Integrationsgesetz (VE-AIG) legt die Kompetenzen des Bundesrates im

Zusammenhang mit der Auslösung der vertraglichen Schutzklausel in Artikel 14a des

neuen Freizügigkeitsabkommens (nFZA) fest und definiert mögliche Schutzmassnah-

men. Mit der Nennung von Schwellenwerten und Indikatoren mit Blick auf die Aus-

lösung, sowie mit dem Antragsrecht der Kantone wird die Schutzklausel weiter kon-

kretisiert, deren Handhabung klargestellt und deren Anwendung innenpolitisch breit

abgestützt. Das Zusammenspiel zwischen der vertraglichen Schutzklausel im FZA ei-

nerseits und deren innerstaatliche Umsetzung ergibt ein wirksames Instrument. Die

genaue Definition der Indikatoren und der Höhe der Schwellenwerte folgt auf Ver-

ordnungsstufe.

Die nationale Umsetzung der Schutzklausel im AIG und auf Verordnungsstufe wird

mit einem Monitoring ergänzt, welches die Indikatoren und Schwellenwerte bezie-

hungsweise deren konkrete Anwendung überwacht. Das Monitoring erlaubt es in Er-

gänzung zu bestehenden Instrumenten, die Auswirkungen der Anwendung des FZA

auf Zuwanderung, Arbeitsmarkt, soziale Sicherheit sowie weitere Bereiche wie Woh-

nungswesen und Verkehr zu beobachten, und bildet eine Grundlage für den Entscheid

über eine Auslösung der Schutzklausel (s. Ziff. 2.3.6.1 und Ziff. 2.3.8.1). Artikel 96a

VE-AIG hält fest, in welchen Situationen Rechte aus dem FZA wegen Rechtsmiss-

brauch erlöschen (z. B. Scheinwohnsitz, Scheinarbeitsverträge). Weitere Begleitmass-

nahmen sehen eine Verbesserung des Datenaustauschs zwischen den Migrationsbe-

hörden, den Arbeitsämtern und den Sozialhilfebehörden (Art. 97 Abs. 3 und 5 VE-

AIG) sowie die Sanktionierung von Unternehmen, welche die 90-Tage-Regel für

Dienstleistungen umgehen, vor (Art. 122c VE-AIG).

- Studiengebühren

Die Ausfälle der beiden ETH aufgrund der Nicht-Diskriminierung bei den Studienge-

bühren (Simulation 2025/26: 23,3 Mio. CHF / Jahr)

862

sollen vom Bund als Eigner im

Rahmen der Botschaft zur Förderung von Bildung, Forschung und Innovation (BFI-

Botschaft) 2029–2032 abgegolten werden. Die Ausfälle der betroffenen Kantone und

ihrer Hochschulinstitutionen werden durch eine auf vier Jahre befristete Bundesunter-

stützung abgefedert: Der Bund übernimmt dabei 50 Prozent der durch die Nicht-Dis-

kriminierung verursachten Gesamtausfälle (Simulation 2024/25: 21,8 Mio. CHF /

862

www.sem.admin.ch > Publikation & Service > Service > Forschung und Evaluation > Stu-

die von Ecoplan vom 09.05.2025: «RFA zur Teilübernahme der Unionsbürgerrichtlinie

UBRL. Auswirkungen auf die staatlichen Institutionen».

897 / 931

Jahr)

863

. Dieser Prozentsatz liegt deutlich höher als der Bundesanteil am Gesamtbe-

trag der Referenzkosten an Universitäten und Fachhochschulen (Grundbeiträge ge-

mäss Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetz [HFKG]). Er unterstreicht da-

mit sein Engagement, die Hochschulen bei der Anpassung ihrer Strategien, welche

aufgrund der Nicht-Diskriminierung bei den Studiengebühren erforderlich wird, zu

unterstützen. Der Bundesbeitrag soll Hochschulen mit Einbussen wegen tieferen Ge-

bühreneinnahmen und solche, die die Kosten für EU-Studierende heute schon selbst

tragen, entlasten. Dabei wird der Beitrag nach folgendem Verteilschlüssel auf die

Hochschulen aufgeteilt: Im ersten Jahr erfolgt die Verteilung zu 80 Prozent nach Ein-

bussen und zu 20 Prozent nach dem Anteil der EU-Studierenden, mit einer schrittwei-

sen Anpassung zugunsten des Anteils der EU-Studierenden in den folgenden drei Jah-

ren, was den Anliegen zahlreicher Kantone Rechnung trägt. Die vierjährige

Befristung gibt den Hochschulen genügend Zeit zur Anpassung ihrer Strategien. Diese

Begleitmassnahme ergänzt damit die ordentlichen Grundbeiträge des Bundes nach

HFKG, bei deren Zusprache sowohl die Gesamtzahl der Studierenden als auch der

Anteil ausländischer Studierenden berücksichtigt wird – darunter auch aus der EU (s.

Ziff. 2.3.8).

- Lohnschutz

Aufgrund gewisser Zugeständnisse gegenüber der EU im Bereich des Lohnschutzes

waren sich Bundesrat, Kantone und Sozialpartner bereits beim Start der exploratori-

schen Gespräche einig, dass inländische Massnahmen zur Sicherung des Lohnschut-

zes nötig sind. Der Bundesrat hat diese Massnahmen zusammen mit Kantonen und

Sozialpartnern erarbeitet und schlägt deren Umsetzung im Rahmen von Anpassungen

des Entsendegesetzes (EntsG), des Bundesgesetzes über das öffentliche Beschaf-

fungswesen (BöB), des Bundesgesetzes über die Allgemeinverbindlicherklärung von

Gesamtarbeitsverträgen (AVEG)

und des Obligationsrechts (OR) vor.

Das inländische Massnahmenpaket zum Lohnschutz umfasst vier Kategorien und

vierzehn Massnahmen. Die erste Kategorie kompensiert direkt die Zugeständnisse,

die gegenüber der EU gemacht werden mussten. Die Massnahmen garantieren Kon-

trollen trotz verkürzter Voranmeldefrist, vereinfachen Kontrollen vor Ort und entfal-

ten präventive Wirkung in Bezug auf die Einhaltung der Schweizer Lohn- und Ar-

beitsbedingungen. Die zweite Kategorie von Massnahmen wirkt dem Risiko

entgegen, dass die Dienstleistungssperre als Sanktionsinstrument seitens EU unter

Druck gerät. Die dritte Kategorie betrifft die EU-Spesenregelung, bezüglich welcher

die Schweiz bei der nationalen Umsetzung den im EU-Entsenderecht zur Verfügung

stehenden Spielraum maximal nutzt, um unlauterem Wettbewerb entgegenzuwirken.

Mit der vierten Kategorie von Massnahmen werden die sozialpartnerschaftlichen

Strukturen der Schweiz beim Lohnschutz gefestigt. Namentlich werden die heute all-

gemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträge abgesichert. Diese schaffen glei-

che Wettbewerbsbedingungen in einer Branche, und regeln zwingend einzuhaltende

Lohn- und Arbeitsbedingungen, welche auch für Entsendebetriebe aus dem EU-Raum

863

www.sem.admin.ch > Publikation & Service > Service > Forschung und Evaluation > Stu-

die von Ecoplan vom 09.05.2025: «RFA zur Teilübernahme der Unionsbürgerrichtlinie

UBRL. Auswirkungen auf die staatlichen Institutionen».

898 / 931

verbindlich sind. Die Massnahmen zur Festigung der sozialpartnerschaftlichen Struk-

turen beim Lohnschutz umfassen auch einen verbesserten Rechtsschutz für Betriebe,

die einen allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsvertrag unterstellt werden sol-

len sowie einen verbesserten Kündigungsschutz für gewählte Arbeitnehmervertrete-

rinnen und Arbeitnehmervertreter. Alle vierzehn Massnahmen zur Sicherung des

Schweizer Lohnschutzes sind aus Sicht des Bundesrates gezielt ausgerichtet auf die-

jenigen Bereiche, in denen Handlungsbedarf besteht, und fokussieren hauptsächlich

auf die sensiblen Branchen des Bauhaupt- und Bauausbaugewerbes. Sie schränken

den flexiblen Arbeitsmarkt nicht ein (s. Ziff. 2.3.6.4 Die inländischen Begleitmass-

nahmen sichern in Kombination mit dem Verhandlungsergebnis das aktuelle Lohn-

schutzniveau ab.

- Strom

Die Strommarktöffnung für alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher wird mit

inländischen Begleitmassnahmen flankiert. Haushalte und kleinere Unternehmen mit

einem Jahresverbrauch von weniger als 50 MWh pro Verbrauchsstätte können ihren

Lieferanten frei wählen oder in einer regulierten Grundversorgung mit regulierten

Preisen bleiben beziehungsweise in diese zurückkehren. Die Tarife in der Grundver-

sorgung sind jeweils für ein Jahr fixiert. Bei einem unterjährigen Wechsel in den

Markt darf der Grundversorger einen finanziellen Ausgleich für die anfallenden Kos-

ten verlangen. Lieferanten auf dem freien Markt müssen sich bei der Eidgenössischen

Elektrizitätskommission (ElCom) registrieren und haben ein Risikomanagement zu

betreiben. Für Ausfälle von Lieferanten im Strommarkt wird eine regulierte Ersatz-

versorgung definiert. Endverbraucherinnen und Endverbraucher im Markt haben An-

spruch auf dynamische Stromverträge oder Verträge mit fixem Preis und fester Lauf-

zeit. Um Transparenz zu gewährleisten und Missbrauch zu verhindern macht das

Stromversorgungsgesetz (StromVG864 ) Vorgaben an die Vertragsinhalte im freien

Markt. Für die Endverbraucherinnen und Endverbraucher wird mindestens eine Ver-

gleichsplattform und eine Ombudsstelle mit Schlichtungsmöglichkeit eingerichtet.

Die ElCom soll ein Monitoring zur wirtschaftlichen Entwicklung im geöffneten Markt

und in der Grundversorgung sowie zu den Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen

in der Stromwirtschaft durchführen und dem Bundesrat Bericht erstatten.

Die Rechte der Konsumentinnen und Konsumenten hinsichtlich Auswahl des Strom-

produkts und der Konsumentenschutz werden gestärkt. Im Falle allfälliger negativer

Auswirkungen auf das Personal der Stromwirtschaft trifft der Bundesrat geeignete

Massnahmen (s. Ziff. 2.11.7.3).

- Landverkehr

Um einer allfälligen und von den Gewerkschaften befürchteten Verschlechterung der

Sozialstandards bei einer Marktöffnung des internationalen Schienenpersonenver-

kehrs entgegenzuwirken, erarbeitet das UVEK (BAV) im Auftrag des Bundesrates

eine Weisung. Diese Weisung soll dem BAV bei der Prüfung von Konzessions- und

864

SR

734.7

899 / 931

Bewilligungsgesuchen als Massstab der Branchenüblichkeit der Sozialstandards die-

nen und ist bei Beanstandungen während der Ausübung der erteilten Transportrechte

heranzuziehen. Die Gewerkschaften und Personalverbände haben sich nach anfängli-

cher Skepsis konstruktiv in die Arbeiten an der erwähnten Weisung eingebracht. Ihre

Anregungen wurden und werden weiterhin soweit möglich berücksichtigt. Der Ent-

wurf soll bis Ende 2025 finalisiert werden, die Weisung soll aber erst zusammen mit

dem Gesamtpaket in Kraft treten.

Das UVEK beabsichtigt ausserdem, nach der Marktöffnung des internationalen Schie-

nenpersonenverkehrs ein Monitoring der Arbeitsbedingungen unter Einbezug der Ge-

werkschaften durchzuführen. Falls das Monitoring Handlungsbedarf aufzeigen

würde, könnte das UVEK dem Bundesrat Massnahmen beantragen (s. Ziff. 2.5.7).

5.4

Paket sichert Teilnahme am EU-Binnenmarkt

Für die Leistungsfähigkeit einer offenen Volkswirtschaft wie der Schweiz, die über

keine bedeutenden natürlichen Ressourcen und einen nur begrenzten Binnenmarkt

verfügt, spielt der Zugang zu ausländischen Märkten eine unabdingbare Rolle. Die

EU ist mit einem Anteil von rund 59 Prozent am Warenhandel die mit Abstand wich-

tigste Handelspartnerin der Schweiz

865

(s. Ziff. 3.3).

Angesichts dieser wirtschaftlichen Zusammenhänge soll das Paket Schweiz–EU die

Wirtschaftsbeziehungen der Schweiz mit einem der grössten Binnenmärkte der Welt

stabilisieren und weiterentwickeln. Es sichert die sektorielle Teilnahme am EU-

Binnenmarkt in den bisherigen Bereichen der Bilateralen I und dehnt diese Teilnahme

auf den Strom- und den gesamten Lebensmittelbereich aus. Das Paket hat keine Än-

derung der Bundesverfassung zur Folge: Die Kompetenzen der Kantone, der Bundes-

versammlung und der Schweizer Gerichte bleiben ebenso gewahrt wie die direktde-

mokratischen Instrumente. Mit den institutionellen Elementen erhöht die Schweiz die

Rechtssicherheit und sichert die Teilnahme am EU-Binnenmarkt in den genannten

Bereichen auch für die Zukunft. In Zeiten geopolitischer Spannungen und einer frag-

mentierten Weltordnung ist dies eine strategische Notwendigkeit für eine offene

Volkswirtschaft wie die Schweiz.

5.5

Empfehlung

Der Bundesrat will den bewährten bilateralen Weg mit der EU stabilisieren und wei-

terentwickeln. In einer von geopolitischer Instabilität und globalen Krisen geprägten

Welt sind stabile und vorhersehbare Beziehungen mit der EU – insbesondere mit un-

seren Nachbarländern – von strategischer Notwendigkeit. Der Ausbau der Wirt-

schaftsbeziehungen, die wissenschaftliche Zusammenarbeit, Rechtssicherheit und die

gemeinsame Bewältigung aktueller Herausforderungen sind unerlässlich, um die Si-

cherheit und den Wohlstand der Schweiz zu gewährleisten. Der bilaterale Weg trägt

seit 25 Jahren massgeblich zum Erfolg der Schweiz bei. Es ist von entscheidender

Bedeutung, diesen Weg auf der Grundlage rechtlich geklärter Beziehungen fortzuset-

zen.

865

www.eda.admin.ch/europa > Publikationen > Schweiz-EU in Zahlen (basierend auf Total

1, ohne Gold, 2023).

900 / 931

Der Bundesrat empfiehlt die Annahme der Umsetzungsgesetzgebung sowie der Be-

gleitmassnahmen.

901 / 931

Abkürzungsverzeichnis

Abkürzung

Erklärung

AB

Amtliches Bulletin der Bundesversammlung

ABl.

Amtsblatt der Europäischen Union

ACA

Academic Cooperation Association

ACER

Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulie-

rungsbehörden

(Agency for the Cooperation of Energy

Regulators)

ADIS

Tierseuchen-Informationssystem

(Animal Disease Infor-

mation System)

AEUV

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

AGV

Arbeitgeberverband

AHV

Alters- und Hinterlassenenversicherung

AHVG

Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters-

und Hinterlassenenversicherung (SR 831.10)

AIA

Abkommen vom 26. Oktober 2004 zwischen der

Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäi-

schen Union über den automatischen Informationsaus-

tausch über Finanzkonten zur Förderung der Steuerehr-

lichkeit

bei

internationalen

Sachverhalten

(SR

0.641.926.81)

AIG

Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Auslän-

derinnen und Ausländer und über die Integration (Aus-

länder- und Integrationsgesetz) (SR 142.20)

AMIF

Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds

ÄP-

Änderungsprotokoll

APK-N

Aussenpolitische Kommission des Nationalrates

APK-S

Aussenpolitische Kommission des Ständerates

APS

Aussenpolitische Strategie

armasuisse

Bundesamt für Rüstung

ASNAZ

Alarmstelle der Nationalen Alarmzentrale

902 / 931

ASP

Alliance SwissPass

ASTRA

Bundesamt für Strassen

AsylG

Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (SR 142.31)

ATSG

Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemei-

nen Teil des Sozialversicherungsrechts (SR 830.1)

ave GAV

allgemeinverbindlich erklärter Gesamtarbeitsvertrag

AVEG

Bundesgesetz vom 28. September 1956 über die Allge-

meinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen

(SR 221.215.311)

AVG

Bundesgesetz vom 6. Oktober 1989 über die Arbeitsver-

mittlung und den Personalverleih (Arbeitsvermittlungs-

gesetz) (SR 823.11)

AVIG

Bundesgesetz vom 25. Juni 1982 über die obligatorische

Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädi-

gung (Arbeitslosenversicherungsgesetz) (SR 837.0)

AZG

Bundesgesetz vom 8. Oktober 1971 über die Arbeit in

Unternehmen des öffentlichen Verkehrs (Arbeitszeitge-

setz) (SR 822.21)

BAFU

Bundesamt für Umwelt

BAG

Bundesamt für Gesundheit

BAK

Bundesamt für Kultur

BATE

Bundesgesetz über die Aufsicht und Transparenz auf die

Energiegrosshandelsmärkten (BBl 2023 2864)

BAV

Bundesamt für Verkehr

BAZG

Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit

BAZL

Bundesamt für Zivilluftfahrt

BBl

Bundesblatt

BBL

Bundesamt für Bauten und Logistik

BevSV

Verordnung vom 11. November 2020 über den Bevölke-

rungsschutz (SR 520.12)

903 / 931

BewG

Bundesgesetz vom 16. Dezember 1983 über den Erwerb

von Grundstücken durch Personen im Ausland (SR

211.412.41)

BewV

Verordnung vom 1. Oktober 1984 über den Erwerb von

Grundstücken durch Personen im Ausland (SR

211.412.411)

BFE

Bundesamt für Energie

BFI

Bildung, Forschung und Innovation

BFS

Bundesamt für Statistik

BGBM

Bundesgesetz vom 6. Oktober 1995 über den Binnen-

markt (Binnenmarktgesetz) (SR 943.02)

BGE

Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Schweize-

rischen Bundesgerichts

BGer

Bundesgericht

BGFA

Bundesgesetz vom 23. Juni 2000 über die Freizügigkeit

der Anwältinnen und Anwälte (Anwaltsgesetz, SR

935.61)

BGG

Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht

(Bundesgerichtsgesetz, SR 173.110)

BGMD

Bundesgesetz vom 14. Dezember 2012 über die Melde-

pflicht und die Nachprüfung der Berufsqualifikationen

von Dienstleistungserbringerinnen und -erbringern in

reglementierten Berufen (SR 935.01)

BGMK

Bundesgesetz vom 22. Dezember 1999 über die Mitwir-

kung der Kantone an der Aussenpolitik des Bundes (SR

138.1)

BGÖ

Bundesgesetz vom 17. Dezember 2004 über das Öffent-

lichkeitsprinzip der Verwaltung (Öffentlichkeitsgesetz,

SR 152.3)

bgSO

besonders gefährliche Schadorganismen

BHÜG

Beihilfeüberwachungsgesetz

BIP

Bruttoinlandsprodukt

904 / 931

BIZMB

Bundesgesetz vom 25. September 2020 über die interna-

tionale Zusammenarbeit und Mobilität in der Bildung

(SR 414.51)

BK

Bundeskanzlei

BMVI

Instrument für finanzielle Hilfe im Bereich Grenzver-

waltung und Visumpolitik

(Border Management and

Visa Policy Instrument)

BNE

Bruttonationaleinkommen

BöB

Bundesgesetz vom 21. Juni 2019 über das öffentliche

Beschaffungswesen (SR 172.056.1)

BPUK

Schweizerische Bau-, Planungs- und Umweltdirektoren-

konferenz

BSV

Bundesamt für Sozialversicherungen

BV

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossen-

schaft vom 18. April 1999 (Bundesverfassung, SR 101)

BVG

Bundesgesetz vom 25. Juni 1982 über die berufliche Al-

ters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (SR

831.40)

BVGer

Bundesverwaltungsgericht

BVV 3

Verordnung vom 13. November 1985 über die steuerli-

che Abzugsberechtigung für Beiträge an anerkannte

Vorsorgeformen (SR 831.461.3)

BZG

Bevölkerungs- und Zivilschutzgesetz vom 20. Dezem-

ber 2019 (SR 520.1)

CAC

Conformitas Agraria Communitatis

CoVEs

Exzellenzzentren für die berufliche Aus- und Weiterbil-

dung

(Centres of Vocational Excellence)

CSC

Ausschuss für die Koordinierte Aufsicht

(Coordinated

Supervision Committee

[des EDSA])

CU

Common Understanding

DAAD

Deutscher Akademischer Austauschdienst

DAWI

Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem In-

teresse

905 / 931

DEA

Direktion für europäische Angelegenheiten

DEP

Programm «Digitales Europa»

(Digital Europe Pro-

gramme)

DEZA

Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit

DigiSanté

Nationales Programm zur Förderung der digitalen

Transformation im Gesundheitswesen

DK

Direktorenkonferenz

DSG

Bundesgesetz vom 25. September 2020 über den Daten-

schutz (Datenschutzgesetz, SR 235.1)

DSO

Verteilnetzbetreiber

(Distribution System Operator)

EACEA

Europäische Exekutivagentur für Bildung und Kultur

(European Education and Culture Executive Agency)

EAD

Europäischer Auswärtiger Dienst

EASA

Europäische Agentur für Flugsicherheit

(European

Union Aviation Safety Agency)

EBA

Europäischer Berufsausweis

(European Professional

Card)

EBG

Eisenbahngesetz vom 20. Dezember 1957 (SR 742.101)

ECDC

Europäisches Zentrum für die Prävention und die Kon-

trolle von Krankheiten

ECHA

Europäische Chemikalienagentur

ECTS

Europäisches System zur Übertragung und Akkumulie-

rung von Studienleistungen

(European Credit Transfer

and Accumulation System)

EDA

Eidgenössisches Departement für auswärtige Angele-

genheiten

EDAV-DS

Verordnung vom 18. November 2015 über die Ein-,

Durch- und Ausfuhr von Tieren und Tierprodukten im

Verkehr mit Drittstaaten (SR 916.443.10)

EDAV-Ht

Verordnung vom 28. November 2014 über die Ein-,

Durch- und Ausfuhr von Heimtieren (SR 916.443.14)

EDI

Eidgenössisches Departement des Innern

906 / 931

EDK

Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und

-direktoren

EDÖB

Eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauf-

tragte

EDSA

Europäischer Datenschutzausschuss

EDSB

Europäische Datenschutzbeauftragte

EESSI

Elektronischer Austausch von Sozialversicherungsdaten

(Electronic Exchange of Social Security Information)

EFD

Eidgenössisches Finanzdepartement

EFK

Eidgenössische Finanzkontrolle

EFSA

Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit

(Eu-

ropean Food Safety Authority)

EFTA

Europäische Freihandelsassoziation

(European Free

Trade Association)

EFV

Eidgenössische Finanzverwaltung

EG

Europäische Gemeinschaft

EGNOS

Europäisches geostationäres Navigationssystem

(Euro-

pean Geostationary Navigation Overlay Service)

EHL

Hotelfachschule Lausanne

(École hôtelière de Lau-

sanne)

EIC

Europäischer Innovationsrat

(European Innovation

Council)

EJPD

Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement

EKK

Eidgenössische Kommission für Konsumentenfragen

EL

Ergänzungsleistungen

ELA

Europäische Arbeitsbehörde

(European Labour Autho-

rity)

ElCom

Eidgenössische Elektrizitätskommission

EMRK

Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der

Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische

Menschenrechtskonvention)

907 / 931

EnDK

Konferenz kantonaler Energiedirektoren

EnG

Energiegesetz vom 30. September 2016 (SR 730.0)

ENISA

Agentur der Europäischen Union für Cybersicherheit

(European Union Agency for Cybersecurity)

EntsG

Bundesgesetz vom 8. Oktober 1999 über die flankieren-

den Massnahmen bei entsandten Arbeitnehmerinnen und

Arbeitnehmern und über die Kontrolle der in Normalar-

beitsverträgen vorgesehenen Mindestlöhne (Entsende-

gesetz, SR 823.20)

ENTSO-E

Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber

(Eu-

ropean Network of Transmission System Operators for

Electricity)

EntsV

Verordnung vom 21. Mai 2003 über die in die Schweiz

entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (SR

823.201)

EnV

Energieverordnung vom 1. November 2017 (SR 730.01)

EnWG

Gesetz über die Elekritizitäts- und Gasversorung

(Deutschland)

EPC

Europäischer Berufsausweis (European Professional

Card)

EPFL

Eidgenössische

Technische

Hochschule

Lausanne

(École polytechnique fédérale de Lausanne)

EpG

Bundesgesetz vom 28. September 2012 über die Be-

kämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen

(Epidemiengesetz, SR 818.101)

EPPO

Europäische

Staatsanwaltschaft

EUSta

(European

Public Prosecutor’s Office)

EpV

Verordnung vom 29. April 2015 über die Bekämpfung

übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epidemien-

verordnung, SR 818.101.1)

ERA

Eisenbahnagentur der Europäischen Union

(European

Union Agency for Railways)

Erasmus

Aktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaft zur

Förderung der Mobilität von Hochschulstudierenden

908 / 931

(European Community Action Scheme for the Mobility

of University Students)

ERC

Europäischer Forschungsrat

(European Research Coun-

cil)

ERZ

Erneuerung des Zentralen Migrationsinformationssys-

tems

ESA

Europäische Weltraumorganisation

(European Space

Agency)

ESTI

Eidgenössisches Starkstrominspektorat

ESTV

Eidgenössische Steuerverwaltung

ETH

Eidgenössische Technische Hochschulen

EU

Europäische Union

EU-10

Die 2004 der EU beigetretenen Mitgliedstaaten Estland,

Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien,

Tschechische Republik, Ungarn und Zypern

EuGH

Gerichtshof der Europäischen Union

EUI

Initiative «Europäische Hochschulen»

(European Uni-

versities Initiative)

EUPA

EU-Programmabkommen

Euratom

Europäische Atomgemeinschaft

(European Atomic

Energy Community)

EURES

Kooperationsnetz der öffentlichen Arbeitsverwaltungen

der EU und der EFTA-Staaten

(European Employment

Services)

EUROPHYT

Mitteilungssystem der Europäischen Union zur Überwa-

chung der Pflanzengesundheit

(European Union Notifi-

cation System for Plant Health Interceptions)

EUSPA

Agentur der Europäischen Union für das Weltraumpro-

gramm

(European Union Agency for the Space Pro-

gramme)

EUSPA-Abkommen

Abkommen zur Teilnahme an der EUSPA

EVU

Elektrizitätsversorgungsunternehmen

EWG

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

909 / 931

EWR

Europäischer Wirtschaftsraum

EWRS

Frühwarn- und Reaktionssystem

(Early Warning and

Response System)

F&I

Forschung und Innovation

F4E

Fusion for Energy

FIFG

Bundesgesetz vom 14. Dezember 2012 über die Förde-

rung der Forschung und der Innovation (SR 420.1)

FIPBV

Verordnung vom 20. Januar 2021 über die Massnahmen

für die Beteiligung der Schweiz and den Programmen

der Europäischen Union im Bereich Forschung und In-

novation (SR 420.126)

FK

Finanzkommissionen

FlaM

Flankierende Massnahmen

FMBV

Verordnung des WBF vom 26. Oktober 2011 über die

Produktion und das Inverkehrbringen von Futtermitteln,

Zusatzstoffen für die Tierernährung und Diätfuttermit-

teln (Futtermittelbuch-Verordnung) (SR 916.307.1)

FMV

Verordnung vom 26. Oktober 2011 über die Produktion

und das Inverkehrbringen von Futtermitteln (Futtermit-

tel-Verordnung, SR 916.307)

FrSV

Verordnung vom 10. September 2008 über den Umgang

mit Organismen in der Umwelt (Freisetzungsverord-

nung, SR 814.911)

FZA

Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweize-

rischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäi-

schen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten anderer-

seits über die Freizügigkeit (Freizügigkeitsabkommen,

SR 0.142.112.681)

FZG

Bundesgesetz vom 17. Dezember 1993 über die Freizü-

gigkeit in der beruflichen Alters‑, Hinterlassenen- und

Invalidenvorsorge (Freizügigkeitsgesetz, SR 831.42)

GA

Gemischter Ausschuss CH–EU

GASP

Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik

GATS

Allgemeines Abkommen über den Handel mit Dienst-

leistungen

(General Agreement on Trade in Services)

910 / 931

GATT

Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen

(General Ag-

reement on Tariffs and Trade)

GAV

Gesamtarbeitsvertrag

GDK

Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen

und -direktoren

GebV

Gebührenverordnung

GebV-KG

Verordnung vom 25. Februar 1998über die Gebühren

zum Kartellgesetz (Gebührenverordnung KG, SR 251.2)

GesBG

Bundesgesetz vom 30. September 2016 über die Ge-

sundheitsberufe (Gesundheitsberufegesetz, SR 811.21)

GesReg

Gesundheitsberuferegister

GFSI

Global Food Safety Initiative

GNSS

Globales Navigationssatellitensystem

(Global Naviga-

tion Satellite System)

GNSS-

Kooperationsabkommen

Kooperationsabkommen vom 18. Dezember 2013 zwi-

schen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits

und der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten

andererseits über die europäischen Satellitennavigati-

onsprogramme (SR

0.741.826.8)

GOVSATCOM

Staatliche Satellitenkommunikationsinfrastruktur der

EU

(European Union Governmental Satellite Communi-

cations)

GPS

Global Positioning System

GSA

Agentur für das Europäische GNSS

(European GNSS

Agency)

GVO

gentechnisch veränderter Organismus

HFKG

Bundesgesetz vom 30. September 2011 über die Förde-

rung der Hochschulen und die Koordination im schwei-

zerischen Hochschulbereich (Hochschulförderungs- und

koordinationsgesetz, SR 414.20)

HKN

Herkunftsnachweis

HSC

Gesundheitssicherheitsausschuss

(Health Security Com-

mittee)

911 / 931

HVPI

Harmonisierter Verbraucherpreisindex

i.V.m.

in Verbindung mit

IAO

Internationale Arbeitsorganisation

(International La-

bour Organization ILO)

ICAO

Internationale Zivilluftfahrtorganisation

(International

Civil Aviation Organization)

ICT

Informations- und Kommunikationstechnologie

(infor-

mation and communications technology

IEA

Internationale Energieagentur

IKT

Inkrafttreten

IMI

Binnenmarkt-Informationssystem

(Internal Market In-

formation System)

IMSOC

Informationsmanagementsystem für amtliche Kontrol-

len

(Information Management System for Official Con-

trols)

IP-

Institutionelles Protokoll

iRASFF

Schnellwarnsystem für Lebens- und Futtermittel

(Rapid

Alert System for Food and Feed)

IRIS

2

Infrastructure for Resilience, Interconnectivity and Se-

curity by Satellite

ISPM

Internationaler Standard für phytosanitäre Massnahmen

IT

Informationstechnologien

ITER

Internationaler Thermonuklearer Versuchsreaktor

(In-

ternational Thermonuclear Experimental Reactor)

ITO

unabhängiger Übertragungsnetzbetreiber

(Independent

Transmission System Operator)

IV

Invalidenversicherung

IVI

Institut für Virologie und Immunologie

KBOB

Koordinationskonferenz der Bau- und Liegenschaftsor-

gane der öffentlichen Bauherren

KdK

Konferenz der Kantonsregierungen

912 / 931

KG

Bundesgesetz vom 6. Oktober 1995 über Kartelle und

andere Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz, SR

251)

KKJPD

Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorin-

nen und -direktoren

KMU

Kleine und mittlere Unternehmen

KOF

Konjunkturforschungsstelle Eidgenössische Technische

Hochschule Zürich

KÖV

Konferenz der kantonalen Direktoren des öffentlichen

Verkehrs

kV

Kilovolt

kVA

Kilovoltampere

KVF

Kommissionen für Verkehr und Fernmeldewesen

KVG

Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenver-

sicherung (SR 832.10)

kW

Kilowatt

kWh

Kilowattstunde

LandVA

Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweize-

rischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Ge-

meinschaft über den Güter- und Personenverkehr auf

Schiene und Strasse (SR 0.748.127.192.68)

LEG

lokale Elektrizitätsgemeinschaft

LFG

Bundesgesetz vom 21. Dezember 1948 über die Luft-

fahrt (Luftfahrtgesetz, SR 0.748.127.192.68)

LFV

Verordnung vom 14. November 1973 über die Luftfahrt

(Luftfahrtverordnung, SR 748.01)

LGV

Lebensmittel- und Gebrauchsgegenständeverordnung

vom 16. Dezember 2016 (SR 817.02)

LMG

Bundesgesetz über Lebensmittel und Gebrauchsgegen-

stände vom 20. Juni 2014 (Lebensmittelgesetz, SR

817.0)

913 / 931

LMVV

Verordnung vom 27. Mai 2020 über den Vollzug der Le-

bensmittelgesetzgebung (SR 817.042)

LSVA

Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe

LTC

langfristige Verträge

(Long-Term Contracts)

LuftVA

Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweize-

rischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Ge-

meinschaft über den Luftverkehr

LwG

Bundesgesetz über die Landwirtschaft vom 29. April

1998 (Landwirtschaftsgesetz, SR 910.1)

MARI

Manually Activated Reserves Initiative

MAV

Verordnung über die Anerkennung von gymnsialen Ma-

turitätszeugnissen (Maturitätsanerkennungsverordnung,

SR 413.11)

MEBEKO

Medizinalberufekommission

MedBG

Bundesgesetz vom 23. Juni 2006 über die universitären

Medizinalberufe (Medizinalberufegesetz, SR 811.11)

MEDIA

Sub-Programm des EU-Programms « Creative Eu-

rope »: Maßnahmen zur Förderung der Entwicklung der

audiovisuellen Industrie (

Mesures pour Encourager le

Développement de l’Industrie Audiovisuelle

)

MedReg

Register der universitären Medizinalberufe

MEM

Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie

MFF

Multiannual Financial Framework

MFR

Mehrjähriger Finanzrahmen

(Multiannual Financial

Framework)

MiPV

Milchprüfungsverordnung vom 20. Oktober 2010 (SR

916.351.0)

MISSOC

Gegenseitiges Informationssystem für soziale Sicherheit

(Mutual Information System on Social Protection)

MoU

Absichtserklärung

(Memorandum of Understanding)

914 / 931

MRA

Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweize-

rischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Ge-

meinschaft über die gegenseitige Anerkennung von

Konformitätsbewertungen (Mutual Recognition Agree-

ment)

MSCA

Marie-Skłodowska-Curie-Aktionen

MStG

Militärstrafgesetz vom 13. Juni 1927 (SR 321.0)

MVS

Mobiles Verpflegungssystem

MW

Megawatt

MWh

Megawattstunde

NAZ

Nationale Alarmzentrale

NEMO

Nominierte Strommarktbetreiber

(Nominated Electricity

Market Operator)

NFUP

Nationales Fremdstoffuntersuchungsprogramm

NGO

Nichtregierungsorganisation

(Non-governmental orga-

nisation)

NNK

Netznutzungskonzept

NNP

Netznutzungspläne

öAV

öffentliche Arbeitsvermittlung

OECD

Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und

Entwicklung

(Organisation for Economic Cooperation

and Development)

OR

Bundesgesetz vom 30. März 1911 betreffend die Ergän-

zung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Fünfter

Teil: Obligationenrecht, SR 220)

ParlG

Bundesgesetz vom 13. Dezember 2002 über die Bundes-

versammlung (Parlamentsgesetz,

SR 171.10

)

PBG

Bundesgesetz vom 20. März 2009 über die Personenbe-

förderung (Personenbeförderungsgesetz, SR 745.1)

PFZ

Personenfreizügigkeit

915 / 931

PGesV

Verordnung vom 31. Oktober 2018 über den Schutz von

Pflanzen vor besonders gefährlichen Schadstofforganis-

men (Pflanzengesundheitsverordnung, SR 916.20)

PGesV-WBF-UVEK

Verordnung des WFB und des UVEK vom 14. Novem-

ber 2019 zur Pflanzengesundheitsverordnung (SR

916.201)

PICASSO

Platform for the International Coordination of Auto-

mated Frequency Restoration and Stable System Opera-

tion

PK

paritätische Kommissionen

PMI

Vorhaben von gegenseitigem Interesse

(Projects of

Mutual Interest)

PRS

Öffentlicher regulierter Dienst

(Public Regulated Ser-

vice)

PrSG

Bundesgesetz vom 12. Juni 2009 über die Produktesi-

cherheit (SR 930.11)

PSMV

Verordnung vom 12. Mai 2010 über das Inverkehrbrin-

gen von Pflanzenschutzmitteln (Pflanzenschutzmittel-

verordnung, SR 916.161)

PsyG

Bundesgesetz vom 18. März 2011 über die Psychologie-

berufe (Psychologieberufegesetz, SR 935.81)

PublG

Bundesgesetz vom 18. Juni 2004 über die Sammlungen

des Bundesrechts und das Bundesblatt (Publikationsge-

setz, SR 170.512)

PüG

Preisüberwachungsgesetz vom 20. Dezember 1985 (SR

942.20)

RAV

Regionales Arbeitsvermittlungszentrum

RED II

Erneuerbare-Energien-Richtlinie

(Renewable Energy

Directive)

REMIT

Verordnung (EU) vom 25. Oktober 2011 über die Integ-

rität und Transparenz des Energiegrosshandelsmarkts

(Regulation on Wholesale Energy Market Integrity and

Transparency)

RFA

Regulierungsfolgenabschätzung

916 / 931

RHG

Bundesgesetz vom 23. Juni 2006 über die Harmonisie-

rung der Einwohnerregister und anderer amtlicher Per-

sonenregister

(Registerharmonisierungsgesetz,

SR

431.02)

RL

Richtlinie

RVOG

Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz vom

21. März 1997 (SR 172.010)

RVOV

Regierungs- und Verwaltungsorganisationsverordnung

vom 25. November 1998 (SR 172.010.1)

SAV

Schweizerischer Arbeitgeberverband

SBFI

Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation

SchG

Schiedsgericht

SchKG

Bundesgesetz vom 11. April 1889 über Schuldbetrei-

bung und Konkurs (SR 281.1)

SCM

Subventionen und Ausgleichsmassnahmen

(Subsidies

and Countervailing Measures)

SDG

Ziele für nachhaltige Entwicklung

(Sustainable Develo-

pment Goals)

SECO

Staatssekretariat für Wirtschaft

SEEI

Support for assessment of socio-economic and environ-

mental impacts of European R&I programme

SEM

Staatssekretariat für Migration

SEMP

Schweizer Programm zu Erasmus+ / Übergangslösung

für Erasmus+

SEPF

Swiss Expertise and Partnership Fund

SESAR 3

Gemeinsames Unternehmen für die Forschung zum

Flugverkehrsmanagement für den einheitlichen europäi-

schen Luftraum

(Single European Sky Air Traffic Ma-

nagement Research 3)

SGK

Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit

SGV

Schweizerische Gemeindeverband

SHK

Schweizerische Hochschulkonferenz

917 / 931

SKOS

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe

SNB

Schweizerische Nationalbank

SNE

Strategie Nachhaltige Entwicklung

SNF

Schweizerischer Nationalfonds

SOB

Schweizerische Südostbahn

SODK

Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozi-

aldirektoren

sog.

sogenannte

SPK

Staatspolitische Kommissionen

SR

Systematische Sammlung des Bundesrechts

SRK

Schweizerisches Rotes Kreuz

SSV

Schweizerischer Städteverband

StFV

Verordnung über den Schutz vor Störfällen vom 27. Feb-

ruar 1991 (Störfallverordnung, SR 814.012)

StGB

Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember

1937 (SR 311.0)

StromVG

Stromversorgungsgesetz vom 23. März 2007 (SR 734.7)

StromVV

Stromversorgungsverordnung vom 14. März 2008 (SR

734.71)

STS-EDA

Staatssekretariat Eidgenössisches Departement für aus-

wärtige Angelegenheiten

StSG

Strahlenschutzgesetz vom 22. März 1991 (SR 814.50)

SuG

Bundesgesetz vom 5. Oktober 1990 über Finanzhilfen

und Abgeltungen (Subventionsgesetz) (SR 616.1)

SVAG

Bundesgesetz vom 19. Dezember 1997 über eine leis-

tungsabhängige Schwerverkehrsabgabe (Schwerver-

kehrsabgabegesetz, SR 641.81)

SVAV

Verordnung vom 27. März 2024 über die Schwerver-

kehrsabgabe (Schwerverkehrsabgabeverordnung, SR

641.811)

SVV

Schweizerischer Versicherungsverband

918 / 931

TBDV

Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016 über

Trinkwasser sowie Wasser in öffentlich zugänglichen

Bädern und Duschanlagen (SR 817.022.11)

TBT

technische Handelshemmnisse

(Technical Barriers to

Trade)

TEN-E

transeuropäische Energieinfrastruktur

(Trans-European

Networks for Energy)

TERRE

Trans European Replacement Reserves Exchange

TRACES

Onlineplattform für Gesundheits- und Pflanzenschutz-

zertifikate

(Trade Control and Expert System)

TSchAV

Verordnung des EDI vom 5. September 2008 über Aus-

bildungen in der Tierhaltung und im Umgang mit Tieren

(Tierschutz-Ausbildungsverordnung, SR 455.109.1)

TSchG

Tierschutzgesetz vom 16. Dezember 2005 (SR 455)

TSchV

Tierschutzverordnung vom 23. April 2008 (SR 455.1)

TSG

Tierseuchengesetz vom 1. Juli 1966 (SR 916.40)

TSO

Übertragungsnetzbetreiber

(Transmission System Ope-

rator)

TSV

Tierseuchenverordnung vom 27. Juni 1995 (SR

916.401)

TVS

Textilverband Schweiz

TWh

Terawattstunde

TZV

Verordnung vom 31. Oktober 2012 über die Tierzucht

(Tierzuchtverordnung, SR 916.310)

UBRL

Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger

und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet

der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten

(Unionsbürgerrichtlinie/Freizügigkeitsrichtlinie)

UCPTE

Union für die Koordinierung der Erzeugung und des

Transports von elektrischer Energie

(Union for the Co-

ordination of Production and Transmission of Electri-

city)

UDB

Unionsdatenbank für flüssige und gasförmige erneuer-

bare Brennstoffe

919 / 931

UID

Unternehmens-Identifikationsnummer

ÜNB

Übertragungsnetzbetreiber

(Transmission System Ope-

rator)

UNO

Organisation der Vereinten Nationen

(United Nations

Organization)

UREK

Kommissionen für Umwelt, Raumplanung und Energie

UVEK

Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr,

Energie und Kommunikation

VACCP

Vulnerability Analysis/Critical Control Points

VDK

Konferenz kantonaler Volkswirtschaftsdirektorinnen

und Volkswirtschaftsdirektoren

VE

Vorentwurf (eines Gesetzes)

VFP

Verordnung vom 22. Mai 2002 über den freien Perso-

nenverkehr zwischen der Schweiz und der Europäischen

Union und deren Mitgliedstaaten, zwischen der Schweiz

und dem Vereinigten Königreich sowie unter den Mit-

gliedstaaten der Europäischen Freihandelsassoziation

(Verordnung über den freien Personenverkehr, SR

142.203)

VGG

Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesver-

waltungsgericht

(Verwaltungsgerichtsgesetz,

SR

173.32)

VHyMP

Verordnung des EDI vom 23. November 2005 über die

Hygiene bei der Milchproduktion (SR 916.351.021.1)

VHyS

Verordnung des EDI vom 23. November 2005 über die

Hygiene beim Schlachten (SR 817.190.1)

VID

Verordnung vom 5. November 2014 über Internet-Do-

mains (SR 784.104.2)

VK

Verpflichtungskredit

VKM

Vereinigung der kantonalen Migrationsbehörden

VLBE

Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016 über Le-

bensmittel für Personen mit besonderem Ernährungsbe-

darf (SR 817.022.104)

920 / 931

VLKA

Verordnung vom 8. Dezember 1997 über die Lebensmit-

telkontrolle in der Armee (SR 817.45)

VMüK

Verordnung des EDI vom 1. Dezember 2015 über die

Meldung von Beobachtungen übertragbarer Krankheiten

des Menschen (SR 818.101.126)

VNB

Verteilnetzbetreiber (Distribution System Operator)

VNBO

(Europäische) Organisation der Verteilnetzbetreiber

VNem

Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016 über Nah-

rungsergänzungsmittel (SR 817.022.14)

VöV

Verband öffentlicher Verkehr

VpM-BAFU

Verordnung des BAFU vom 29. November 2017 über

phytosanitäre

Massnahmen

für

den

Wald

(SR

916.202.2)

VpM-BLW

Verordnung des BLW vom 29. November 2019 über

phytosanitäre Massnahmen für die Landwirtschaft und

den produzierenden Gartenbau (SR 916.202.1)

VPRH

Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016 über die

Höchstgehalte für Pestizidrückstände in oder auf Er-

zeugnissen pflanzlicher und tierischer Herkunft (SR

817.021.23)

VPrP

Verordnung vom 23. November 2005 über die Primär-

produktion (SR 916.020)

VRLtH

Verordnung des EDI vom 16. Dezember 2016 über die

Höchstgehalte für Rückstände von pharmakologisch

wirksamen Stoffen und von Futtermittelzusatzstoffen in

Lebensmitteln tierischer Herkunft (SR 817.022.13)

VSAA

Verband Schweizerischer Arbeitsmarktbehörden

VSFK

Verordnung vom 16. Dezember 2016 über das Schlach-

ten und die Fleischkontrolle (SR 817.190)

VTNP

Verordnung vom 25. Mai 2011 über tierische Nebenpro-

dukte (SR 916.441.22)

VTSchS

Verordnung des BLV vom 8. November 2021 über den

Tierschutz beim Schlachten (SR 455.110.2)

VwVG

Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwal-

tungsverfahren (SR 172.021)

921 / 931

VZÄ

Vollzeitäquivalent

VZAE

Verordnung vom 24. Oktober 2007 über Zulassung,

Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (SR 142.201)

WACC

Gewichtete durchschnittliche Kapitalkosten

(Weighted

Average Cost of Capital)

WaG

Bundesgesetz vom 4. Oktober 1991 über den Wald

(Waldgesetz, SR 921.0)

WAK

Kommissionen für Wirtschaft und Abgaben

WaV

Verordnung vom 30. November 1992 über den Wald

(Waldverordnung, SR 921.01)

WBF

Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung

und Forschung

WBK

Kommissionen für Wissenschaft, Bildung und Kultur

WeBiG

Bundesgesetz vom 20. Juni 2014 über die Weiterbildung

(SR 419.1)

WEKO

Wettbewerbskommission

WES

Wiedereingliederungsstrategie

WHO

Weltgesundheitsorganisation

(World Health Organiza-

tion)

WKK

Wärme-Kraft-Kopplung

WOAH

Weltorganisation für Tiergesundheit

(World Organisa-

tion for Animal Health)

WöB

Wissensplattform nachhaltige öffentliche Beschaffung

WResV

Verordnung vom 25. Januar 2023 über die Errichtung ei-

ner Stromreserve für den Winter (SR 734.722)

WTO

Welthandelsorganisation

(World Trade Organization)

ZEMIS

Zentrales Migrationsinformationssystem

ZGB

Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember

1907 (SR 210)

ZV

Zollverordnung vom 1. November 2006 (SR 631.01)

922 / 931

Anhänge

Anhang 2.3 (1

):

Übersichtstabelle über die in Ziffer 2.3 (Personenfreizügigkeit)

verwendeten Daten

Zitat, Fundstelle

Quelle, Herleitung,

Annahmen

Letzte

Aktualisie-

rung

Bemerkungen

Ziff. 2.3.2 Ausgangs-

lage Zuwanderung

Zahlen stammen aus

der Ausländerstatis-

tik und der Jahressta-

tistik

Zuwanderung

2024 des SEM

2025

Zahlen

teilweise

gerundet.

Tabelle 2.3.9.1.1(1),

Beiträge,

die

die

Schweiz an Informa-

tionssysteme der EU

zu bezahlen hätte

Interne Abklärungen

der

Bundesverwal-

tung mit der Europäi-

schen Kommission

2025

Beiträge beziehen

sich teilweise auf

unterschiedliche

Bezugszeiten

(siehe Fussnoten)

Anhang 2.8 (1): Förderinstrumente im Rahmen von Erasmus+ und aktueller

Zugang der Schweiz

Legende:

Offener Zugang:

Schweizer Institutionen und Organisationen haben uneinge-

schränkten Zugang zu Aktivitäten und Mitteln des E+-Förderinstruments. Das heisst,

sie haben den gleichen Zugang wie Institutionen und Organisationen aus E+-Pro-

grammländern und können Mittel bei der EU-Kommission beantragen.

Eingeschränkter Zugang

:

Schweizer Institutionen und Organisationen können zwar

teilnehmen, aber im Unterschied zu Institutionen aus E+-Programmländern haben

sie weniger Rechte: sie können keine Projekte leiten, sich erst einem Konsortium

anschliessen, wenn die erforderliche Mindestanzahl von Institutionen aus Pro-

grammländern erreicht ist (in der Regel mindestens drei), nicht alle Aktivitäten

durchführen (z. B. (Ko)Leitung von Arbeitspaketen) und erhalten nur teilweise eine

finanzielle Unterstützung durch Erasmus+-Mittel.

Blockierter Zugang, parallele Ersatzmassnahmen:

Schweizer Institutionen und Or-

ganisationen haben keinen Zugang zu Aktivitäten und Mitteln des E+ - Förderinstru-

ments. Die «Schweizer Lösung» bietet aber parallele Ersatzmassnahmen.

Blockierter Zugang, keine parallelen Massnahmen

:

Schweizer Institutionen und Or-

ganisationen haben keinen Zugang zu Aktivitäten und Mitteln des E+ - Förderinstru-

ments. Die «Schweizer Lösung» bietet keine parallelen Ersatzmassnahmen.

923 / 931

Leitaktion 1

Aktivität

Bildungsbereich

Studierendenmobilität zu Learn- und Praktikums-

zwecken

Hochschulbildung

Gemischte Mobilität

Doktorandenmobilität

Personalmobilität zu Learn- und Schulungszwe-

cken

Gemsichte Intensivprogramme

Virtueller Autausch

Online-Sprachunterstützung

Mobilität von Lernenden

Berufsbildung

Mobilität von Personal

Online-Sprachunterstützung

Mobilität für Schüler

Schulbildung

Mobilität für Personal

Mobilität von Lernenden

Erwachsenenbildung

Mobilität für Personal

Jugendbegegnungen

Jugend

Vernetzung und Schulung für Jugendarbeiter

Jugendbeteiligungs-Aktivitäten

DiscoverEU

Virtueller Autausch

Mobilität für Personal

Sport

Leitaktion 2

Kooperationspartnerschaften

Hochschulbildung

Kapazitätsaufbau

Partnerschaften für Innovation

Zukunftsorientierte Projekte

Erasmus Mundus Aktionen

Lehrkräfteakademien

Europäische Hochschulen

Kleinere Partnerschaften

Berufsbildung

924 / 931

Kooperationspartnerschaften

Kapazitätsaufbau

Partnerschaften für Innovation

Zukunftsorientierte Projekte

Zentren der beruflichen Exzellenz

Kleinere Partnerschaften

Schulbildung

Kooperationspartnerschaften

Zukunftsorientierte Projekte

Lehrkräfteakademien

Kleinere Partnerschaften

Erwachsenenbildung

Kooperationspartnerschaften

Zukunftsorientierte Projekte

Kleinere Partnerschaften

Jugend

Kooperationspartnerschaften

Kapazitätsaufbau

Kleinere Partnerschaften

Sport

Kooperationspartnerschaften

Kapazitätsaufbau im Bereich Sport

Leitaktion 3

Unterstützung der Politikentwicklung und der poli-

tischen Zusammenarbeit

Hochschulbildung

Schulungs- und Kooperationsaktivitäten

Unterstützung der Politikentwicklung und der poli-

tischen Zusammenarbeit

Berufsbildung

Unterstützung der Politikentwicklung und der poli-

tischen Zusammenarbeit

Schulbildung

Unterstützung der Politikentwicklung und der poli-

tischen Zusammenarbeit

Erwachsenenbildung

«Die europäische Jugend vereint»

Jugend

925 / 931

Anhang 2.8 (2): Vergleich Assoziierung an Erasmus+ / «Schweizer Lösung»

(Zusammenfassung Kosten-Nutzen-Analyse)

Assoziierung an

Erasmus+

Weiterführung

«Schweizer Lösung»

Finanzielle

Tragbarkeit

In angespannter Lage der

Bundesfinanzen bedeutende

finanzielle Mittel notwendig

(Budget Erasmus+-Assozi-

ierung 2027: 187,5 Mio.

CHF, davon 15,8 Mio. CHF

für nationale Zusatzkosten)

Selbständige Bestimmung des

Budgets möglich, da keine

Übernahme der Programmricht-

linien notwendig (Budget

«Schweizer Lösung» gemäss Fi-

nanzplan 2027: 57,9 Mio. CHF,

davon ca. 7,0 Mio. CHF für Be-

trieb und Begleitmassnahmen).

Inhaltlicher Nutzen

Allgemein

Erhöhte internationale

Sichtbarkeit des Schweizer

Bildungssystems und seiner

Stärken und Bildungsab-

schlüsse.

Ausgestaltung der Lösung nach

effektiven Interessen der

Schweiz, jedoch

weniger Beteiligungs- und Ko-

operationsmöglichkeiten und

damit verbunden eingeschränkte

Sichtbarkeit und Bekanntma-

chung des Schweizer Bilungs-

systems.

Potential für Weiterent-

wicklung der Aktivitäten

und Erhöhung der Beteili-

gungszahlen vorhanden.

Beitrag zur Erreichung der

politischen Ziele im Bereich

Austausch und Mobilität in

der Bildung möglich.

Im internationalen Vergleich un-

terdurchschnittliche Weiterent-

wicklung der Aktivitäten und

Erhöhung der Beteiligungszah-

len (2017: 11'400 / 2024: 16'400

Mobilitäten). Politische Ziele im

Bereich Austausch und Mobili-

tät in der Bildung vor diesem

Hintergrund schwierig zu errei-

chen

Systematische Beteiligung

an EU-

Bildungszusammenarbeit

mit vollständigem und

Blockierter Zugang zu rund

zwei Dritteln der Erasmus+-Ak-

tivitäten. Trotz parallelen Er-

satzmassnahmen gilt die

Schweiz nicht als gleichwertiger

926 / 931

rechtlich gesichertem Zu-

gang zu allen Aktivitäten

von Erasmus+.

Partner wie die E+-Programm-

länder.

Inhaltlicher Nutzen

Leitaktion 1:

Lernmobilität von Ein-

zelpersonen

Budgetanteil (gemäss an-

nual work programme Eras-

mus+ 2025): 70%

Budgetanteil 80% (gemäss Fi-

nanzplan 2027)

Zugang

Zugang zu allen Mobilitäts-

aktivitäten und Begleit-

diensten. Kohärente und ef-

fiziente Abwicklung mittels

gemeinsamer IT-Tools.

Kein Zugang zu Mobilitätsakti-

vitäten von Erasmus+ und ge-

meinsamen Abwicklungstools.

Risiko einer zunehmenden «Di-

gital-Kluft» zu online-Tools im

Rahmen von Erasmus+.

Zusätzlich zur Outgoing-Mobili-

tät auch Übernahme der Inco-

ming-Mobilität notwendig.

Hoher administrativer Aufwand

durch zusätzliche, teils doppelte

Antragsformalitäten.

Mobilitätsprojekte

: Mehr

Austauschmöglichkeiten

und grössere, auch aus-

sereuropäische Auswahl an

Praktikumsplätzen.

Kooperationsprojekte

: v.a.

in der Anfangsphase Risiko

einer nicht vollständigen

Ausschöpfung der Mobili-

tätsmittel über den Hoch-

schulbereich hinaus, sofern

nicht angemessene Begleit-

massnahmen zur Verfügung

stehen.

Weniger Austauschmöglichkei-

ten und Mühe, gute Praktikums-

plätze zu finden.

927 / 931

Kompetenzerwerb

Breite Möglichkeiten für

den Erwerb internationaler

Kompetenzen (interkultu-

relle, sprachliche, persönli-

che und fachliche Kompe-

tenzen) und damit Beitrag

zu einer besseren Beschäfti-

gungsfähigkeit.

Aufgrund niedriger Mobilitäts-

quote eingeschränkte Möglich-

keiten zum Erwerb internationa-

ler Kompetenzen.

Nachholbedarf im Vergleich mit

anderen Staaten in sämtlichen

Bildungsbereichen ausser dem

Hochschulbereich.

Inhaltlicher Nutzen

Leitaktion 2:

Kooperationen zwi-

schen Institutionen

und Organisationen

Budgetanteil (gemäss an-

nual work programme Eras-

mus+ 2025): 21%

Budgetanteil 9%

Zugang

Aktiver Zugang zu allen

Kooperationsprojekten als

gleichwertiger Partner gesi-

chert.

Eingeschränkter Zugang.

Schweizer Institutionen können

Projekte in den wenigsten Fällen

selbst lancieren und koordinie-

ren und müssen i.d.R. höheren

Eigenanteil aufwenden.

Exzellenzförderung

Uneingeschränkter Zugang

zur Exzellenzförderung

(European Universities Ini-

tiative, Centres for Vocatio-

nal Excellence, Teacher

Academies etc.).

Lancierung und Koordinie-

rung von Projekten mög-

lich.

Schweizer Institutionen sind von

zentralen Projekten in der Ex-

zellenzförderung oder bei Inno-

vationsallianzen ausgeschlossen

(Beteiligung an European Uni-

versities Initiative ohne Koordi-

nationsfunktion möglich).

Inhaltlicher Nutzen

Leitaktion 3:

Unterstützung Politik-

entwicklung und poli-

tische Zusammenar-

beit

Budgetanteil (gemäss an-

nual work programme Eras-

mus+ 2025): 4%

Budgetanteil 0%

928 / 931

Partner & Gremien

Grenzüberschreitender Aus-

tausch zu strategischen, bil-

dungspolitischen Fragen mit

europäischen Partnern. Re-

gelmässige Bildungsminis-

ter- und Generaldirektoren-

treffen. Zugang als

Beobachter in sämtlichen

Programmgremien sowie in

weiteren Expertengruppen.

Einbezug in die Diskussion

bildungspolitischer Heraus-

forderungen.

Eingeschränkter Zugang zu bil-

dungspolitisch relevanten Foren

und Initiativen zur Entwicklung

der Bildungspolitik in Europa,

ausser im Hochschulbereich

(Bologna Follow-up Group).

Steuerungs-

möglichkeiten und

Programm-

umsetzung

Begrenzter Einfluss auf

Umsetzungsrichtlinien. We-

niger Flexibilität in Pro-

grammumsetzung. Bürokra-

tischer Überbau des

Programms. Aufwändigere

Berichterstattungspflichten.

Selbständige Steuerung und An-

passung der Aktivitäten und

Umsetzungsrichtlinien. Tiefer

administrativer Aufwand im

Umgang mit der Nationalagen-

tur.

Chancen & Risiken

Grosses Potenzial für Aus-

weitung der internationalen

Bildungszusammenarbeit.

Mittel- bis langfristig potentielle

Abkoppelung von europäischer

Bildungszusammenarbeit.

Angebot & Nachfrage

Risiko, dass Mobilitäts- und

Kooperationsaktivitäten na-

mentlich in der Einstiegs-

phase nicht das Niveau er-

reichen, welches in einem

ausgeglichenen Verhältnis

zum Assoziierungsbeitrag

steht, jedoch geringeres Ri-

siko dank einem mit der EU

ausgehandeltes Rabatt von

30 % für 2027 für Eras-

mus+.

Nachfrage übersteigt finanzielle

Möglichkeiten. Bei aktueller

Mittelausstattung kein oder nur

geringes Wachstum möglich.

Aufgrund notwendiger Priorisie-

rung z.T. Verzicht auf stark

nachgefragte Aktivitäten, wie

z.B. Dozierendenmobilität für

Förderung European Universi-

ties.

929 / 931

Budget

Sofern die Assoziierung mit

angemessenen Begleitmass-

nahmen unterstützt wird,

dürfte das Budget für de-

zentrale Aktivitäten voraus-

sichtlich vollständig ausge-

schöpft werden. Ansonsten

besteht das Risiko unvoll-

ständiger Ausschöpfung des

zur Verfügung gestellten

Budgets

Budgetentwicklung der Schwei-

zer Lösung seit 2014 hat den

Rückstand der Schweiz zuse-

hends vergrössert. Start 2014

auf dem Niveau des halben BIP-

Anteils, den die Schweiz im

Falle einer Assoziierung an

Erasmus+ hätte entrichten müs-

sen, und seither Verdoppelung.

Das EU-Budget hat sich demge-

genüber seither verdreifacht.

Anhang 2.11 (1): Glossar Ziffer 2.3 Strom

Endverbraucher bzw. Endkunde: Kunden, welche Elektrizität für den eigenen Ver-

brauch kaufen. Ausgenommen hiervon ist der Elektrizitätsbezug für den Eigenbedarf

eines Kraftwerkes sowie für den Antrieb von Pumpen in Pumpspeicherkraftwer-

ken.

866

Herkunftsnachweis (HKN): Seit 2013 werden HKN über die Herkunft und Qualität

des Stroms für die gesamte schweizerische Produktion aus Kraftwerken mit einer

Netzanschlussleistung über 30 Kilovoltampere (kVA) erbracht. Für den Endverbrau-

cher sind die HKN eine Garantie für den auf der Rechnung ausgewiesenen, gelieferten

Strommix.

867

MARI (Manually Activated Reserves Initiative): europäische Plattform für Re-

gelenergie (schnelle Tertiärregelenergie) bzw. für die gemeinsame Vorhaltung von

Regelleistung.

868

Marktkopplung (

Market Coupling

): Verfahren, wo getrennte Märkte für den Handel

von Energie und die dafür notwendigen Transportkapazitäten zu einem integrierten

Energiemarkt zusammengeschlossen oder eben gekoppelt werden.

869

PICASSO (Platform for the International Coordination of Automated Frequency Res-

toration and Stable System Operation): europäische Plattform für Regelenergie (Se-

kundärregelenergie) bzw. für die gemeinsame Vorhaltung von Regelleistung.

870

866

ElCom, Glossar, https://www.elcom.admin.ch/elcom/de/home/glossar.html

867

Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen, Glossar der VSE Branchendoku-

mente, https://www.strom.ch/de/service/glossar-der-vse-branchendokumente#Engpass

868

Swissgrid, April 2025, TERRE, MARI und PICASSO - Europäische Plattformen für die

gemeinsame Vorhaltung von Regelleistung (Factsheet).

869

Swissgrid, Februar 2015, Market Coupling (Factsheet).

870

Swissgrid, April 2025, TERRE, MARI und PICASSO - Europäische Plattformen für die

gemeinsame Vorhaltung von Regelleistung (Factsheet).

930 / 931

TERRE (Trans European Replacement Reserve Exchange): europäische Plattform für

Regelenergie (langsame Tertiärregelenergie) bzw. für die gemeinsame Vorhaltung

von Regelleistung.

871

Übertragungsnetz: Elektrizitätsnetz, das der Übertragung von Elektrizität über grös-

sere Distanzen im Inland sowie dem Verbund mit den ausländischen Netzen dient und

in der Regel auf der Spannungsebene 220/380 kV betrieben wird. Zum Übertragungs-

netz gehören insbesondere auch: a) Leitungen inklusive Tragwerke; b) Kuppeltrans-

formatoren, Schaltanlagen, Mess-, Steuer- und Kommunikationseinrichtungen; c) ge-

meinsam mit anderen Netzebenen genutzte Anlagen, die mehrheitlich im

Zusammenhang mit dem Übertragungsnetz genutzt werden oder ohne die das Über-

tragungsnetz nicht sicher oder nicht effizient betrieben werden kann; d) Schaltfelder

vor dem Transformator beim Übergang zu einer anderen Netzebene oder zu einem

Kraftwerk.

872

Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB): Der ÜNB ist verantwortlich für die Führung des

schweizerischen Übertragungsnetzes mit dem Ziel eines sicheren, leistungsfähigen

und effizienten Betriebs unter Einhaltung der technischen Grenzwerte und der gelten-

den technischen Regeln.

873

Verteilnetz: Elektrizitätsnetz hoher, mittlerer oder niederer Spannung zum Zwecke

der Belieferung von Endverbrauchern oder EVUs.

874

Verteilnetzbetreiber (VNB): Der VNB ist zuständig für die Gewährleistung des siche-

ren, leistungsfähigen und effizienten Betriebs des Verteilnetzes. Darüber hinaus

schliesst der VNB Netzanschlussnehmer an sein Netz an und ermöglicht Netznutzern

die Nutzung des Netzes.

875

Wasserzins: Der Wasserzins ist die Abgeltung zugunsten des Gemeinwesens (Ge-

meinden, Kantone) der Nutzung der Wasserkraft, die zur Energieerzeugung genutzt

wird.876

871

Swissgrid, April 2025, TERRE, MARI und PICASSO - Europäische Plattformen für die

gemeinsame Vorhaltung von Regelleistung (Factsheet).

872

ElCom, Glossar, https://www.elcom.admin.ch/elcom/de/home/glossar.html

873

Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen, Glossar der VSE Branchendoku-

mente, https://www.strom.ch/de/service/glossar-der-vse-branchendokumente#Engpass

874

ElCom, Glossar, https://www.elcom.admin.ch/elcom/de/home/glossar.html

875

Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen, Glossar der VSE Branchendoku-

mente, https://www.strom.ch/de/service/glossar-der-vse-branchendokumente#Engpass

876

Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen, Glossar der VSE Branchendoku-

mente, https://www.strom.ch/de/service/glossar-der-vse-branchendokumente#Engpass

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